Cover

Über dieses Buch

Berlin, wir kommen! Finn und Joanna nehmen am ersten Kinderparlament im Bundestag teil. Hier dürfen sie entscheiden, ob neben dem Reichstag ein Abenteuerspielplatz oder ein Gamehouse gebaut wird. Aber schnell merken die Geschwister, dass bei den Sitzungen etwas faul ist. Viele junge »Parlamentarier« besitzen plötzlich die neuesten Smartphones. Werden sie etwa bestochen? Spätestens als Finn und Joanna von finsteren Typen bedroht werden, ist klar: Hier geht es um mehr als nur ein Gamehouse.

Der Autor

Andreas Schlüter wurde  am 23. 5. 1958 in Hamburg geboren. Damit hat er am gleichen Tag Geburtstag wie die Bundesrepublik Deutschland. Bevor er mit dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begann, leitete er mehrere Jahre Kinder- und Jugendgruppen und arbeitete als Journalist und Redakteur. Mit dem ersten Band der Erfolgsserie »Level 4« gelang ihm 1994 der Durchbruch als Schriftsteller. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt er auch Drehbücher, u. a. für den Tatort und krimi.de. Andreas Schlüter arbeitet in Hamburg und auf Mallorca. Mehr auf www.schlueter-buecher.de

Der Illustrator

Daniel Napp wurde 1974 in Nastätten (Rheinland-Pfalz) geboren. Nach Abitur und Zivildienst im Krankenhaus absolvierte er von 1996 bis 2002 ein Designstudium in Münster mit dem Schwerpunkt Illustration. Seit 2006 arbeitet er in der Ateliergemeinschaft Hafenstraße in Münster. Er wurde bereits viermal für die Illustratorenschau zur Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna ausgewählt.

Andreas Schlüter

City Crime

Blutspur in Berlin

Mit Bildern von Daniel Napp

Tulipan

 

Inhalt

Stadtplan

Ein besonderer Tag

Ausflug in der Nacht

Eine erste Überraschung

Neue Erkenntnisse

Geständnis!

Blutspur in Berlin

Verfolgung

Verstrickungen

Gefährlicher Plan

Einbruch!

Triumph auf der ganzen Linie!

Wo steckt Sandra?

Letzte Rettung

Kröten schlucken

Kleines politisches Wörterbuch

Kleines Wörterbuch des Berliner Dialekts

Impressum

Der Radfahrer kam von hinten. Joanna bemerkte ihn nicht. Auch Finn hätte ihn übersehen, wenn er sich nicht instinktiv genau im richtigen Moment umgeschaut hätte. Das Fahrrad raste direkt auf sie zu.

»Pass auf!«, rief Finn, schubste seine ältere Schwester zur Seite und sprang selbst zur anderen. Joanna stieß gegen die Hauswand. Doch noch ehe sie sich bei ihrem Bruder wegen des rabiaten Stoßes beschweren konnte, sauste der Radfahrer an ihrer Nase vorbei. Sie zog noch schnell den Kopf ein und schützte ihn mit den Händen. Dafür bekam sie den Ellenbogen des Rüpels so heftig in die Rippen gerammt, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb.

Finn schaute dem Wahnsinnigen fassungslos hinterher. »Tickt der nicht mehr ganz richtig?«, schimpfte er und half seiner Schwester, die sich die Seite hielt und tief durchatmete.

»Mann«, stöhnte sie. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte der mich glatt über den Haufen gefahren!« Ihre Beine zitterten.

»Willst du dich setzen?«, fragte Finn.

Joanna schüttelte den Kopf. Auch, weil es weit und breit keine Sitzgelegenheit gab.

»Nein, schon gut«, sagte sie mit bebender Stimme. »Mann, hier in Berlin sind die Radfahrer ja gemeingefährlich! Komm, wir gehen lieber schnell hinein.«

Sie standen vor einem kleineren Seiteneingang des Reichstags, dem Sitz des Deutschen Bundestags.

Finns Schritte verlangsamten sich, als er die Schwelle betrat. Nicht, weil das Gebäude an dieser Stelle besonders imposant und majestätisch war. Im Gegenteil! Es wirkte alles wie bei einer ganz normalen Behörde. Was Finn Respekt einflößte, waren die zwei Sicherheitsleute in dem Glaskasten am Eingang. Gerne ließ er Joanna den Vortritt. Hinter ihnen wartete bereits eine ganze Schulklasse.

Ein Mann in einem dunklen Anzug zwängte sich durch die Schülertraube hindurch, hastete an Finn vorbei und hielt kurz einen Ausweis in die Höhe, den in dieser Eile sicher niemand lesen konnte. Dennoch öffnete sich die Sicherheitsglastür neben der Pförtnerloge mit einem lauten Summen und ließ den Mann passieren, sodass er sein Tempo nicht verringern musste. Einer der beiden Sicherheitsleute nickte ihm freundlich zu. Offenbar war der Mann bekannt. Erstaunlich, fand Finn. Wo doch in diesem Gebäudekomplex 1600 Leute arbeiteten. Das hatte er in einer Informationsbroschüre gelesen.

Joanna drehte sich zu ihm um. »Wo bleibst du?«

»Ich komm schon«, antwortete Finn leise.

Denn auch er und seine Schwester besaßen Ausweise, mit denen man ihnen sofort Einlass gewähren würde.

Joanna und ihr Bruder hatten sich neben einigen Tausend anderen Schülern für das erste »Bundes-Kinderparlament« beworben, das im echten Bundestag in Berlin tagen würde. Bisher hatte es nur sogenannte »Jugendparlamente« gegeben, die nichts weiter waren als Rollenspiele. Die Jugendlichen mussten konservative oder linke Politiker spielen und über bestimmte politische Themen diskutieren. Joanna und Finn fanden das total öde. Außerdem waren sie noch nicht alt genug, um mitmachen zu dürfen.

Das Kinderparlament hingegen war etwas vollkommen Neues. Alle fünfzig Teilnehmer waren in Finns und Joannas Alter: zwischen zehn und vierzehn Jahren, wobei die Hälfte aus Berlin und Brandenburg stammte. Sie waren per Losverfahren ausgewählt worden und durften, ja, sollten ihre eigenen Meinungen vertreten. Und in den vier Tagen, in denen sie im Parlament saßen, mussten sie etwas entscheiden: In der Nähe des Parlamentsgebäudes sollte eine Fläche neu bebaut werden. Es gab Baupläne für einen großen Abenteuerspielplatz und ein Gamehouse, also eine Art »Haus der Jugend« voller Computerspiele. Welches der beiden Projekte realisiert werden sollte, hatte das Kinderparlament zu entscheiden! Deshalb kamen die meisten Kinder direkt aus der Stadt oder der Umgebung, weil ein Bau vor Ort zur Abstimmung stand.

»Na, auch zum Kinderparlament?«, fragte plötzlich ein Junge, der unbemerkt hinter Finn aufgetaucht war. Offenbar hatte er Finns Ausweis erkannt, den er in der Hand hielt. Er hatte einen ebensolchen zwischen den Fingern. In der anderen Hand hielt er ein Mini-iPad, auf dem er einen Lageplan des Gebäudes sowie die Einladungs-Mail mit den Hinweisen zur Anreise geöffnet hatte.

»Hallo!«, grüßte Finn. Sein Blick aber blieb aufs iPad geheftet. »Schönes Teil! Ist es das neueste?«

»Ja, das iPad-Mini 4!«, schwärmte der Junge. »Total krasses Teil!«

»Wow!«, sagte Finn. Er wusste, dass dieses Gerät noch nicht lange auf dem Markt war, und vor allem, dass er es sich niemals hätte leisten können. »Wo hast du das denn her?«

Der Junge blickte auf, schaute Finn skeptisch an und fragte in einem Ton, als ob er Finn ein Geheimnis entlocken wollte: »Du hast keines?«

Finn schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Meine Eltern würden mir nie so etwas kaufen. Viel zu teuer!«

»Meine Eltern auch nicht«, sagte der Junge, was Finn erneut verblüffte.

»Du hast es selbst gekauft?«

»Sorry, ich muss jetzt rein! Wir sehen uns später«, antwortete der Junge, hielt einem der Pförtner seinen Ausweis entgegen und wurde hineingelassen.

Finn schaute dem Jungen immer noch staunend hinterher. Nicht von seinen Eltern? Woher hatte er es dann?

»Finn, wo bleibst du?«, drängelte Joanna.

»Hast du den gesehen?«, fragte Finn und erzählte seiner Schwester von seiner Begegnung mit dem Jungen.

Joanna winkte ab und durchquerte gemeinsam mit ihm die Einlasskontrolle. »Womit du dich wieder beschäftigst! Schau dich lieber mal um: Das hier ist das Königsschloss der heutigen Zeit, sozusagen!«

»Na ja.« Finn wackelte ein wenig mit dem Kopf. »Königsschloss?«

»Klar!«, beharrte Joanna. »Nur ohne König. Aber gemessen an den Königen in früherer Zeit hat die Bundeskanzlerin bestimmt mehr Macht.«

»Meinst du?«, fragte Finn. Das konnte er sich nicht vorstellen.

»Zumindest redet sie auf internationalen Kongressen über die Gesetze von Ländern mit, von denen die Könige früher nicht mal wussten, dass die überhaupt existierten«, dozierte Joanna. Sie hatte sich gut vorbereitet.

»Die Kanzlerin sitzt gar nicht hier in diesem Gebäude, sondern da hinten im Kanzleramt«, warf ein Mädchen ein, das im selben Alter wie Joanna war. Sie hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihr einen kritischen Blick von Joanna einbrachte. Dazu trug sie eine enge dunkle Hose und eine gelbe Sommerbluse. »Ich bin Sandra!«

Joanna bemerkte, dass Sandra nur eine kleine Handtasche bei sich trug. Keinen Rucksack mit einer Wasserflasche, mitgebrachten Broten, Riegeln und einem Pullover für den Fall, dass die Räume zu sehr klimatisiert waren. Das alles befand sich in Joannas Rucksack, die sich nun ebenfalls vorstellte. »Und das ist mein kleiner Bruder Finn.«

Finn stöhnte auf. Das »kleiner« konnte Joanna sich natürlich mal wieder nicht verkneifen.

»Und?«, fragte Joanna. »Spielplatz oder Gamehouse? Wofür bist du?«

»Spielplatz!«, antwortete Sandra.

Über Joannas Gesicht zog sich ein breites Lächeln. Dann ein fordernder Blick zu Finn. »Siehst du? Nur du kannst dich mal wieder nicht entscheiden!«

»Was heißt denn hier mal wieder?«, verteidigte Finn sich. Er fand sowohl die Idee mit dem Spielplatz als auch die mit dem Gamehouse toll und fragte sich, weshalb man nicht einfach beides bauen konnte, jeweils etwas kleiner.

Joanna dagegen wollte leidenschaftlich für den Abenteuerspielplatz plädieren. Dazu hatte sie schon eine Rede geschrieben. Sie wusste über die Facebook-Seite des Kinderparlaments, dass die Meinungen ausgeglichen waren. Es würde auf jede Stimme ankommen.

»Bin gleich wieder da!«, entschuldigte sich Finn. Er hatte keine Lust, sich noch länger für seine Unentschlossenheit rechtfertigen zu müssen.

Er musste ein Stückchen gehen, bis er eine Toilette gefunden hatte. Zum Glück war sie leer. Leider nicht lange. Kaum hatte er sich ans Pissoir gestellt, tauchte ein junger Mann auf, der sich direkt vorm Pinkelbecken neben ihm aufbaute. Dabei gab es doch genügend freie, sodass er auch weiter weggehen konnte! Finn warf dem Mann einen ärgerlichen Blick zu. Der Typ glotzte zurück. Schnell wandte Finn seinen Blick ab.

Und stutzte.

Moment mal! War das nicht …? Finn glaubte den Typen wiedererkannt zu haben, der vor einer halben Stunde um ein Haar ihn und Joanna umgefahren hätte. War das möglich? Und wenn ja, war es nur ein Zufall, dass sie sich jetzt hier wieder trafen?

Finn wagte noch einen vorsichtigen Blick zum Nebenmann. Der war schon fertig.

›Ging aber schnell‹, dachte Finn. Hatte der überhaupt gepinkelt?

»Pass gut auf deine Schwester auf!«, zischte der Mann ihm plötzlich zu.

Finn zuckte zusammen und musste aufpassen, dass er nicht versehentlich danebenzielte. Hatte er sich verhört?

»Deine Schwester ist in Gefahr, wenn sie so weitermacht«, behauptete der Mann weiter. »Du solltest besser auf sie aufpassen.«

»Hä?«, fragte Finn.

Doch da war der Mann schon wieder verschwunden. Ohne sich die Hände zu waschen.

Jetzt war Finn sich sicher: Das war der Radfahrer gewesen! Und insofern hatte er ihm auch keinen gut gemeinten Rat gegeben. Das war eine Drohung gewesen!

Finn war nun fertig. Hastig wusch er sich die Hände, so flink und flüchtig, wie seine Mutter es ihm niemals hätte durchgehen lassen. Aber das spielte jetzt keine Rolle.

Er raste los, zurück zu seiner Schwester. Ein-, zweimal musste er kurz stehen bleiben, um sich zu orientieren. ›Jetzt bloß nicht verlaufen!‹, dachte er. Doch dann fand er den richtigen Weg und kam abgehetzt bei seiner Schwester an. Sie stand immer noch alleine da, wo er sie verlassen hatte.

»Oh Mann!«, klagte sie. »Ging das nicht schneller?«

»Noch schneller?« Er konnte sich nicht erinnern, jemals so kurz auf einer öffentlichen Toilette gewesen zu sein. »Ich muss dir was erzählen.«

Joanna runzelte die Stirn. Normalerweise hätte sie Finns Bericht als Spinnerei abgetan. Aber dass der Radfahrer sie beinahe angefahren hätte, ergab jetzt einen Sinn. Es war kein Beinahe-Unfall gewesen, sondern eine Art Attentat!

»Aber wieso droht der mir?«, fragte Joanna. »Was hab ich denn getan?«

Finn zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall hat er gesagt, du wärest in Gefahr, wenn du so weitermachen würdest wie bisher.«

»Weitermachen? Womit?«, fragte Joanna verzweifelt.

»Weiß ich doch nicht!«

Joanna nahm die Sache zwar ernst. Aber die Drohung war zu diffus, um ihr wirklich nachgehen zu können.

»Wo ist denn diese Sandra?«, fragte Finn.

»Die wollte ein Stück Kuchen essen gehen. Ich hab gesagt, wir kommen vielleicht nach!«, erklärte Joanna.

Bis sie sich zum ersten Mal mit allen Kinderparlamentariern trafen, hatten sie noch ein wenig Zeit. Erst in einer Stunde sollten sie sich im Fraktionssaal der Grünen einfinden. Deren Raum hatte gerade die richtige Größe: Die Fraktion der Grünen zählte 63 Mitglieder, das Kinderparlament fünfzig. Zu den Sitzungen durften sie in den richtigen Plenarsaal des Bundestags, den man auch immer im Fernsehen sah. Den konnte man im Moment aber nur durch die großen Glasfenster vom Flur aus sehen.

Finn hielt sich die Hände vors Gesicht und wandte seinen Blick ab, als er die violettfarbenen Sessel der Abgeordneten sah. »Puh!«, stöhnte er. »Wer hat sich denn diese Farbe ausgedacht?«

»Vielleicht ein Farbenblinder«, kicherte Joanna. Auch sie war für diese Farbe nicht sonderlich zu haben.

Die Kinder würden zwar noch eine offizielle Führung durch den gewaltigen Gebäudekomplex bekommen. Aber Joanna fand, dass sie sich schon mal ein wenig auf eigene Faust umsehen sollten. Schließlich gab es in diesem Gebäudeteil nicht nur den Plenarsaal, sondern auch die Fraktionsräume, viele Abgeordnetenbüros, die Büros der Mitarbeiter, unzählige Sitzungsräume und auch einige Cafés und Kantinen. Allerdings beschlich Joanna ein unbehagliches Gefühl, seit Finn ihr von der Drohung auf der Toilette erzählt hatte. Bei jedem Schritt sah sie sich um.

»Ist er noch hier?«, fragte sie.

Aber weder Finn noch Joanna konnten jemanden entdecken, der sie im Visier haben könnte. Im Moment sahen sie überhaupt niemanden, was fast genauso gespenstisch war, wie beobachtet zu werden.

Sie zogen weiter durch einen hell gefliesten Gang. Dort standen schwarze Ledersofas vor Wänden, die teilweise aus den alten Mauern des ehemaligen Reichstagsgebäudes bestanden.

»Da hat jemand auf die Wand gekritzelt!«, rief Finn. »Schau mal!«

Tatsächlich waren handschriftliche Sätze zu erkennen, wie mit Bleistift geschrieben und in einer Schrift, die Finn nicht lesen konnte.

»Das ist Kyrillisch«, wusste Joanna. Sie hatte über diese Wand in der Vorbereitung gelesen. »Russische Schriftzeichen. Russische Soldaten haben sie 1945 an den Reichstag geschrieben, nachdem sie Berlin erobert, die Nazis besiegt und damit den Zweiten Weltkrieg beendet hatten. Zur Erinnerung hat man beim Neubau diese Wände und Schriftzeichen stehen lassen.«

Plötzlich hallten Schritte durch den Flur. Joanna zuckte zusammen. Finn sah sich um, entdeckte aber niemanden.

»Ob er das wieder ist?«, fragte Joanna ängstlich.

»Ob er was ist?«, fragte Sandra, die plötzlich ohne Vorwarnung neben ihnen stand.

Joanna atmete tief durch. »Hast du mich erschreckt!«

»Wieso?«, wunderte sich Sandra. »Läufst du vor jemandem davon?«

Joanna betrachtete sie eingehend, und Finn wusste, dass seine Schwester überlegte, ob sie Sandra einweihen sollte.

»Bist du schon mal bedroht worden?«, fragte sie.

Sandra zog die Augenbrauen hoch. »Bedroht? Wie meinst du das?«

»Na ja …« Joanna zögerte noch, entschloss sich dann aber nach einem kurzen Blickwechsel mit Finn, Sandra einzuweihen, und erzählte ihr alles.

Sandras Reaktion war eindeutig. Sie glaubte ihnen nicht, obwohl sie das nicht so offen ausdrückte.

»Vielleicht hast du ihn missverstanden?«, fragte sie Finn.

»Was gibt es denn da misszuverstehen?«, gab Finn empört zurück. »Der Typ hat eindeutig gesagt, dass meine Schwester in Gefahr ist, wenn sie so weitermacht!«

»Womit weitermacht?«, hakte Sandra nach.

Genau darauf hatten Finn und Joanna ja eben auch keine Antwort.

»Na, seht ihr«, triumphierte Sandra. »Vielleicht hast du nur die Flirtversuche von irgend so ’nem Knallkopf übersehen.« Sandra zwinkerte Joanna zu. »Und nun ist er sauer. Ist mir auch schon mal passiert.«

»Wahrscheinlich.« Joanna wäre so eine harmlose Lösung sehr lieb gewesen.

»Flirtversuche?«, widersprach Finn. »Der Typ war mindestens zwanzig!«

Er kannte zwar Joannas Leidenschaft fürs Flirten, und er wusste auch, wie viele Jungs hinter seiner Schwester her waren. Aber doch keine Erwachsenen! Und Flirtversuche mit seiner Schwester sahen auch anders aus, als ihn – ihren Bruder – beim Pinkeln zu bedrohen!

»Also wirklich, Finn! Deine Schwester ist nicht Innenminister oder so, sondern eine ganz normale Schülerin. Okay?« Sandra wollte die Debatte beenden.

Joanna war einverstanden. Finn sagte nichts mehr. Gemeinsam zogen sie weiter durchs Parlamentsgebäude. Doch Finn nahm sich vor, wachsam zu bleiben.

In dem Moment klingelte Sandras Handy. Sie fummelte es aus ihrem Täschchen und nahm das Gespräch an: »Hallo Paps!«

Finn erkannte mit einem Kennerblick, dass Sandra das neue iPhone 6s besaß, das auch noch nicht lange auf dem Markt war.

›Nicht schlecht‹, dachte er. Ihr »Paps« musste echt Kohle haben. Sofort fiel ihm wieder der Junge von vorhin ein. Der hatte allerdings behauptet, sein iPad hätte er nicht von seinen Eltern bekommen.

Sandra entschuldigte sich mit einer Geste und ging ein paar Schritte weiter, um ihr Gespräch zu führen. Finn und Joanna warteten.

»Irgendetwas geht hier vor«, flüsterte Finn seiner Schwester zu. »Erst der Radfahrer, dann die Warnung auf dem Klo, der Junge mit dem iPad und nun sie mit dem neuesten iPhone.«

Joanna sah ihren Bruder verwirrt an und schüttelte den Kopf: »Was? Was hat denn ihr iPhone mit dem Radfahrer zu tun? Jetzt spinnst du aber echt.«

Finn sagte nichts weiter. Und kam auch gar nicht dazu. Sandra hatte ihr Gespräch beendet und ging zu den beiden zurück.

»Das war nur mein Vater. Ob alles gut wäre. Kennt ihr sicher …«

Joanna nickte. »Allerdings.«

»Schau, dort hinten rechtsherum geht’s zum nächsten Café«, sagte Sandra. »Wollt ihr wirklich jetzt keinen Kuchen? Ich könnte einen vertragen.«

Joanna und Finn stimmten zu.

Das Café war bereits gut gefüllt. Nur wenige Tische waren noch frei. Die drei fanden einen gleich neben dem Eingang und setzten sich. Finn wunderte sich, wie viele Leute vormittags um halb elf schon im Café saßen. Mussten die nicht arbeiten?

»Die arbeiten doch«, erklärte Sandra. »Jedenfalls viele von denen. Es sieht auf den ersten Blick nur nicht so aus. Sie werten irgendwelche Sitzungen aus, debattieren verschiedene politische Fragen, checken ab, was der andere über dieses oder jenes Thema denkt, und so weiter.«

»Gutes Stichwort!«, unterbrach Joanna sie. »Also, du bist doch auch für den Abenteuerspielplatz, oder?«

»Hab ich doch gesagt!«, erinnerte Sandra sie.

Joanna hatte das nicht vergessen. »Ich wollte nur noch mal sichergehen. Ich glaube, die Abstimmung wird knapp werden.«

Sandra lächelte sie an. »Siehst du, genau so funktioniert Politik. Viele der Leute, die hier bei Kaffee und Kuchen oder einem zweiten Frühstück sitzen, machen genau das: Sie checken Dinge ab für die nächsten Abstimmungen. Genau wie du jetzt!«

»Aha?« Joanna sah sich um. Was eben noch wirkte wie ein beliebter Tummelplatz für Feriengäste, sah nun aus der neuen Perspektive ganz anders aus.

Sandra stand auf. »In diesem Café ist Selbstbedienung. Soll ich euch etwas mitbringen? Hier gibt es leckeren Erdbeerkuchen.«

»Du warst schon mal hier?«, wunderte sich Joanna.

»Öh … nö«, stotterte Sandra wieder. »Hab ich eben gelesen, da vorn auf der Tafel. Also: auch Erdbeere?«

»Ja, gern!«, antwortete Finn.

Sandra ging los. Joanna sah ihr hinterher und stieß dann ihren Bruder an.

»Warum verschweigt sie uns, dass sie schon mal hier war und sich auskennt?«

»Wie kommst du denn darauf?«, wunderte sich Finn.

Joanna wies mit einem leichten Kopfnicken auf die Tafel am Eingang, auf der das Mittagsmenü angepriesen wurde.

»Da steht nichts von Erdbeerkuchen, oder?«, stellte sie fest. »Aber Sandra weiß nicht nur, dass es hier welchen gibt, sondern auch, dass er lecker ist. Woher, wenn sie noch nie hier war?«

Finn pfiff durch die Zähne. »Ich hab’s doch gesagt. Irgendetwas passiert um uns herum, von dem wir nichts wissen!«

Kurz darauf kehrte Sandra mit vollem Tablett zurück. Joannas ernste Miene wechselte sofort zu einem freundlichen Lächeln. Finn konnte das nicht. Er guckte weiter skeptisch.

»Du bist also für den Abenteuerspielplatz, darauf kann ich mich verlassen?«, begann Joanna wieder das Gespräch.

»Ja!«, versicherte Sandra. »Ich hab meine Rede schon fertig.«

»Cool!« Jetzt ließ Joanna ein Lächeln aufblitzen. »Ich auch!«

Finn schob sich ein großes Stück Torte in den Mund.

»Und du?«, fragte Sandra.

»Ich höre mir die Debatte erst an und entscheide danach, wer die besseren Argumente hat. So funktioniert nämlich diese … Dingsda … Demo… äh …kratie«, antwortete Finn.

»Ts!«, kommentierte Joanna. »Deinetwegen bekommen wir hier noch irgend so einen lauten Klimperkasten vor die Nase gesetzt.«

»Das wird kein lauter Klimperkasten, sondern ein Haus voller Computerspiele«, stellte Finn richtig.

»Und wo ist der Unterschied?« Joanna verzog das Gesicht, als wären Computerspiele das Langweiligste, das man sich vorstellen konnte. Sie selbst nutzte den Computer nur für Mails, Chatrooms, Musik und Filme. Und natürlich für ihre Hausaufgaben.

»Der Unterschied ist, dass du keine Ahnung von Computerspielen hast«, sagte Finn mürrisch und schaute sich weiter um. Sandra hatte recht gehabt: Bevor man öffentlich eine Meinung vertrat, sollte man zusehen, genügend Mitstreiter für sich zu gewinnen. Sonst wurde man in diesem Haus offenbar sehr schnell sehr einsam. Er schaute auf die Uhr.

»Ich glaube, wir müssen los!«

Seine Vermutung stimmte. Von den fünfzig Kinderparlamentariern waren mittlerweile über dreißig angekommen. Sie hatten sich vor dem Eingang des Fraktionsraumes der Grünen versammelt, standen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich oder stellten sich gegenseitig vor.

Finn hörte in das Gemurmel der Kinder hinein. Er hörte Sächsisch, Bayrisch, Schwäbisch … Ihm fiel ein Junge auf, der etwa so alt wie er selbst war und der einen dunklen Anzug mit Krawatte und in der rechten Hand einen Aktenkoffer trug.

›Was ist denn mit dem los?‹, fragte er sich. Er selbst besaß nicht mal einen Anzug. Wozu auch? Der Junge hatte seine freie Hand lässig in die Hosentasche gesteckt, als wolle er die Posen wichtiger Politiker im Fernsehen nachahmen. Prompt ging ein anderer Junge auf ihn zu, um ihn etwas zu fragen. Als ob der erstere irgendetwas besser wüsste, bloß weil er einen Anzug trug.

Zwei, drei Meter hinter ihm machte ein anderer Junge sich eifrig Notizen auf einem iPad. Das neueste Modell. Schon wieder! Finn fühlte sich wie elektrisiert. Das konnte doch wirklich kein Zufall mehr sein! Weder waren hier nur reiche Kinder zusammengekommen, wie er den Vorbereitungsunterlagen entnommen hatte, noch handelte es sich um das Treffen eines Apple-Fanclubs. Und nun entdeckte er an einem Vormittag in einer Kindergruppe gleich drei Mal so brandneue, teure Geräte!

Abgesehen davon sah der Typ auch ein wenig merkwürdig aus, fand Finn. Die Haare mit reichlich Pomade nach hinten geschmiert, auf der rechten Seite von einem akkuraten Scheitel durchzogen. Dazu trug er eine schwarze Nerd-Brille mit dickem Rand auf der Nase und eine prunkvolle goldene Uhr am linken Handgelenk, auf die er pausenlos schaute. Als ob er sich zu einem Termin verspäten würde, wenn die Begrüßung sich verzögern sollte.

»Hey, du scheinst der einzige normale Typ hier zu sein.«

Finn drehte sich um.

Ein gleichaltriger Junge in einem Kapuzenshirt hatte ihn von hinten angesprochen und lächelte ihn freundlich an. Ein glitzernder Ohrring zierte sein rechtes Ohrläppchen, an seinem linken Schneidezahn war eine kleine Ecke abgebrochen, und über dem linken Auge zog sich eine lange Narbe hin, die noch nicht richtig verheilt war.

»Ich bin im Winter mit dem Rad auf Glatteis weggerutscht und hab mit meinem Gesicht gebremst«, erklärte er seine Blessuren. Sein Grinsen wurde noch breiter. »Halb so schlimm. Das kriegt der Zahnarzt wieder hin.«

»Na dann!«, sagte Finn. Er fand, es sah total schlimm aus.

»Ich bin Leo. Aus Potsdam.« Er streckte Finn seine Hand hin.

Finn schlug ein und stellte sich vor.

»Hast du den Spinner mit dem Aktenkoffer gesehen?« Leo wies mit einem Kopfnicken zu ihm.

Finn bejahte.

»Egmont! Der geht in meine Klasse. Voll der Spacken, sag ich dir.«

Finn zog die Augenbrauen hoch. »Egmont? Den Namen habe ich noch nie gehört!«

»Ich nehme an, genau deshalb haben seine Eltern ihn so genannt«, erklärte Leo. »Er sagt, es gibt ein Trauerspiel von Goethe, das so heißt. Das passt jedenfalls: ein Name wie ein Trauerspiel!«

Finn grinste.

»Wofür bist du?«, fragte Leo. »Spielplatz oder Gamehouse?«

»Ich weiß nicht«, gab Finn offen zu. »Am liebsten beides, nur kleiner.«

»Keine schlechte Idee«, lobte Leo. »Der Spacken ist für keines von beiden!«

Finn zog seine Augenbrauen hoch. »Hä? Wir müssen uns doch entscheiden. Stand in der Einladung!«

Leo bohrte sich mit dem Fingernagel zwischen den Zähnen. »Sag ihm das mal. Er findet, auf den freien Platz sollte ein echtes dauerhaftes Kinder- und Jugendparlament gebaut werden, das regelmäßig tagt und auch was zu sagen hat. Dreimal darfst du raten, wen er als Präsidenten für das Kinderparlament vorschlägt.«

Sich selbst! Da brauchte Finn nicht lange zu raten.

»Wofür bist du denn?«, fragte Finn stattdessen.