Franz Ruppert

Symbiose und Autonomie

Symbiosetrauma
und Liebe jenseits von Verstrickungen

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89215-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10404-2

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20025-6

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorbemerkung

Danksagung

Anmerkung zum Wortgebrauch

Vorwort zur 6. Auflage

1. Für immer Dein – oder immer allein?

Kinderlieder

Symbiose-Autonomie-Konflikte

Arbeitshypothesen

2. Was ist »Symbiose«?

2.1 Gegenseitiger Nutzen

2.2 Jäger und Beute

2.3 Konkurrenz und Arbeitsteilung

2.4 Urgefühle

2.5 Spiegelneurone und Symbiose

3. Symbiose als psychologisches Konzept

Erich Fromm

Margret Mahler

Martin Dornes

Weiterführende Überlegungen

4. Was ist Autonomie?

4.1 Masse oder Einzigartigkeit?

4.2 Entwicklung von Individualität und Subjektivität

4.3 Freiheit von Abhängigkeiten

4.4 Äußere und innere Freiheit

4.5 Ich-Bildung

4.6 Pseudoautonomie

4.7 Wahre Autonomie

5. Konstruktive und destruktive Symbioseformen

5.1 Konstruktive Formen von Symbiose

5.2 Destruktive Formen von Symbiose

5.3 Konstruktivität und Destruktivität der Eltern-Kind-Beziehung

5.4 Wachstumsspirale

6. Traumata als Ursachen psychischer Störungen

6.1 Bindungstheorie und Traumatheorie

6.2 Ein Modell für seelische Spaltungen

6.3 Trauma und Symbiose

7. Symbiose zwischen Eltern und Kindern

7.1 Mutter-Kind-Symbiose

7.2 Kind-Mutter-Symbiose

7.3 Traumatisierte Mütter und traumatisierte Kinder

7.4 Traumatisierte Väter und traumatisierte Kinder

8. Das Symbiosetrauma

9. Symbiotische Verstrickungen

9.1 Symbiotische Verstrickungen bei Geschwistern

9.2 Symbiotische Verstrickungen bei Paaren

9.3 Symbiotische Verstrickung mit der ganzen Familie

9.4 Symbiotische Verstrickungen auf nationaler Ebene

9.5 Symbiotische Verstrickungen mit (Sport-)Vereinen

9.6 Wirtschaft, Geld und symbiotische Verstrickungen

9.7 Symbiotische Verstrickungen von Tätern und Opfern

9.8 Sucht und symbiotische Verstrickungen

9.9 »Psychose«, »Schizophrenie« und symbiotische Verstrickungen

9.10 Körperliche »Krankheiten« und symbiotische Verstrickungen

10. Bindungsorientierte Traumaaufstellungen

10.1 Zuhören ohne zu werten

10.2 Vertrauen erwerben

10.3 Von der Familien- zur Traumaaufstellung

10.4 Arbeit mit dem Anliegen

10.5 Die Rolle des Therapeuten

10.6 Arbeit mit Aufstellungen in Einzelsitzungen

10.7 Hintergrundtheorie und Arbeitshypothesen

11. Lösung aus symbiotischen Verstrickungen

11.1 Therapeutische Begleitung

11.2 Therapeutische Irrwege

11.3 Aufstellungen und Symbiosetrauma

11.4 Symbiotische Verstrickung verstehen

11.5 Traumata verstehen und anerkennen

11.6 Seelisch am Trauma arbeiten

11.7 Illusionen einer schnellen Heilung aufgeben

11.8 Auf symbiotisch übernommene Gefühle verzichten

11.9 Gesunde Anteile in den Vordergrund holen

11.10 Ein gesundes Körpergefühl entwickeln

11.11 Einen gesunden Willen entwickeln

11.12 Mit sich sein können

11.13 Weder retten noch gerettet werden wollen

11.14 Verstrickende Partner verlassen

11.15 Auf Abstand zu traumatisierenden Eltern gehen

11.16 Weder Opfer noch Täter sein

11.17 Die eigene Kindheit abschließen

11.18 Gute neue Beziehungen eingehen

11.19 Gesunde Abgrenzungen finden

11.20 Zur sexuellen Selbstbestimmung finden

11.21 Unbestechliche Klarheit

11.22 Lieben jenseits von Trauma und symbiotischer Verstrickung

12. Hoffnung

Literatur

Vorbemerkung

Das vorliegende Buch stellt das fünfte in der Reihe meiner Bücher dar, in denen ich um Klarheit ringe, was die menschliche Seele in ihrem Innersten bewegt, was sie gesund sein lässt, was sie krank macht und wie dieses Wissen in eine wirkungsvolle psychotherapeutische Arbeit umgesetzt werden kann.

Trotz dieses Fortschritts im Verständnis seelischer Prozesse blieb für mich ein Rest an Unklarheit, der sich auf diejenigen seelischen Anteile bezog, die sich deutlich im Zusammenhang mit Bindungstraumata und Bindungssystemtraumata zeigten. Es gibt seelische Anteile, welche sich mit aller Kraft an solche Eltern klammern, die einem als Kind schweren Schaden zufügen. Diese Anteile erwiesen sich als weitgehend unbeeinflussbar gegenüber allen therapeutischen Bemühungen, sie zu einer Ablösung von ihren Eltern zu bewegen. Warum also sind gerade diejenigen Kinder, die am meisten von ihren Eltern vernachlässigt, geschlagen, missbraucht und gedemütigt werden, am wenigsten in der Lage, sich von diesen Eltern innerlich abzugrenzen?

Die Antwort auf diese Frage ergab sich, als ich immer besser verstand, dass bereits der ursprüngliche symbiotische Prozess zwischen Mutter und Kind zu einem Urtrauma für das Kind werden kann. Dieses Urtrauma ruft eine erste frühe Spaltung im Seelenleben eines Kindes hervor. Ich bezeichne diesen Vorgang nun mit dem Begriff des »Symbiosetraumas«. Weil ein »Symbiosetrauma« ein Kind schon so früh in seiner Entwicklung seelisch spaltet, verliert es den Bezug zu seinen ursprünglichen vitalen Impulsen und richtet einen Großteil seiner Aufmerksamkeit weg von sich auf das Außen und auf andere Menschen. Es kann daher keine eigene, in sich gefestigte Identität ausbilden. Es bleibt ein Leben lang abhängig und unselbstständig und verstrickt sich immer mehr. Selbst der erwachsene Mensch wird in seinem Kern von seinen kindlichen Ängsten gesteuert.

Wird das Symbiosetrauma in seiner fundamentalen Bedeutung für die gesamte psychische Entwicklung eines Menschen erkannt, werden alle anderen seelischen Probleme, die daraus entstehen, wesentlich besser erklärbar. Wir können als traumatisierte und bindungsgestörte Menschen erst dann an unserer eigenen inneren Heilung arbeiten, wenn wir in der Lage sind zu erkennen, wer wir selbst sind. Erst nachdem an der Integration der ursprünglichen Spaltung therapeutisch gearbeitet wird, können alle weiteren, möglicherweise noch zusätzlich erlebten Traumata überwunden werden. Aus destruktiven symbiotischen Verstrickungen können allmählich konstruktive symbiotische Beziehungen werden, Pseudoautonomie kann sich zu wahrer Autonomie wandeln. Das Schwergewicht der therapeutischen Arbeit kann sich dadurch weiter dahin verlagern, nicht die symbiotischen Abhängigkeitsbedürfnisse zu nähren, sondern die Autonomieentwicklung von Menschen zu unterstützen.

Der gesamte bisherige Erkenntnisprozess, den ich hier kurz geschildert habe, war begleitet durch meine Arbeit mit der Aufstellungsmethode. Ich begann zunächst Erfahrungen mit »Familienaufstellungen« im Sinne ihres Begründers, Bert Hellinger, zu sammeln. Doch je mehr Einsichten ich in die elementaren seelischen Vorgänge von »Bindung« und »Trauma« erlangte, desto mehr wurde mir klar, dass ich meinen eigenen Weg finden musste, mit der Aufstellungsmethode therapeutisch zu arbeiten. Ich bezeichne die Form der Aufstellung, mit der ich heute überwiegend arbeite, als »Traumaaufstellung«. Im Zusammenhang mit dem neuen Konzept des Symbiosetraumas habe ich wiederum eine neue Variante der Aufstellungsarbeit entwickelt, die ich als das »Aufstellen des Anliegens« bezeichne. Diese neue Methode und ihre Anwendungsmöglichkeiten werden im vorliegenden Buch zum ersten Mal detailliert beschrieben.

Ob die Entdeckungsreise in das Innere der menschlichen Seele damit schon an ihr Ende gelangt ist, weiß ich nicht. Ich vermute es eher nicht. Wie mir scheint, sind noch lange nicht alle Rätsel unserer menschlichen Psyche gelöst. Manches, was ich hier darstelle, ist noch im Stadium der Erprobung. Es werden zahlreiche Arbeithypothesen formuliert, deren weitere wissenschaftliche Erforschung noch ansteht.

Ich hoffe, die in diesem Buch zusammengetragenen Einsichten geben uns, ob als Betroffene oder als professionell Arbeitende, auch in ihrer Vorläufigkeit eine weitere Möglichkeit, die komplexen Zusammenhänge zwischen den vielfältigen Lebenssituationen und ihren körperlichen, emotionalen und geistigen Verarbeitungsmöglichkeiten zu begreifen und dieses Wissen für die Weiterentwicklung unserer persönlichen Autonomie sowie von gesunden gesellschaftlichen Strukturen zu nutzen.

Danksagung

Mein Dank gilt an erster Stelle den vielen Patientinnen und Patienten, die bereit sind und waren, mit mir zusammen einen unkonventionellen Weg zu gehen, um die tieferen Ursachen und Zusammenhänge für seelisches Leiden herauszufinden. Ihre Offenheit und ihr Vertrauen ermöglichen es mir, immer mehr und Genaueres darüber in Erfahrung zu bringen, was uns Menschen in der Tiefe unserer Seele bewegt. Ich habe Patientinnen und Patienten in diesem Buch möglichst oft direkt zu Wort kommen lassen, weil sie selbst am besten formulieren und ausdrücken können, was sie fühlen und denken. Die Namen aller in diesem Buch genannten Menschen sind selbstverständlich geändert worden.

Danke sage ich all meinen Wegbegleitern national wie international, welche die Entwicklungen meiner Arbeit mittragen und mitgestalten. Besonders erwähnen möchte ich Margriet Wentink, Wim Wassink, Vivian Broughton, Jutta ten Herkel, Thomas Riepenhausen, Ingrid Dykstra, Doris und Alexander Brombach, Birgit Assel, Radim Ress, Marina Bebtschuk, Patrizia Manukian, Svetlana Wrobej, Marta Thorsheim, Tore Kval, Ute Boldt, Petra Schibrowski, Alois Schwent, Barbara Spitzer, Rebecca Szeto, Kama Korytowska, Lena Gourskaja, Helmut A. Müller und Heribert Döring-Meijer. Ich erlebe mit einem jedem der Genannten auf eine besondere Weise einen kreativen und konstruktiven Austausch von Erfahrungen.

Vielen Dank auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Klett-Cotta Verlags, von denen ich mich jederzeit hilfreich unterstützt erlebe. Namentlich erwähnen möchte ich Frau Dr. Christine Treml als Lektorin und Herrn Roland Knappe als Koordinator der inzwischen zahlreichen Kontakte mit ausländischen Verlagen.

Anmerkung zum Wortgebrauch

Ich verwende im Text aus Gewohnheit meist die männliche Sprachform. Es sind dabei jedes Mal beide Geschlechter gemeint, falls im Text nicht ausdrücklich auf einen Mann oder eine Frau Bezug genommen wird. Ich spreche in der Regel von »Patienten«, wobei gleichwertig auch der Begriff »Klient« oder einfach »Mensch« verwendet werden könnte.

Vorwort zur 6. Auflage

Ich freue mich, dass »Symbiose und Autonomie« weiterhin eine große Leserschaft hat. Meine Entdeckungsreise ist seit dem ersten Erscheinen dieses Buches weitergegangen und hat viele Früchte getragen, die in folgenden weiteren Publikationen zu finden sind:

Ich bedanke mich bei meinen Lesern für Ihr Interesse und wünsche ihnen viele neue und für ihr Leben hilfreiche Einsichten.

München, im September 2019

Franz Ruppert

1. Für immer Dein – oder immer allein?

Kinderlieder

Die erste Strophe eines bekannten deutschen Kinderliedes lautet:

Hänschen klein / ging allein / in die weite Welt hinein.

Stock und Hut / steht ihm gut / ist gar wohlgemut.

Aber Mutter weinet sehr / hat ja nun kein Hänschen mehr.

Da besinnt / sich das Kind / läuft nach Haus geschwind.

Die 2. Strophe bekräftigt die Rückkehr von Hänschen zu seiner Mutter:

Lieb Mama / ich bin da / ich dein Hänschen hoppsassa.

Glaube mir / ich bleib hier / Geh nicht fort von Dir.

Da freut sich die Mutter sehr / und das Hänschen noch viel mehr.

Denn es ist / wie ihr wisst / gar so schön bei ihr.

Ob sich Kinder Gedanken über diesen Text machen? Wo in aller Welt soll es denn besser sein als zu Hause bei der Mama? Bei einer Mama, die ihr Kind vermisst, wenn es weggeht? Für Kinder gehören Mütter und Kinder zusammen.

Als erwachsener Mensch kann man sich zu diesem Kinderlied eine ganze Reihe von Fragen stellen:

»Hänschen klein« ist das Hohelied auf die symbiotischen Bedürfnisse von Müttern und Söhnen: zusammen sein und zusammen bleiben, den anderen nicht verlassen, ihn nicht einsam machen, selbst nicht einsam sein müssen. Innigkeit und Geborgenheit, Treue und Loyalität scheinen die Garanten für ein immerwährendes Glück. Eine moderne Version der offensichtlich unauflösbaren Verbundenheit von Mutter und Sohn hat der holländische Kinderstar Heintje in seinem Lied »Mama« besungen:

»Ich werd’ es nie vergessen / was ich an dir hab’ besessen

Dass es auf Erden nur eine gibt / die mich so heiß hat geliebt.«

Kann man es sich wünschen, von so einer Liebe Abschied zu nehmen? Sich jemals voneinander zu lösen? Die Mutter muss nicht weinen, denn ihr Sohn ist in Gedanken immer bei ihr und sie trägt ihn allzeit in ihrem Herzen. Was aber hat das möglicherweise für Auswirkungen auf die anderen Beziehungen, die der Sohn in seinem Leben noch eingeht, wenn die Mutter die Einzige ist, von der er sich heiß geliebt fühlt?

Bei solchen Kinderliedern sind geschlechtsspezifische Aspekte nicht zu übersehen. Das Mutter-Sohn-Verhältnis erscheint besonders emotionsgeladen. Der Sohn muss trotz aller Mutterliebe nach gängigen Rollenvorstellungen irgendwann hinaus in die weite Welt, um sich im Lebenskampf zu bewähren. Unübersehbar ist die subtil erotische Komponente, weil der kleine Prinz in seinen kindlichen Fantasien der treueste und fürsorglichste Mann seiner Mutter ist. Heintje hat das in einem anderen Lied an die Mutter so zum Ausdruck gebracht: »Ich bau dir ein Schloss.« Die Grenzen zwischen Mutter und Sohn verschwimmen leicht im Nebel der symbiotischen Gefühle: Wer ist die Mutter und wer ist das Kind? Wer ist groß und wer ist klein? Ist der Sohn gar der ideale Mann seiner Mutter?

Bei Töchtern erscheint die Ablösethematik von der Mutter nicht so brisant. Zumindest gibt es kein Lied, in dem eine Tochter singt: »Mama, du wirst doch nicht um deine Tochter weinen …« In traditionellen Gesellschaften wird auch heute noch erwartet, dass Töchter ihrer Mutter ein Leben lang zur Seite stehen, sie im Alltag nach Kräften unterstützen, kleinere Geschwister großziehen und ihre Mutter bis zum Lebensende begleiten. Eher scheint es für die Väter ein größeres Problem zu sein, »ihre« Tochter eines Tages an einen anderen Mann hergeben zu müssen.

Doch zurück zu »Hänschen«: Zufällig bin ich im Internet auf eine weniger bekannte Version von »Hänschen klein« gestoßen. Dieses Lied hat drei Strophen:

Hänschen klein / ging allein / in die weite Welt hinein.

Stock und Hut / steht ihm gut / ist gar wohlgemut.

Aber Mutter weinet sehr / hat ja nun kein Hänschen mehr.

»Wünsch dir Glück!« / Sagt ihr Blick / »Kehr’ nur bald zurück!«

Sieben Jahr / trüb und klar / Hänschen in der Fremde war.

Da besinnt / sich das Kind / Eilt nach Haus geschwind.

Doch nun ist’s kein Hänschen mehr / Nein, ein großer Hans ist er.

Braun gebrannt / Stirn und Hand / Wird er wohl erkannt?

Eins, zwei, drei / geh’n vorbei / Wissen nicht, wer das wohl sei.

Schwester spricht: / »Welch Gesicht?« / Kennt den Bruder nicht.

Kommt daher die Mutter sein / Schaut ihm kaum ins Aug hinein,

Ruft sie schon: / »Hans, mein Sohn! / Grüß dich Gott, mein Sohn!«

Das ist ein Text, bei dem es um das Erwachsenwerden geht. Hänschen geht nicht wieder zurück, auch wenn die Mutter weint. Die Mutter ist zwar auch traurig und voller Sehnsucht, sie gibt dem Sohn zum Abschied aber ihren Segen. Hänschen macht seine guten und schlechten Erfahrungen in der weiten Welt. Er verändert sich so sehr, dass viele ihn nicht mehr als das Hänschen von früher erkennen, nicht einmal seine Schwester. Als er zu seiner Familie zurückkehrt, ist er für seine Mutter »der Hans« und damit ein erwachsener Mann geworden. Dennoch bleibt er für sie ihr Sohn.

Es gibt also neben der Symbiose- auch diese Autonomieversion von »Hänschen klein«. Sie ist weniger populär – vermutlich weil »Autonomie« wenig mit Sehnsucht und »Herz und Schmerz« zu tun hat. Was bedeutet »Autonomie« und wofür ist sie eigentlich gut? Autonom sein kann heißen:

Symbiose-Autonomie-Konflikte

Wie es scheint, ist für uns Menschen beides gleich wichtig. Wir haben Symbiose- und Autonomiebedürfnisse. Beide begleiten uns durch das gesamte Leben. Es gibt Phasen, in denen die symbiotischen Bedürfnisse eindeutig überwiegen, und es gibt Lebensabschnitte, in denen wir vor allem frei und unabhängig sein möchten. Und es gibt immer wieder Zeiten, in denen in unserem Inneren ein heftiger Kampf tobt zwischen diesen beiden Grundbestrebungen. Man könnte in Symbiose-Autonomie-Konflikten sogar den Webstoff menschlicher Lebensdramen erkennen, etwa wenn

Symbiotische Bedürfnisse und Wünsche nach Autonomie sind einerseits getrennte Bestrebungen, wie hängen sie andererseits zusammen? Ist es ein Entweder-oder, oder gibt es ein Sowohl-als-auch? Lassen sich beide Grundbedürfnisse gleichermaßen zufriedenstellen und in Einklang miteinander bringen, oder geht das eine nur auf Kosten des anderen?

Es ist unter anderem eine Frage des Lebensalters, wann wir Menschen nicht allein existieren können und wann es an der Zeit ist, dass wir selbstständiger werden. Babys und Kleinkinder brauchen Eltern, die ihre symbiotischen Bedürfnisse vorbehaltlos befriedigen. Sie brauchen genauso Eltern, die sie darin bestärken, selbst zu fühlen, zu denken und zu handeln.

Was bedeutet es daher, wenn unsere kindlichen symbiotischen Bedürfnisse nicht vorbehaltlos befriedigt werden? Welche Folgen hat es, wenn sich unsere Eltern von uns abwenden, sich von uns zurückziehen, uns verlassen, uns nicht lieben und als Kind eigentlich gar nicht haben wollen, wenn wir noch ganz klein und bedürftig sind? Bleibt dann nur das Schicksal lebenslanger Frustration und innerer Einsamkeit? Oder müssen wir ein Leben lang unseren Eltern hinterherlaufen, auch noch ihr Leid mittragen in der Hoffnung, vielleicht doch eines Tages geliebt und anerkannt zu werden? Müssen wir wegen unserer Abhängigkeit von ihnen auf unser eigenes Glück verzichten? Üben wir Verrat an ihnen, müssen wir uns schuldig fühlen, wenn wir gehen, nicht länger bei ihnen bleiben wollen, ihnen nicht mehr mit unserer Liebe zur Verfügung stehen und sie nicht mehr trösten?

Oder wie ist es, wenn wir die Elternperspektive einnehmen: Wenn wir sehen, dass ein Kind partout nicht erwachsen werden will? Wenn es sich weigert, die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, seinen Eltern auf der Tasche liegt, sie verachtet, beschimpft und ausnutzt, Drogen konsumiert und gewalttätig ist? Müssen sich die Eltern das alles gefallen lassen, oder dürfen sie ein solches Kind einfach vor die Tür setzen? Muss Mutter- oder Vaterliebe alles verzeihen?

Dürfen wir als Erwachsene auch noch symbiotische Bedürfnisse haben? Ist die Liebe zu einem Partner ähnlich symbiotisch wie die Liebe zu Vater und Mutter? Wie viel an Liebe, Rückhalt, Unterstützung und Sicherheit brauchen wir in unserem Erwachsenenleben? Wie viel Verantwortung sollten wir für einen Partner übernehmen, wenn es ihm schlecht geht? Was sollten wir ihm abnehmen und was auf keinen Fall? Müssen wir es ein Leben lang erdulden, dass ein Ehe- oder Lebenspartner an uns hängt, der nicht eigenverantwortlich werden will? Dürfen wir mit unserer eigenen emotionalen Unselbstständigkeit Kinder oder Partner daran hindern, sich zu verändern und eigene Wege zu gehen?

Wir Menschen sind von Natur aus Gruppenwesen und ohne andere nicht überlebensfähig. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir brauchen und suchen den gegenseitigen Kontakt. Viele empfinden nichts schlimmer, als allein zu sein. Allein in einem Restaurant zu essen, im Urlaub allein an einem Tisch zu sitzen – wer wünscht sich da nicht früher oder später einen Gesprächspartner, ein menschliches Gegenüber?

Aber wie weit geht dieses Bedürfnis nach Kontakt? Wie weit muss man für einen anderen Menschen da sein? Wo beginnt das Recht auf Eigenständigkeit und zugleich die Pflicht, sich einem anderen nicht aufzudrängen? Wo hat das »wir« seine Grenzen? Wo beginnt das unverwechselbare »Ich«? Wann ist das symbiotische Bedürfnis konstruktiv und wann wird es (selbst)zerstörerisch, sich an andere zu klammern und das eigene Leben von anderen bestimmen zu lassen?

Das zu behalten, woran wir festhalten müssen, und loszulassen, was nicht länger trägt – das scheint die große Lebenskunst zu sein. Eine Kunst, in der wir Menschen uns von klein an üben müssen. Symbiose-Autonomie-Konflikte gehören zu jedem Lebenslauf dazu. Sie sind unvermeidbar. Warum gelingt es jedoch in manchen Fällen scheinbar ganz einfach und warum ist das Loslassen-Können in anderen Fällen unendlich schwer und schier unmöglich?

Arbeitshypothesen

Je länger ich als Psychotherapeut und Seelenforscher tätig bin, umso mehr wird mir klar, dass Symbiose-Autonomie-Konflikte ein zentrales Thema vieler Menschen sind, die psychologische Hilfe suchen:

Meine Arbeitshypothesen für dieses Buch lauten daher:

  1. Der seelische Hintergrund sehr vieler Lebens- und Beziehungskonflikte sind symbiotische Verstrickungen.
  2. Symbiotische Verstrickungen entstehen, wenn die ursprünglichen kindlichen Symbiosebedürfnisse nicht befriedigt werden. Die dauerhafte Frustration kindlicher Symbiosebedürfnisse stellt eine eigene Kategorie von Trauma dar: das Symbiosetrauma.
  3. Das Symbiosetrauma bildet die Grundlage für das Entstehen psychischer Störungen wie Ängste, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Süchte oder Psychosen. Es schlägt sich auch in zahlreichen körperlichen Erkrankungen nieder.
  4. Die Ursache dafür, warum Eltern ihre Kinder nicht ausreichend symbiotisch versorgen können, sind ihre eigenen Traumaerfahrungen. Weil sie traumatisiert sind, können sie ihren Kindern weder den erforderlichen emotionalen Rückhalt bieten noch sie in ihrer Autonomieentwicklung unterstützen. Traumatisierte Eltern merken es nicht, wenn sie ihre Traumata auf ihre Kinder übertragen.
  5. Traumata, Symbiosetraumata und symbiotische Verstrickungen erhöhen das Risiko weiterer Traumatisierungen und setzen sich über Generationen in den Eltern-Kind-Beziehungen fort, wenn diese Prozesse nicht erkannt und unterbrochen werden.

An diese Überlegungen schließt sich selbstredend die Frage an, welche Möglichkeiten es gibt,

Wie können Menschen, die an einem Symbiosetrauma leiden und sich immer wieder symbiotisch verstricken, psychotherapeutisch sinnvoll unterstützt werden?

Ich habe versucht, auf all diese Fragen einige Antworten zu finden. Weil Symbiose und Autonomie zudem ein Thema ist, das sich nicht nur auf die persönlichen Beziehungen beschränkt, sondern nahezu alle Lebensbereiche durchzieht, werde ich ansatzweise auch einige Formen von symbiotischen Verstrickungen thematisieren, die nicht unmittelbar Gegenstand psychotherapeutischer Arbeit sind, deren Verständnis für unser soziales und gesellschaftliches Zusammenleben aber nützlich sein kann: insbesondere das symbiotische Verhältnis von (Ohn-)Macht und Geld.

2. Was ist »Symbiose«?

»Der Übergang vom Affen zum Menschen,

das sind wir.«

Konrad Lorenz (1903 – 1989)

2.1 Gegenseitiger Nutzen

»Symbiose« ist ein Wort aus dem Griechischen und heißt »Zusammenleben«. Symbiose ist ein Begriff, der in der Biologie wie in der Psychologie Verwendung findet. Er wird in verschiedenen Kontexten gebraucht und ist mit unterschiedlichen Wertungen belegt.

Als Fachbegriff fand das Wort »Symbiose« ursprünglich in der Biologie Verwendung. Anton de Bary (1831 – 1888) schlug auf einer Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1878 in Kassel erstmals vor, den Begriff »Symbiose« für eine besonders enge Beziehung zwischen zwei Arten von Lebewesen in die Biologie einzuführen. Symbiose bezeichnet in diesem Sinne das Zusammenleben artverschiedener, aneinander angepasster Organismen zum gegenseitigen Nutzen. In Naturfilmen lassen sich solche symbiotischen Beziehungen, die für beide Parteien nützlich sind, eindrucksvoll in Szene setzen, etwa

Man geht in der Biologie heute davon aus, dass der größte Teil der Biomasse auf der Erde aus symbiotischen Systemen besteht. Pilze und Pflanzen, Pflanzen und Tiere, Pflanzen und Menschen, Menschen und Tiere, Mikro- und Makroorganismen ermöglichen es sich, gegenseitig zu wachsen und zu gedeihen. Die jeweiligen Lebenspartner sind in ihren Aktivitäten eng miteinander verflochten und leben entweder nebeneinander her (»Ektosymbiose«), oder der eine lebt im Körper des anderen (»Endosymbiose«). Es gibt zahllose Beispiele für symbiotische Lebensformen in der Natur:

Generell lässt sich daher sagen: Leben befördert auf vielfältige Art und Weise anderes Leben, und alle lebenden Organismen sind in ihrer Existenz wechselseitig mehr oder weniger voneinander abhängig. Sie überleben gemeinsam oder gehen gemeinsam zugrunde. Symbiose scheint ein zentrales Grundprinzip des Lebens und der Evolution zu sein. Das von der Biologie des 19. Jahrhunderts entdeckte Prinzip des Zusammenlebens verschiedener Arten zum gegenseitigen Vorteil ist nur die Spitze des Eisbergs einer weit allgemeineren Gesetzmäßigkeit der Evolution.

2.2 Jäger und Beute

Das Jäger-Beute-Verhältnis stellt im biologischen Sinn das Gegenteil des Prinzips der wechselseitig vorteilhaften Symbiose dar. Beim Jäger-Beute-Verhältnis verleibt sich ein Organismus den anderen ein und vernichtet ihn dadurch in seiner Existenz. Unterschiedliche Lebewesen werden so zu extremen Konkurrenten um ihren Selbst- und Arterhalt. Zahlreiche Arten haben sogar die Fähigkeit entwickelt, andere Spezies auszurotten. Sie beschwören damit zugleich die Gefahr herauf, ihre eigene Existenzgrundlage zu zerstören. Der Bestand ihrer Art ist nur so lange gewährleistet, wie das Verhältnis zwischen ihnen und ihrer Beute nicht kippt. Manche Arten leben zuweilen so ausgiebig auf Kosten anderer Lebewesen, dass diesen der Lebenssaft abhanden kommt. In der Biologie spricht man von »Parasiten« oder von »Schmarotzertum«, z. B. wenn Bakterien oder Viren den Körper, in den sie eingedrungen sind, so stark schwächen, dass dieser stirbt.

Das Verhältnis zwischen Jäger und Beute ist in der Natur deshalb nicht statisch, sondern ein sensibles Fließgleichgewicht. Die Konkurrenz um Lebensräume und Lebensressourcen ist ein mächtiger Motor der natürlichen Evolution. Diese Konkurrenz findet ebenso zwischen den verschiedenen Arten wie innerhalb der gleichen Art statt. Es finden auch innerhalb der gleichen Art Kämpfe statt, wer sich in seiner eigenen Gruppe am besten durchsetzen kann und wer den höchsten sozialen Rang hat.

Zusammenleben, ob in einem freundschaftlichen Nebeneinander oder feindlichen Gegeneinander, ist so gesehen das fundamentalste Prinzip der Evolution. Das freundliche wie feindliche Verhältnis der Arten zueinander fördert die Evolution immer neuer Formen von Lebewesen und Lebensweisen. Es scheint so, als ob es entweder eine Lebensfülle und eine Vielzahl von Lebensarten gibt oder gar kein Leben. Die belebte Natur entfaltet sich in den zahllosen Varianten des Mit- und Gegeneinanders. In jeder nur erdenklichen Nische unserer Erde sucht sich eine Art von Lebewesen ihren besonderen Lebensraum. Die Eigenschaften der einen Art sind immer auch eine Widerspiegelung der Eigenschaften der anderen Arten, mit denen sie sich den gemeinsamen Lebensraum teilt.

2.3 Konkurrenz und Arbeitsteilung

In einer Erweiterung der ursprünglich engen Fassung des Symbiosebegriffs in der Biologie (»Zusammenleben verschiedener Arten zum gegenseitigen Nutzen«) kann man dieses symbiotische Phänomen auch auf das Zusammenleben von Individuen der gleichen Art beziehen, sofern diese in ihren Lebensäußerungen existenziell voneinander abhängig sind. Dies betrifft in erster Linie das besondere Verhältnis der Eltern- zur Kindergeneration, wenn sich die Eltern für eine gewisse Zeit um den Nachwuchs kümmern müssen, damit dieser nicht verhungert, verdurstet oder von Feinden aufgefressen wird.

Besondere symbiotische Verhältnisse bestehen auch dort, wo das Einzelwesen für sich nicht existenzfähig wäre und sich aus einer arbeitsteiligen Organisation des gemeinsamen Überlebens und der Fortpflanzung der Art die Unterschiedlichkeit der Individuen ergibt.

Als Beispiel kann der Bienen»staat« angeführt werden mit »Königin«, »Drohnen« und »Arbeitsbienen«. Hier kann man unter anderem erkennen, dass das Überleben der Art Vorrang vor dem Überleben des Einzelindividuums hat. »Arbeitsbienen« opfern ihre Fortpflanzungsfähigkeit zugunsten der Fortpflanzung der »Königin«. »Drohnen« opfern ihr Leben, um das Eindringen von Räubern in einen Bienenstock zu verhindern.

Auch wir Menschen sind unserer Natur nach keine Einzelgänger. Als Einzelwesen sind wir weder besonders stark noch schnell noch instinktsicher. Was uns zu einer überlegenen Gattung von Lebewesen macht, ist unsere Fähigkeit, das Zusammenleben in Gruppen zu organisieren. Das Leben in einer Gruppe wird zu einem erheblichen Vorteil in der Evolution. Daher wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe für uns zu einem Urbedürfnis. Und je größer die eigene Gruppe ist, desto mehr kann sie sich gegen andere Gruppen durchsetzen. Daher wird die Gruppengröße zu einem entscheidenden Evolutionsvorteil. Es ist dann weiterhin eine wesentliche Frage, ob es innerhalb dieser Gruppen eine für alle vorteilhafte Arbeitsteilung gibt oder ob Konkurrenz und Ausbeutung vorherrschen und ob die verschiedenen Gruppen friedlich nebeneinander koexistieren können oder sich gegenseitig befehden und bekämpfen. Betrachtet man die Menschheitsgeschichte, so trifft eher Letzteres zu. Wo immer sich bislang eine Gelegenheit dazu geboten hat, haben überall auf dieser Erde die stärkeren, die zahlenmäßig und technologisch überlegenen Gruppen die schwächeren unterworfen und sich deren Menschen und ihr Territorium einverleibt. Ob das auch in Zukunft so sein muss und ob wir immer erst Kriege brauchen, um zu erkennen, dass Kooperation besser ist als Konkurrenz, ist auch eine Frage, wie weit sich menschliche Intelligenz weiterentwickeln kann.

In unseren gruppenbezogenen Verhaltensweisen ähneln wir stark Tiergattungen wie Pferden oder Wölfen, die in Herden oder Rudeln leben. Herdentiere grasen oder jagen zusammen, setzen sich gemeinsam gegen äußere Feinde zur Wehr, legen gemeinsame Ruhepausen ein, machen gegenseitige Fellpflege, konkurrieren um Geschlechtspartner, paaren sich mit Lust, ziehen die Jungtiere gemeinsam auf und haben bestimmte interne Rangordnungen, die durch Rangordnungskämpfe ausgefochten werden. Die Jungtiere spielen und trainieren viel miteinander, um sich auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten.

Herden- und Rudeltiere benötigen ein ausgeprägtes Sensorium für die Stimmungen und Verhaltensweisen ihrer Artgenossen. Ihre Wahrnehmung ist in einem hohen Ausmaß sozial geprägt, d. h. ausgerichtet auf die körpersprachlichen, geruchlichen und lautlichen Ausdrucksformen der anderen. Die Körpersprache verrät Kontaktbedürfnisse und Angriffsbereitschaft, Gerüche weisen auf Krankheiten oder Paarungsbereitschaft hin, lautliche Äußerungen befördern ein Bedürfnis nach Hinwendung oder rufen Angst und Fluchttendenzen hervor.

Menschen, die mit Nutz- oder Haustieren zusammenleben, wissen, wie sich eine Kommunikation ohne Möglichkeiten wortsprachlicher Unterscheidungen und Verfeinerungen anfühlt. Je »sozialer« manche Gattungen sind, desto komplexer werden die Spielregeln der innerartlichen Symbiose. Eines ihrer wesentlichen Hilfsmittel sind Sprachsysteme, deren volle Ausgestaltung wir bei der menschlichen Art bewundern können.

2.4 Urgefühle

Betrachten wir zwischen- und innerartliche symbiotische Verhältnisse unter einem emotionalen Aspekt, der bei höher entwickelten Lebewesen eine immer wichtigere Rolle spielt, so bringen sie zwei gegensätzliche Arten von Gefühlskomplexen hervor:

Angst und Aggression

Jagen können, um sich einen anderen Organismus einzuverleiben, beruht auf emotionalen Erregungen, die darauf ausgerichtet sind, ein anderes Lebewesen zu vernichten. Wir bezeichnen diese Gefühls- und Handlungskomplexe als Aggressionen. In diesem Sinne dient Aggression dem Überleben von Art und Individuum und ist bei den Lebewesen, die eher als »Jäger« auftreten, besonders stark ausgeprägt. Die Fähigkeit zur Aggression braucht aber auch der »Beute« organismus, um sich, so gut es geht, gegen den Räuber zur Wehr setzen zu können.

Andererseits bedeutet dies, dass es einen zur Aggression komplementären Erlebenszustand gibt: die Angst. Die Furcht, von anderen aufgefressen zu werden, ist ein ebenso universelles Reaktionsmuster vieler Organismen und besonders extrem ausgeprägt im Verhältnis von Beute und Jäger, Opfer und Täter. Aggression und Angst sind untrennbar miteinander verbunden. Ängstlich und aggressiv nimmt jedes Einzelwesen seine Umgebung unter dem Aspekt von Jäger und/oder Beute wahr.

Im Modus des unmittelbaren Selbsterhalts reagieren Lebewesen auf die Ängste und Aggressionen eines Gegenübers ebenso mit Angst und Aggression. Wer Ängste schürt, erntet Aggressionen. Dadurch entsteht eine eskalierende Situation, in der sich Ängste und Aggressionen gegenseitig hochschaukeln und in Richtung Kampf tendieren. Wird diese Eskalation nicht unterbrochen, kommt es zu Auseinandersetzungen auf Leben und Tod und zu Sieg oder Niederlage des Einzelnen oder einer Gruppe.

Mitgefühl und Empathie

Inner- und zwischenartliche Symbiose bedeutet auch, dass, zumindest zeitweise, die Angst- und Aggressionsimpulse des Einzelnen zurückgestellt werden können zugunsten der Arterhaltung und des Erhalts der Gruppe, mit der man zusammenlebt, sowie den anderen Lebewesen, die für den Selbst- und Gruppenerhalt wesentlich sind. Das Zusammenleben erfordert es also auch, den anderen nicht nur als potenzielle Beute oder bedrohlichen Jäger zu sehen, sondern als grundsätzlich freundlich und möglicherweise hilfebedürftig, eventuell sogar dann, wenn er sich aggressiv zeigt.

Dies ist eine Anforderung von hoher Komplexität. Wir bezeichnen sie als Empathie, als die Fähigkeit, sich in ein anderes Lebewesen hineinzuversetzen, die Welt nicht nur mit den eigenen Augen, sondern auch mit den Augen eines anderen zu sehen und zu erleben. Empathie bedeutet weiterhin, Abstand nehmen zu können von den eigenen Sichtweisen, Bedürfnissen und Interessen, um die Sichtweisen, Bedürfnisse und Interessen eines anderen Lebewesens zu verstehen, zu akzeptieren und zu befördern.

Im Zustand der Empathie beginnt eine fundamental andere Form der Auseinandersetzung mit den Mit-Lebewesen als im Zustand von Angst und Aggression. Im Modus der Empathie kann ein Lebewesen die Ängste und Aggressionen eines Gegenübers durch sein Verständnis für dessen Gefühle und inneren Zustände sogar mildern. Dadurch wird Angst abgebaut, der Druck anzugreifen lässt beim Gegenüber nach. Es besteht die Chance, dass der Zustand von Angst und Aggression im Gegenüber verblasst und auch er möglicherweise in den Modus der Empathie überwechselt. Der positive Effekt der Empathie ist es, dass auch beim Gegenüber empathisches Verhalten aktiviert wird.

Es gibt somit grundsätzlich zwei hochdynamische emotionale Prozesse:

Betrachtet man es unter dem Aspekt der Evolution wie der individuellen Entwicklung, so gibt es prinzipiell die folgenden beiden Alternativen:

Diese beiden Entwicklungslinien sind bei den verschiedenen Arten von Lebewesen unterschiedlich ausgeprägt. Sie existieren bei jeder Art in der Regel parallel nebeneinander in der Gattung wie in jedem Einzelwesen. Elterntiere verhalten sich im Normalfall gegenüber ihrem eigenen Nachwuchs durchaus liebevoll, unter Stress kann es jedoch dazu kommen, dass sie ihre eigenen Jungen auffressen, wie es z. B. bei den Tupajas, eine Erdhörnchenart, der Fall ist.

Stress