Fish ’n’ Chips & Spreewaldgurken

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Inhaltsverzeichnis

Wie

Manche Menschen nähern sich in kleinen Schritten, Jacinta Nandi war eines Tages plötzlich da. Viele hatten sie schon mal gesehen, etliche mit ihr gesprochen, einige waren mit ihr aufgetreten und wenige angeblich seit Jahren mit ihr befreundet.

»Wer ist eigentlich Jacinta Nandi?«, war eine Frage, die ich mich nicht mehr zu stellen traute, weil ich offensichtlich der Letzte war, der noch nicht wusste, was los ist. Unauffällig versuchte ich wenigstens herauszufinden, wie man ihren Namen richtig aussprach, was nicht so einfach war, denn jeder betonte ihn anders und versuchte dabei einen Gesichtsausdruck größter Selbstverständlichkeit zu machen, so als ob Jacinta Nandi ein Name war wie Heinz Müller, der Torwart vom 1. FSV Mainz.

Zum Glück kam sie irgendwann zur Reformbühne Heim & Welt, der Lesebühne, in der ich seit Jahren aus meinen Texten vorlese. Das hatte zwei Vorteile: Einerseits konnte ich auf unserer Gästeliste lesen, wie Jacinta richtig geschrieben wird und andererseits hatte ich das Glück, sie selbst zu treffen und zu hören. Dazu muss man wissen: Jacinta ist eine äußerst freundliche, eher schüchtern wirkende Frau, von der man auf den ersten Blick vielleicht Lyrik über Sonnenuntergänge vor Tanganjika erwartet. Ich hatte tatsächlich

Wir verstanden uns gleich sehr gut, vor allem, weil ich mich entschieden hatte, ihren Namen so deutsch wie möglich auszusprechen, was Jacinta anscheinend besser fand, als die vielen Deutschen, die sich an Betonungen abmühten, die irgendwie englisch oder indisch klingen sollten, um bei einer Art Karl-May-indianisch zu enden.

 

Im Normalfall habe ich keine Lust mehr, den Leuten zu verraten, ob ich eine Ost- oder eine West-Biografie habe. Ich erzähle mittlerweile manchmal, ich würde aus Westerkappeln kommen und sei dort in die evangelische Schule gegangen. Aber mit Jacinta war das was anderes. Sie interessierte sich total für die DDR aus ihrer Londoner Perspektive. Seit mehr als zehn Jahren wohnt sie in Kreuzberg, was für sie ein Kulturschock gewesen sein muss. Denn, wie sie mir erklärte, interessiert man sich in London für nichts, was auch nur einen Zentimeter außerhalb der Stadtgrenze Londons passierte. In ihren Kreuzberger Jahren hat sie nicht nur ihren allgemeinen Horizont rasant erweitert, sondern auch sehr viel über einen kleinen Staat erfahren, der früher einmal direkt vor ihrer Kreuzberger Haustür gelegen hat.

Jacinta hat sehr viele Theorien über diesen kleinen Staat. Sie glaubt zum Beispiel, dass der Zufallssex dort besser gewesen sein muss, weil man sich während des Zufallssexes keine

»Schreib doch mal ein Buch über deine DDR«, riet ich ihr.

»Ach, ich schreibe doch kein Buch. Dazu bin ich viel zu undiszipliniert«, winkte sie nur ab. »Das klappt höchstens, wenn wir das Buch zusammen schreiben. Ich schreibe über die DDR und du schreibst über London.«

»Was soll ich über London schreiben? Wir wussten nichts über London. London war ein sagenumwobener Ort. Wir hatten einen Ossi, der es bis ins Weltall und wieder zurück nach Morgenröthe-Rautenkranz, seinem Heimatort im Vogtland, geschafft hat. Aber nie hatte man von jemandem gehört, der bis nach London und wieder zurück in die DDR gereist wäre. Es ist wie in diesem Witz: Was ist ein Trio? Ein DDR-Symphonieorchester nach einer London-Reise.«

»Echt? Was fandet ihr denn so gut an London?«

»Was wir an London so gut fanden? Wir fanden dort alles gut: die Kleidung, die Leute, die Musik. Alles!«

»Auch das Essen?«

»Davon wussten wir nicht so viel«, sagte ich ausweichend.

»Also dann machen wir das«, sagte Jacinta. »Wir schreiben

»Dann machen wir das«, sagte ich. Wer könnte ihr schon widersprechen?



Die

Wenn man selbst für andere Menschen exotisch ist, dann hat man nie Sehnsucht nach dem Exotischen. Oder vielleicht doch. Aber vielleicht sind für uns Exoten einfach ganz andere Sachen exotisch.

»Ich schreibe ein Buch«, erzähle ich einem Kumpel, »gemeinsam mit Jakob Hein.«

»Ach, stimmt, das hat er mir erzählt«, antwortet er. »Und dass du immer zu viel über Sperma schreibst und ihm ist das peinlich und du sagst ihm dann: ›Entschuldigung für das viele Sperma!‹ Und dass es das erste Mal für ihn ist, dass ein Mädchen sich bei ihm entschuldigt hat fürs Sperma.«

»Ich schreibe überhaupt nicht viel über Sperma«, sage ich. »Oder kaum. Unser Buch geht überhaupt nicht um Sperma.«

»Und worüber schreibt ihr dann? Worum geht es in dem Buch?«

»Du darfst dreimal raten«, sage ich.

»Um Indien«, sagt er.

Ich runzle meine Stirn. »Um Indien?«, frage ich erstaunt. »Was werde ich wohl über Indien schreiben können? Ich war nie dort.«

»Okay, okay. Dann um Juden.«

Ich

»Ach was, bist du Antisemitin oder was jetzt?«

»Ach, doch«, korrigiere ich mich. »Ich habe einmal mit einem Israeli geschlafen. Der war bestimmt Jude, oder? Der war bei der Armee gewesen.«

»Ja, man kann davon ausgehen, dass ehemalige israelische Soldaten Juden sind, glaube ich.«

»Ach ja, und auch einmal mit einem deutschen Juden, ein Student. Der hat irgendwas studiert. Philosophie oder Medizin oder Literatur oder so was. So was Altes und Schwieriges. Nix mit Computern.«

»Ich weiß, worüber euer Buch ist«, sagt mein Kumpel. »Ich darf noch mal raten, oder? Ihr schreibt über deutsch-englische Sex-Geschichten. Also, du beschreibst jeden One-Night-Stand, den du je mit einem Deutschen gehabt hast.«

»Nee, nee, nee«, sage ich, und seufze wehmütig. »Dann wär’s ein sehr kurzes Buch. Ich habe viel zu selten mit Deutschen gevögelt. Dann wär’s nur ein dünnes Büchlein.«

»Na klar. Also, jetzt musst du’s sagen. Ich habe dreimal geraten. Jetzt sagst du es mir.«

»Es geht um das Exotische«, sage ich.

»Um was?«

»Um das Exotischste, was es überhaupt geben kann, in diesem Leben«, sage ich.

Jetzt runzelt mein Kumpel seine Stirn.

»Ihr schreibt ein Buch über Avocados und Mangos?«

Ich schüttele meinen Kopf. »Nee«, sage ich. »Ich schreibe über die DDR

Mein Kumpel lacht. »Ach ja«, sagt er. »Die exotische DDR

»Ja«,

»Na klar«, sagt er und lächelt amüsiert.

»Doch«, sage ich. »Wenn du so groß geworden bist wie ich – britische Arbeiterklasse, ganz langweilig und normal – du aber halb-indisch aussiehst, halb-anders, dann bist du schon exotisch für die anderen Menschen – alle wollen von dir ein Yogi-Tee-Rezept oder kostenlosen Yoga-Unterricht. Wenn du so aufgewachsen bist, was kann es dann für dich noch Exotisches geben – außer der DDR

Meine Kindheit war eine ziemlich normale, langweilige Britische-Arbeiterklassen-Kindheit. Alles im Haus meiner Eltern war braun, so ein sanftes, leichtes orangenes Braun. Braune Sofas, braune Tapeten, braune Vorhänge. Spießiger Krimskrams überall. Sogar unsere Badewanne war orange und braun. Alles so spießig und klein und normal und englisch. Anders als bei meinen Großeltern: Da war es zwar auch spießig und orange-braun und langweilig – aber ihr Krimskrams war exotisch. Statt kleiner Teller oder einer Fingerhütesammlung oder Porzellanschornsteinfegern hatten sie türkisfarbene Elefanten und diese Göttin mit den Armen. Bei ihnen war eine Atmosphäre, wie ich sie komischerweise hier in Deutschland nur von türkischen Familien kenne, obwohl deren Krimskrams wieder ganz anders ist. Es ist vermutlich diese überwältigende Spießigkeit und dann: unerwartet ein paar Tropfen Farbe. Und außerdem, ich weiß nicht warum, haben meine Großeltern auch andere Sachen gemeinsam mit den türkischen Familien: Plastikpflanzen zum Beispiel, und ein Sofa, das sie nie auspacken aus der Plastikverpackung, und dann diese durchsichtigen Plastikteppiche auf dem Boden. Aber bei meinen Großeltern – genauso

Jedenfalls: Es ist überhaupt nicht exotisch gewesen bei meinen Großeltern. Es war langweilig. Total langweilig. Wenn auch nicht so langweilig, wie die Fragen, die man immer von Deutschen gestellt bekommt, wenn sie mitkriegen, dass man indische Wurzeln hat:

»Kannst du eigentlich indisch kochen, Jacinta? Guckst du gerne Bollywood-Filme? Kannst du indisch? Meditierst du manchmal? Machst du Honig in deinen Chai-Tee? Oder nicht? Gehst du immer noch zum Tempel? Hörst du gerne Bhangra-Musik? Darfst du Rindfleisch essen?«

»Ach«, sagt mein Kumpel. »Die DDR war nicht exotisch. Indien ist exotisch, Jacinta. Du bist innerlich blockiert. Irgendwann mal gehst du nach Indien, dann wirst du erkennen, wie exotisch du bist.«

»Aber jemand kann sich selbst nicht exotisch finden, oder?«, sage ich. Aber ich merke, dass wir uns nicht mehr so richtig konzentrieren können, auf das Gespräch. Als mein Kumpel weggeht, um Zigaretten zu holen, sitze ich allein da und denke darüber nach, was ich alles exotisch finde. In einem Schwarztaxi herumzufahren, denke ich mir, und bei den Pionieren sein zu dürfen, und in Läden zu gehen, in denen man nichts kaufen kann. In einem Trabant an die Ostsee fahren, und wenn du am Strand bist, FKK machen, ja, FKK machen und dabei Spreewaldgurken essen, ja und überhaupt der Spreewald. Und dann, wenn du in der Schule bist, Micky-Maus-Sticker vor deiner Lehrerin verstecken zu müssen. Meine Freundin hat mir mal erzählt, wie eine Lehrerin mal eine Razzia gemacht hat bei den Schulsachen. Sie hatte gerade einen Micky-Maus-Sticker von ihren Westverwandten

Wir

Wir hatten eigentlich immer eine gute Zeit, damals in Ostdeutschland. Klar, es war anders als heute, schon allein dadurch, dass wir mit der großen Gabe des Nichtwissens gesegnet waren, die uns in einen Zustand von dauerhaftem Glück versetzte. Man kann dem repressiven, diktatorischen, ideologieverstrahlten ostdeutschen Unrechtsregime vorwerfen was man will, mit Nichtwissen versorgte es uns immer gern und reichlich. Schnaps, Zigaretten und Nichtwissen waren die wesentlichen Güter, die niemals knapp in den ostdeutschen Einkaufsregalen wurden. So war es organisiert, dass die Ostdeutschen erst dann frei reisen durften, wenn Altersdemenz und Lebenserwartung schon so weit fortgeschritten waren, dass die Systemstabilität durch die mitgebrachten Reiseeindrücke nicht mehr gefährdet werden konnte, einmal abgesehen davon, dass Kreislaufprobleme und Krankheiten des Bewegungsapparats den Aktionsradius der Reisenden stark einschränkte. Der Schraubstock der Biologie gewährleistete, dass die Zange der Ideologie gefahrlos gelockert werden konnte. Doch so wie das westdeutsche Rentensystem durch die zunehmende Langlebigkeit der Rentner gefährdet wird, genauso gefährdete die Beibehaltung der Reiseregelung für Rentner

Zurück zu unserer Jugend, die wir noch im glücklichen Zustand der Unwissenheit verbrachten. Auch wenn wir es nicht so empfanden, hatten wir damals viel weniger Freizeit als heute. Praktisch nur jeden ersten Samstag des Monats sowie am Nationalfeiertag, am Tag der Metallurgen und am Tag der Nationalen Volksarmee konnten wir von 7 Uhr bis 8.30 Uhr vormittags und von 14 Uhr bis 17.30 Uhr

Zusätzliche Informationen machten uns nicht unbedingt glücklicher und doch gierten wir danach. Irgendeiner hatte immer einen Transistor, eine Flachbatterie und ein Potenziometer zusammengelötet, um die feindlichen Sender abzuhören. Komischerweise konnten damals alle löten, man fragt sich, wo diese Fähigkeit heute geblieben ist. Über die Feindwelle hörten wir von Rollerpartys in London, wir stellten uns vor, wie die Tänzerinnen und Tänzer Hand in Hand zur Musik über die Tanzfläche rollten. Klar, das wollten wir auch probieren! Die Frage war nur, wie. Wir besaßen keine Roller mehr, die hatten wir längst unseren kleinen Brüdern vererbt oder den jüngsten Kindern unserer ältesten Schwester, wenn wir selbst kleinste Brüder waren, denn in der DDR gingen den Kaninchen die Augen über angesichts der hohen Reproduktionsraten der Menschen. Wer selbst schon Kinder hatte, durfte nicht mehr in den Fetenschuppen, um Platz zu machen für die nächste Generation der Nachwuchsanbahnung. Also überredeten wir die kleinen Jungs, uns ihre Roller für den Tanz auszuborgen. Zwar sahen die Roller albern aus mit ihren kleinen Wimpeln auf dem Schutzblech des Vorderrads – doch egal! Wenn die coolen Londoner das machten, dann müsste es auch bei uns gut aussehen. Das Problem war, dass die Fetenscheunen keine Fundamente hatten. Die Jugendlichen selbst hatten sie in der Regel erbaut, indem sie vier Baumpfähle im Rechteck in den Boden rammten und die Lücken mit den Sauerkohlplatten vernagelten. Dadurch war der Boden in diesen Vergnügungslokalen nicht übermäßig glatt. Außerdem waren die Roller nicht für den Einsatz

Das Leben der coolen Londoner blieb uns lange Zeit ein Rätsel. Natürlich war der tatsächliche Inhalt dieser Geheimschatulle nicht ein Viertel so schön, wie das, was wir vor der Wende darin zu finden dachten, ja, die Frage ist sogar, ob nicht unsere Sehnsucht selbst schöner war als die Wirklichkeit.

Kein

»Gott, als Teenies hattet ihr sicher damals Langeweile«, sage ich meinem Bekannten, »damals, zu Ostzeiten.«

»Warum?«, fragt er.

»Weil ihr nix gehabt habt, was Spaß macht«, sage ich.

»Was zum Beispiel?«, fragt er.

»Telefone«, sage ich. »Ihr hattet keine Telefone, oder? Das muss total langweilig gewesen sein. Weil bei uns, bei uns in England, haben wir immer, wenn wir Langeweile hatten, zum Telefon gegriffen und irgendwelche Leute angerufen. Zum Beispiel in der Mittagspause haben wir den Ehemann der Kantinenleiterin angerufen und ihm erzählt, dass die Vibratoren, die sie bestellt habe nur in Rosarot und nicht in Schwarz zur Verfügung standen. Wir wussten, dass er Rentner war und auf sie gewartet hat. Oder wir haben beim Sozialmedizinischen Kindernotruf angerufen und erzählt, dass unser Mathelehrer immer Orgasmen kriegt bei Algebra und wir uns Sorgen um ihn machen würden. Und in den Sommerferien haben wir bei der Soziologielehrerin angerufen und ihr gesagt, dass Michael Harrison in sie verliebt sei und nicht sicher wäre, ob er die sechs Wochen durchhalten könne, ohne sie zu sehen. Und oft haben wir auch bei der Auskunft angerufen. Wir haben bei der Auskunft

Mein Bekannter lächelt gequält. »Bescheuert wart ihr«, sagt er. »Völlig bescheuert.«

»Und einmal«, erzähle ich, »einmal haben wir die Auskunft angerufen und gefragt, was für eine Ausbildung man benötigen würde, um bei der Auskunft arbeiten zu können. Weißt du, was der Typ gesagt hat? Er hat gesagt: ›Fick mich, meine Liebe, eigentlich brauchst du gar keine.‹«

Mein Bekannter guckt skeptisch.

»Das hat er gesagt?«, fragt er.

Ich sage es noch mal auf Englisch und zwar in meiner besten schottischen Aussprache:

»›Fook me, love, you don’t really need any.‹«

»Echt«, sagt er. »Das hat er echt gesagt?«

»Und manchmal haben wir versucht, mit denen Telefonsex zu machen. Es hat fast nie geklappt. Wir haben gesagt: ›Oh, ich habe meinen Schuluniformrock an und keine Höschen drunter, weil ich beim Sportunterricht so geschwitzt habe!‹ Und normalerweise haben sie immer nur zugehört und desinteressiert gesagt: ›Brauchst du die Nummer von einem Unterwäscheladen oder was?‹ Aber einer hat mal mitgemacht. Er hat gesagt: ›Erzähl vom Duschen, mich interessieren eure Duschgewohnheiten, duscht ihr in Gruppen? Benutzt ihr viel Waschgel?‹ Nachher haben wir Unmengen von Beschwerdebriefen geschrieben. Wir haben geschrieben: ›Wissen Sie, was für perverse Kranke Sie bei der Auskunft eingestellt haben?‹«

»Aha.

»Aber du Armer«, sage ich. »Hinter dem Eisernen Vorhang weggesperrt! Bei euch hatte man keine Telefonanschlüsse, stimmt’s? Was habt ihr gemacht, wenn ihr Langeweile hattet? Das muss so langweilig gewesen sein.«

»Du hast nicht ganz recht«, sagt er. »Es gab einen Jungen in unserer Clique, der einen Telefonanschluss hatte. Wir sind zu ihm gegangen und haben dann bei Leuten angerufen und ihnen gesagt, dass ihr Trabi endlich da sei. Oder ihr Kühlschrank.«

Ich lache. »Ach, das muss lustig gewesen sein. Viel besser als das mit den Vibratoren eigentlich, weil alle so lange auf alles Mögliche warten mussten. Das muss richtig lustig gewesen sein.«

»Siehste«, sagt er.

»Aber bei euch gab es auch keine Penner«, sage ich. »Oder? Keine Penner. Weil alle eine Arbeit hatten. Also war auch niemand bereit, für euch Alkohol zu kaufen. Bei uns haben wir immer die Penner damit beauftragt, für uns Alkohol zu kaufen, und sie durften dafür aus der Flasche ein bisschen was trinken. Manche von ihnen wurden richtige Freunde. Wir haben sie manchmal extra bezahlt, damit sie für uns strippen oder singen oder im Einkaufswagen auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt ein Wettrennen machen. Aber ihr hattet ja keine echten Supermärkte, oder? Mit Parkplatz davor und so? Ihr hattet nur Kaufhallen.«

»Jacinta«, sagt mein Bekannter. »Ein Supermarkt und eine Kaufhalle sind beide große Lebensmittelgeschäfte, in denen man Lebensmittel kaufen kann.«

»Was?«, frage ich.

»Auf

»Was?«

»Ja, Kaiser’s ist eine Kaufhalle. Hast du das nie bemerkt? Ostler sagen immer Kaufhalle, die Westler immer Supermarkt. Aber das Prinzip ist dasselbe. Natürlich haben wir keine riesengroßen monströsen Tempel gehabt, wie ihr in London, wo alle ihre Kinder an sich binden müssen, weil, wenn sie sie verlieren würden, das für immer wäre. Aber wir hatten schon Supermärkte.«

»Ich dachte, ihr hattet nur Kaufhallen, und die waren zwar wie Supermärkte, aber sozialistisch und klein, und alles grau, und die Mitarbeiter waren alle Beamte und so, und Alkohol war verboten, und ihr habt nur mit Lebensmittelgutscheinen bezahlt, und alle durften nur eine Packung Zucker pro Woche bekommen – oder pro Monat – eine Packung Zucker pro Monat – oder Quartal – ja, jedes Quartal eine Packung Zucker – und es gab immer nur eine Art Senf – oder? Das hast du mir erzählt, mit dem Senf – nur eine Art Senf – sozialistischer Senf – und dann eine Regalreihe voller Gläser mit Spreewaldgurken. Das hat mir echt so leidgetan. Dass ihr immer nur eine Art Senf gehabt habt. Ich hoffe, er war zumindest lecker.«

»Habe ich dir das erzählt mit dem Senf?«

»Ja«, sage ich.

»Kann sein. Jacinta, weißt du, ich war einmal in London in eurem Tescos-Dings da, das ist lächerlich groß, und ihr habt es wirklich übertrieben mit dem Senf, ja. Es gab Senf aus allen Ländern der Welt. Braucht man wirklich Senf aus der Schweiz und der Mongolei und Sambia, um glücklich zu werden?«

»Nee«, sage ich.

»Also«, sagt er.

»Aber«,

»Was«, sagt er.

»Wenn es nur eine Art von allem gab, dann muss es viel schwieriger gewesen sein, was zu klauen. Wenn es nur eine Art Senf gibt, dann merken das die Verkäufer sofort, wenn du was klaust. Bei uns gab es immer so viel von allem, dass die ganz schnell den Überblick verloren haben.«

»Verstehe«, sagt mein Bekannter.

»Verstehst du?«, frage ich. »Und das war mein drittliebstes Hobby als Teenager. Das erste: Leute anrufen, das zweite: Penner erniedrigen, und das dritte: Sachen klauen. Gott war ich gut beim Klauen. Ich habe so viel geklaut. Bei uns heißt Schlecker Superdrug, ja? Ich habe die Hälfte des Superdrug in Ilford in meiner Jackentasche mitgenommen. Ich erklärte meiner Mama immer, dass es das im Sonderangebot gab. Denn sie hat sich schon darüber gewundert, wie gut ich mit Geld umgehen konnte. Sie erzählte immer: ›Die Jacinta kriegt es wirklich gut hin, so viel wie möglich für ihr kleines Taschengeld zu kaufen.‹ Und ich sagte: ›Ja, ich achte auf die Sonderangebote.‹ Aber in Wirklichkeit habe ich nur auf den Sicherheitsmann geachtet.«

»Wir hatten andere Läden«, erklärt er mir dann. »Intershops. Da bekam man Westprodukte.«

»Ach ja, ich habe davon gehört«, sage ich. »Eine Bekannte von mir sagt immer, wenn Menschen lecker riechen, dass sie nach Intershop riechen.«

»Bestimmt denkst du, wir hätten da klauen gehen sollen? Oder? Das hättest du gemacht, wenn du im Osten Teenie gewesen wärst?«

Ich gucke ihn schockiert an. »Bist du wahnsinnig?«, frage ich ihn. »Ich hätte das niemals gemacht. Niemals. Westprodukte klauen, dann würde die Stasi kommen und mich foltern. Ich habe den Anfang von Das Leben der Anderen gesehen. Nein, danke. Gefoltert werden von der Stasi, das hätte echt keinen Spaß gemacht.«

»Da hast du recht«, sagt er.

»Nee«, sage ich entschieden. »Ich hätte immer brav für meinen sozialistischen Senf gezahlt, und ab und zu jemanden angerufen, und gesagt, dass der Trabi schon da sei. Weißt du, was ich denke? Ich denke manchmal, dass Spaß sowieso total überbewertet wird.«

»Wahrscheinlich würde ich auch so denken«, sagt er, »wenn ich als Jugendlicher nur halb so viel Spaß wie du gehabt hätte.«