Christoph Geisselhart

Maximum Rock

The Who

Die Geschichte der verrücktesten Rockband der Welt

Band 3

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www.hannibal-verlag.de

Impressum

Eine Hannibal-Originalausgabe

© 2012 Koch International GmbH/Hannibal, A-6600 Höfen

© Townshend-Interview 2009: Christoph Geisselhart und Pete Townshend

www.hannibal-verlag.de

Lektorat und Korrektorat: Manfred Gillig-Degrave

Buchdesign und Produktion: bürosüd°, München

Coverdesign: bürosüd°, München

Epub: buchsatz.com

ISBN 978-3-85445-306-2

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags nicht verwertet oder reproduziert werden. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen sowie die ­Einspeicherung und Verarbeitung in ­elektronischen Systemen.

Inhalt

Vorwort

Drittes Buch: Mirror Doors (1978 bis 2009)

1.: „A Face in the Who“: Ein Ex-Mod sorgt für frisches Blut – genau zur rechten Zeit

2.: Wie der Hase so läuft: Der Wandel vom Quartett zur Fünf-Mann-Band

3.: „Dance It Away“: Cincinnati oder der Anfang vom vorläufigen Ende

4.: Empty Glass: Die wilde Tour der leeren Gläser und die Frage, ob Pete im Alleingang die besseren Who-Songs macht

5.: „How Can You Do It Alone?“: Ein neues Album, der nächste Tote und ein fast tödlicher Schuss im Klub der Helden

Erster Einschub: Face Dances

6.: It’s Hard – but gold: Es kommt noch schlimmer und endet trotzdem mit einem Triumphzug

Zweiter Einschub: It’s Hard

7.: „After The Fire“: Eine Zwangspause, in der sich die nächste Generation aufmacht und erste Hilfe bei einem Benefizkonzert leistet

8.: Who’s Better, Who’s Best: Etwas weiser, etwas leiser und eine pompöse Vierteljahrhunderttour, die zu einem sehr einträglichen musikalischen Familienausflug gerät

Dritter Einschub: Join Together

9.: Psychoderelict: Kunstvolle Psychodramen, ein Fahrradunfall und die Erkenntnis, dass man auch noch mit fünfzig Who-Songs singen kann

Bildstrecke

10.: „Pick Up My Guitar And Play“: Ein zweiter Anlauf zu Quadrophenia und späte Früchte des Zorns

11.: „The Vegas Job“: Der Tod eines Jahrtausendmusikers und Petes gefährliche Reisen im Cyberspace

12.: Then And Now: Der Verlust als Katalysator und eine Hexenjagd mit kunstvollen Folgen

Vierter Einschub: Then And Now! (1964 – 2004)

13.: „Fragments of Fragments“: Eine fast vergessene Vision nähert sich der Verwirklichung

14.: Endless Wire: Oder wie man die losen Enden einer langen Geschichte miteinander verknüpft und unsterblich wird

Zwischenspiel von Bernd Hocke: Ein denkwürdiges Treffen im Wohnmobil

Augenzeugenbericht: The Who zu Gast in Fulda-Sickels

Fünfter Einschub: Endless Wire

15.: „Magic Bus“: Die wunderbare Reise geht weiter

„In The Ether“: Ein Interview mit Pete Townshend

Credits

Quellen

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Vorwort und Danksagung

Für den abschließenden Band meiner Trilogie über The Who möchte ich vor allem Peter Townshend und Roger Daltrey danken, deren Musik mich seit dem dreizehnten Lebensjahr begleitet hat und deren biografische Erfahrungen und spannungsreiche künstlerische Partnerschaft mich bis heute inspirieren.

Außerdem geht mein Dank an alle, die bei diesem Projekt mitgeholfen haben (siehe auch die Credits im Anhang). Hervorzuheben sind Christian Suchatzki vom deutschen Who-Forum www.the-who.net und mein Lektor Manfred Gillig-Degrave – beide haben die Entwicklung des Manuskripts zum dreibändigen Gesamtwerk über die Jahre hinweg mit ihrem Fachwissen und Engagement intensiv begleitet und waren eine unverzichtbare Stütze für mich.

Weiterhin möchte ich allen danken, die mir in Leserbriefen zu den ersten beiden Bänden von ihrer Freude an der Biografie und von ihren teils weit zurückliegenden, teils ganz frischen Erlebnissen mit The Who berichtet haben. Das Schöne an diesem Projekt ist und bleibt, dass es um Musik geht und die Teilhabe daran so lebendig ist; dass Musik die Menschen verbindet und auf wundervolle Weise an die Tatsache erinnert, „dass wir alle eins sind“, wie Pete es in unserem Interview formuliert hat.

Christoph Geisselhart

Drittes Buch: Mirror Doors (1978 bis 2009)

„Im Showgeschäfthimmel, hinter der Spiegeltür, stirbt niemand wirklich.“

Pete Townshend, 2006

„Wir wollen eine dauerhafte Karriere.“

Roger Daltrey 1967 im Record Mirror

„Ich bin ein Komponist. Geplagt von Warzen, Arthritis, Taubheit, Bitterkeit und Müdigkeit. Ich bin bereit für meine besten Werke.“

Pete Townshend, 2008

Als Keith Moons sterbliche Überreste am 11. September 1978 dem Feuer von Golders Green überantwortet wurden, einem der ältesten und schönsten ­Krematorien Englands unweit von Keiths Geburtsort im Nordwesten von ­London, glaubten die meisten Rockmusikfans, dass die Geschichte der Who damit ihr vorzeitiges und auch tragisches Ende gefunden habe. Zu unersetzlich für die Band erschien der verrückteste Schlagzeuger, den der Rock’n’Roll jemals hervorgebracht hatte, als dass man es dem Sänger Roger Daltrey, dem Gitarristen und Songwriter Pete Townshend sowie dem zurückhaltenden ­Bassisten John Entwistle zutraute, die Gruppe erfolgreich weiterzuführen.

Bis zu Keith Moons Tod am 7. September 1978 galten The Who als eine außergewöhnliche und authentische Kultrockband der ersten Stunde, die von den langjährigen öffentlichkeitswirksamen Exzessen ihrer Mitglieder nicht nur in publizi­stischer ­Hinsicht profitierte, sondern daraus eine fast magisch anmutende kreative Energie bezog (siehe Band eins und Band zwei dieser Biografie). Die internen Spannungen, die extremen Charakterunterschiede zwischen den ungleichen Mitgliedern der Gruppe, die nicht etwa ein gewiefter Popmanager zusammengestellt, sondern die sich Ende der fünf­ziger Jahre aus einer Schülerband ­entwickelt hatte, gründeten nicht zuletzt in der vielschichtigen, ja undurchschaubaren Persönlichkeit des exzentrischen Medien­profis­ „Moon the Loon“, des leutseligen Drogenexperten und manisch-depres­siven Trommelgenies ­„Moonie“, der mit seinem von Verschwörungstheorien umwölkten Abgang noch einmal die Verkaufszahlen des soeben erst ver­öffent­lichten Albums Who Are You in erstaunliche Höhe trieb – von der ­Platte­ wurden allein in den USA über zwei Millionen Exemplare verkauft, und sie erreichte dort doppelten Platinstatus.

Insofern wirkte der schnelle Vorstoß der Bandleader Townshend und ­Daltrey, man werde die Gruppe selbstverständlich auch nach Keiths Tod ­fortsetzen, nicht nur pietätlos auf die geschockte Rockmusikgemeinde. Nein, man traute es den in die Jahre gekommenen übriggebliebenen Rockdino­sauriern auch nicht mehr zu, sich in einer neuen Besetzung zu bewähren, denn für die Fans waren The Who mit Moons Tod ihres unermüdlichen Motors und Taktgebers unwiederbringlich beraubt.

Für die Insider indes, für die Anführer Pete und Roger wie für das Who-Management, mochte es sich zunächst so anfühlen, als habe man mit dem immer unkontrollierbarer auftretenden Trommeldämon Moonie vor allem eine Menge Ballast verloren; denn selbst wenn man im Who-Camp oft die Augen vor dem tragischen und scheinbar selbst gewählten Niedergang des ehemals jugendlichen Helden verschloss, so waren die Folgen von Keiths jahre­langem nervenzermürbendem Ringen um Ruhm und Aufmerksamkeit auch an den Verantwortlichen der inzwischen auf dem Finanzmarkt erfolgreichen Who Group Ltd., bei der Keith den Posten eines PR-Direktors bekleidete, nicht spurlos vorüber gegangen. Hinter den Kulissen war, trotz aller aufrichtiger Trauer um einen treuen Freund, um einen brillanten Selbstdarsteller und einzigartigen Menschen, fast so etwas wie Erleichterung spürbar, dass eine alptraumhafte Entwicklung, die sich lange angekündigt hatte, nun abgeschlossen und bald überwunden sei – eine fatale Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte. Keith wirkte weiterhin auf die Geschicke der Gruppe ein, bis weit über seinen Tod hinaus, wie vor allem seine Nachfolger auf dem Schlagzeugstuhl erfahren mussten.

Mit der Asche, die über dem toleranten Friedhofsgrün von Golders Green verstreut wurde, lösten sich gleichwohl viele persönliche Beziehungen zu ­Menschen, mit denen die Who durch Keith zuvor eng verbunden waren. Der Ablösungsprozess verlief über weite Strecken überraschend geräuschlos, das heißt: von der Öffentlichkeit unbeachtet. Er war aber für die Betroffenen keines­wegs schmerzfrei. Keith hatte kein gesetzlich gültiges Testament hinterlassen, natürlich nicht, wird jeder sagen, der ihn kannte. Denn erstens rechnete er nicht mit seinem Ableben, sondern hielt sich für unsterblich. ­Zweitens dachte er nie groß über materielle Angelegenheiten nach. Drittens war er schon zum Schreiben zu faul und hätte den Weg zum Notar niemals ohne fremden­ Antrieb geschafft. Und viertens besaß er weniger, als die meisten sich das vorstellen mochten.

Tatsächlich hinterließ Keith Moon mehr Schulden und unbezahlte Rechnungen, als durch seine Tantiemen und durch das Gehalt als PR-Direktor der Who Group Ltd. gedeckt waren. The Who kamen diskret für viele Verbindlichkeiten auf. Allein der Londoner Edeljuwelier Asprey erhielt vom Who-Manager Wiggy Wolff siebentausend Pfund in bar (und war darüber so gerührt, dass er ihm eine goldene Uhr schenkte).

The Who kümmerten sich auch um Keiths Lebensgefährtin, das schwedische Ex-Model Annette Walter-Lax. Der testamentarische Zettel, den sie einst nach ihrer Rückkehr in die von Pete finanzierte Wohnung am Curzon Place entdeckt hatte (siehe Band zwei), tauchte nie mehr in den komplizierten und frustrierenden Erbschaftsverhandlungen auf. Annette nahm die Unterstützung der Who dankbar an, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen ­konnte.­ Sie kaufte sich einen Honda Civic und mietete eine Einzimmerwohnung in Knightsbridge.

Anwälte hatten ihr gesagt, sie könne Ansprüche auf Keiths exklusives kalifornisches Strandhaus erheben, aber sie fühlte sich nach dem Tod ihres anstrengenden Geliebten zu schwach, um für finanzielle oder materielle ­Vorteile zu kämpfen. The Who baten sie bald nach der Beerdigung, Keiths persönliche Habseligkeiten aus Shepperton abzuholen, und als sie sah, wie alles „in einen Raum gestopft worden war, bis zur Decke, gerade so wie ­Bauschutt in einen Container“, ließ sie alles hinter sich und ging: „Ich hatte einfach keine Kraft mehr“, sagt sie.

Sie lernte nach einiger Zeit den englischen Schauspieler Gareth Hunt kennen­ und heiratete ihn schließlich. Die Unterhaltszahlungen, die ihr The Who bis dahin gewährt hatten, wurden eingestellt. Als sie 1981 in Geldschwierigkeiten geriet, verkaufte sie ihre persönliche Keith-Moon-Story an den ­Sunday­ Mirror. Das war das Ende ihrer Beziehung zur Band und zur Familie Moon. Annette zog wieder nach Schweden, wo sie mit ihrem Sohn aus der Ehe mit Hunt lebt, von dem sie mittlerweile geschieden ist.

Kim Moon, Keiths erste Frau, heiratete vier Wochen nach Keiths Tod ihren langjährigen Gefährten, den ehemaligen Keyboarder der Small Faces Ian McLagan. Das Paar wollte mit Keiths und Kims einziger Tochter Mandy ­endgültig nach Los Angeles ziehen, denn „Mac“ hatte in Kalifornien viele berufliche Kontakte. Einzig Keiths Widerstand hatte den Umzug an die amerikanische Westküste bisher verhindert. Nach seinem Tod war dieser Weg frei.

Pete enthüllte im Januar 1979, dass er Mac, der sich nach dem Ende der Faces als zuverlässiger Studio- und Tourmusiker für die Rolling Stones, für Bob Dylan, Bruce Springsteen und Joe Cocker bewährt hatte, auch für The Who ins Auge gefasst hatte: „Ich wollte ihn, weil er nicht nur ein Key­boarder, sondern dazu ein guter Gitarrist ist. Ich hätte ihn wirklich gern gehabt.“

Macs zuversichtliche, gelassene Art gefiel dem Who-Vordenker. Obendrein war der ehemalige Faces-Keyboarder nur eine Woche vor Pete geboren ­worden,­ in Johns Stadtviertel aufgewachsen und mit Keiths Nachfolger Kenney­ Jones in einer Band gewesen. Doch Pete ließ sich davon überzeugen, dass der Beitritt von Ian McLagan keine gute Idee sei. Zuviel wäre durcheinander geraten, wenn der Mann, der Keiths Frau geheiratet hatte, auch noch Mitglied von The Who geworden wäre.

Kim wurde gemeinsam mit Keiths Mutter als Nachlassverwalterin eingesetzt. Man kam überein, das glamouröse, aber heruntergewirtschaftete Strandhaus vor Malibu Beach zu verkaufen, um Keiths Schulden in den USA zu ­tilgen. Kim, Mandy und Mac lebten dort sogar einige Monate, bis das Anwesen­ wieder hergerichtet war. 1980 wurde die Strandvilla für genau eine Million Dollar veräußert – zu den späteren Besitzern zählten übrigens Walt Disneys Tochter sowie die US-Schauspieler Ted Danson und Michael ­Madsen, wobei letzterer die umgebaute Villa zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buchs für über sieben Millionen Dollar zum Kauf ausgeschrieben hatte. Nachdem alle Gläubiger ausbezahlt waren, darunter mit knapp neunzehn­tausend Dollar auch das Cedars Sinai Hospital, das Rechnungen für Keiths diverse­ Entziehungskuren und Behandlungen zwischen Februar und Juli 1977 gestellt hatte, verblieb ein Nettogewinn von rund vierhundertfünfunddreißig­tausend Dollar, der vor allem Mandy zugute kommen sollte.

1988 übergab Kim die Verwaltung von Keiths Erbe vollständig an ihre inzwischen zweiundzwanzigjährige Tochter. Die Neuveröffentlichung vieler Who-Alben auf CD in den neunziger Jahren brachte neue Tantiemenzahlungen ein, die sie nicht mehr erwartet hatte, und so versöhnte sich Amanda Jane Moon allmählich mit dem in vielerlei Hinsicht schwierigen Erbe ihres berühmten Vaters. Sie träumte davon „Perkussionistin zu werden“, begann ­Schlagzeug zu spielen und nahm an Keiths Stelle am 17. Januar 1990 in New York die wahrscheinlich höchste Auszeichnung in der Rockmusik entgegen, als The Who offiziell in die „Rock’n’Roll Hall Of Fame“ aufgenommen wurden.­

Die Schattenseiten ihres Erbes wurden durch den Eintritt ins Showbiz allerdings ebenfalls bald offenbar: Sie bekam selbst Probleme mit dem Alkohol, und ihr Privatleben war alles andere als glücklich. Erst im Alter von dreißig Jahren und nach zwei gescheiterten Ehen schien sie etwas zur Ruhe zu kommen. Sie eröffnete ein Modegeschäft in Los Angeles, heiratete ein drittes Mal und hat zwei Töchter. Kim wurde also Großmutter. Mandy sah man 2006 am Messestand des Schlagzeugherstellers Premier, wo sie eine Neuauflage von Keiths berühmtem Pictures-of-Lily-Drumkit öffentlichkeitswirksam bewarb, und zuletzt im November 2007 neben Pete in der Attic Show in Los Angeles.

Kim und Mac verließen Los Angeles nach einem Erdbeben Anfang der neunziger Jahre und zogen nach Austin, Texas, wo die Musikszene gemäßigter und „gesünder“ war für Mac. Die McLagans hielten aber den Kontakt zu den Who, nicht zuletzt über Ronnie Lane, der wie Pete ein Jünger des Gurus Meher Baba war und in Texas lebte, bis er 1997 an multipler Sklerose starb. Kim arbeitete in einer Gesundheitsfarm am Lake Austin und machte sich schließlich mit einem Kosmetiksalon selbstständig. Nachbarn, Freunde und Bekannte schätzten die freundlichen, einfach lebenden McLagans; von ihrer bewegten britischen Vergangenheit war wenig bekannt. Die Ehe verlief sehr glücklich, blieb aber kinder­los (Mac hatte einen Sohn aus erster Ehe). Kims tödlicher Autounfall am 2. August 2006 in der Nähe von Austin riss das Paar schmerzhaft auseinander.

Kim wurde siebenundfünfzig Jahre alt. Ihr Mann gründete eine Stiftung in ihrem Namen, die Frauen gegen häusliche Gewalt unterstützt, und Pete würdigte Kim mit einem kurzen Nachruf im Begleittext zum Who-Album Endless Wire – als eine von drei wundervollen Rock’n’Roll-Frauen, die zu früh starben (die beiden anderen waren Chrissie Wood und Susie Cunningham). Mac spielte­ auch Ende 2008 noch jeden Donnerstagabend mit seiner Bump Band im Musikklub Lucky Lounge in Austin; er tourte im Sommer durch Groß­britannien, brachte eine neue CD heraus und reiste Anfang 2009 mit dem kritischen­ Amerikana-Barden James McMurtry durch Deutschland. Mac wirkt trotz der Trauer um die Liebe seines Lebens positiv und gefestigt.

Und sonst? Was blieb vom „besten Rockdrummer der Welt“, wie Roger ihn nannte, der sich mit zunehmender Vehemenz gegen Pete stellte, weil der für Keith zu schnell einen Nachfolger installierten wollte?

„Keith war ein so außergewöhnlicher Schlagzeuger, dass jeder Versuch, ihn zu ersetzen, lächerlich gewesen wäre“, meint Roger. Wäre es nach Roger gegangen, hätten The Who Keiths Erbe mit nach Bedarf angeheuerten Aushilfs­kräften verwaltet. Stattdessen kam Kenney Jones – ein Ex-Faces auch er – und mit ihm eine glückliche Fügung des Schicksals: die Rückkehr des Modkults. Die ersten Tourneen wurden eine enthusiastisch gefeierte Neugeburt.

Allerdings steuerten die Who schon bald nach der Tragödie von Cincinnati im Dezember 1979 (siehe Kapitel drei) einer zähen Agonie entgegen. Nach zwei mittelmäßigen Platten wurde die Krise offenbar, und Pete verkündete fast genau vier Jahre nach der Katastrophe im Dezember 1983 das Ende der dienstältesten Rocktitanenband. (The Who wurden zwar offiziell nach den Rolling Stones gegründet; wenn man aber die Jugendband The Detours mit dem Trio Roger, John und Pete in die Rechnung einbezieht, liegen sie um etwa ein Jahr vor den Stones.)

Der Exitus bestätigte damals nur, was jeder empfand: Die Zeit der großen Rockbands war vorüber. Musik wurde endgültig zum Konsumgut. Ver­packung, Oberfläche, Show war alles; entsprechend seicht und unbedeutend wurde der Inhalt. In solchen Zeiten schien eine Band fehl am Platz, die stets mehr gewesen war als eine gewöhnliche Rockgruppe. Die achtziger Jahre, die nur für Kulturpessimisten, Zyniker und Verpackungskünstler eine glor­reiche Zeit waren, bedeuteten für Who-Fans ein Fegefeuer. Häufig vernahm man Gerüchte um angebliche Wiedervereinigungen, doch in der Realität musste­ man sich mit meist eher deprimierenden Kurzauftritten à la Live Aid 1985 zufrieden geben.

Erst 1989, zwanzig Jahre nach Tommy und ein Vierteljahrhundert nach der Gründung der Band, tauchten The Who wieder aus der Versenkung auf, mit einem gigantischen Rockensemble im Rücken und mit dem Filigrantech­niker Simon Phillips am Schlagzeug. Unmittelbar nach der bis dahin goldensten Who-Tournee aller Zeiten, die jegliche finanzielle Probleme bereinigte, die vor allem den Bassisten John Entwistle zum Handeln gezwungen hatten, wurde es erneut still um die Band.

Das nächste Revival, die musikalisch womöglich noch exorbitantere Quadro­phenia-Tour 1996/1997, eröffnete nahezu unbemerkt die Chance, vom Image der Tributeband wegzukommen, die sich zwar selbst besser zitierte als jede andere Formation, aber letztlich nur von der Erinnerung an ­bes­sere Zeiten und deren kommerzielle Nutzung lebte. Petes jüngster Bruder Simon sowie Keiths geistiger Nachkomme Zak Starkey betraten nun die Bühne, und sie blieben der Band verbunden, obwohl The Who zwischen den lukrativen Tourneen eher phantomgleich durch die Köpfe ihrer Fans ­geisterten. Diese zweite Generation von Musikern bildete ein verlässliches Gerüst um Pete und Roger, die so lange umeinander kreisten, bis ihre manchmal wie betoniert wirkende Rivalität durch zwei tief eingreifende Ereig­nisse aufgebrochen wurde: durch den skandalumwitterten Tod von John, der Pete einst in Rogers Band gelotst hatte und als Bindeglied zwischen den beiden Leitwölfen eigentlich unverzichtbar war, und durch Petes unbedachte ­Verstrickung in die umfassendste Ermittlungsoperation, die FBI und Scotland Yard je im Internet durchgeführt haben. Diese beiden existenziellen Erfahrungen öffneten The Who schließlich jene magisch-vage „Spiegeltür“, die Pete als Sinnbild für die letzte Schwelle zur Unsterblichkeit formuliert hatte: eine Schwelle, die jeder Künstler zu überwinden hat, will er die ganze Wahrheit erfahren.

„Im Showgeschäfthimmel, hinter der Spiegeltür, stirbt niemand wirklich“, verkündete er 2006 und meinte damit wohl: Ein Leben lang starren Künstler und Publikum auf die von Triumphen glänzende Pforte der Selbstbeschau; doch der Eintritt in den erahnten zeitlosen Raum dahinter bleibt dem Künstler verwehrt, so lange er in der Fixierung auf sein trügerisches Abbild ­verhaftet ist. „Das größte Problem in unserem Geschäft ist das Ego“, formulierte Roger es bündiger.

Beinahe ein Vierteljahrhundert lang blieb der schillernde Durchgang für die drei überlebenden Ur-Who-Musiker Roger, John und Pete verschlossen, deren „Ego zu groß war, als dass sie es gemeinsam in einem Raum aus­hielten“, wie Johns zweite Ehefrau Maxine Entwistle einmal sagte. Erst mit Johns Tod im Sommer 2002 zersplitterten die Spiegel, ein Tommy-Motiv ­übrigens, und die beiden verbliebenen Antagonisten Roger und Pete, ihres diplomatischen Vermittlers beraubt, standen einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Wie sollte, wie konnte es weitergehen?

In den vierzehn Jahren der Maximumbesetzung mit Keith Moon wurde fast alles erschaffen, was den Mythos The Who begründet hat und wovon die Band bis heute zehrt. Erst Endless Wire, das erste komplett neue Who-Studioalbum nach vierundzwanzig Jahren, sowie eine phänomenale Welttournee, die über ein Jahr dauerte und den Who-Fans in Deutschland insgesamt zehn Konzerte­ bescherte, standen für einen neuen Anfang.

Oder nicht?

„Mich erstaunt immer wieder, dass ich fast wöchentlich von neuen Who-Fans kontaktiert werde“, sagt Christian Suchatzki, der die deutsche Anhänger­schaft seit Einführung des Internets über seine Fanpage www.the-who.net organisiert und Kontakte zur Who-Gemeinde in aller Welt pflegt. „Und deren Alter reicht von acht bis über sechzig Jahren – das ist absolut genial.“ Wer eines der Konzerte der Welttournee 2006/2007 besucht hat, weiß, warum die Gefolgschaft eher wieder jünger wird als älter.

Dieses Buch wurde in einer schwülwarmen Sommernacht 2006 geboren, genauer gesagt am 23. Juli, als The Who unter dem von starken Schein­werfern bestrahlten Ulmer Münster ein grandioses Konzert gaben. In jener Nacht keimte der Entschluss, ein deutschsprachiges Buch über diese ­Gruppe­ zu schreiben – weil der Autor es kaum fassen konnte, dass Roger und Pete nach fast einem halben Jahrhundert auf der Bühne immer noch so vital waren, so ungebrochen kraftvoll und fast besser denn je spielten. Das war nicht zu erwarten gewesen, und dafür wirkten viele Fans auf dem Münsterplatz aufrichtig dankbar; vielleicht weil sie über die kraftvolle Musik vergaßen, dass sie älter geworden waren, vielleicht weil sie sich aber auch mit einem oft vergessenen Teil ihrer Vergangenheit neu verbunden und versöhnt fühlten. Was die jüngeren Hörer an der Musik ihrer Väter fasziniert, lässt sich mit Sicherheit sagen: „Rockmusik ist einfach geil“, so ein Sechzehnjähriger in Ulm. Rockmusik ist längst ein „klassisches“ Genre geworden, und die Botschaft des Rock’n’Roll ist unsterblich.

Es scheint, als ob The Who und einige andere Bands aus den Sechzigern mit ihrer Musik eine Art zeitfreien Tunnel geschaffen haben, der es Menschen ermöglicht, problemlos in ihre Vergangenheit zu reisen und von dort aus noch weiter bis an den Grund ihres Seins.

„Was The Who heute noch so interessant macht“, erklärt Pete, „ist ­weniger die Gruppe an sich, sondern die Zeit, in der alles angefangen hat. Und lange bevor die Jugendrebellion und all das angefangen hat, war da die Musik, diese Tiefe, die ohne Zeit ist.“

Die Tiefe ohne Zeit hat schließlich auch The Who erfasst. Aber der Weg dorthin war sehr beschwerlich, wie wir noch sehen werden.

1.: „A Face in the Who“: Ein Ex-Mod sorgt für frisches Blut – genau zur rechten Zeit

„Wenn ihr einen Schlagzeuger braucht – ich würde den Job liebend gern übernehmen.“

Phil Collins bietet sich als Keiths Nachfolger an

„Ich konnte in keinen Klub mehr gehen, ohne dass jemand am Nebentisch mit seinem Besteck lostrommelte – in der ­Hoffnung, von mir entdeckt zu werden.“

John

„Er war der einzige, bei dem wir nicht immer dachten: Wo ist Keith?“

Pete über Keiths Nachfolger Kenney Jones

„Kenney war ein guter Schlagzeuger und ist ein netter Kerl – aber er war nicht im Entferntesten der richtige Drummer für The Who.“

Roger über Kenney Jones

„Ich wünschte, wir wären mehr wie The Who gewesen – wenn die ein Problem hatten, machten sie so lange daran herum, bis sie es überwunden hatten.“

Kenney vergleicht seine frühere Band Small Faces mit den Who

Als Kenneth Thomas Jones am 16. September 1948 in Stepney geboren wurde, einem Arbeiterviertel im Londoner East End, hätten sich seine Eltern sicher nicht vorstellen können, dass ihr Sohn einmal so berühmt werden würde, dass er mit dem britischen Thronfolger hoch zu Ross Polo spielen durfte. Sein Vater war Lastwagenfahrer, und seine Mutter arbeitete in einer Glasmanufaktur.

Kenney, wie der Junge bald genannt wurde, war ein geliebtes Einzelkind und Sternzeichen Waage wie John. Er war ein ausgeglichener, fröhlicher Junge, der sich im Teenageralter zur Überraschung seiner Eltern, die alles andere als musikalisch gewesen waren, in den Kopf setzte, Drummer zu werden. Er trommelte der Legende nach solange auf Keksdosen herum, bis er sein erstes Schlagzeug geschenkt bekam, ein weißes Olympic für die damals stolze Summe von vierundsechzig Pfund.

Kenney wuchs im Teenageralter zu einem waschechten Mod heran. Er war drei Jahre jünger als Pete und John, und so erfasste ihn der Modkult im richtigen Alter. Mit Ronnie Lane spielte er in einer Jugendband, bis sie den Sänger Steve Marriott in einem Musikgeschäft kennen lernten. Mit Marriott und Lane gründete der erst sechzehnjährige Kenney die Small Faces, eine der wenigen echten­ englischen Modbands, die zweifellos authentischer war als die von Peter Meaden­ auf den Modkult hingetrimmten High Numbers, wie The Who einige Monate während des Siegeszugs der Mods im Jahr 1964 hießen (siehe Band eins). Der legendäre britische­ Musikmanager Don Arden, dem der einschüchternde Beiname „Al Capone des Popgeschäfts“ anhing, verschaffte den Small Faces innerhalb kürze­ster Zeit einen Plattenvertrag mit Decca.

Schon die erste Single, „Whatcha Gonna Do About It“, die im August 1965 veröffentlicht wurde, war ein Kassenerfolg. Von Platz vierzehn in den britischen Charts aus konnten die Small Faces zu ihren späteren Labelkollegen The Who hochschielen. Anfang 1966 überholten sie die Berufsgenossen sogar: Petes Komposition „Substitute“ kam nur auf Rang fünf der Charts, während die zweite Faces-Single, „Sha La La La Lee“, Platz drei erreichte. Und mit „All Or Nothing“ gelang den Small Faces im August 1966, was The Who nie schafften: ein unanfechtbarer Nummer-eins-Hit. Petes Who-Komposition „I’m A Boy“, die fast zeitgleich erschien, wurde nur Zweiter.

Als der Modkult verebbte, verkaufte Don Arden „seine“ Band für ­fünf­und­zwanzigtausend Pfund an den Stones-Manager Andrew Loog Oldham. Offiziell begründete der Poppate das Zerwürfnis mit dem exzessiven Drogenkonsum der Bandmitglieder, deren viel beschworenes Zusammen­ge­­hö­rig­keits­­gefühl darunter jedenfalls erkennbar zu leiden begonnen hatte. Steve Marriott, der eine ähnlich kraftvolle und markante Stimme hatte wie Roger Daltrey, rückte sich immer unverblümter in den Vordergrund, während die stilleren Ronnie Lane, Ian „Mac“ McLagan und Kenney Jones nach außen nur noch wie seine Begleitgruppe wahrgenommen wurden. Während eines Konzerts zum Neujahrstag 1969 verließ Marriott abrupt die Bühne und im gleichen Atemzug auch die Band und kehrte­ nicht zurück. „Ich wünschte, wir wären damals erwachsener gewesen“, beklagte Kenney­ noch ein Vierteljahrhundert später die verpasste ­Chance. „Ich wünschte,­ wir wären wie The Who gewesen. Wenn die ein Problem hatten, blieben sie trotzdem zusammen und machten so lange daran herum, bis sie es überwunden hatten.“

Den Small Faces war nach Marriotts Ausstieg wenig Zählbares von ihrem Ruhm geblieben. McLagan berichtet sogar, dass ihre Manager stattdessen plötzlich jede Menge Geld von der Band forderten, für angeblich geleistete Vorauszahlungen, Auslagen wie Kleider, Hotels, Autos, Drogen …

„Fakt ist, dass wir nie irgendwelche Tantiemen von Don Arden bekommen haben und dass Decca erst nach Steve Marriotts Tod 1991 die uns zustehenden Anteile rausrückte“, beschreibt Mac das finanzielle Debakel der Small Faces. Die Zusammenarbeit mit den besten britischen Tonmeistern der sechziger Jahre, Glyn Johns und George Chkiantz, hatte ihnen zwar noch einige Hits beschert, „Itchycoo Park“ und „Lazy Sunday“ vor allem; aber den retten­den Imagewechsel von der Modband zur kultigen Popgruppe, wie es die Who vorexerziert hatten, schafften die Small Faces nicht mehr. Hauptsächlich weil die Band nicht Steve Marriott folgen wollte, der sich ambitionierten Projekten zuwandte. „Eigentlich hatte Steve damals die Nase vorn mit seinem psychedelischen Märchen Ogdens’ Nut Gone Flake, und zwar mehr als wir ahnten“, berichtet Kenney vom Wettlauf um die erste Rockoper (siehe Band eins dieser Biografie). „Ogdens’ war ein Meisterwerk. Hätten wir es live gespielt, wären wir damit groß rausgekommen.“

Stattdessen ernteten The Who mit Tommy alle Lorbeeren, und Marriott gründete mit dem Gitarristen Peter Frampton (von The Herd) die Gruppe Humble Pie, die vor allem in den USA bis 1975 recht erfolgreich war. Aus den Small Faces wurden dann die Faces, zu denen Gitarrist Ron Wood und ­Sänger Rod Stewart stießen. Diese Auffrischung sorgte immerhin dafür, dass sich die Band noch so lange hielt, bis auch Rod Stewart als Solist erfolgreicher als die Gruppe wurde. Die daraufhin eingeleitete mühselige Reunion mit dem geläuterten Steve Marriott konnte das Ende einer der einflussreichsten britischen Bands der sechziger Jahre nicht mehr verhindern. Den Faces fehlte vor allem ein geschäftstüchtiger Führer, der auch die wirtschaftlichen Aspekte im Auge behielt und gegenüber raffgierigen Managern so entschlossen auftrat wie Roger für die Who oder Mick Jagger bei den Stones. Aus diesem Grund stieg auch Ron Wood schließlich lieber bei den Rolling Stones ein. Mac arbeitete, wie bereits erwähnt, als Studiomusiker und ließ sich für Tourneen erfolg­reicher Kollegen engagieren; er heiratete Kim und siedelte in die USA über. ­Ronnie Lane zog sich infolge seiner Erkrankung an multipler Sklerose vom Show­geschäft weitgehend zurück und verfolgte, abgesehen von seiner Zu­sam­men­­arbeit mit Pete, eher esoterische als musikalische Ziele. Nur Kenney, der Drummer,­ wusste nicht so recht, was er machen sollte.

Die Who und die Faces kannten einander seit vielen Jahren. Sie hatten die legendäre Ozeanientournee 1968 gemeinsam bestritten und untereinander kreuz und quer Freundschaften geknüpft. Pete und Ronnie bildeten die bekannteste Verbindung, aber auch Keith und John verstanden sich gut mit ihren Modvettern aus dem Londoner Osten – Keith mit Mac allerdings nur noch bedingt, nachdem der Kim gefreit hatte.

John war besonders gut mit Kenney befreundet. Während der Aufnahmen am Tommy-Soundtrack hatten Pete und John verschiedene Schlagzeuger ausprobiert, und beide Who-Saitenspieler waren der Meinung gewesen, dass Kenney am besten zu ihnen passte. Also schlug John sofort Kenney vor, als man über potenzielle Nachfolger für Keith debattierte. Er wollte keine Zeit verlieren und die leidigen Diskussionen über die Zukunft der Gruppe möglichst schnell beenden. „Kurz nach Keiths Tod musste ich in die USA, um den Soundtrack von The Kids Are Alright fertigzustellen“, erinnert sich John. „Ich konnte in keinen Klub mehr gehen, ohne dass jemand am Nebentisch mit seinem Besteck los­trommelte – in der Hoffnung, von mir entdeckt zu werden.“

Neben den vielen Namen von britischen Drummern, die in der Öffentlichkeit als Keiths Nachfolger genannt wurden, gab es auch einige Kollegen, die sich selbst ins Gespräch brachten. „Als Keith starb“, erzählt Phil Collins, dessen­ Gruppe Genesis dem vorläufigen Ende zusteuerte, „rief ich Townshend an und sagte: ‚Wenn ihr einen Schlagzeuger braucht – ich würde den Job liebend gern übernehmen.‘ Ich wusste, dass man Feuer braucht, um mit The Who zu spielen, und das hatte ich. Zu ihren Songs hatte ich einst vor dem Spiegel Schlagzeugspielen gelernt. Pete antwortete: ‚Ja, Mann, das wäre toll, aber Kenney Jones ist schon auserkoren, die Nachfolge zu übernehmen.‘“

In dieser etwas steifen Formulierung dringt zweierlei durch: Erstens hatten­ sich The Who viel früher auf Kenney festgelegt, als sie das öffentlich bekannt gaben. Vermutlich hatten Pete und Kenney schon im Oktober ­­darüber gesprochen, als sie gemeinsam an Paul McCartneys Rockestra mit­­wirkten. Die offizielle Vorstellung folgte trotzdem erst im Winter.

Und zweitens war die Entscheidung für Kenney nicht ganz frei von Nebengeräuschen. Roger nämlich stellte sich quer. Er wollte weder den Ex-Faces-Drummer, dem er nicht zutraute, in Keiths Fußstapfen zu treten, noch wollte er irgendeinen vierten Musiker kurzerhand als vollwertiges Bandmitglied aufnehmen, wie John und Pete das vorhatten. The Who hatten schließlich fünfzehn Jahre lang hart dafür gearbeitet, um so weit zu kommen, und er hielt es für ungerecht, unklug und unnötig, einem neuen Mann sofort die gleichen Rechte und Gewinnanteile zuzugestehen.

„Niemand konnte Keith ersetzen“, erklärt Roger. „Er war der beste Schlagzeuger der Welt. Wir hatten nach seinem Tod die Chance, vollkommen frei zu entscheiden und alles mögliche auszuprobieren. Meinetwegen hätten­ wir sogar mit einem Streichquartett experimentieren können. Ich hatte wegen Kenney scheußliche Streitigkeiten mit Pete. Kenney war sicherlich ein guter Drummer und ein prima Kerl, aber er war nicht der richtige Schlagzeuger für The Who. Sein Stil passte nicht. Aber keiner wollte auf mich hören. Ich ging sogar so weit, dass ich Pete vor die Wahl stellte – entweder Kenney oder ich. Pete meinte nur gelangweilt: ‚Ich schätze, das ist überhaupt keine Frage …‘ Er teilte mir sozusagen mit, dass ich die Band verlassen sollte. Ich war völlig verzweifelt. Wir kriegten die Sache schließlich auf die Reihe, aber wieder war ich es, der seinen Stolz herunter­schlucken­ musste. Ich musste eine Menge Scheiße fressen über all die Jahre, damit alles heil und zusammen blieb.“

Über seinem Schmerz übersah Roger vermutlich, welch glückliches ­Händchen der Who-Vordenker bei seiner Wahl für Kenney Jones in anderer ­Hinsicht bewies. Oder war es Zufall, dass der ehemalige Schlagzeuger der Modband Small Faces just zu einem Zeitpunkt den vakanten Posten bei The Who besetzen sollte, da die Who-Unternehmensgruppe den Plan gefasst hatte, Petes Modstory Quadrophenia zu verfilmen?

Wir erinnern uns, dass Manager Bill Curbishley genau an Keiths ­Todestag die Finanzierung des Films unter Dach und Fach gebracht hatte. Nachdem man verschiedene Regisseure und Drehbuchautoren mit der ­Produktion in Verbindung gebracht hatte, fiel die Wahl schließlich auf den britischen ­Filmemacher Franc Roddam, der bereits im Oktober mit der Arbeit an ­Originalschauplätzen in Brighton begann. Pete und Roger wollten Quadrophenia unbedingt so realistisch wie möglich anlegen und nicht als fanta­stisches, grellbuntes Psychoabenteuer wie Tommy, was abermals dafür spricht, dass The Who die für viele überraschende Wiederkehr des Modkults zum Ausgang der siebziger Jahre frühzeitig erkannt hatten und sogar entscheidend mit prägten.

Regisseur Roddam hatte zuvor eine erfolgreiche Reality-Serie (The Family) für die BBC gedreht, und sein letzter Film, ein von vierzehn Millionen fas­zinierten Briten mitverfolgtes Fernsehspiel namens The Dummy, behandelte das tragische Schicksal einer taubstummen älteren Prostituierten. Pete hatte das außergewöhnliche Fernsehdrama gesehen und war davon begeistert. Genau so eindringlich und wirklichkeitsnah wollte er seine vor fünf Jahren vertonte Rockoper Quadrophenia auf der Leinwand sehen.

The Who sollten in ihrem Film übrigens nicht selbst auftreten, obwohl sie ihn produzierten. Bill Curbishley und sein Mitarbeiter Roy Baird, der auch den Kontakt zu Roddam hergestellt hatte, übernahmen die Leitung über die zweieinhalb Millionen Dollar teure Produktion und hielten den langwierigen Entstehungsprozess eisern durch.

„Es ist viel schwieriger, einen Film zu produzieren, als einen zu drehen, denn letztlich überantwortet man seine Story dem Regisseur“, sagt Pete. „Das erste Drehbuch schrieb ich mit Chris Stamp; es enthielt noch keine Gewaltszenen. Für mich fand die Gewalt in den Köpfen der Jungen statt. Mein Drehbuch war mehr eine Studie über spirituelle Verzweiflung, über eine Hoffnungslosigkeit, die dazu führt, dass jemand das erste Mal in seinem Leben erkennt, wie wichtig es ist, sein Herz zu öffnen. Da ging es noch nicht um Blut oder um Schneid, um Blitz und Donner, wie später im Film. Franc Roddam dachte wohl, das macht gutes Kino aus.“

Roddam bearbeitete Petes Ausgangsstory mit zwei Autoren so lange, bis ein klares Skript entstand, das dennoch „den Geist des Who-Albums enthält“, so die Vorgabe des Managements. Roddam traf zu diesem Zweck auch mit Pete zusammen und erzählte beeindruckt:

„Er ist außerordentlich intelligent, wach und gut informiert. Ein sehr ­reicher­ Mann, aber immer noch mit allem verbunden und berührbar. Die Kernidee von Quadrophenia ist, dass einem nicht erlaubt wird, man selbst zu sein. Von der Familie kommt Druck, von der Schule, vom Beruf, und wenn man sich entwickeln will, muss man diesem Druck standhalten. Ich versuche, diese Idee des Albums in bewegte Bilder zu übersetzen, aber die Musik spielt dabei eine geringere Rolle. In Tommy dominierte die Musik den Film, war seine treibende Kraft und kontrollierte die Handlung. In Quadrophenia ergänzt und unterstützt die Musik die Handlung nur, sie greift kaum bestimmend ein. Das war eine ziemlich schwierige Entscheidung, denn damit wurde die Musik in den zweiten Rang versetzt. Auf diese Weise wurde es eine ganz andere Art von Film als Tommy“.

Das war auch notwendig, sollte dem Leinwandepos nicht das gleiche Schicksal widerfahren wie Petes gleichnamigem Album von 1973. Die Story von Quadro­phenia hatte im wichtigsten Musikmarkt der Welt, in den USA, zu wenig Eindruck hinterlassen, da der Modkult ein vorwiegend britisch-urbanes Phänomen gewesen war. Eine weitere Aufgabe von Franc Roddam bestand deswegen darin, die Geschichte von ihrem soziologischen Binnencharakter zu befreien. Letztlich sollte es eine sensible Studie um die ewigen Themen von männlichen Heranwachsenden werden: Konfrontation mit Autorität und Gewalt, Revolte, Auflehnung, Frustration. Das waren nicht bloß Aspekte der Modbewegung, sondern im Kern die Ursache dafür, dass sich so viele männliche Jugendliche auf der ganzen Welt mit den Who und ihrer energiegeladenen Musik identifizierten.

Petes kunstvolle Konstruktion der vier Persönlichkeitsanteile von Jimmy, dem unsicheren Quadrophenia-Helden, der vorwiegend in Konflikt mit sich selbst stand, wurde effektvoll nach außen verlagert: auf den mythologisierten Konflikt zwischen Rockern und Mods, sowie auf die Fragen, welcher Kleiderordnung man sich zugehörig fühlte, ob man lieber Harley oder Vespa fuhr oder sich eher mit Pillen als mit Bier zudröhnte. Was viele Kritiker bei dieser simplen Struktur übersahen, war, dass Heranwachsende sich tatsächlich mit solchen Problemen beschäftig­ten. Selbst Pete, der doch völlige Wirklichkeitsnähe wollte, aber schon deutlich über dreißig war, hatte vergessen, wie stark sich Teenager nach Identität und Absicherung durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe sehnten. Er meinte:

„Für das ganze Klamottentheater rund um die Mod-Renaissance waren doch vor allem The Jam verantwortlich,“ – eine englische New-Wave-Band, die sich stark an The Who orientierte – „die hatten damit angefangen, während wir bloß das Glück hatten, dass es den Film gab. Vor unserem ersten Konzert nach Keiths Tod im Rainbow konnte ich nicht widerstehen, zu den langen Reihen von Jugendlichen raus zu gehen, die alle Parkas mit Who-Stickern trugen. Ich fragte: ‚Habt ihr schon mal The Who spielen sehen?‘ Ein Junge drehte sich um, er hatte keine Ahnung, wer ich war. Er warf mir bloß einen Blick zu, in der Richtung von: ‚Hau ab, du altes Arschloch.‘ Und mir wurde plötzlich klar, dass unser Logo mit dem Modkreis nur ein Symbol war wie die verdammte Swastika für die Hell’s Angels. Es bedeutete ihnen nichts.“

Ich denke, Pete täuscht sich. Symbole haben immer eine Bedeutung, selbst wenn es eine verfälschte, geklaute oder missverstandene Symbolik ist; besonders Letzteres verstärkt ihre Wirkung oft sogar noch. Ich habe während der Arbeit an dieser­ Biografie mit vielen Who-Fans in Deutschland gesprochen und immer wieder überrascht erfahren, dass viele der zwischen 1960 und 1970 geborenen Anhänger erst über den Quadrophenia-Film Zugang zu The Who gefunden hatten, als sie genau im richtigen Alter waren, um sich mit Hilfe der Kernbotschaft hinter dem Mod-Epos selbst zu ergründen. Der Modkult stellte­ für diese Generation eine Art von Matrix dar, die gerade deswegen so geeignet schien, weil sie vergangen war und keinerlei sonderlich tiefgründigen Ziele oder Inhalte verfolgte.

Unter diesem Gesichtspunkt ist natürlich fraglich, ob der ursprüngliche Modkult von 1962 bis 1964 wirklich „authentischer“ war als seine Neuauf­lage fünfzehn Jahre später, wie Pete es beklagte. Eine Kultur, die so stilfixiert war, dass ihr jede innere Bedeutung im Grunde abging, besitzt in sich wenig nachvollziehbare Echtheit. Irish Jack, der in dieser Zeit am Ort des Geschehens aufwuchs, und frühe Who-Fans wie Christian Suchatzki werden dieser Aussage vermutlich nicht zustimmen, doch ich meine festgestellt zu haben, dass die in sich eher sinnleere Ausrichtung der Modkultur 1979 keine Wandlung erfahren hatte – nur die historischen Rahmenbedingungen waren andere, die Gesichter, und natürlich auch Petes eigene Haltung.

Die nächste wichtige Personalentscheidung, die für The Who anstand, war die Besetzung der Hauptrolle von Jimmy dem Mod im Film. Interessanter­weise boten sich dafür reihenweise junge Punk- und New-Wave-Musiker an. Auch der Sänger der Sex Pistols, Johnny Rotten, fragte persönlich bei Pete nach, ob er die Rolle haben könne. Die Branche schien förmlich darauf zu warten, dass die Who als Paten sowohl der wiederauflebenden Modbewegung als auch des allmählich schon wieder verebbenden Punkrocks erneut eine ­Vorreiterrolle einnahmen. Keine andere Band besaß diese auf den Zeitpunkt so perfekt zugeschnittene Vergangenheit und Reputation für beide vorherrschenden Musiktrends des Jahres 1979, Modkult und Punkrock. Die Rock­dinosaurier The Who standen damit vor einer erstaunlichen Wiedergeburt.

Jimmys Rolle wurde schließlich mit dem weithin unbekannten Schau­spieler Phil Daniels besetzt, der bis dahin nur eine Statistenrolle in Bugsy Malone­ und einige Fernsehauftritte vorweisen konnte. The Who suchten wohl mit Absicht nach unverbrauchten Gesichtern. „Die meisten Jugendlichen in dem Film waren tatsächlich Mods aus Sheffield, aus Stafford und aus ähnlichen Ortschaften“, sagt Pete. „Und sie trugen wirklich Parkas und fuhren Motorroller. Wir hatten einfach Glück, dass in den achtzehn Monaten, in denen wir den Film machten, diese Modgeschichte wieder losging, wobei einige von den Jungs uns erklärten, dass die Geschichte des Modkults nie auf­gehört hatte.“

Kenney Jones, der ehemalige Drummer einer der bekanntesten Mod­gruppen überhaupt, bedeutete für The Who, die mit ihrer Modtradition nach „My Generation“ sehr bewusst und aus strategischen Gründen gebrochen hatten, sicher mehr als nur „eine enorme Blutauffrischung“, wie Pete meinte.­ Die Wahl auf Kenney fiel wie bei den meisten wichtigen Who-Entscheidungen in einer demokratischen Abstimmung. Alle Gruppenmitglieder sowie Manager Curbishley besaßen je eine Stimme. Pete und John sprachen sich ohne Zögern für den schulmäßig trommelnden Ex-Mod Kenney aus, Roger stimmte gegen ihn. „Ich wollte künftige Pattsituationen verhindern“, er­läutert Curbishley seine ausschlaggebende Zustimmung für Kenney. „Wir ­hatten keine Zeit für so etwas.“

Der Erwählte bat sich zur Überraschung aller eine kurze Bedenkzeit aus. Der berühmte britische Tonmeister Glyn Johns hatte gerade eine neue Band zusammengestellt, bei der Kenney das Schlagzeug übernehmen sollte. Diese Gruppe war ein anglo-amerikanisches Sextett namens Lazy Racer. Es gab bereits einen Plattenvertrag, und die Band wollte in den nächsten Tagen nach Nassau fliegen, um dort das erste Album aufzunehmen – als Bill Curbishley anrief. „Am nächsten Tag trafen wir uns zum Mittagessen, Pete, Bill und ich“, erzählt Kenney. „Ich sagte nicht sofort zu, sondern redete erst zwei Stunden lang mit Pete, ehe ich schließlich doch einschlug. The Who waren einfach näher an meinen Ursprüngen dran als eine Gruppe mit drei Amerikanern und drei Engländern.“

Was Kenney zu erwähnen vergaß: The Who boten ihm zudem vor allem die Aussicht auf eine schnelle Konsolidierung seiner zumindest wackligen Finanzen. Nach allem, was man hörte, war der zuvor wenig beschäftigte Ex-Faces-Drummer hoch verschuldet. Den Eintritt in eine der erfolgreichsten Rockgruppen der Musikgeschichte dürfte deswegen auch er selbst als seinen persönlichen Glücksfall betrachtet haben. „Ich war mein Leben lang immer in Bands gewesen, die sich auflösten“, meinte Kenney. „Und deswegen glaubte ich, dass ich mit The Who eine gute Wahl getroffen hatte.“

Tja, was soll man dazu sagen? Vier Jahre später war es wieder soweit: The Who lösten sich auf, und Kenney Jones wurde von seinem Trauma abermals eingeholt. Aber zuvor konnte er sich eine Basis schaffen, die ihn für alle ­Zeiten von seinen Schulden befreite.