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1.

Dieser Nachmittag unter dem eisengrauen Himmel, der im Dezember 1576 die Dungarvanbucht überspannte, war für die rauhen Männer an Bord der Galeone „Isabella von Kastilien“ so etwas wie ein Rückzug nach verlorener Schlacht. Es waren Stunden, von denen Philip Hasard Killigrew sich wünschte, sie nie erlebt zu haben. Mit verbissener Miene stand er auf dem Achterkastell seines Schiffes, die Fäuste in die Seiten gestemmt, die eisblauen Augen nach vorn gerichtet. Der Anblick, der sich ihm bot, war mit der Bezeichnung grauenvoll geradezu milde umschrieben.

Die „Isabella von Kastilien“ segelte bei halbem Wind ostwärts zum Ausgang der Bucht. Hinter dem Heck klatschten die letzten Geschosse aus den Musketen der Iren ins Wasser und ließen kleine, fontänenartige Spritzer aufsteigen. Bis an die Aufbauten gelangte jedoch keine und konnte den Schaden, den die Truppe hatte hinnehmen müssen, nicht mehr vergrößern. Die „Isabella“ befand sich außer Reichweite.

In dem gewagten See- und Landunternehmen, das von Francis Drake im Auftrag der Krone durchgeführt worden war, hatten bisher zwar fünf spanische Karavellen und ein irisches Waffen- und Munitionslager vernichtet werden können, aber die vorübergehende Einnahme von Dungarvan und der vergebliche Marsch von Captain „Black“ John Norris in die Drum Hills hatten zu viele Blutopfer gekostet.

Hasard trat an die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß des Decks auf dem Achterkastell bildete. Sein Blick glitt über die auf dem Deck und der Back liegenden stöhnenden, klagenden, blutverschmierten Gestalten.

Captain Norris war mit einem Rest von dreißig mehr oder weniger verwundeten Soldaten auf der Holzpier von Dungarvan eingetroffen, und Hasard hatte es geschafft, sie trotz heftigen irischen Beschusses an Bord zu nehmen. Hierbei hatte sich wieder einmal bewiesen, wie wirkungsvoll der Einsatz der vier Drehbassen auf der Back und dem Achterdeck der Galeone im Gefecht gewesen war. Mehr als die bloße Rettung der Bedrängten hatten Hasard und seine Männer jedoch nicht zu leisten vermocht. Er hatte die Achterleine kappen lassen, und dann hatte die „Isabella“ Distanz zwischen sich und die Pier gelegt.

Captain James Courcy war schwer verletzt. Captain Norris hatte einen Schläfenstreifschuß, eine Säbelwunde an der linken Seite, eine Schulterwunde sowie einen Pistolensteckschuß im rechten Oberschenkel. Insgesamt sechsundvierzig Soldaten waren noch am Leben, davon jedoch keiner ohne Blessuren. Hasard entdeckte bekannte Gesichter wie das von Jake Tinkler unter den Männern, jenes Soldaten, der bereits das Massaker der Burton-Truppe überlebt hatte. Und auch das haßverzerrte Antlitz des degradierten Burton selbst gewahrte er.

Hasards Finger hatten die Handleiste der Balustrade umklammert. Jetzt lösten sie sich. Er versetzte sich einen Ruck und stieg auf das Mitteldeck hinab. Die „Isabella“ glitt unter Großsegel und Fock bei Wind aus Süden dahin. Um die Schiffsführung brauchte er sich nicht zu kümmern. Die hatte Ben Brighton, der Bootsmann und Erste Offizier, für ihn übernommen. Hasard eilte dem Kutscher zu Hilfe, der seine Aufgabe als Feldscher versah und sich um die Verwundeten kümmerte.

Dem Seewolf war zumute, als wate er durch kniehoch stehendes Blut. Links und rechts von ihm, vor und hinter ihm krümmten sich Männer mit zerschossenen Leibern und Gliedmaßen. Mühsam mußte er sich einen Weg zu dem Kutscher hinüber suchen, ständig darauf bedacht, keinem der Verletzten auf eine Hand, einen Arm oder eine andere Körperpartie zu treten.

Finger streckten sich nach ihm aus und umklammerten sein rechtes Bein. Hasard wandte den Kopf. Weit aufgerissene Augen schauten flehend zu ihm hoch, und die Lippen in jenem blutüberströmten Gesicht bewegten sich unaufhörlich. Sie murmelten Unverständliches.

Der Seewolf preßte die Lippen zusammen, daß sie wie ein Strich wirkten. Er bemerkte Batuti, den riesigen Gambia-Neger, in seiner Nähe und winkte ihm zu.

Batuti trat heran, ließ die Schultern bedrückt hängen und sagte nur ein Wort: „Verdammich.“

„Kümmere dich um diesen Mann“, forderte Hasard ihn auf. „Gib ihm zu trinken. Ich schätze, der Kutscher braucht mich dringend.“

„Ich eilen“, erwiderte Batuti.

Hasard bückte sich und schob die klammernde, drängende Hand von seinem Fußknöchel fort. Es widerstrebte ihm, aber mit einem einzigen Blick hatte er erkannt, daß seine Unterstützung drüben, vor den Eichenplanken des Vorkastells, im Augenblick nötiger waren.

Dort kniete der Kutscher vor einem übel zugerichteten Mann – Captain James Courcy. In der Kombüsentür auf der Steuerbordseite des Vorkastells tauchte soeben die Gestalt Blackys auf. Blacky erschien mit einer Pütz voll Trinkwasser, frischen Leinentüchern und einer der Flaschen, die der Kutscher streng unter Verschluß hielt und an die bisher nicht einmal das Bürschchen Dan bei aller Gerissenheit herangeraten war.

Der dunkelblonde Haarschopf des Kutschers ruckte herum, als Hasard neben ihm stand. Hasard bemerkte, daß das Gesicht seines Kochs und Feldschers grünliche Färbung angenommen hatte. Sein Blick wanderte zu Captain Courcy. Der saß aufrecht mit dem Rücken gegen die Querplanken gelehnt und zog eine tapfere Miene. Der erschütternden Tatsache konnte aber auch er sich nicht verschließen.

Sein linker Unterarm hing nur noch an irgendwelchen Muskel- und Sehnenfetzen. Der Unterarm war Knochenmus. Gehacktes Blei aus einer irischen Muskete hatte ihn durchsiebt.

„Ich weiß“, sagte Courcy und schaute auf. „Er muß amputiert werden. Auf was wartet ihr? Ich bin bereit.“

Hasard sah, wie der Kutscher schluckte, und beugte sich zu ihm hinab. „Reiß dich zusammen und sag mir, was ich zu tun habe. Ich assistiere dir.“

„Himmel, ich habe meinem früheren Brötchengeber, Sir Freemont, einige Handgriffe aus der Wundbehandlung abgeschaut. Aber das hier …“

Hasard erwiderte nichts, und auch Blacky, der die Pütz und die Leinentücher und die Flasche Schnaps absetzte, brachte kein Wort hervor. Captain Courcy richtete sich noch ein Stückchen höher auf. Das bereitete ihm Schmerzen. Gequält verzog er das Gesicht. Dann aber fixierte er den Seewolf.

„Kapitän Killigrew! Ich befehle Ihnen, nicht mehr Rücksicht walten zu lassen als bei einem Mannschaftsdienstgrad. Was mich erwartet, ist mir klar. Aber im Interesse aller anderen, die hier liegen und auf Behandlung warten: Beeilen Sie sich!“

Hasard nickte kaum merklich. „Fangen wir an.“

Der Kutscher sagte: „Die Prozedur ist simpel. Ich denke, ich habe alles Erforderliche bis auf eine Kleinigkeit. Hole einen Lederriemen. Einen breiten, starken Lederriemen, Blacky.“

Blacky verschwand in der Kombüse. Der Kutscher breitete unterdessen vor sich aus, was er schon zuvor mit heraufgebracht hatte – ein Arsenal jener Gegenstände, die er sonst täglich für ganz andere Zwecke benötigte. Fünf große, scharfgewetzte Fleischermesser lagen auf einem Stück weißen Tuches. Ebenso eine eiserne Knochensäge und mehrere Holzkochlöffel zum Schienen von Knochenbrüchen. Letztere waren im Fall Courcy überflüssig.

Blacky kehrte an Deck zurück. Er hatte ein Stück Rohlederstreifen von einem Tampen abgesäbelt, der in der Kombüse zum Festzurren bestimmter Gegenstände benötigt wurde. Der Kutscher nahm das Ding entgegen und reichte es Captain James Courcy. „Wissen Sie, wie Sie es benutzen müssen, Sir?“

„Ja.“

Hasard entkorkte die Flasche und hockte sich rechts neben den Mann.

„Sie sollten einen ordentlichen Schluck davon nehmen. Es ist Whisky. Kein schlechter Tropfen.“

Er wollte ihm die Öffnung der Flasche an die Lippen führen. Doch Courcy schnitt eine Grimasse, nahm sie ihm mit der gesunden Rechten ab und setzte selbst an. Gluckernd rann ein Teil der rostbraunen Flüssigkeit durch seine Kehle. Die Männer schwiegen betreten. Keinem entgingen die feinen Schweißperlen, die sich auf Courcys Stirn gebildethatten, sich nun teilweise auflösten und über seine Wangen liefen.

Der Captain ließ die Flasche sinken und gab einen keuchenden Laut von sich. Hasard nahm sie ihm ab. Ohne zu zögern, steckte sich Courcy das dicke Leder zwischen die Zähne. Der Seewolf blickte zu Blacky hoch. Dieser verstand sofort, leckte sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen und kniete sich, um die Beine des Mannes festzuhalten.

Hasard griff nach dem gesunden Arm des Captains und richtete sich so ein, daß er mit der anderen Hand Gewalt über den Oberkörper hatte. Courcy schwitzte nun stärker. Seine Augen weiteten sich, und nur ein Wunsch war daraus zu lesen: Besorgt es schnell!

Sie zogen ihn ein Stück von der Querwand des Vorkastells fort und drückten ihn auf die Planken, damit der Kutscher besser arbeiten konnte. Hasards Koch und Feldscher kennzeichnete mit einer knappen Bewegung der Hand die Stelle, an der er ansetzen würde und griff nach der Säge. Er wollte auf jeden Fall gründlich sein und rasch zu Werke gehen, wie er es bei Sir Freemont, dem Arzt in Plymouth, gesehen hatte. Vielleicht hätte ein scharfes Messer genügt, um den blutigen Verbund aus Muskel- und Sehnenfetzen zu durchtrennen, der den reglos daliegenden Unterarm noch hielt. Möglich war jedoch auch, daß der Widerstand der Substanzen größer war, als er vermutete.

Der Kutscher brachte die Klinge der Säge dem Ansatzpunkt näher. Mit der linken Hand packte er zu, mit der Rechten führte er das Werkzeug. Captain Courcy schloß die Augen und biß mit aller Macht auf das Stück Leder. Auch Blacky kniff unwillkürlich die Augen zusammen.

Philip Hasard Killigrew blickte starr auf den zerfleischten Arm und die Säge. Er konnte nicht anders. Plötzlich schienen die Laute rund um ihn herum mit einem Schlag zu zerreißen – das Knarren der Rahen und Blöcke, das Klatschen der Wellen gegen die hölzerne Bordwand, das Stöhnen und Jammern der Verwundeten. Das alles war wie ausgelöscht. Für Sekunden fühlte sich der Seewolf von absolutem Schweigen umgeben.

Dann begann es. Die Laute, die die Säge hervorrief, Courcys Aufbäumen und Stöhnen, das Zappeln der Beine, das von Blakky mit brutaler Gewalt unterdrückt werden mußte, der Moment, in dem ein wildes Zucken durch den Körper lief und selbst Hasard alle seine Kraft aufbieten mußte, um den Patienten halten zu können. Courcys Kopf schlug ein paarmal heftig hin und her, dann lag er still.

Bewußtlos, dachte Hasard. Er reagierte, ließ Arm und Oberkörper des Mannes los und steckte zwei Finger in dessen Mund, um das Stück Leder hervorzuholen, das er sonst unzweifelhaft heruntergewürgt hätte. Er hätte daran ersticken können.

Der Kutscher atmete schwer. Er hatte es vollbracht. Hasard war ihm dabei behilflich, die frische Wunde mit dem Schnaps zu desinfizieren, mit dem Trinkwasser zu waschen und zu verbinden. Blacky schaffte inzwischen den abgetrennten Unterarm fort. Er war ein kräftiger Kerl mit harten Fäusten, der gegen jeden Wind spuckte, aber jetzt war ihm anzusehen, wie sehr ihm die schreckliche Aufgabe zugesetzt hatte.

Hasard schaute sich um, als sie mit Captain James Courcy fertig waren. Captain Norris lag in der Nähe des Schanzkleides an der Backbordseite. Er bot einen weniger grauenvollen Anblick als der arme Teufel Courcy. Seinem Gesicht war aber anzusehen, daß er heftige Schmerzen litt.

Hasard deutete auf den ohnmächtigen Courcy. „Tragt ihn unter Deck“, sagte er zum Kutscher. „Und bereitet da auch den Übrigen, die du verarztet hast, ihre Lager.“

„In Ordnung. Aye, aye, Sir“, gab der Kutscher ein wenig verwirrt zurück. Seine Gesichtsfarbe hatte sich um ein paar Nuancen normalisiert.

Der Seewolf bewaffnete sich mit einem kurzklingigen Messer, einigen Leinentüchern, Schnaps und Wasser. Er lavierte zwischen den blutverschmierten liegenden Gestalten hindurch. Einige hatten wie Courcy das Bewußtsein verloren. Für die, die wach waren und mit allen Sinnen ihre scheußliche Lage erfaßten, war es grausamer.

Hasard hätte gern alle gleichzeitig operieren, zusammenflikken oder verbinden lassen, aber das war unmöglich. Seine übrigen Männer standen an den Brassen und Schoten der „Isabella“ und hatten vollauf damit zu tun, das Schiff unter Ben Brightons Kommandos aus der Bucht herauszumanövrieren.

Captain „Black“ John Norris grinste krampfhaft, als er Hasard auf sich zukommen sah. Der Seewolf ließ sich unter den Leewanten und Pardunen nieder und betrachtete die Verletzungen.

„Jetzt ist die Reihe an mir, wie? Nur zu, Kapitän Killigrew. Wir werden dann bald nur noch einen halben Norris haben, aber das ist immer noch besser als ein toter Norris, oder?“

Hasard säuberte die Wunde, die der Schläfenstreifschuß hervorgerufen hatte. Norris stöhnte auf, biß aber die Zähne zusammen und hielt still.

„Möchte wissen, wie Sie ohne den Gehirnkasten auskommen wollen“, sagte Hasard frotzelnd.

„Ein ziemlich kopfloses Dasein wäre das.“

„Was ein richtiger Kerl ist, der gewöhnt sich an alles“, entgegnete der Seewolf und legte einen Kopfverband an, so gut er das vermochte.

„Eigentlich bin ich mehr um das Bein als den Schädel besorgt, wissen Sie?“ Der Captain bemühte sich wieder um ein Grinsen, aber es mißlang kläglich.

„Sie haben bei Courcy zugesehen?“

„Was blieb mir denn übrig?“

Hasard betrachtete die Stelle, wo ein Schuß Norris’ rechten Oberschenkel erwischt hatte. Das Fleisch sah aus wie aufgetrieben. Aus der blutigen Rosette der Verletzung sickerte roter Lebenssaft hervor. Hasard reinigte auch diese Blessur.

„Die Kugel steckt“, sagte er ruhig. „Aber der Knochen scheint nicht verletzt zu sein. Ich hole das Blei raus, Captain. Wenn Sie keinen Wundstarrkrampf kriegen und auch sonst gut über die Runden kommen, laufen Sie bald wieder als ganzer Norris durch die Gegend, um Ihre Leute zusammenzustauchen.“

„Danke für den Trost.“

„Sie glauben mir nicht?“

„Kein Wort.“

„Sie werden ja sehen.“ Hasard drückte ihm die Flasche Whisky in die Hand und schaute zu, wie er sie bis zur Hälfte leerte. Dann erkundigte er sich ziemlich barsch: „Brauchen Sie jetzt auch ein Stück Leder zwischen die Kiemen, oder können wir darauf verzichten?“

„Verzichten.“

Hasard fackelte nicht lange. Er führte die Messerspitze in die Wunde. Mit angespannter Miene, schwitzend und fluchend forschte er nach dem Geschoß. Norris blieb die ganze Zeit über bei Bewußtsein, und er gab nicht einen einzigen Schrei von sich. Endlich zog der Seewolf sein Werkzeug zurück und hielt das Ding zwischen Zeigefinger und Daumen der Rechten hoch. „Pistolenkugel, Captain.“

„Verdammte irische Bastarde!“

„Wir sind noch nicht miteinander fertig, mein Lieber.“

Batuti näherte sich genau im richtigen Augenblick. Er hatte verschiedenen Verwundeten zu trinken gegeben. Und einem hatte er sogar einen Fausthieb unter die Kinnlade verpaßt, denn der Mann hatte zu sehr unter seinen Schmerzen gelitten. Jetzt lag er still. Das war eine rauhe, aber doch annehmbare Art gewesen, ihm wenigstens für einige Zeit ein bißchen Linderung zu verschaffen.

Batuti nahm das Messer aus Hasards Hand entgegen. „

“Über dem Kombüsenfeuer zum Glühen bringen“, sagte der Seewolf. „Schnell.“

„Ich fliegen.“ Batuti steuerte erstaunlich geschickt zwischen den verletzten Soldaten hindurch auf das Vorkastell zu. Für kurze Zeit tauchte seine massige Gestalt in dem dunklen Türloch unter. Als er mit dem rotglühenden Messer zurückkehrte, sah Hasard Norris fest in die Augen.

„Wir müssen die Wunde ausbrennen, ist das klar, Captain? Wegen des Wundstarrkrampfes.“

„Aye, aye“, gab dieser verzerrt grinsend zurück.

Hasard zögerte auch diesmal nicht. Norris empfand die Prozedur wie eine scheußliche Folter – ihm war, als zucke das heiße Metall bohrend durch sein Fleisch, vom Bein in den Unterleib hinauf, und explodiere dort mit vernichtender Macht. Die Besinnungslosigkeit war wie eine Erlösung für ihn. Dieses teuflische Brennen in der Wunde hätte auch der bärenstärkste und abgebrühteste Höllenhund nicht bei Bewußtsein durchgestanden. Der Seewolf ging gründlich zu Werke. Als er weißen Leinenstoff zu handbreiten Streifen zerriß und um die Blessur wickelte, war er sicher, daß „Black“ John Norris bald wieder umherstapfen würde. Die Schulterwunde und die Säbelwunde waren nicht weiter schlimm. Er säuberte und verband sie.

Hasard erhob sich und wandte den Kopf. Neben ihm ragte die Herkulesgestalt von Batuti auf. Hasard lugte an ihm vorüber und gewahrte Blacky, der sich ziemlich aufgeregt näherte. Zwei Schritte vor seinem Kapitän blieb er stehen, schaute auf den verbundenen Norris und dann wieder auf Hasard.

„Der Kutscher braucht dich wieder. Der, den er gerade in Behandlung hat, sträubt sich dagegen, daß ihm was abgeschnitten wird. Ich meine, ich weiß nicht, wie ich …“

Der Seewolf hob die Hand. „Schon gut. Bringt Captain Norris nach unten. Er soll neben Courcy seinen Platz haben.“

Hasard begab sich sofort zum Kutscher hinüber. Dieser hatte sich Zug um Zug bis zu den Hauptwanten an der Steuerbordseite durchgearbeitet und hinter sich teils operiert, teils nur verbundene Männer zurückgelassen, die ebenfalls noch von Batuti und Blacky unter Deck befördert werden mußten. Zwei an den Armen beziehungsweise an der Brust leichter angeschrammte Soldaten standen bereit, um ihnen dabei zu helfen.

Der Kutscher befand sich in diesem Augenblick einem jungen Soldaten gegenüber. Mit gespreizten Beinen hockte dieser da und sah den Feldschen kampfeslustig an. Es lag noch mehr in diesem Blick, und vielleicht, weil Hasard es erkannte und sich in die Lage des armen Teufels versetzen konnte, wechselte er die Position, schritt fast bis zum Achterkastell, schlug einen Bogen und näherte sich dem Mann dann von der Seite.

Er saß mit dem Rücken gegen das Schanzkleid gelehnt, dem Kutscher schräg zugewandt. Der Seewolf blickte auf die halb zerrissenen Stiefel des Soldaten. Blut quoll aus den Öffnungen im Leder hervor. Sonst schien der Mann keine Blessuren erlitten zu haben. Aber dort, an beiden Füßen, schien es ihn hart erwischt zu haben.

In der Miene des Kutschers mischten sich Mitleid und Ratlosigkeit.

„Hör zu“, sagte er soeben. „Es geht nicht an, daß du dich weigerst. Laß wenigstens deine Füße anschauen. In ein paar Stunden beginnen sie zu eitern und zu faulen, und dann wird sich der Herd durch deinen ganzen Körper fressen, bis du innerlich kaputt bist. Ja, du wirst ganz langsam von innen heraus kaputtgehen, wenn du dich nicht zurechtflicken läßt, mein Junge. So wahr ich hier stehe.“

„Hau ab“, gab der Soldat zischend zurück. „Verschwinde. Ich lasse keinen an mich ran. Wenn ich verrecken muß, verrecke ich eben. Immer noch besser das, als den Rest des Lebens als verfluchter Krüppel dahinzuvegetieren. Was taugt denn noch ein Mann ohne Füße?“

Hasard ging weiter. Vielleicht noch vier, fünf Schritte trennten ihn von den beiden. Der Kutscher rang in echter Verzweiflung die Hände. Und sicherlich verdammte er in diesem Augenblick mehr als zuvor die Aufgabe, die er an Bord der „Isabella von Kastilien“ übernommen hatte.

„Hör mir gut zu“, sagte er wieder und bemühte sich, seiner Stimme einen gelassenen Klang zu geben. „Matt Davies von unserer Mannschaft hier an Bord hat einen Eisenhaken statt der rechten Hand. Und der Alte von Donegal Danial O’Flynn wandert in diesem Augenblick vergnügt mit seinem Holzbein über die Decksplanken einer Karacke, die unter dem Kommando von Sir John Killigrew steht. Und so gibt es Tausende von Männern, die sich damit abgefunden haben.“

„Aber nicht ich!“ schrie ihn der Soldat an. „Wenn beide Füße ab sind, kann ich nur noch auf Krücken laufen.“

„Laß mich einen Blick darauf werfen.“

„Nein!“

„Vielleicht brauchen wir gar nicht zu amputieren“, sagte der Kutscher geduldig. Er ging einen Schritt auf den Hockenden zu. Aber in diesem Moment riß dieser etwas unter seiner zerlumpten, angesengten Uniformjacke hervor – eine kleine Radschloßpistole.

„Die ist geladen“, sagte er. „Keinen Schritt weiter!“

„Du bist verrückt“, fuhr ihn der Kutscher an.

„Natürlich. Und ich bringe jeden um, der mich zu überwältigen versucht.“

Hasard hatte seine Bewegungen verlangsamt: Jetzt befand er sich in unmittelbarer Nähe des jungen Soldaten. Doch der bemerkte ihn nicht, weil er ihm den Rücken zukehrte. Hasard handelte. Sich bücken, zupacken und wieder hochfahren, das war fast eins. Die Radschloßpistole wurde dem Mann aus der Hand gerissen, ohne daß er die Zeit fand, den Zeigefinger um den Abzug zu krümmen. Mehr vor Überraschung und vor Wut als vor Schmerz schrie er auf.

Hasard legte den Daumen auf den Hammer der Waffe. Dann betätigte er den Abzug, hielt aber den Hammer mit der Kuppe des Daumens fest und ließ ihn vorsichtig nach vorn gleiten. Nachdem er die Waffe gesichert hatte, steckte er sie hinter den Gürtel.

Der junge Soldat fuhr im Sitzen herum. Erheben konnte er sich nicht, wollte aber dem Seewolf einen Fausthieb gegen das Knie verpassen. Hasard trat zur Seite. Der Schlag ging daneben. Der Mann ließ ein verzweifeltes, ent - täuschtes Schluchzen vernehmen, lehnte sich mit der Schulter gegen das Schanzkleid und krallte die eine Hand oben in den untersten Webeleinen der Steuerbordwanten fest – eine Geste der Hilflosigkeit, der Aufgabe.

„Wie heißt du, Soldat?“ fragte der Seewolf.

Verbissenes Schweigen. Der Kutscher antwortete anstelle des Befragten. „Hank Mandell ist sein Name. Ich hab’s von anderen vernommen.“

„Gut, Hank, wir können dich da nicht so liegenlassen.“ Hasard beugte sich zu dem Mann hinunter und brachte sein Gesicht dicht neben dessen Kopf. Mandell mußte ihn ansehen, ob er wollte oder nicht. Seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz. Auf seiner Stirn und dem Gesicht zeichnete der Schweiß Spuren in die Staubschicht, die die Haut bedeckte. „Sei nicht so starrköpfig“, fuhr Hasard fort. „Wenigstens untersuchen lassen könntest du dich. Was sollen denn die anderen sagen? Denk daran, daß du nicht der einzige bist, der verletzt wurde. Schau dich um.“

Mandell lachte bitter auf. „Sie vergeuden Ihre Zeit, Kapitän Killigrew. Nehmen Sie die Pistole und jagen Sie mir die Kugel durch den Schädel. Das ist die beste Lösung. Für alle.“

„Es steht außerhalb meiner Befugnis. Es wäre bestialisch.“

„Und ohne Füße leben? Ist das menschlicher?“

„Hank, ich will jetzt deine Stiefel abschneiden und die Beine ansehen.“

„Niemals!“

Der Seewolf versuchte es trotzdem. Kaum hatte er den Mann berührt, ließ dieser die Webeleinen los, drehte sich und hieb auf ihn ein, auf Hasards Kopf, den Oberkörper, den Unterleib. Wie in Todesangst schlug er um sich. Dem Seewolf blieb nichts anderes übrig, als ihn außer Gefecht zu setzen – so leid ihm dies tat.

Er duckte sich und blockte die prasselnden Hiebe des nicht gerade schwachen jungen Mannes ab. Dann holte er aus und ließ ihm einen rechten Haken unter das Kinn krachen. Mandell sank mit verhaltenem Ächzen in sich zusammen.