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Mit 50 farbigen Fotos und 17 Karten

ISBN 978-3-492-97291-8

April 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Redaktion: Sabine Wünsch, München
Fotos, Illustrationen und Karten: Manuel Andrack;
mit Ausnahme der Fotos im Bildteil Nr. 19–23: Hannah Ziegler
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Coverfoto: privat; Illustrationen: Rüdiger Trebels
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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INHALT

Cover & Impressum

Übersichtskarte

Vorwort

40000 V. Chr. Wenn der Neandertaler Hunger hat

1520 V. Chr. Geh’n wie ein Ägypter

480 V. Chr. Auf dem Pfad des Verräters Ephialtes

25–33 »Was soll schon Gutes aus Nazareth kommen?«

371 Als römischer Legionär auf dem Ausoniusweg

1096 Mit dem Volk unterwegs ins Gelobte Land

1434 Den Pilgern entgegen – Ein Jakobsweg-Quickie

1510 (oder 1511) Mit Luther über den Rennsteig, Rom immer im Blick

1639 Ein Wanderanarchist und die Schwedenlöcher

1778 Seitensprünge in Luxemburg

1789 Der Marsch der Poissarden von Paris nach Versailles

1832 Ein studentischer Protestzug zum Schloss Hambach

1916 Auf den Schlachtfeldern von Verdun

1940 Die »Schuhprüfstrecke« im KZ Sachsenhausen

1954 Weltmeisterliche Spaziergänge in Spiez

2015 Der Flüchtlingstreck am Grenzübergang Hanging

Literatur

Bildteil

VORWORT

Immer wenn es so richtig langweilig wurde auf unseren Wanderungen, haben meine Eltern mit mir »Schritt für Schritt« gespielt. Stundenlang. »Schritt für Schritt und Mann für Mann, und wer den Schritt nicht halten kann, der ist ein dummer, dummer Eselsmann.« Wer aus dem Takt geriet, war eben der »Eselsmann«. Späte 1960er-, frühe 1970er-Jahre, Gender-Korrektheit war noch Zukunftsmusik. Für dieses Buch bin ich auch Schritt für Schritt gegangen, richtiges Wandern war das meistens nicht. Und das soll auch nicht der Anspruch dieses Buches sein. Es ist kein Wanderbuch, sondern eine Art mobiles Geschichtsbuch. Es ist schon allein deswegen kein Wanderbuch, weil die Menschheit seit Erfindung des aufrechten Gangs zwar zu Fuß gegangen ist – gewandert hingegen wurde erst seit dem späten 18. Jahrhundert, als vor allem die englischen und deutschen Romantiker ihre zweckfreie Leidenschaft für die Natur entdeckten.

Die Grundidee dieses Buches ist es, in jeder der klassischen Schulbuchepochen (Steinzeit, die ägyptischen Reiche, die Blütezeit Griechenlands, das römische Imperium etc.) nach einem mehr oder weniger typischen Weg Ausschau zu halten. Dabei war es mir wichtig, dass es sich um Wege handelt, die im Bestfall deckungsgleich sowohl im 21. Jahrhundert als auch vor Hunderten oder Tausenden Jahren gegangen worden sind. Naturgemäß versuche ich, die historischen Gehverhältnisse mit den heutigen abzugleichen. Manchmal hat sich, wie an den Thermopylen beispielsweise, gar nicht so viel verändert in den letzten gut 2000 Jahren. Andererseits: Auf dem Weg zwischen Paris und Versailles würden sich die Revolutionärinnen von 1789 nicht mehr zurechtfinden.

Eines der schönsten Dinge beim Zu-Fuß-unterwegs-Sein sind die perlenden Gespräche mit den Menschen, mit denen man geht. Daher habe ich mir meistens Mit-Geher gesucht, gute Freunde oder professionelle Wegbegleiter, also Wander- oder Reiseführer. Ich bin mit meinem Fitnesstrainer durch das Neanderland gewandert und mit Römerdarstellern über den Ausoniusweg. Ich bin mit einem Wanderanarchisten durch die Sächsische Schweiz gestreift und mit französischen Wanderfreunden über die Schlachtfelder von Verdun. Ich bin mit einem lustlosen Kind in Spiez spazieren gegangen und mit einer Horde von Fans des 1. FC Köln auf den Spuren der Volkskreuzzügler marschiert. Kurz, ich bin dahin gegangen, wo es (manchmal) wehtun könnte. Im letzten Kapitel komme ich in der Gegenwart an und »wandere« mit Flüchtlingen. Denn die Migration wird das große Zukunftsthema der fußläufigen Mobilität sein.

Ich bin während der dreijährigen Arbeit an diesem Buch oft gefragt worden, nach welchen Maßstäben ich die Auswahl der Wege und Epochen getroffen habe. Und warum ich denn nicht beispielsweise den Gang nach Canossa oder Hannibals Zug über die Alpen mit im Buch hätte. Nun, für die Römerzeit fand ich es spannender, eine ganz »normale« Römerstraße mit ganz »normalen« Legionären abzuwandern, anstatt mich mit gemieteten Zirkuselefanten (das hätte nur tierisch Ärger mit dem Tierschutz gegeben!) über die Alpen zu quälen. Zudem: Aus einem Flachlandtiroler wird keine Gams mehr. Ich bin kein Reinhold Messner, sondern ein Mann des Mittelgebirges, der Neandertaler steht (und geht) mir als Rheinländer näher als der gute alte Ötzi. Ich habe eben versucht, für jede Epoche einen originellen Weg zu finden, der Sinn ergibt, der aber auch vielleicht den Leser überrascht.

Viele Wegstrecken sind absolut nicht zum Nachwandern geeignet. Zudem ist es bei Reisen in die »kritischen« Länder (Ägypten, Israel) sinnvoll, sich zeitnah über die Reisehinweise beim Auswärtigen Amt zu informieren. Seit ich in Ägypten war, hat es diverse (teilweise erfolglose) Anschläge in Luxor und an anderen touristischen Hotspots gegeben. Nach meiner Wanderung am See Genezareth wurde ein Brandanschlag auf das Benediktinerkloster von Tabgha verübt, es entstanden Sachschäden in Millionenhöhe, ein Mönch erlitt eine Rauchvergiftung.

Ich möchte mich vorab bei allen Historikern für eventuell etwas oberflächliche und pauschalisierende Darstellungen der einzelnen Geschichtsepochen entschuldigen. Wahrscheinlich hätte ich die eine oder andere Formulierung nicht stehen lassen, wenn ich mich durch sämtliche zur Verfügung stehende Fachliteratur gekämpft hätte. Aber dann wäre dies nicht nur ein anderes Buch, sondern es wären 16 Bücher geworden, für jede Epoche ein eigenes. Ich habe mich für die epochenübergreifende Darstellung entschieden. Alle Zitate habe ich nach bestem Wissen und Gewissen kenntlich gemacht, ein Literaturverzeichnis findet sich ebenfalls am Ende des Buches. Ein spezieller Dank geht in diesem Zusammenhang an Dr. Anne Sudrow. Ohne ihr Buch und ihre Zusammenarbeit vor Ort hätte ich das Kapitel über die »Schuhprüfstrecke« im KZ Sachsenhausen nicht schreiben können.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und möglicherweise sogar einige Erkenntnisse bei der Lektüre dieses Buchs.

Manuel Andrack

Köllerbach, im März 2016

WENN DER NEANDERTALER HUNGER HAT

Schritt für Schritt gehen wir am Rande eines hüfthohen Roggenfelds in Groß-Schöllersheide entlang. Unsere Blicke wandern über die weite Ebene gen Osten, auf der Suche nach wilden Tieren. Wir haben großen Hunger. Plötzlich direkt neben uns ein Geräusch. Ein Reh fährt hoch, nur zwei Meter entfernt, und flüchtet. Das hätte unser Mittagessen sein können, aber das Tier ist entwischt. Wir gucken uns blöd an und denken wahrscheinlich beide dasselbe: Das wäre einem richtigen Neandertaler niemals passiert, viele Gene scheinen wir nicht von dem Steinzeitmenschen übernommen zu haben.

Ich bin mit meinem Fitnesstrainer Daniel auf den Höhen oberhalb des Neandertals unterwegs. Wir haben uns vorgenommen, einen langen Tagesmarsch zu machen: 20, 25, vielleicht auch 30 Kilometer, das Tagespensum eines Steinzeitmenschen. Gewohnt hat der Neandertaler im gleichnamigen Tal in einer Höhle. Aber gearbeitet, gejagt, die Grundlage für sein Überleben gelegt hat er in der Rheinebene und in den Höhen oberhalb des Tals. Allerdings wäre der Neandertaler etwas professioneller zu Werke gegangen als wir. Nun gut, ein Roggenfeld hätte es vor 40000 Jahren nicht gegeben, Getreide ist eine Kulturpflanze des sesshaft gewordenen Menschen. Im wogenden Steppengras des Pleistozäns wäre das Reh weithin sichtbar gewesen. Aber unsere Fehlerliste ist enorm:

Erstens wären die Neandertaler nicht zu zweit, sondern in einer großen Gruppe von ungefähr 15 Leuten unterwegs gewesen. Alle mussten mithelfen, Frauen, Kinder; manchmal hat eine andere Sippe mitgeholfen, ein Tier zu jagen.

Zweitens hätten wir schon auf dem Weg zum Roggenfeld aufmerksamer sein können. Wie Fährtenleser hätten wir nach niedergedrücktem Gras, abgebrochenen Ästen und frischer Losung suchen müssen. Die Neandertaler hatten so was drauf.

Drittens hätten wir einen Plan haben müssen. Wohin wollen wir das Tier treiben, wenn wir es gefunden haben, damit es nicht flüchten kann? In einen Sumpf oder in eine tiefe Grube, die wir natürlich vorher hätten ausheben müssen?

Viertens sind wir dilettantisch ohne Waffen auf die Jagd gegangen, das wäre unseren Vorfahren vor 40000 Jahren nun überhaupt nicht eingefallen. Man hätte im Vorfeld wenigstens mal einen kleinen Wurfspeer basteln können, damit hätten wir das Reh vielleicht sogar erwischen können. Na ja, hätte, hätte, Fahrradkette. Wahrscheinlich müssen wir unseren Hunger also doch im Supermarkt bekämpfen. Wenigstens wollen wir dort nur Nahrungsmittel kaufen, die der Steinzeitnahrung entsprechen. So halbwegs.

Um zehn Uhr morgens bin ich mit Daniel am Neanderthal Museum angekommen. Ich möchte Daniel aus unterschiedlichen Gründen auf einen Neandertaler-Memorial-Marsch mitnehmen. Zum Ersten ist er als Fitnesstrainer so durchtrainiert, wie ich mir einen durchschnittlichen Steinzeitmenschen vorstelle. Zum Zweiten kennt er sich hervorragend mit Diäten aus, vor allem mit der berühmt-berüchtigten Paleo-Diät, weiß also ungefähr, was unsere Vorfahren jeden Tag gegessen haben. Und zum Dritten ist seine Optik zurzeit großartig. Ich brauche einen richtigen Mann an meiner Seite, einen Mann mit Bart. Denn hat man je einen glatt rasierten Neandertaler gesehen? Teil unserer Versuchsanordnung ist es, keinen Proviant mitzuschleppen. Für eine »normale« Wanderung ist es immer vernünftig, ausreichend Wasser und eine Kleinigkeit zum Essen mitzunehmen, Rucksackverpflegung nennt man das. Es gibt unter den Wanderern regelrechte Rucksackverpflegungsfetischisten, die jede Form von Einkehr rigoros ablehnen. Ich halte das normalerweise für Blödsinn. Aber um halbwegs neandertaler-authentisch unterwegs zu sein, verzichten wir auf Rucksackverpflegung. Denn der Urzeitmensch wollte ja etwas erjagen und nicht etwas aus der Höhle mitnehmen. Das heißt aber auch, dass wir für die Nahrungsaufnahme auf das angewiesen sind, was wir am Wegesrand finden.

Das Neanderthal Museum hat gerade geöffnet. Wir schauen uns im Foyer den grinsenden Neandertaler an, Daniel soll doch wissen, auf wessen Spuren wir uns bewegen. Er ist begeistert, ich soll unbedingt mit seinem Handy ein Foto von ihm mit dem Herrn Neandertaler machen. Als die beiden so nebeneinanderstehen, fallen die Ähnlichkeiten sofort auf: Die nach hinten gekämmten Haare und der Bart kommen ganz gut hin. Die Hautfarbe des Steinzeitmenschen ist deutlich dunkler, klar, der war ja draußen zu Hause, während Daniel fast den ganzen Tag nur im Fitnessstudio herumsteht. Außerdem ist Daniel sehr viel größer. Er meint: »Wenn man sich so einen Neandertaler anschaut, sieht der nicht aus, als hätte er genug Nährstoffe zu sich genommen. Vielleicht ist er ja wegen fehlenden Essens ausgestorben.« Umso unverständlicher, dass im 21. Jahrhundert vernunftbegabte Menschen versuchen, die Nahrungsaufnahme der Steinzeit zu imitieren, doch dazu später mehr. »Wie hat denn der Neandertaler gelebt, überlebt, gejagt, wie muss ich mir das vorstellen?«, löchert mich Daniel. Ich will eigentlich mit unserem Marsch starten, hole aber aus meinem Auto noch schnell das GEOkompakt-Heft über den Neandertaler. Das Spannende bei der Steinzeitforschung ist, dass sich in den letzten Jahren – durch die Fortschritte in der Gentechnik und neue Knochenfunde – fundamental neue Erkenntnisse über den Neandertaler ergeben haben. »In der Paläoanthropologie, sagen Spötter, gebe es mehr Theorien über den Stammbaum des Menschen als Knochenfunde, um sie zu beweisen«, meldet die FAZ. »Tatsächlich wird es in der Paläoanthropologie langsam unübersichtlich. In den letzten 15 Jahren ist eine Flut neuer Fossilien zutage gefördert worden und hat die Forscher zu permanentem Umdenken gezwungen«, ergänzt die FAS. Das GEOkompakt-Heft hat den Stand der Dinge populärwissenschaftlich, aber unterfüttert mit dem Know-how aller Koryphäen dieses Fachs zusammengefasst. Wir setzen uns auf eine Bank vor dem Museum, und ich setze Daniel erst einmal in Kenntnis über den Stand der Forschung, indem ich mit meinem Wissen aus dem Magazin prahle:

»Forscher haben berechnet, dass die gesamte Population maximal 70000 Individuen umfasste, wahrscheinlich weitaus weniger. – Die Jagd bestimmte den Alltag der Neandertaler, denn eine Jahrtausende währende Kaltzeit hatte Europa im Griff, pflanzliche Nahrung fanden die Urmenschen kaum. Und so war Fleisch, etwa von Pferden oder Rentieren, ihre wichtigste Energiequelle. Auf die Pirsch gingen nur die Starken, Gesunden. In der kalten Jahreszeit musste jeder bei der Suche nach Wild helfen. Egal, ob Mann oder Frau. Mit Fellen, die sie sich um die Füße banden, schritten sie über den hart gefrorenen Grund. Behutsam kreisten sie das Tier ein; sie umstellten die Beute wie ein Rudel Wölfe. Mühelos fanden die Jäger den Weg zurück zu ihrer Höhle im Neandertal, orientierten sich an auffälligen Felsen und Sträuchern. Viel zu selten zogen Pferde, Rentiere oder Bisons durch die Umgebung und boten die Chance, größere Mengen Fleisch zu erbeuten. Häufig kehrten die Urzeitjäger nach Stunden im Gelände mit leeren Händen ins Lager zurück. Es war offenbar kein dramatischer Genozid, bei dem der Homo sapiens die Neandertaler gewaltsam auslöschte. Vielmehr verebbte deren Zahl allmählich.«

Daniel nickt gemächlich, dann fragt er: »Wie alt wurde denn so ein Neandertaler? Und was haben die eigentlich getrunken? Nur Wasser? Und haben die sich gewaschen?« Was soll das geben, wenn es fertig ist? Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm? Leicht entnervt gehe ich zurück ins Neanderthal Museum und frage mit Blümchen in der Stimme am Infotresen nach, ob, aber nur falls er im Haus sei und wir nicht stören würden, ob also der Leiter des Museums, Herr Professor Weniger, uns nach unserer Tour eventuell ein paar Minuten für die bohrenden Fragen meines Fitnesstrainers zur Verfügung stehen würde. Man verspricht mir, das Beste zu tun. Und dann gehen wir, ich kann es kaum glauben, endlich los. Nach Neandertaler-Fotoshooting, Kurzvortrag und Hinterlassen eines Terminwunsches.

Schon wenige Hundert Meter hinter dem Museum haben wir eine wildromantische Stelle des Tals erreicht. Rechter Hand sprudelt der Bach, unser Weg schlängelt sich um eine Felsformation herum. So ungefähr muss man sich das Tal vorstellen, als es der Herr Neander entdeckte und berühmt machte. Ich war lange so naiv zu glauben, das Neandertal sei nach dem Fluss benannt, der in dem Tal fließt: die Neander. Die Neander kann man lange suchen, die gibt es nämlich nicht. Durch das Neandertal fließt die Düssel, die südlich von Velbert entspringt und in einer Großstadt, deren Namen mir gerade entfallen ist, in den Rhein mündet. Aber es gab im 17. Jahrhundert den Pastor Joachim Neander. Der fand dieses wilde Tal mit den Höhlen, Wasserfällen und beeindruckenden Felsformationen so spektakulär, dass er dort sogar Predigten hielt. Und im 19. Jahrhundert, als die Schönheit des Tals zerstört wurde, setzte sich für den kurzen Talabschnitt der Düssel die Bezeichnung »Neandertal« durch.

Der industrielle Aufschwung des Rheinlands forderte Unmengen an Baumaterial, und der Kalksandstein im Neandertal konnte praktischerweise in der Nähe der Ballungszentren abgebaut werden, eine Eisenbahnlinie von Mettmann nach Düsseldorf durch das Neandertal brachte den Kalk an seinen Bestimmungsort. Innerhalb von 30 Jahren wurde das Tal durch den Steinbruch im wahrsten Sinne des Wortes platt gemacht. Aber ohne den Steinbruch wäre nun mal auch nicht der Neandertaler gefunden worden. Pfarrer Neander hätte sein Tal nicht mehr wiedererkannt und der Steinzeitmensch, der nach dem Tal benannt ist, erst recht nicht. Denn für Letzteren war das Neandertal ein perfekter Rückzugsort: Mindestens neun Höhlen boten einen gewissen Grad an Wohnkomfort. In der Düssel schwammen Fische, und in der Nähe des Tals erstreckte sich die Niederrheinische Bucht mit dem Rhein. Und in dieser Rheinebene konnten die Urmenschen frühzeitig umherziehende Wildpferde oder Mammuts erspähen. Der Neandertaler war immer unterwegs, er war ein Nomade, nur zeitweise lebte er in Höhlen.

Der Fußweg im Neandertal ist höchst beschaulich, die Sonnenstrahlen erreichen noch nicht den Boden, sondern scheinen quer durch die Bäume am Bachufer. Daniel erzählt, wie er das wurde, was er ist. Er war Fußballer, aber als er sich am Knie verletzte, war die Karriere auf dem Rasen vorbei. Dann wurde er Mittelstreckenläufer – durchaus mit Ambitionen. Um seine dicken Fußballerbeine zu entschlacken, probierte er jede Diät der Welt aus und beschäftigte sich mit Kraftsport. Der gelernte Sparkassen-Betriebswirt wurde so – quasi nebenbei – zum profunden Kenner der Fitnessszene. Nachdem er seiner Schwester geholfen hatte, nach einer Schwangerschaft ihre Pfunde loszuwerden, sprach sich das im Bekanntenkreis herum. Und er hat das Talent, Menschen zu motivieren, ich kann das bestätigen. So hat er sich vor zweieinhalb Jahren als Fitnesstrainer selbstständig gemacht, leitet Gruppen an, arbeitet aber auch als Personal Trainer und ist ständig ausgebucht. Sein Credo ist: Ich kann nur abnehmen und fitter werden, wenn ich beim Sport an meine Leistungsgrenzen gehe und wenn ich intensiv auf meine Ernährung achte. Auf diese Weise hat er innerhalb von wenigen Wochen bei mir acht Kilo weggezaubert. Bei der Nahrungsumstellung gibt Daniel zwar Tipps, letztlich muss aber jeder seiner Kunden selbst wissen, was ihm persönlich guttut. »Ich bin einer, der alles ausprobiert: strikt vegan, Paleo – das kann man sehr gut durchhalten, weil man sehr viel Fleisch isst –, Low Carb natürlich.« Als Erstes rät Daniel seinen Kunden: »Hol dir einen Hammer und zerschlag deine Waage – der Gewichtsfrust macht unglücklich.«

Gewichtsfrust kannten Neandertaler nur, wenn sie mal wieder nichts zu beißen gefunden hatten. Und was hätten sich die Steinzeitmenschen gefreut, wenn es schon ein so schönes Wildgehege in »ihrem« Tal gegeben hätte wie das, an dem wir gerade entlanggehen. Passend zur Steinzeit werden dort urzeitliche Tiere gehalten und gezüchtet: Wisente, Wildpferde und Auerochsen. Alles Tiere, die der Neandertaler sicher gern gegessen hätte, und so schön eingezäunt, da wäre die Jagd nicht so kraftraubend und langwierig gewesen. Irgendwie scheinen die Tiere im Wildpark gerochen zu haben, dass Daniel und ich im Steinzeitmodus unterwegs sind und Kohldampf haben. So leer habe ich dieses Gehege noch nie gesehen, es ist kein einziges Tier zu entdecken, die haben sich anscheinend alle verdrückt. Wir sind nicht die einzigen Wanderer auf den Wegen des Neanderlands. Erstaunlich, wie viele Menschen an einem Mittwochvormittag die Zeit haben, draußen unterwegs zu sein. So viel Betrieb, das hätte unseren Steinzeitmenschen gewiss verstört. Es fällt auf, dass zu jedem Zweibeiner (mindestens) ein Vierbeiner zu gehören scheint. Die Idee, sich ein Haustier als Freund zu halten, wäre dem Neandertaler total pervers vorgekommen. Tiere sind zur Nahrungsaufnahme da. Punkt. Nun ja, unser Hunger ist noch nicht riesengroß, und Hundefleisch soll keine wahrhafte Delikatesse sein, berichten die, die schon mal davon gekostet haben. Man müsse sich den Geruch von nassem Hund vorstellen, diesen Geschmack habe man dann im Mund.

Wir gehen weiter an der Düssel entlang Richtung Quelle und kommen an einem flachen Haus vorbei, davor ein liebevoll gestalteter Holzladen. Eine Art Marktstand, nur ohne Marktfrau oder Marktmann. Secondhandbücher kann man erstehen und: Senf. Klar, Düsseldorf ist nicht weit entfernt, eine Stadt, die vor allem – zumindest kulinarisch – mit Altbier und Senf in Verbindung gebracht wird. Aber wir hatten uns ja vorgenommen, uns bei unserem Neandertaler-Memorial-Marsch ausschließlich nach den Vorgaben der Paleo-Enthusiasten zu ernähren: Beeren, Obst, Fleisch, Kokosmilch etc. sind erlaubt. Aber kein Getreide, keine Kulturpflanzen. Und daher auch nicht die Mischung aus Senfkörnern und Öl, die einen guten Senf ausmacht. Schade, sonst hätten wir uns ein ganzes Glas extrascharfen Senf gegönnt.

Dafür, dass der Kreis Mettmann, in dessen Mitte das Neandertal liegt, sehr dicht besiedelt ist, ist es landschaftlich sehr schön im Düsseltal. Wir dürfen jetzt ganz offiziell Düsseltal sagen, denn das Neandertal im engeren Sinne haben wir verlassen. Wir stellen uns aber vor, dass der Neandertaler auf der Suche nach etwas Essbarem durchaus auch erst mal durchs Tal gestreift ist. Denn auch der Fischfang war eine Option. Wir entdecken am Bachufer eine Gruppe von Kindergartenkindern. Die scheinen kein Frühstückchen um halb zehn bekommen zu haben, denn sie suchen – sehr erfolglos, wie es aussieht – nach Kaulquappen. Das ist ein eher dürftiges Frühstück, das macht zwei ausgewachsene Männer wie uns nicht satt. Genauso wenig wie das Eichhörnchen, das vor uns wegläuft und sich einen Baum hochwindet. Und dann findet Daniel noch die leere Verpackung eines Schokoriegels, der uns bei Arbeit, Sport und Spiel mobil hätte machen können. Wir scheinen nicht so recht etwas mit dem anfangen zu können, was die Natur uns bietet. Und wir haben das Urzeit-Navi nicht korrekt eingestellt. Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass man sich in diesem Tal ganz gut am Lauf der Düssel orientieren kann. Doch immer wieder gehen wir falsch, müssen umkehren und unnötige Extrameter machen. Wenn sich die Neandertaler in diesem Tal so oft verlaufen hätten wie wir, wären sie noch früher ausgestorben.

Nach fast zehn Kilometern Fußweg im Tal haben wir also immer noch nichts gegessen oder getrunken, und so versuchen wir es auf der Hochebene des Neanderlands. Am Wuppertaler Ortsteil Schöller verlassen wir das Düsseltal und gehen wenige Höhenmeter hinauf. Daniel gibt zu, dass er seine Beine spürt. Und dabei ist er der fitteste Mensch, den ich persönlich kenne, wahrscheinlich wurde genau für seinen Körper der Begriff »Waschbrettbauch« geprägt. Aber er ist nun mal das intensive Wandern nicht gewöhnt. Diese Erfahrung habe ich auch schon gemacht: Die Muskelpartien, die beim Joggen, Radfahren und Wandern beansprucht werden, sind äußerst unterschiedlich, obwohl man doch alles mit Beinkraft macht. Daniel ist Läufer, und gelegentlich fährt er Rad. Aber als Fitnesstrainer steht er mehr im Studio herum und macht seinen Kunden an den Geräten Beine, als dass er sich selbst bewegt. Bei nur zwei bis drei Terminen am Tag geht er mit den Leuten auf die Piste. »Das wäre nicht jeden Tag zu schaffen, wenn ich immer alle Übungen mitmachen würde«, gibt Daniel zu. Als sehr guter Läufer bringt Daniel zumindest alle körperlichen Voraussetzungen für die steinzeitliche Jagd mit. Denn die überlegene Laufausdauer hat den Menschen zu einem äußerst gefährlichen Jäger im Tierreich werden lassen. Die meisten Tiere sind wesentlich schneller als der Mensch, aber nicht so ausdauernd. Wenn Daniel auf den Feldern oberhalb von Schöller ein – sagen wir mal – Gnu jagen würde, und das Gnu würde wegspringen, dann wäre es viermal so schnell wie Daniel. Aber es müsste sich immer wieder erschöpft ausruhen, das hat etwas mit den Drüsensystemen zu tun. Die meisten Säugetiere schwitzen – bei Hunden ist es durch das Hecheln sehr offensichtlich – ausschließlich über die Zunge, das lässt nur kurze, intensive Sprints zu. Der Mensch dagegen verfügt über eine Art eingebaute Kühlung über die komplette Hautfläche. Daher ist er der ausdauerndste Läufer des Tierreichs. Mit diesen Fähigkeiten kann der Mensch theoretisch, vor allem wenn er in einer Gruppe jagt, jedes Tier zu Tode laufen.

Oberhalb des Düsseltals weitet sich unser Blick, wir können bis ins Rheintal schauen. In diesem Gelände konnte man natürlich viel besser als in einem engen Tal jagen, das Wild viel früher erkennen. Zumal man sich die Ebenen der Steinzeit nicht nur frei von Häusern und Besiedlung, sondern auch weitgehend baumfrei vorstellen muss, eher wie die sibirische Tundra. Und es war ordentlich kalt. In der aktuellen Forschung wird davon ausgegangen, dass es in den europäischen »Sommermonaten im Durchschnitt selten wärmer als elf Grad Celsius wurde. Die Jahresmittelwerte zwischen minus vier und minus neun Grad entsprachen denen, die heute in der Arktis herrschen.« Man muss sich das einmal vorstellen, unter welch widrigen Bedingungen der Neandertaler gelebt hat. Vor 40000 Jahren, das muss man sich klarmachen, reichte das »ewige« Eis der Arktis bis an eine gedachte Linie der heutigen Städte Hamburg, Berlin und Warschau heran. Die Gegend um Mettmann war also klimatisch dem heutigen nördlichen Skandinavien vergleichbar, es war die nördlichste Region, in der menschliches Leben überhaupt vorstellbar war.

Wir wandern an einem Gerstenfeld vorbei, vielleicht handelt es sich ja um Braugerste für das köstliche Altbier. Getreide ist allerdings einem anderen Zeitalter zuzurechnen, dem der Sesshaftwerdung des Menschen. Dieses Thema möchte ich im nächsten Kapitel, wenn ich am Nil wandere, stärker ausleuchten. Der Neandertaler kannte wegen der rauen klimatischen Verhältnisse wahrscheinlich noch nicht einmal wildes Korn, wäre aber auch nicht auf die Idee gekommen, dieses ernsthaft für Nahrung zu halten. Deswegen verabschieden wir uns aus Authentizitätsgründen von der Idee, das Korn zu essen, wobei es sowieso keine sehr schlaue Idee wäre, unreifes Getreide zu sich zu nehmen.

Bis zu diesem Zeitpunkt sind wir auf markierten, auf kultivierten (Wander-)Wegen gelaufen. Ein X und der Neanderlandsteig haben uns durch das Düsseltal geführt, was uns jedoch nicht davon abgehalten hat, uns zu verlaufen. Am Bauernhof in Groß-Schöllersheide, in unmittelbarer Nähe zur B7 gelegen, verlassen wir die zivilisierten Pfade. Der Neandertaler hat sich ja auch nicht nach Wegmarkierungen gerichtet, wohl aber an Wegmarken orientiert: Ein außergewöhnlicher Strauch, eine Felsengruppe, eine Bodensenke, so etwas hat man sich in der Steinzeit gemerkt, um auch ohne Kompass und GPS-Gerät zurechtzukommen. Wir wollen in einem großen Bogen, zunächst in nördlicher Richtung, dann westlich abknickend, nach Mettmann hineingehen.

Wo kein Weg ist, muss man sich einen machen. Wir stapfen durch hüfthohes Gras und stellen fest, dass schon zwei Leute einen ersten Trampelpfad hinbekommen, wenn sie alles platt treten. Uns zu folgen und zu verfolgen, wäre ein leichtes Spiel. Aber wir wollen ja die Jäger sein, nicht die Gejagten. Beim Querfeldeingehen frage ich mich angesichts von Millionen Brennnesseln, warum ich keine lange Hose angezogen habe. Nach kurzer Zeit fällt es mir ein. Das war eine bewusste Entscheidung gewesen, denn ich wollte so authentisch wie möglich herumlaufen. Da ich keinen neandertaleresken Fellumhang im Kleiderschrank fand, habe ich mich für eine kurze Wanderhose entschieden – Hauptsache nackte Beine. Entweder gab es in der Steinzeit keine Brennnesseln, oder die Neandertaler hatten Hornhaut an den Waden. Mir schmerzen die Unterschenkel, als würde mir die Haut vom Leib gezogen. Das ist wirklich die Frage: Gab es schon Brennnesseln vor 40000 Jahren? Googeln auf Daniels Handy macht schlauer: O ja, es gab sie, und die Steinzeitmenschen machten Schnüre und Seile aus den Fasern dieser Pflanze.

Wir kämpfen uns an einem Roggenfeld entlang und schrecken das arme Reh auf. Wahrlich keine jagdliche Meisterleistung. Dem Reh kann es recht sein. Wir gehen weiter und erreichen in einer Bodensenke den Mettmanner Bach. Das Wasser sieht nicht so aus, als könnte oder vielmehr sollte man es trinken. Aber Durst ist nicht unser Hauptproblem, denn wir wollen dieses Rinnsal einfach überqueren, und eine Brücke ist nicht vorhanden. Wir nehmen Anlauf, vorbildliche Arm- und Beinarbeit, und schon sind wir ans andere Ufer gesprungen. Unser Neandertaler-Experiment weitet sich zum Mehrkampf aus, nicht nur Wander-, sondern auch Sprungfähigkeit ist gefragt. Und die Sprungaktion zeigt, wie zivilisationsdegeneriert wir sind. Der Neandertaler wäre natürlich niemals so affig mit rudernden Armen über den Bach gehopst. Erstens hätte seine kleine Schrittlänge nicht gereicht. Zweitens wird er sich gesagt haben: Wieso soll ich springen und eine Verletzung riskieren? Unsere Steinzeitfreunde wären einfach gemütlich durch den mit Sicherheit eiskalten Bach marschiert.

Unsere Querfeldeinrunde ist trotzdem lehrreich. Denn bis auf einige Roggenfelder ist das Areal, das wir durchstreifen, halbwegs naturbelassen. Sprießende Gräser und Wildblumen, so könnte es im Kreis Mettmann vor 40000 Jahren ausgesehen haben.

Wegmarkierungen wie auf unseren ersten Kilometern im Düsseltal gibt es zwar nicht, dafür stehen wir plötzlich vor einem massiven mannshohen Drahtzaun. Wir sind die Eingesperrten, auf der anderen Seite ist eine ziemlich neue Umgehungsstraße. Bevor wir uns ernsthafte Sorgen machen, wie wir über den Zaun kommen, sehen wir die bequemen Holzstufen. Ein wenig mehr Outdoor Adventure wäre schon schön gewesen, so mit Räuberleiter, sich am Zaun eine kleine Verletzung zufügen und sie wie ein Steinzeitmann konsequent weglächeln. Aber man muss es ja mit der Authentizität nicht übertreiben, also stiefeln wir entspannt über die frisch zusammengezimmerten Holzstufen. Wir gehen kurz an der Straße entlang und erreichen einen Kreisverkehr. Dort sehen wir mit weißer Schrift auf braunem Grund einen Hinweis Richtung Neandertal. Das ist natürlich enorm praktisch für die Neandertaler gewesen. So konnten sie sich prima an Schildern orientieren und haben immer zurück in die heimische Höhle gefunden. Aber so weit sind wir noch lange nicht, denn wir haben immer noch nichts Essbares gefunden, und der Magen knurrt mittlerweile ordentlich.

Wir wandern auf einem Bürgersteig auf der rechten Straßenseite an einem Umspannwerk vorbei, die Zivilisation schlägt voll zu, es ist seit einiger Zeit vorbei mit wild wogenden Grasfeldern. Zwei junge Frauen überholen uns im Kleinwagen und rufen uns etwas Unverständliches zu. Dann wenden die beiden den schwarzen Fiesta mit Mettmanner Kennzeichen. Nun kommen die zwei jungen Damen uns auf der gegenüberliegenden Fahrbahn entgegen, die Fenster sind runtergefahren. Die Fahrerin zeigt mit dem wippenden, ausgestreckten Arm auf Daniel und schreit: »Was für eine geile Sau!« Anscheinend ist noch ein größerer Neandertaler-Genanteil im Kreis Mettmann vorhanden – zumindest bei der weiblichen Bevölkerung. Daniels Lust auf Austausch von Körperflüssigkeiten ist nach eigener Aussage momentan eher unterentwickelt. »Ich habe schon seit vier Stunden keine Libido mehr.« Das sei kein Wunder, erklärt mir mein Fitnesstrainer und heimlicher Ernährungsberater. Denn wer meistens Hunger hat, und davon kann man bei unseren Steinzeitmenschen ausgehen, der hat keine Lust auf Sex – wenn die Kalorien fehlen, geht die Libido zurück. Jeder Leistungssportler, so Daniel, kenne das. In den extremen Trainingsphasen werden topfitte Modellathleten zu abstinenten Mönchen, sie haben schlicht keine Lust auf die schönste Sache der Welt. Vielleicht sind die Neandertaler auch deshalb ausgestorben, weil die Steinzeitmänner zu oft gesagt haben, sie hätten Migräne. Wahrscheinlich sind sie generell ziemlich antriebslos und schlapp, um nicht zu sagen depressiv herumgelaufen.

Als wir uns die schlecht gelaunten Neandertaler – die allermeisten waren mit Sicherheit nicht so eine Grinsbacke wie das Exemplar im Foyer des Museums – vorstellen, erzählt Daniel einiges aus seiner beruflichen Erfahrung mit den Menschen, die zu ihm kommen. Eigentlich ist Daniel nicht nur Fitnesscoach und Ernährungsberater, sondern auch eine Art Therapeut. »Fitnesssüchtige und Diäten-Junkies sind Glückssucher«, meint Daniel. »Das Problem vieler meiner Kunden ist oft nicht das Gewicht an sich, das ist nur ein Symptom ihres Unglücklichseins. Die wenigsten sind wirklich happy.« Zuletzt wollte eine Frau bei Daniel ein ganz bestimmtes »Ursprungsgewicht« wieder erreichen, das sie im Alter von genau 27 Jahren gehabt hatte. Begründung: Als sie dieses Gewicht hatte, hatte sie ihre glücklichste Lebensphase. Aber zum Glücklichsein gehören natürlich unzählige andere Faktoren: Wie sieht es im familiären Umfeld aus, wie läuft es im Job, und gibt es eine funktionierende Liebesbeziehung? »Ich habe Kunden, die sind durch das Training von Psychopharmaka weggekommen. Das ist echt das Schöne in meinem Job, wenn du solchen Leuten hilfst.« Einen 180-Kilo-Mann hat er auf 96 Kilo heruntertrainiert, plötzlich bekommt dieser Mann Lob und bewundernde Blicke von jungen, hübschen Frauen. Das Prinzip Anerkennung funktioniere zu 100 Prozent. »Lob kann süchtig machen«, so Daniel.

Fakt ist, dass wir, mit ungefähr 20 Kilometern in den Beinen, langsam etwas zu beißen brauchen. Da die Wilddichte in der City von Mettmann zu wünschen übrig lässt, kaufen wir in einem kleinen türkischen Supermarkt getrocknete Feigen, Walnusskerne und zwei Flaschen Wasser. Alle Nahrungsmittel streng nach den Vorschriften der Paleo-Diät. Was hat es denn nun mit dieser Steinzeitdiät auf sich? Man darf alles essen, was ein Steinzeitmensch angeblich essen konnte: vor allem Früchte und Fleisch. Verboten sind kultivierte Nahrungsmittel wie Getreide und Milch. Also: kein Müsli, kein Brot, keine Nudeln, kein Joghurt, kein Käse. Daniel hat einige Paleos, wie er sie nennt, in seinen Trainingsgruppen. Die wenigsten setzen die Diät konsequent um. »Man wird eigentlich mit so einer Ernährung asozial.« Denn als Paleo-Jünger darf man nicht einmal ausnahmsweise auf einer Party etwas außerhalb der Regeln essen. Deswegen empfiehlt Daniel seinen Kunden eher die Low-Carb-Diät, jedoch mit einem Schummeltag, an dem man alles essen darf. Bei der Low-Carb-Diät verzichtet man auch auf Getreide, außerdem weitestgehend auf Zucker. Bei der Paleo-Ernährung kann man sich theoretisch zwei Kilo Beeren reinschaufeln und holt sich dadurch den Zucker, den der Körper glaubt zu brauchen. Wir verzehren unsere sehr zuckrigen Feigen und die Walnüsse an der zentralen Bushaltestelle von Mettmann. Vor allem die Zufuhr von Wasser war äußerst notwendig für unsere ausgezehrten Körper. Ich fühle mich, als hätte ich innerhalb von fünf Stunden schon fünf Kilo abgenommen. Funktioniert das Abnehmen eigentlich mit dieser komischen Steinzeitdiät, frage ich Daniel. Ja, es könne klappen, durch sie Gewicht zu verlieren. Aber kann man dann wirklich sagen, man habe sich wie ein Steinzeitmensch ernährt? »Eindeutig nein«, sagt Daniel. Was auf dem Speiseplan der Paleos steht, lag weit außerhalb der Reichweite der Bewohner des Neandertals. Keine Feigen, keine Kokosmilch, keine Hamburger, bei denen Ananasscheiben als Brötchenersatz dienen. Das Leben vor 40000 Jahren war unattraktiv, denn wahrscheinlich aßen die Neandertaler eher Käfer und Schnecken.

Wir wandern weiter an den Straßen entlang. Und haben immer noch tierischen Kohldampf. Da kommt der REWE genau richtig. In den Auslagen vor dem Supermarkt finden wir Blaubeeren, Himbeeren, Heidelbeeren bio, Heidelbeeren nicht-bio, Brombeeren. Wir kaufen Brombeeren und Himbeeren aus Spanien, verpackt in Plastikschale. Wenn diese Beeren im Frühling von der Iberischen Halbinsel kommen müssen, wie kurz mag dann die Beerenzeit in der Steinzeit gewesen sein? Wenige Wochen nur. Das Schöne an der Paleo-Ernährung ist, dass man sich mit gutem Gewissen tonnenweise Fleisch reinhauen kann. An der Fleischtheke merken wir dann aber, dass wir ein Problem haben: Wurst dürfen wir nicht essen, total un-paleo durch die Beimengung von Gewürzen, Konservierungsstoffen und Zeugs. Und nach rohem Rindergulasch und rohem Kalbsschnitzel steht uns nicht der Sinn – der Neandertaler wäre da nicht so zimperlich gewesen. Als Kompromiss nehmen wir zwei große Scheiben von der gekochten Rinderzunge, Herkunftsland Deutschland. Und ziemlich nah dran an einer Wisentzunge.

Unsere Beute wollen wir nicht vor der Schiebetür des Supermarkts im Stehen verzehren, auch die Neandertaler haben, so die Steinzeitexperten, ihre Beute nicht an Ort und Stelle verschlungen. Vielmehr wurde das Tier zerlegt und die dampfenden Fleischstücke dann in die heimische Höhle transportiert. Nun, so weit wollen wir unsere Beeren und die Rinderzunge nicht tragen, wir suchen stattdessen eine geeignete Stelle für ein Picknick. Wir wandern durch ein Neubaugebiet, schon wieder werden eine Menge der alten Steinzeittrampelpfade zerstört. Wenn wir unsere eigentlich geplante Gehrichtung beibehalten wollten, müssten wir quer durch die squashfeldgroßen Reihenhausgärten gehen. Wir halten uns lieber an den Verlauf der Marie-Curie-Straße.

Wenige Minuten später endlich wieder ein freier Blick, es geht über ausgedehnte Felder, am Horizont die Rheinebene mit den rauchenden Kühltürmen der niederrheinischen Kohlekraftwerke. Nur kurz können wir diese Blicke genießen, dann geht es ins romantische Stindertal, und schon nach kurzer Zeit finden wir eine Bank für unser zünftiges Paleo-Picknick. Wir futtern die Beeren, alles zivilisiert mit Papiertaschentuch als Serviette gegen rote Flecken auf dem Hemd. Ich verschlinge in Rekordzeit meine Scheibe der Rinderzunge, echt lecker. Daniel schafft sein Rinderzungenstück nicht, es ist ihm zu eklig. Ich hätte Hunger auf mehr, aber jetzt, wo er reingebissen hat, ist mir der Appetit vergangen. So empfindlich wären die Neandertaler natürlich nicht gewesen. Beeren isst Daniel reichlich, die findet er nicht eklig. Ich frage ihn, was er von flüssigem Obst und Gemüse hält, den schwer angesagten Smoothies. Daniel verzieht das Gesicht. »Du trinkst dabei unnormal große Mengen an Obst. Wenn du ein, zwei Äpfel isst, bist du normalerweise satt. Die Smoothie-Fans trinken morgens zwei Orangen, eine Banane und drei Kiwis, total unnatürlich, die Nahrung kann auch gar nicht vom Körper eingespeichert werden.« Und dann würden sich die Leute wundern, dass sie dick bleiben oder werden, obwohl sie viel Obst und Smoothies konsumieren und trotz häufigen Trainings. »Zucker setzt mehr an als Fett, das kann man wirklich so pauschal sagen – und Obst ist die Zuckerquelle, die sie dick macht.«

Satt sind wir auf jeden Fall, jetzt gilt es, den Weg zurück in unsere Höhle im Neandertal zu finden. Erst einmal versuchen wir es auf dem direkten Weg: Raus aus dem Stindertal, jenseits des Höhenzugs können wir schon in das Tal der Düssel schauen, rechter Hand eine mächtige Autobahnbrücke, die A3 überquert das Neandertal bei Erkrath. Wir wollen talwärts, Bahngleise und eine Böschung versperren uns den Weg. Moderne Verkehrswege wie Autobahnen und die Eisenbahn sind geschaffen worden, um die Reise wesentlich schneller zu gestalten, behindern aber den modernen Fußreisenden. Dann müssen wir eben quer durch den Reitstall Hansen hindurch hinunter in das Neandertal. Der Hofhund teilt uns lautstark mit, dass es sich wohl nicht nur um einen Privatdurchgang, sondern um überhaupt keinen Durchgang handelt. Also wenden wir uns westwärts, obwohl unser Auto im Tal ostwärts steht. Wir überqueren die A3 auf einer Straßenbrücke, gehen in großem Bogen durch Erkrather Wohngebiete ins Tal hinein, auf der Talstraße endlich in der richtigen Richtung und unterqueren die A3, die auf der eben gesehenen Brücke über uns rauscht. Nach einer 30-Kilometer-Runde sind wir wieder im Tal der Düssel angekommen. Wir wandern auf dem kombinierten Fuß-Rad-Weg an der Landstraße, das hat Vor- und Nachteile. Vorteil: Keine Brennnesseln mehr, die Waden schmerzen sowieso, als hätte ich 10000 Akupunkturnadeln hineingestochen. Nachteil: Das Gehen auf Asphalt belastet die Gelenke deutlich, am Ende einer Tour merkt man das an jedem Schritt.

Wir erreichen die Fundstelle des Neandertalers. Diese hat eine spannende Geschichte. Hier krachte Mitte des 19. Jahrhunderts das Dynamit, Brocken für Brocken Kalkstein wurde dem Felsen entrissen. Der Steinbruchbesitzer war Mitglied in einem naturkundlichen Verein, der von einem gewissen Herrn Fuhlrott 1843 in Elberfeld gegründet worden war. Als die Arbeiter 1856 im Steinbruch »komische« Knochen fanden, gab sie der Steinbruchbesitzer an den Naturforscher Fuhlrott, und der war sich als Zeitgenosse von Darwin sicher: Das waren die sterblichen Überreste eines Steinzeitmenschen. Kurioserweise gab man sich mit diesem einen Fund zufrieden, und es wurde an der Fundstelle weiterhin fleißig Stein gebrochen. Das Areal war bis Anfang der 1990er-Jahre ein unwirtlicher Schrottplatz. Eine Gruppe von Wissenschaftlern machte sich 1997 dorthin auf und schaute mal genau hin. Und nach dreijähriger Suche fanden sie tatsächlich weitere Knochen, die exakt zu denen passten, die 150 Jahre vorher dort gefunden worden waren. Es ist nie zu spät, bedeutende Entdeckungen zu machen. Im Boden der aktuellen Fundstätte stecken komische rot-weiße Speere, die die Stellen anzeigen, an denen die letzten Funde gemacht werden konnten. Wir setzen uns auf große Quaderblöcke und schauen uns um, zum Rumgehen sind wir ehrlich gesagt zu kaputt.

Unsere Muskeln sind dick, Daniel ist richtig groggy. Eine 30-Kilometer-Wanderung ist selbst für einen Power-Fitness-Typen wie ihn nicht ohne Schmerzen zu meistern. Wenige Hundert Meter nach der Fundstelle sind wir wieder am Neanderthal Museum angekommen. Hat der Chef nun Zeit für uns oder nicht? Wir haben Glück, Museumsdirektor Weniger empfängt uns in seinem Büro. Weniger ist Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Köln, und ich lege der weltweit anerkannten Neandertaler-Koryphäe den Fragenkatalog vor, mit dem mich mein wissensdurstiger Freund zu Beginn unserer Tour genervt hat. Wie alt wurde der Neandertaler, was trank er, hat er sich gewaschen? Die Antworten kommen prompt: »Der namengebende Neandertaler wurde mindestens 40 Jahre alt, wenn man die histologischen Untersuchungen am Knochen berücksichtigt. Nimmt man den Verknöcherungsgrad der Schädelnähte, dann war er eher 60 Jahre alt. Zum Trinken: Wir gehen davon aus, dass er vor allem Düssel- und Rheinwasser getrunken hat. Über das Waschen haben wir keine Erkenntnisse, da das Waschen am Körperskelett keine Spuren hinterlässt. Aber er hat regelmäßig Zahnpflege betrieben, was dem Klischee vom wilden Mann widerspricht.« Ich hake nach. Und das alles kann man von den Knochen ablesen? Einiges kann man, so Weniger, aus den Knochen ableiten, zum Beispiel das Alter. Bei anderen Erkenntnissen half ein Blick auf die Lebensumstände und das soziale Zusammenleben von Jägern und Sammlern, die in zivilisationsfernen Refugien überlebt haben. »Man muss als Ur- und Frühgeschichtler so eine Art Profiler sein, wie ein Detektiv Puzzlestücke zusammensetzen«, sagt Weniger. Den Fund des Neandertalers hält er für epochal. »Mit diesem Fund ist erstmals klar geworden, dass Menschen eine Entwicklungsgeschichte hinter sich haben. Es war der erste Fund dieser Art weltweit, drei Jahre bevor Darwin seine Thesen veröffentlichte. Der Neandertaler wurde zum Kronzeugen für die Richtigkeit von Darwins These – das hat das gesamte 19. Jahrhundert aufgewühlt. Selbst im 21. Jahrhundert ist er noch ein Stachel im Fleisch derjenigen, die die Evolutionstheorie ablehnen. Es stimmt einen sehr bedenklich, wenn man weiß, dass es Menschen – vor allem in den USA – gibt, die die Schöpfungsgeschichte wortwörtlich nehmen.«

Professor Weniger ist ganz entspannt, was die Unterscheidung der vielen Typen von Steinzeitmenschen angeht: »Offensichtlich haben sich Denisova-Mensch, Neandertaler und moderner Mensch miteinander vermischt. Das aber würde bedeuten: Sie gehören zu einer großen Spezies. Denn wenn sich Menschen miteinander fortpflanzen können, gehören sie zu einer Art – das ist eine Grundregel der Biologie.« Gegenüber dem Museum steht eine ältere Skulptur, die einen Neandertaler zeigt, wie man ihn sich im 19. und 20. Jahrhundert vorgestellt hat. Tumber Blick, Keule auf dem Boden schleifend. War der Neandertaler wirklich so eine stumpfe Type und vielleicht deshalb dem Homo sapiens unterlegen, der ganz andere sprachliche Fähigkeiten hatte? Weniger verneint und verweist auf ein Gen des Neandertalers, das seine Sprachfähigkeit beweist. Und ein stumpfer Haudrauf war unser Freund aus der Steinzeit auch nicht. Vielmehr ein sehr soziales Wesen.

Jeder in der Gruppe musste helfen, auch Kinder mussten mit auf die Jagd. Unnützes Zeug wurde nicht mitgenommen, es gab keine Gegenstände für das Prestige, keine Statussymbole. Wer der beste Jäger war, konnte nichts auf ein »Konto legen«. Wer Getreide anbaut, kann speichern, wer jagt und sammelt, muss das meiste sofort verzehren. Weniger strahlt und ist begeistert, er redet über den Neandertaler wie über einen sehr guten Freund. »Was macht also der erfolgreiche Jäger, wenn er keine Gegenstände mit besonderem Prestige erwerben kann? Er verschenkt seine Beute als Gabe auf Gegenseitigkeit. Mit dieser Freigebigkeit erwirbt er sozialen Status und steigert sein Ansehen in der Gruppe ganz ohne dickes Auto oder teure Uhren.«

Der beste Jäger wird so zum Primus inter Pares. Es nutzt aber alles nichts, wenn man der beste Jäger ist und trotzdem zu wenig zum Überleben nach Hause bringt. Der Professor ist überzeugt, dass nicht der Homo sapiens dem Neandertaler den Garaus gemacht hat: »Die Neandertaler sind wahrscheinlich die ersten nachweisbaren Opfer eines Klimawandels.«

Ich schaue zu Daniel hinüber, er scheint keine Fragen mehr zu haben. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Professor Weniger für die Zeit, die er sich für uns genommen hat. Langsam schlendern wir vom Museum zu unserem Auto. Wir sind zwar etwas kaputt, haben aber genug im Magen, dank Supermarkt und türkischem Laden. Unser Zu-Fuß-Gehen war eher eine Art Fitnessprogramm, lebensnotwendig ist das Gehen für den modernen Menschen schon lange nicht mehr. Man bewegt sich – das ist das Tagesgeschäft von Daniel –, um fit und schlank zu sein oder es zu werden. Das war vor 40000 Jahren anders. Jeden Tag sind die Neandertaler auf die Jagd gegangen, mit Betonung auf »gegangen«. 20, 25, 30 Kilometer, wenn man nicht schneller Wildtiere gefunden hat. Und oft genug kamen sie ohne Beute nach Haus, weil es, ganz salopp gesagt, auch den Tieren arschkalt war, zu kalt, um die Steppen rund um das steinzeitliche Mettmann in nennenswerter Zahl zu bevölkern. Wenn ein Jagdgebiet unergiebig erschien, machte man sich auf die Suche nach einem neuen Areal zum Jagen – wenn dort nicht schon eine andere Gruppe unterwegs war. Gehen, um zu jagen, Wanderungsbewegungen, um zu überleben. Für uns ist das Wandern eine nette Freizeitbeschäftigung, für die Neandertaler waren ihre Wanderungen und Jagden täglicher Existenzkampf.

GEH’N WIE EIN ÄGYPTER