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Gert Melville

DIE WELT
DER MITTELALTERLICHEN
KLÖSTER

Geschichte und Lebensformen

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

ZUM BUCH

Die mittelalterlichen Klöster faszinieren uns als ein Gegenpol zum Getriebe der „Welt“. Zugleich ist ihre Geschichte bis heute von zahllosen Legenden umrankt. Gert Melville bietet in seinem eindrucksvollen Überblick einen neuen, frischen Blick auf die Geschichte der Klöster und Orden und macht deutlich, wie die klösterliche Lebensform unsere Kultur nachhaltig geprägt hat.

Die Geschichte der mittelalterlichen Klöster und Orden bildet ein Geflecht aus Neugründungen, Abspaltungen, Blütezeiten, Niedergängen und Reformen. Gert Melville geht von der ausgehenden Antike bis zum Beginn der Neuzeit den Gründen und Antrieben für diese Entwicklungen nach. Er beschränkt sich dabei nicht auf die Benediktiner, die eremitischen Bewegungen des 11. und 12. Jahrhunderts, die Regularkanoniker, die Zisterzienser und die Bettelorden, sondern verfolgt auch die weniger bekannten Nebenstränge und zeichnet so ein umfassendes Bild der klösterlichen Vielfalt. Darüber hinaus beschreibt er die wichtigsten Strukturelemente des klösterlichen Lebens wie Recht und Organisation, Bildung und Spiritualität, die Regelung des Alltags sowie die wirtschaftlichen Grundlagen und zeigt, inwiefern die klösterliche Welt Motor der kulturellen Entwicklung, in vielem aber auch der Weg zur individuellen Perfektion war.

ÜBER DEN AUTOR

Gert Melville, geb. 1944, ist Seniorprofessor für Mittelalterliche Geschichte an der Technischen Universität Dresden, Direktor der Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte (FOVOG) und leitet gemeinsam mit Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter das Forschungsprojekt „Klöster im Hochmittelalter“ der Heidelberger und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.

INHALT

Vorwort

  1. DIE ANFÄNGE

Rückzug vom Irdischen

Die Entstehung klösterlicher Gemeinschaften

Erste Klöster in Europa

  2. DIE BENEDIKTSREGEL UND IHR FORTLEBEN

Benedikt als «Textspur»

Die Regel des Benedikt

Die Karriere Benedikts und seiner Regel

Der zweite Benedikt und die Reform der fränkischen Klöster

  3. DIE BENEDIKTINISCHE BLÜTE

Neubeginn in Lothringen

Cluny: Die Errichtung klösterlicher Freiheit

Die «Cluniazensische Kirche»: Ein Verband von Klöstern

Ordo cluniacensis

Kirche für die Welt

Mönchtum im Dienst für König und Adel, Papst und Bischof

  4. RÜCKKEHR IN DIE WÜSTE

Das neue Eremitentum

Nach eigenem Recht leben

Charismatische Predigt und religiöse Bewegung

Zurück in die Institutionen der Kirche

  5. DIE REGULARKANONIKER: EIN NEUES SELBSTVERSTÄNDNIS DES KLERUS

  6. DIE ZISTERZIENSER: KOLLEGIALITÄT STATT HIERARCHIE

Roberts Weg von Molesme nach Cîteaux und zurück

Das Maß der reinen Regel

Die «Urkunde der Liebe» und die Erfindung des «Ordens»

  7. DER ERFLOG DES ZISTERZIENSISCHEN MODELLS

Von den Prämonstratensern bis zu den Gilbertinern und Kartäusern

Cluny, Ritter und Hospitäler: Die Reform alter Verbände und die Schaffung neuer funktionaler Orden

  8. VIELFALT UND KONKURRENZ

  9. NEUE GLAUBENSKONZEPTE

Die Suche nach religiöser Identität

Beginen und Humiliaten: Eine neue Laienfrömmigkeit

«Heilige Prediger» und «Minderbrüder»

10. DIE FRANZISKANER: EIN BETTELORDEN MIT DER GANZEN WELT ALS KLOSTER

Franziskus von Assisi und seine Gemeinschaft

Das Erbe des Franziskus

Klara von Assisi

11. DIE DOMINIKANER: HEILIGE PREDIGT UND SEELSORGE

Dominikus und der Aufbau eines neuen Ordens

Rationalität und Verfassung im Dienste der Seelenrettung

12. TRANSFORMATIONEN EREMITISCHER GRUPPEN

Die Karmeliten: Vom Berg in die Städte

Die Augustinereremiten

13. EIN NEUER ABSCHNITT DER VITA RELIGIOSA

Die drei Zeitalter der Heilsgeschichte

Eremitische Verbände und das Wirken des Petrus von Morrone

Die Devotio moderna

Die Offenbarungen der Birgitta

14. BETTELORDEN IM KONFLIKT: ARMUTSSTREIT UND OBSERVANZEN

15. REFORMER UND REFORMEN IM AUSGEHENDEN MITTELALTER

Reform von oben: Papst Benedikt XII

Reform von unten: Observanzbildungen

16. RÜCKBLICK

17. GRUNDSTRUKTUREN DER VITA RELIGIOSA IM MITTELALTER

Der Einzelne und die Gemeinschaft

Die Klöster und das Recht

Institutionelle Formen: Entstehung und Erhalt

Eigengeschichten

Kloster und Welt

Temporalia

Auf der Suche nach Gott zum Wissen um die Welt

ANHANG

Karte

Zeittafel

Anmerkungen

Bildnachweis

Literatur

Personenregister

Register der Klöster, Klosterverbände und Orden

Für Marlen, Maximilian und Niels

VORWORT

Dieses Buch handelt von Menschen, die die Vollkommenheit ihrer Seele suchten und bereit waren, sich dafür der irdischen Welt zu entledigen. Sie zogen sich in eine klösterliche Gemeinschaft zurück, die ihnen als ein schützender Hafen im sinnlosen Treiben der Welt erschien, und unterwarfen sich dort der strikten Regelung aller Lebensbereiche in Gebet, Askese und Arbeit. Eine solche Lebensform forderte den ganzen Menschen. Sie verlangte den uneingeschränkten Glauben, sich Gott so annähern zu können, dass man die Erlösung der Seele im Jenseits erreicht.

Das Buch zeichnet die Wege zu diesem Ziel nach, die man von der frühen Christenheit bis zum Ende des Mittelalters beschritten hat. Um diese Wege musste mit allen Kräften gerungen werden, damit sie den sich wandelnden spirituellen Bedürfnissen oder veränderten kulturellen Bedingungen besser entsprechen konnten. Die Geschichte der klösterlichen Lebensformen zeigt sich folglich in Gestalt eines vielfältigen Geflechts von Experimenten, kühnen Neuansätzen, beharrlichen Reformen, aber ebenso von Niedergang und Scheitern. Im Ganzen ist sie gleichwohl die Geschichte eines unglaublichen Erfolges in jener Zeit des Mittelalters, als der christliche Glaube als Hoffnungsträger der Erlösung von den Bedrängnissen der Welt Grundlage und Maßstab der Kultur war. Die Frauen und Männer in den Klöstern lebten den «in der Welt» Verbliebenen ein Modell vor, das allen veranschaulichte, dass Erlösung tatsächlich möglich war.

Das Buch zeigt aus der Perspektive der Klöster, wie eine solche Lebensform in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und in der geistigen Welt konkrete Wirkungsfelder fand. Klöster boten sich als eine sichere Anlageform an, bei spirituellen Investitionen ebenso wie bei politischen oder wirtschaftlichen, und gerieten dabei oftmals in bedrohliche Abhängigkeiten von irdischen Mächten und Verlockungen. Andererseits sah sich die klösterliche Welt prinzipiell in eine Verantwortung für das Heil der Menschheit eingebunden und leistete dieser fundamentale Dienste. Sie verstand sich gleichsam als Relaisstation zwischen Gott und Welt. Durch Gebet, Predigt und Vermittlung von Wissen wollte sie Gott und die Menschen einander näherbringen. Durch Sorge um die Kranken, die Armen und die Vergessenen versuchten die Menschen in den Klöstern, Christus nachzufolgen und die Botschaft der Nächstenliebe durch ihr eigenes musterhaftes Beispiel zu verkünden. Die Klöster waren ein effizientes Grundmodul jener Kultur des Mittelalters, in der die Wurzeln der Moderne liegen.

Das Buch zieht Linien über größere Epochen hinweg, geht einzelnen Verästelungen nach und stellt abschließend die strukturellen Grundelemente der klösterlichen Lebensformen dar. Manches konnte in diesem weiten Themenfeld nur knapp behandelt werden, so dass die Literaturverweise in den Anmerkungen vorrangig dazu dienen, Anregungen für die vertiefende Lektüre zu geben.

Das Buch ist das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit der klösterlichen Welt des Mittelalters. Bei der Abfassung erfuhr ich die Unterstützung von hilfsbereiten Menschen. Zwei sind vorrangig zu nennen: Meine Frau gab mir Kraft, aufmunternde Kritik und den Raum der Ruhe, Mirko Breitenstein begleitete das gesamte Werk mit umsichtiger Geduld, mit unendlich vielen Anregungen und kenntnisreichen Hinweisen. Ihnen gebührt mein herzlichster Dank. Wichtige Ansprechpartner in Einzelfragen waren Cristina Andenna, Annette Kehnel, Jörg Sonntag und mein Freund Stefan Weinfurter. Wertvolle Hinweise erhielt ich auch von Markus Bitterlich, Florent Cygler, Kerstin Groer, Michael Hänchen, Sebastian Mickisch, Maria Pretzschner, Nicholas Youmans, Coralie Zermatten und Katrin Rothe. Letztere trug auch die Hauptlast des Korrekturlesens. Allen Genannten bin ich zu Dank verpflichtet. Die Zusammenarbeit mit Ulrich Nolte im Beck Verlag bereitete mir große Freude. Ich danke ihm sehr für die vorzügliche Betreuung.

Gert Melville

1. DIE ANFÄNGE

Rückzug vom Irdischen

«IHR SOLLTET ES mit eigenen Augen beobachten.» Mit diesen Worten lud Johannes Chrysostomus (344/349–407), einer der großen Kirchenlehrer des Ostens, dazu ein, sich die Welt der Klöster zu erschließen, denn die Mönche lebten in der Seligkeit des Paradieses: «Ihre Arbeit ist dieselbe wie die Adams, als er im Anfange, noch vor dem Falle, in Herrlichkeit gekleidet mit Gott innig verkehrte in jenem überglückseligen Lande, das er bewohnte. Oder wo sollten unsere Mönche schlimmer dran sein als Adam vor der Sünde, da er mit der Bebauung des Paradieses betraut war? Er kannte keine weltlichen Sorgen. Sie kennen sie ebenfalls nicht. Er verkehrte reinen Gewissens mit Gott. Sie desgleichen; ja, sie gehen noch weit vertraulicher mit Gott um, weil sie vom Hl. Geiste mit größeren Gnaden ausgestattet werden.»[1]

Johannes Chrysostomus hatte mit diesen Aussagen bereits in der Spätantike die wichtigsten Elemente jener Lebensform umrissen, die die mittelalterliche Christenheit in so vielen Bereichen prägen sollte. In einer Kultur, die den Menschen sich als Fremden fühlen ließ in seiner ihm widerständigen Welt und die nur hoffen ließ, diese Welt durch den Glauben an Erlösung überwinden zu können, war es nicht unerheblich, solche Worte zu hören: «Ihr solltet es mit eigenen Augen beobachten.» Sie vermittelten, dass es Menschen gibt, die lebend bereits in paradiesische Gefilde eingetreten sind und die durch die Kraft, die ihnen dort verliehen wird, Gott näher stehen als alle anderen. Nähe Gottes aber bedeutete Erlösung. Mönche vermochte man somit als Orientierungspunkte und Modelle dafür anzusehen, dass sich Hoffnung auf Erlösung verwirklichen konnte. Doch das ‹Paradies› der Mönche war nur durch Anachorese, durch Verlassen dieser irdischen Welt, erreichbar. Nur dann konnte ein bedingungslos religiöses Leben – eine vita religiosa – geführt werden, welches vollkommen ausfüllte und damit alles andere ausschloss. So gab das Leben solcher Menschen – man bezeichnete sie schon früh zutreffend als religiosi, als «Religiose» – den übrigen, die im Irdischen blieben, immer Orientierung und stellte doch zugleich eine unerreichbare, andere Welt dar.

Die historischen Wurzeln dieser Welt lagen genau dort, wo man angefangen hatte, sich von irdischer Verstrickung radikal befreien zu wollen, und bereit gewesen war, erstmals die entscheidende Grenze zu überschreiten. Dies geschah schon im Ägypten des 3. Jahrhunderts, als es vielen Männern und Frauen nicht mehr reichte, für sich ein asketisches, gottgeweihtes Leben zu führen und zugleich noch in ihre Familien und Gemeinden eingebettet zu sein. Sie wollten von allem abgeschieden sein und zogen sich in die Wüsten jenseits der Ufer des Nils zurück.[2] Entbunden vom weltlichen Betrieb, aber auch von kirchlichen Belangen und Pflichten gegenüber den Gemeindevorstehern, den Bischöfen, lebten sie dort in Höhlen, Hütten oder Ruinen ein Leben der Kontemplation, der Buße und der körperlichen Kasteiung, der sexuellen Enthaltsamkeit und der Handarbeit. Bekleidet waren sie mit einer Kutte, häufig aus Fell. Sie wollten «Engel auf Erden» sein und befolgten somit im Kern ein einziges Gebot, das damals in einem schlichten Satz formuliert wurde und das doch in seiner Konsequenz von höchster existentieller Wucht erschien: «Wohin immer du gehst, habe überall Gott vor Augen.»[3] Der Eremit Antonius (um 251–356) soll diesen Ausspruch getan haben, wie in den sogenannten Apophthegmata patrum, den «Weisungen der Väter», überliefert ist, die man wohl im 5. Jahrhundert aufgeschrieben hatte, um seine Lehrsätze und die von seinesgleichen der Nachwelt weiterzugeben – eine Absicht, die tatsächlich ungeheure Früchte trug, denn noch das gesamte Mittelalter hindurch hat man sie als Anleitung zum klösterlichen Leben benutzt.[4]

Antonius stammte aus vermögendem Hause, verwaltete als Jugendlicher die Güter seiner verstorbenen Eltern und zog seine jüngere Schwester groß.[5] Eines Tages wurde ihm bewusst, was der Satz bei Matthäus (19, 21) zu bedeuten hatte, wenn man den Ratschlägen des Evangeliums uneingeschränkt folgen wollte: «Wenn Du vollkommen sein willst, dann verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen.» Antonius gab seinen gesamten Besitz ab und zog um 275 in die unterägyptische Wüste nahe dem Golf von Suez. Gewiss galt er bei seinen Zeitgenossen als herausragendes Muster für dieses neuartige eremitische Leben, und eine von Athanasius, dem Patriarchen von Alexandria, verfasste Vita tat das ihre, um dieses Bild über die Jahrhunderte zu bewahren[6] – aber er war nicht der erste und blieb auch nicht allein. Schon vor ihm hatten viele in Gott Zuflucht Suchende die Einsamkeit erstrebt – und unter ihnen soll gemäß der Überlieferung durch Hieronymus (siehe S. 24) der «Urvater» der Eremiten überhaupt, Paul von Theben, gewesen sein, der sich während der Christenverfolgungen unter Decius um die Jahre 249 bis 251 in die oberägyptische Wüste zurückgezogen und dort in strengster Askese das Alter von 113 Jahren erreicht haben soll.[7]

Um Antonius hatten sich schon bald Gleichgesinnte geschart und bildeten dann eine von ihm charismatisch geführte Eremitenkolonie. Im weiten Wüstenrund Ägyptens sowie später überall auch in Kleinasien, Syrien und Palästina gab es ihm ähnliche, charismatisch begabte Gestalten männlichen und weiblichen Geschlechts, die väterlich bzw. mütterlich – als abba («Vater») wurden sie in den Apophthegmata bezeichnet – jeweils eine Schar von Eremiten geistlich führten. Die meisten Eremiten und Eremitinnen lebten nicht völlig allein, sie bedurften des Nächsten, wie zum Beispiel aus Antonius’ Worten hervorgeht: «Vom Nächsten her kommen uns Leben und Tod. Gewinnen wir nämlich den Bruder, so gewinnen wir Gott. Geben wir hingegen dem Bruder Ärgernis, so sündigen wir gegen Christus.»[8] Es handelte sich dabei allerdings nicht um räumlich umschlossene Gemeinschaften, denn jeder Eremit und jede Eremitin lebte einzeln, allenfalls zu zweit oder zu dritt in einer Behausung, die sie kellion (Zelle) nannten. Einer ausgeformten Regel, die sie zusammenband, bedurften sie nicht. Es reichte die Begabung durch den Heiligen Geist, wie schon Chrysostomus unterstrichen hatte; es zählte die eigene innere Besinnung auf das Rechte sowie das Wort und Lebensbeispiel eines abba oder einer amma. Hier konnte Beistand gefunden werden in dem gewaltigen Kampf, den diese Wüstenbewohner sich stets gezwungen sahen zu führen und für den sie sich durch Übungen der Askese und des Gebetes stark machen mussten – in dem Kampf nämlich, die Dämonen abzuwehren, die sie unentwegt angriffen, die tatsächlich aber nichts anderes waren als Versuchungen ihrer körperlichen und gedanklichen Leidenschaften, sie zurückzuführen in die irdische Welt. Hieronymus Bosch stellte dies an der Schwelle zur Neuzeit meisterlich in seinem Triptychon «Die Versuchung des Heiligen Antonius» dar.[9]

Den meisten zeitgenössischen Betrachtern dieses Bildes dürfte es noch – vielleicht schaudernd – bewusst gewesen sein, dass dieser Antonius nicht nur die Furcht jedes Menschen vor dem Absturz der Seele, sondern auch die Bezwingung dieser Furcht personifizierte. Antonius sollte ihnen immer noch als Heros des Glaubens gegolten haben, weil er es gewagt hatte, für seinen Kampf die Schwelle zu übertreten, die ihn aus dem Irdischen hinausführte in die Wüste.

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Dämonen als Verkörperungen seiner seelischen Anfechtungen bedrängen Antonius, dargestellt von Hieronymus Bosch (1450–1516) am Ende des Mittelalters.

Wandten diese Betrachter aber ihren Blick von diesem Bild auf ihre zeitgenössische Welt, so dürften sie zwar sicherlich noch Menschen wahrgenommen haben, von denen sich ein Virtuosentum des Glaubens jenseits des Irdischen zu Recht behaupten ließ, doch die «Wüste» hatte sich fundamental verändert. Aus der Wüste sind Klöster geworden – vereinzelt immer noch recht bettelarme, zumeist aber mit opulenten Gebäuden und fruchtbaren Latifundien ausgestattete, die sich vielfach zusammengeschlossen haben zu allgegenwärtigen Orden –, und aus den Bewohnern der Wüste in Klöstern eingeschlossene oder in den Städten und Dörfern, in den Universitäten und den Palästen herumziehende Mönche und Kanoniker, Bischöfe, Päpste, Gelehrte und Häretiker. Sie werden alle von sich angenommen haben, dass sie im Grunde ihres Herzens immer noch in der Wüste, in dieser anderen, für die meisten unerreichbaren Welt jenseits der entscheidenden Schwelle, lebten. Denn die Welt der Klöster und Orden, die da im Mittelalter herangewachsen war, hatte keine andere Legitimation und keinen anderen Sinn als eben nach wie vor jenen Raum zu stellen, der hinter dieser Schwelle lag. Und man wird wohl rechtfertigend das Bibelwort zitiert haben: «Im Haus meines Herrn gibt es viele Wohnungen.» (Io 14, 2) Denn von jenem Ausgangspunkt bei den Vätern der Wüste an hatte sich durch Flexibilität und Bereitschaft zur Anreicherung mit veränderten Elementen, aber auch durch Willen zur Erneuerung, zur Reform mit explizitem Rückgriffauf ursprüngliche Formen oder kühnem Ausgriffauf innovative Gestaltungen das Spektrum der vita religiosa durch das Mittelalter hindurch in kaum mehr überschaubarer Weise aufgefächert, sich in einem Geflecht oft wieder miteinander verwoben und dann erneut aufgeteilt.[10]

Die Söhne der Wüstenväter sollten Nachfolger in den Wäldern Europas finden oder predigend und belehrend wieder in die Welt gehen, sie sollten sich arrangieren mit den Vertretern der Amtskirche, diese selbst aus ihrem Kreis hervorbringen oder ihnen ausweichen, sie sollten sich zu unterschiedlichen Gemeinschaften formen, Charismatikern folgen oder sich durch schriftliche Regeln und Satzungen leiten lassen und sie sollten sich streiten um die Schlüssel für den besten Weg zum Seelenheil.

Wenn man auf diese Weise gut zwölfhundert Jahre Geschichte zu betrachten beginnt, wird man erstaunt feststellen, dass eine solche Auffächerung bereits in den allerersten Anfängen der vita religiosa einsetzte.[11] Schon im ersten Drittel des 4. Jahrhunderts und noch in Ägypten schlossen sich – wie wir sehen werden – Menschen in Klöstern zusammen, und neben den Eremiten lebten Mönche zönobitisch (gemeinschaftlich) mit gemeinsamem Besitz und persönlicher Armut des Einzelnen. Damals entstand bereits die erste Mönchsregel. Im 4. und 5. Jahrhundert sollte man beginnen, solche religiösen Gemeinschaften in die bischöflichen Strukturen der Amtskirche zu integrieren. In Nordafrika sollte an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert die Wurzel liegen, aus Klerikern im Umkreis eines Bischofs sogenannte regulierte Kanoniker zu machen, die wie Mönche gemeinschaftlich lebten. Man wird dann, später als im Orient, auch in Europa auf Asketengemeinschaften stoßen, wird im Gallien des 4. und 5. Jahrhunderts zwei unterschiedliche Grundprinzipien klösterlichen Lebens finden: einerseits eine lockere, charismatisch bestimmte, jedem materiellen Gewinn abgeneigte Gemeinschaft und andererseits eine durch feste Organisation geordnete, wirtschaftlich erfolgreiche. Schließlich wird man sehen, wie aus Irland am Ende des 6. Jahrhunderts Klosterformen importiert wurden, die sich hervorragend mit den Interessen der Mächtigen dieser Welt verknüpfen ließen. Schon die erste Etappe also auf dem Weg durch das Mittelalter wird nahezu alle Ausgestaltungen der vita religiosa im Keim erkennen lassen.

Die Entstehung klösterlicher Gemeinschaften

ZUM ERSTEN MAL gut fassbar, entstand um 318/325 eine klösterliche Lebensform von Menschen, die sich ebenfalls von der Welt zurückgezogen hatten, sich nun aber zu einem strikten Gemeinschaftsleben zusammenschlossen. Der Grund war, eben jenen Gefahren bestmöglich begegnen zu können, die dem Eremiten – letztlich doch Einzelkämpfer gegen die ‹Dämonen› – besonders drohten. Initiator jenes gemeinschaftlichen (zönobitischen) Lebens und Gründer einer entsprechenden Einrichtung, nämlich des Klosters in Tabennisi, einem Dorf beim oberägyptischen Theben, war der Ägypter Pachomius (292/298–346), der zu diesem Zeitpunkt bereits reiche Erfahrungen im eremitischen Leben gesammelt hatte.[12] Seine Schwester Maria tat es ihm gleich mit der Einrichtung eines Frauenklosters, denn von Anfang an war das Zönobitentum ein «Hafen» für Gott Suchende beiderlei Geschlechts. Diesen Klöstern folgten auf der männlichen Seite neun weitere, auf der weiblichen noch zwei. Zeitgenossen berichten von tausenden Mitgliedern, denn die Sehnsucht nach Erlösung war groß in jenen bewegten Zeiten, als unter Kaiser Konstantin (306–337) das Christentum in die Öffentlichkeit treten konnte.

In engster Anbindung an das Evangelium schrieb Pachomius eine Regel[13] (er nannte den Text «Regeln» im Plural) für ein solches Leben, das in stringenter Gemeinschaft und unter der zum absoluten Gehorsam verpflichtenden Autorität eines Abtes zu führen sei, um denjenigen eine sichere Heimstatt zu geben, die zu schwach für das Eremitentum waren, aber dennoch als Asketen leben wollten. Es ist dies die älteste überlieferte Regel für das Zönobitentum. Die darin niedergelegten religiösen Leitideen wie Armut, Kontemplation und Enthaltsamkeit wurden dem Eremitentum nachgebildet. Doch im Vordergrund der Regel stand nun das gemeinschaftlich geführte Leben.[14] Die Zellen befanden sich alle unter einem Dach, man aß gemeinsam, betete gemeinsam und arbeitete gemeinsam. Die Gemeinschaft lebte in einem fest umgrenzten Gebäudekomplex mit einer von außen nach innen wie auch umgekehrt bewachten Pforte – eben in einem «Kloster» in seinem eigentlichen Sinne als claustrum, als das «Geschlossene». Das Leben war genau reglementiert. Es gab einen fest gefügten Tagesablauf mit Wechsel von Gebet, Arbeit, Essen und Schlafen. Um die Masse an – wie man jetzt sagen kann – Mönchen und Nonnen überhaupt organisatorisch lenken zu können, teilte man sie unter allegorischem Bezug auf die Stämme Israels in Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben und einem jeweiligen Leiter ein.

Man arbeitete in diesen ersten Klöstern hart, um durch Verkaufserträge dem Gebot der Mildtätigkeit gegenüber dem Nächsten folgen zu können. Da dies mit hoher Produktionseffizienz geschah, überstiegen die Einnahmen schon zu Lebzeiten des Pachomius die Ausgaben, und der Besitzstand der Klöster wuchs enorm. Der einzelne Mönch blieb vollkommen arm, die jeweilige Gemeinschaft wurde überaus reich und damit wieder verwoben mit der irdischen Welt, der man eigentlich hatte entsagen wollen.

Betrachtet man die eremitische und die zönobitische Lebensform gemeinsam, so wird man feststellen, auf welch bemerkenswerte Weise schon in der Frühzeit der Religiosen keimhaft alles angelegt war, was dann im Mittelalter immer wieder aufgegriffen, erprobt und neuen Verhältnissen angepasst werden sollte:

Einerseits die Prinzipien der klösterlichen Organisation: auf einem Regeltext ruhend eine strikte, die Umwelt hermetisch ausschließende Klausur und eine einheitliche Lebensweise in einem genau geregelten Alltag mit körperlicher Arbeit, persönlicher Armut, gemeinsamem Gottesdienst, Mahl und Schlaf sowie unanfechtbarer Gewalt des Klostervorstehers – und eben auch eine Wirtschaftskraft, die ein Kloster jenseits seiner Mauern zu einem wichtigen, dann auch begehrten Element der irdischen Welt machen konnte.

Andererseits die Grundelemente des Eremitentums: charismatische Führung mit nachträglich aufgeschriebenen Lehrsprüchen, individualisierte Verinnerlichung der religiösen Werte, Fehlen einer schriftlichen Regel und einer organisierten Ordnung, räumlich offene Gemeinschaftsform mit Einzelzellen, Verachtung wirtschaftlichen Erfolges oder zumindest völliges Desinteresse daran.

Ein weiterer Stammvater des Zönobitentums war Basilius der Große (330–379), Metropolit von Caesarea.[15] Wahres Christentum sah er vor allem durch die asketische Lebensweise erfüllt, die er selbst mehrere Jahre lang praktizierte. Für das gemeinschaftliche Leben in einem Kloster schrieb er Regeltexte in dialogischer Form, die in tiefer theologischer Durchdringung von der Forderung nach asketischer Weltentsagung und strikter Befolgung der Normen des Evangeliums geprägt waren. Zugleich aber verstand er es als Bischof, das Mönchtum in die kirchlichen Amtsstrukturen seines Metropolitanbezirks einzuweben. Hier schon war ein ganz neues Kapitel der Geschichte der vita religiosa eingeleitet worden. Hatten die Eremitensiedlungen, aber auch die Klöster des Pachomius in Distanz zu den hierarchischen Strukturen der bischöflichen Ordnungen gestanden, so zeigte sich ein solches Verhältnis bei den Klostergründungen des Basilius doch in substantiell ganz anderer Weise: Nun sollten die Bereiche derjenigen, die in der Welt agierten und kirchliche Verantwortung trugen für das Gedeihen des Christentums einerseits – also der Bischöfe als Vertreter der verfassten Kirche –, und derjenigen, die sich gerade aus einer solchen Welt zurückgezogen hatten andererseits, in Beziehung zueinander gesetzt werden. Basilius suchte hier Wege, die freilich auch über die Jahrhunderte des Mittelalters hinweg nie zu einer endgültigen Lösung führen sollten.

Das Konzil von Chalkedon traf dann im Jahre 451 eine rechtliche Festlegung, die apodiktisch jedes Kloster der Aufsicht des jeweiligen Ortsbischofs unterstellte und ebenso Neugründungen von religiösen Gemeinschaften nur mit dessen ausdrücklicher Erlaubnis ermöglichte.[16] Die weitere Geschichte allerdings sollte zeigen, dass man sich zwar immerfort auf diese Bestimmungen berufen würde, aber vorrangig dann, wenn es galt, der Stärke von ihnen zuwiderlaufenden Entwicklungen Einhalt zu bieten. Das «‹Paradies› der Mönche» war schwer zu vereinbaren mit den Äckern dieser Welt.

An der Wende zum 5. Jahrhundert fand in Nordafrika neben dem Eremitentum und dem mönchischen Zönobitentum die dritte bleibende Form der vita religiosa erstmals eine normative Ausgestaltung – das klösterliche Leben von Klerikern. Augustinus (354–430), der bedeutendste Kirchenlehrer der Spätantike,[17] hatte sich bald nach seiner Mailänder Taufe im Jahr 387 auf sein kleines Familiengut im nordafrikanischen Thagaste zurückgezogen und sich dort mit Freunden – unter ihnen seinem alten und vertrautesten Gefährten Alypius – zu einer klösterlichen Gemeinschaft von «Gottesdienern» (servi Dei) zusammengeschlossen. In den anschließenden Jahren kam es zur Abfassung mehrerer Regeltexte. Sie überdauerten die Zeiten und entfalteten eine eminente Wirkung. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit konnten sie im Mittelalter alle unter der Bezeichnung «Regel des Heiligen Augustinus» handschriftlich verbreitet werden. Ihre etwas verwickelte Entstehung dürfte daran nicht unschuldig gewesen sein:[18]

391 wurde Augustinus im nördlichen Afrika gelegenen Hippo zum Priester geweiht und gründete dort umgehend ein weiteres Kloster für fromme Laienbrüder. Nachdem er 395/397 zum Bischof dieser Stadt erhoben worden war, schrieb er um das Jahr 400 wohl für jene zweite Gemeinschaft eine kurze Regel, die später Praeceptum («Vorschrift») oder Regula ad servos Dei («Regel für die Diener Gottes») benannt wurde. Eine davon etwas abweichende Textfassung, die auch unter dem Titel Regularis informatio («Regelhafte Unterweisung») tradiert wurde, findet sich aus jener Zeit im Zusammenhang mit einem Obiurgatio («Schelten») genannten Brief des Bischofs an einen rebellischen Konvent religiöser Frauen.[19] Es kann nicht mehr schlüssig geklärt werden, welche Fassung – die männliche oder die weibliche – tatsächlich der anderen als Vorlage gedient hatte.

Zwischenzeitlich gelangte aber auch die erste Gemeinschaft zu einer Regel. Alypius, der in Thagaste verblieben war und dort 394 Bischof wurde, hatte von einer Reise nach Bethlehem normative Texte zum klösterlichen Leben mitgebracht, die er im Jahre 395 zu einer Regel – dem sogenannten Ordo monasterii («Ordnung des Klosters») – formte und sie von Augustinus, der ja der Gründer seines Klosters war, anerkennen ließ. Von dieser Regel ist ebenfalls eine Form überliefert, die sich an Frauen richtete. Bei einem späteren Besuch in Hippo lernte Alypius dann auch das Praeceptum kennen und kombinierte dessen Text mit dem seines Ordo monasterii zu einer erweiterten Regelfassung.

Praeceptum und Ordo monasterii unterschieden sich inhaltlich und funktional. Letzterer Text lieferte recht streng formulierte Anweisungen zu den Abläufen des klösterlichen Alltags und regelte somit die Gebetsund Arbeitszeiten, die Gehorsamspflicht, die persönliche Besitzlosigkeit, die Ernährung, das Verlassen des Klosters und die Korrekturen bei abweichendem Verhalten. Es war ein disziplinarischer Text zur Formung des Menschen, um ihm auf diese Weise – wie es im letzten Abschnitt heißt – sein Heil in Christus zu sichern. Der Text des Praeceptum enthielt natürlich ebenfalls praktische Regelungen des Tagesablaufs, der Ernährung, der Bekleidung, des Besitzes, des Gehorsams usw., aber er band diese Verhaltensweisen ein in das gemeinschaftsstiftende Gebot, «ein Herz und eine Seele»[20] zu sein wie die Christen der Urkirche, die alles gemein hatten. Brüderliche Gesinnung, die die Standesgrenzen von Armen und Vermögenden zu überwinden vermochte, gegenseitige Ehrerweisung in Gott, Verzeihung und Liebe standen im Vordergrund.

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Augustinus belehrt seinen Schülerkreis.

Aus dem Selbstzeugnis des Augustinus geht hervor, dass sich diese so geordnete Gemeinschaft jedenfalls nach seiner Erhebung zum Bischof aus Klerikern seiner Kirche zusammensetzte: «Wie ihr alle oder fast alle wisst, ist unsere Lebensweise in dem Hause, das der Bischofshof heißt, so, dass wir, so viel wir nur können, jene Heiligen nachahmen, von denen die Apostelgeschichte sagt: ‹Niemand betrachtete etwas von dem, was er besaß, als sein Eigentum, sondern sie hatten alles miteinander gemeinsam.›»[21]

Die Kenntnisse über jene von ihm oder in seinem Umfeld verfassten Regeltexte gingen im Laufe der nächsten Jahrhunderte nahezu verloren. So wurde das Praeceptum schon in den ersten Jahrhunderten des Mittel alters nur äußerst selten und nie an vorderer Stelle zitiert – etwa in der Regel des Caesarius von Arles (siehe S. 25), in der Benediktsregel (siehe S. 35) oder in der Regel des Ferreolus von Uzès[22]. Doch der Ruf dieses herausragenden Kirchenvaters als Stifter einer vorbildlichen Klerikergemeinschaft blieb erhalten und führte ab dem 11. Jahrhundert tatsächlich zu einem gesonderten Typ des klösterlichen Lebens – der vita canonica, dem regulierten Leben der Kanoniker, wie man die an einer Bischofskirche lebenden Kleriker nannte. Im Unterschied zum eremitischen Leben (vita eremitica) und zum mönchischen Leben (vita monastica), die beide, wenn auch in unterschiedlicher Ausformung, prinzipiell Laien betrafen, welche die Grenze zum religiösen Leben überschritten hatten und in Askese, Armut und innerer Versenkung Gott suchten, waren es hier Kleriker, die sich zwar von der Welt in eine ebenfalls von Askese und Armut geprägte religiöse Gemeinschaft zurückzogen, aber dennoch in die Welt durch Seelsorge zurückwirken konnten. An solchen Menschen sollte die mittelalterliche Gesellschaft noch hohen Bedarf haben.

Erste Klöster in Europa

BISLANG WAR NUR von den christlichen Räumen im Orient und in Nordafrika die Rede. Dies hat seinen Grund in der auffällig zeitverschobenen Entstehung von religiösen Gruppierungen im Westen. Allerdings hatte sehr früh schon – Jahrzehnte vor Augustinus – Eusebius (ca. 283–371), seit 340 Bischof von Vercelli (Piemont), die Kleriker an seinem Bischofshof unter einer monastischen Gemeinschaftsform zusammengefügt.[23] Asketische Lebensformen von gewisser Dauerhaftigkeit waren im westlichen Europa hingegen erst ab der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts anzutreffen. So findet man zum Beispiel in Italien ein von aristokratischen Frauen auf Familiensitzen gelebtes und durch die Viten ägyptischer Wüstenväter angeleitetes Asketentum.[24] Der Kirchenvater und Übersetzer der Bibel in das Lateinische, Hieronymus[25] (331/348–419/420), spielte hierbei eine wichtige Mittlerrolle. Er berichtete während der Jahre 382 bis 385 anschaulich über die asketisch-religiöse Lebensweise von virgines sacrae, von geheiligten Jungfrauen und Witwen in Rom, die er nachdrücklich förderte. Mit wichtigen Vertreterinnen, insbesondere mit der Witwe Marcella[26] (ca. 325–410) aus altem römischem Adelsgeschlecht, stand er in enger persönlicher Verbindung und pflegte mit ihnen zudem einen regen Briefwechsel. Er hatte das syrische Eremitentum durch eigene Praxis erlebt und dabei auch eine Vita über jenen Paul von Theben, den Prototyp eines Wüstenvaters, verfasst. Vor diesem Erfahrungshintergrund, schrieb er, nunmehr zugeschnitten auf die italischen Verhältnisse, einen längeren Traktat über die Erhaltung der Jungfräulichkeit.[27] Darin warnte er vor den drohenden Gefahren, die ganz offensichtlich aus der Tatsache entstehen konnten, dass das asketische Leben eben noch direkt umgeben von der Welt mit ihren gesellschaftlichen Einbindungen und Versuchungen stattfand.

Weitere Schwerpunkte, die bereits ein klösterliches, von der Welt getrenntes Leben betrafen, hatten sich ebenfalls schon früh in Gallien herausgebildet. Modellbildend ging Martin von Tours[28] (316/317–397) voran, der sich nach einer abgebrochenen Militärlaufbahn zunächst mit einer Schar Gleichgesinnter in die Abgeschiedenheit der Wälder bei Poitiers zurückgezogen hatte. Zum Bischof von Tours gewählt, gründete er circa 375 außer einer Frauengemeinschaft ein Männerkloster in Marmoutier, in dem weiterhin stark eremitisch und nach dem Vorbild der Urkirche gelebt wurde. Das Bischofsamt, das im Gallien jener Zeit noch vorwiegend von charismatischen «Gottesmännern» – vir Die nannte man Martin – besetzt war, vertrug sich institutionell durchaus mit dem Leben eines der Welt entwichenen asketischen Eremiten.

Die Wüsten des Orients sind die Wälder Europas geworden. Sicherlich auch durch den Sachverhalt bedingt, dass eine Verehrung Martins bereits mit dem ersten Frankenkönig Chlodwig am Ende des 5. Jahrhunderts begonnen hatte und gleichsam einen «Reichsheiligen» entstehen ließ, verbreiteten sich Klöster, die sich auf Martin beriefen, rasch vor allem über den Raum an der Loire bis auf die Iberische Halbinsel.[29] Diese Martinsklöster waren noch lange in einer ungeordneten Form religiöser Spontaneität verblieben, geprägt von herumziehenden Wandermönchen, die jeweils eine Schar von Anhängern an bestimmten Orten zurückließen. Schon die erste kirchliche Versammlung des jungen Frankenreichs forderte in Orléans 511 Ortsfestigkeit (stabilitas loci) der Mitglieder solchermaßen entstandener Klöster, die künftig nur noch mit Erlaubnis des zuständigen Bischofs eingerichtet werden durften.[30]

Ebenfalls im 5. Jahrhundert machten zahlreiche Klöster im unteren Rhônetal sowie das auf der (dem heutigen Cannes vorgelagerten) Inselgruppe Lérins die hochkultivierte Provence zu einer Zentralregion klösterlichen Lebens.[31] Vor allem in dem zwischen 405 und 410 von Honoratus von Arles gegründeten Kloster Lérins, wo eremitische und zönobitische Lebensweisen wegweisend verbunden und in eine stabile Organisationsform gebracht worden waren, entstand im Kontrast zu den Martinsklöstern eine alternative Klosterwelt,[32] die später weit in den burgundisch-fränkischen Norden über Lyon bis zum Jura ausstrahlte. Lérins hatte nach seiner Gründung vor allem die aristokratische Oberschicht der Region, aber gerade auch die aus dem nordgallischen Raum angezogen, welcher in jener Zeit an die Germanen verloren gegangen war. Nach römischer Wirtschaftsweise formte sich das Kloster rasch zu einem prosperierenden ökonomischen Betrieb aus, wie es mit ähnlichem Erfolg schon bei den Niederlassungen des Pachomius geschehen war. Hier fand sich bereits jene Entfaltungsweise klösterlichen Lebens voll entwickelt, die im Verlauf des Mittelalters religiöse Gemeinschaften zu Zentren wirtschaftlicher Ressourcen, des Landesausbaus und dann eben auch der Konzentration von Macht werden lassen sollte. Ein anderes Modell der vita religiosa als der entbehrungsreiche Weg in die Wüste oder in die Wälder zeichnete sich ab, und beide sollten noch heftig in Konflikt geraten.

Lérins war auch eine Pflanzstätte für künftige Bischöfe. So wurde zum Beispiel am Ende des 5. Jahrhunderts Caesarius von Arles[33] (470–542) Mönch auf Lérins, welcher dann im Rahmen einer bewegten Karriere als Erzbischof von Arles zwei Regeln von nachhaltigem Einfluss auf das künftige Klosterwesen abfasste. Eine der Regeln wurde für den Frauenkonvent von Saint-Jean in Arles geschrieben, den er gegründet hatte und den dann seine Schwester Caesaria leitete.[34] Sie stellte eine der ältesten überlieferten Regeln für Frauen dar. Auffällig ist an ihr zum einen die Forderung, dass alle Nonnen, unabhängig von ihrem Stand, als Gleichgestellte und ohne persönlichen Besitz leben sollten, und zum anderen das Klausurgebot, das zwar nicht völlig neu war, das aber hier überaus streng und kombiniert mit einer strikten Ortsfestigkeit (stabilitas loci) erfüllt werden sollte und auch für die Äbtissin selbst galt.[35] Diese Wegsperrung der Nonnen diente gewiß in jenen unruhigen Zeiten zu deren Schutz, war aber sicherlich auch vorbeugend gegen sexuelle Versuchungen gedacht.

Schon die Frankenkönigin Radegundis richtete das von ihr in Poitiers 558 gegründete und wohl seinerzeit auch berühmteste Frauenkloster Sainte-Croix an Caesarius’ Vorschriften aus.[36] Freilich hielt sich die Gründerin selbst nicht vollständig an die Vorschriften. Ihre adeligen Gewohnheiten gedachte sie nicht abzulegen, sondern lebte standesgemäß in eigenen Räumen des Klosters, wo sie auch Gäste hoheitlich empfing. Auch mischte sie sich fortwährend in die Geschäfte der großen Politkein. Damit war sie Vorreiterin einer Verhaltensweise, die man in adeligen und besonders auch weiblichen Konventen über die nächsten Jahrhunderte hinweg trotz gegenteiliger Regelvorschriften immer wieder antreffen wird.

Als ‹Regelverfasser› ist außerdem Johannes Cassianus[37] (ca. 360–430/35) zu nennen, der nach Jahren des Aufenthalts in Bethlehem sowie in ägyptischen Mönchsgemeinschaften um 415 in die immer noch bedeutsame Hafenstadt Massalia (Marseille) kam. Dort gründete er ein Frauen- und ein Männerkloster. Letzteres, mit dem Patrozinium des Heiligen Victor ausgestattet, sollte über Jahrhunderte hinweg zu den wichtigsten religiösen Gemeinschaften der westlichen Christenheit zählen. Seine mönchischen Leitlinien legte er in zwei Werken nieder: den «Einrichtungen der Zönobiten» (De institutis coenobiorum) und den «Gesprächen mit den Vätern» (Collationes Patrum).[38] Beide zählten zu den wichtigsten Übertragungen der Grundideen ägyptischen Eremitentums in den Westen.[39]

Ausgangspunkt war wie bei Augustinus das «Ein Herz und eine Seele Sein» der Urgemeinde, das seiner Meinung nach aber nur noch die Mönche als Lebensprinzip aufrecht erhielten. Vom Vorbild der Wüstenväter geleitet, war er der Überzeugung, dass man nur im Ausweichen vor der verfassten Kirche und vor dem Irdischen der Welt – «meide den Bischof und die Frau» war seine (vielleicht ironisch gemeinte) Rede – und in der völligen Abgeschlossenheit zu seinem Innersten fände, wo allein die Begegnung mit Gott gelinge. Cassian führte zur meditativen Unterstützung einer solchen seelischen Arbeit, die mit brüderlicher Hilfe durchzuführen sei, das sogenannte Stundengebet ein, also das wechselseitige Rezitieren von Psalmen – bei Cassian in den Morgenund Abendstunden. Diese zutiefst spirituell geprägten Vorgaben lassen im Grunde nicht von einer Regel im klassischen Sinne sprechen, sie prägten allerdings einen Typ normativen Schrifttums, der im klösterlichen Leben gerade in Phasen seiner reformerischen Erneuerung eine bedeutsame Rolle spielen sollte: die spirituell orientierte Mahnschrift, die Paränese.

Eine andere frühe Konzentration mönchischen Lebens entstand am äußersten westlichen Rande Europas, jenseits der weitesten Grenzen des untergehenden Römischen Reiches – in Irland.

Diese Insel, die durch die germanischen Einfälle in Britannien kulturell zudem lange vom europäischen Festland abgeschnitten war, ist christlich geworden durch das Wirken des Waliser Missionars Patrick (gest. vermutlich 463/93). Rasch entstand eine reich besetzte Klösterlandschaft.[40] Mit dem 470 von der Königstochter Brigida gegründeten Doppelkloster von Kildare, dem um 543 von Ciarán gegründeten Clonmacnois, dem von Columban dem Älteren um 546 gegründeten Doire (später Derry), dem von Finnian ebenfalls noch im 6. Jahrhundert gegründeten Clonard, dem um 558 von Comgall gegründeten Kloster Bangor und dem um 560 von Brendan gegründeten Clonfert sind besonders wichtige Glieder einer langen Kette genannt, aus der auch die kirchliche Elite Irlands entsprungen ist und die wesentliche Fundamente des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens Irlands bildete. Clonmacnois war sogar über mehrere Jahrhunderte hinweg der geistliche und geistige Mittelpunkt der Insel überhaupt.[41]

Die Besonderheit dieser über die gesamte Insel hinweg angelegten Klöster aber bestand darin, dass sie auch zu den eigentlichen Zentren der allgemeinen Kirchenorganisation wurden. In den großen Klöstern residierten gewöhnlich ein Abt oder eine Äbtissin und ein Bischof. Das Abtsamt blieb gewöhnlich in den Händen einer vermögenden Familie, auf deren Gebiet sich das Kloster befand. Der Abt oder die Äbtissin waren der Hüter bzw. die Hüterin einer auf die Gründung zurückgeführten Tradition, Bewahrer bzw. Bewahrerin des Charismas des Gründers. Das Abtsamt war die oberste Instanz der Jurisdiktion und der Administration. Die Weihegewalt hingegen lag beim Bischof, der vielfach vom Abt aus dem Kreis der Mönche in dieses Amt gerufen worden war.

Diese sicherlich bemerkenswerte Variante des – wie schon mehrfach gezeigt – von Anfang der vita religiosa an bestehenden Wechselspiels zwischen Klosterwelt und Episkopat ist aus dem Verständnis erwachsen, dass Mönche, insbesondere wenn sie, wie in Irland, auch zu Priestern geweiht waren, sich um Gott besser verdient machen konnten als bloße kirchliche Amtsträger. Eine in irischen Klöstern zumeist außerordentlich streng gelebte Askese sowie systematisch betriebene Bußübungen ver mittelten das Bild von persönlicher Heiligkeit eines Mönches als «Mann Gottes» (vir Dei). Diese mönchische Form des Charisma zeigte sich dem Amtscharisma eines Bischofs weit über legen. So sind in Irland die Klöster zu Konzentrationspunkten der Seelsorge geworden, die wiederum eine adäquate Bildung der Mönche verlangte und die Insel mit seinen Ausstrahlungsgebieten nach Northumbrien zum Residuum einer blühenden und zeitweise dem Festland weit überlegenen Buchkultur werden ließ.[42]

Das irische Mönchtum war zudem durch die spezielle asketische Leistung der Heimatlosigkeit in der Wanderschaft für Christus (peregrinatio pro Christo) gekennzeichnet.[43] Diese Eigenheit bewirkte, dass die religiöse Kultur der Insel gegen Ende des 6. Jahrhunderts auch hinüber zum Festland, vor allem in das mittlerweile hegemonial ausgebreitete Frankenreich der Merowinger, folgenreiche Brücken schlug. Der früheste und zugleich wirkungsvollste Vertreter einer solchen Lebensweise war Columban der Jüngere[44] (540–615). Um das Jahr 590 mit zwölf Gefährten vom nordirischen Kloster Bangor kommend, erwarb er sich aufgrund seines charismatischen Auftrittes als «Mann Gottes» sofort die Unterstützung des fränkischen Königtums und Adels. So war es ihm möglich, für seine rasch anwachsende Mönchsschar zunächst das Kloster Annegrey am Westabhang der Vogesen, wenig später auch das in südlicher Nähe gelegene Luxeuil und Fontaines in Dijon zu errichten.

Für diese drei Klöster schrieb Columban eine eigene, vor allem auf Bußleistungen hin angelegte Regel.[45] Sie entwarf ein Mönchtum gemäß den strengen irischen Erwartungen von Kasteiung und Gehorsam, die die Nachahmung des leidenden, gedemütigten Christus als Ziel hatten. Nahezu ununterbrochen hatten sich die Gemeinschaften dem Gebet zu widmen, mit Gebet sollten sie sich gleichsam den Aufstieg zum Himmel eröffnen. Zudem verfasste er zwei sogenannte Bußbücher, die formalistisch festlegten, welche Strafen und Bußleistungen einzelne Verfehlungen nach sich ziehen sollten.

Eine solch harsche, von außen durch Unterwerfung herbeigeführte Form der Frömmigkeit war in jener Zeit ganz offensichtlich attraktiv, denn die Klöster hatten einen überaus großen Zulauf gerade aus den adeligen Oberschichten und waren wie schon Lérins Pflanzstätten für künftige Bischöfe, die ebenfalls der Aristokratie entstammten.[46] Der diese Klöster unterstützenden und versorgenden aristokratischen Laienwelt war die Sicherheit gegeben, dass ihre Förderungen zur Rettung des Seelenheils in den Gebeten dieser gebotskonformen Mönche gut ange legt waren. Vormodernen Gesellschaften ist die Form als sichtbare Garantie des Inhalts wichtig.

Nach Streitigkeiten mit Theuderich II., König im burgundischen Teil des Frankenreichs von 596 bis 613, dem er unsittlichen Lebenswandel vorwarf, wurde Columban verbannt. Er zog in den austrasischen (östlichen) Reichsteil nach Metz, fand Aufnahme am dortigen Hof, wanderte jedoch weiter nach Alemannien, missionierte dort, kam an den langobardischen Hof von Mailand und gründete schließlich im Jahre 612 das Kloster Bobbio[47] am Nordrand des Apennin, welches später zu einem herausragenden Zentrum abendländischer Bildung werden sollte.

Auch nach dem Tode Columbans im Jahr 615 lebte dessen klösterliche Konzeption weiter. Columbanisch geprägte Klöster entstanden überaus zahlreich im Frankenreich mit Unterstützung oder in Eigenregie des weltlichen wie des bischöflichen Adels, so dass sich hier schon in voller Deutlichkeit abzeichnete, was zu einem bleibenden Element in der mittelalterlichen vita religiosa werden sollte: das enge Verhältnis zwischen Kloster und politischen Mächten, das dann oft nahezu symbiotische Ausmaße, vielfach jedoch auch Dimensionen der Herrschaft über die religiösen Gemeinschaften annahm.

In diesem Jahrhundert vermehrten sich demnach auch die Klöster, die eigentumsrechtlich in den Händen derjenigen blieben, die sie – der König, Angehörige des Adels, Bischöfe, manchmal auch die Vorsteher anderer Klöster – eingerichtet und mit den nötigen Ressourcen (insbesondere Grund und Boden) ausgestattet hatten. Über das Vermögen dieser sogenannten «Eigenklöster» konnte der jeweilige «Eigenkirchenherr» so weit verfügen, wie es den religiösen Betrieb nicht einschränkte; er konnte aber seine Klöster auch verschenken oder vererben sowie zumeist ohne Rücksicht auf die Rechte des Ortsbischofs die Äbte einsetzen. Diese Einrichtung lässt sich bis in das 5. Jahrhundert zurückverfolgen, entfaltete sich dann in der Karolingerzeit zu voller Blüte und wurde von der Kirche auf einer römischen Synode des Jahres 826 auch offiziell anerkannt: «Ein Kloster oder eine Kapelle, die kirchenrechtlich korrekt eingerichtet worden sind, sollen der Herrschaftsgewalt des Errichters (dominium constructoris) nicht entzogen werden.»[48]

Andererseits gelang columbanischen Klöstern eine Befreiung von amtskirchlichen Strukturen, die sich schon unter Columban selbst abgezeichnet hatte. Vom irischen Gedanken des Klosterbischofs angestoßen, konnten sich Klöster aus der Aufsicht sowie der Vornahme von Weihen und Abtseinsetzungen durch die zuständigen Ortsbischöfe lösen, obgleich diesen das Recht dazu durch das Konzil von Chalkedon (siehe S. 20) uneingeschränkt zugesprochen worden war. Solche Klöster wurden «exemt», das heißt, aus der zuständigen Bischofsgewalt ausgegliedert. An deren Platz konnte prinzipiell die direkte Unterstellung unter das Papsttum treten, wie dies zum Beispiel mit Luxeuil oder dann mit dem Apeninnenkloster Bobbio im Jahre 628 geschah. Auch mit diesen Vorgängen wurden ganz neue Konditionen für die klösterliche Welt geschaffen, die deren Zukunft noch wesentlich prägen sollten.[49]

Mit Bobbio kehrt man nach Italien zurück und damit in einen Raum, in dem zu jener Zeit eine der wichtigsten Weichenstellungen in der Geschichte der Klöster vorbereitet wurde – auch wenn es dann noch etwa zwei weiterer Jahrhunderte bedurfte, bis sie wirklich erfolgte. Es handelte sich um die Präsentation eines Abtes namens Benedikt.

2. DIE BENEDIKTSREGEL UND IHR FORTLEBEN

Benedikt als «Textspur»

IN DEN NEUNZIGER Jahren des 6. Jahrhunderts wurde in Rom von Papst Gregor (I.) dem Großen (590–604) ein Text verfasst, dem in seiner prägenden Bedeutung für die Entwicklung des abendländischen Mönchtums nur wenige andere vergleichbar sind. Angesprochen ist die Wiege des Benediktinertums.

Der Papst wollte in vier Büchern mit dem Titel «Dialoge über das Leben und die Wunder der italischen Väter» (Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum)[505152