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   Reinhard Junker Henrik Ullrich– Darwins Rätsel–Schöpfung ohne Schöpfer?– SCM Hänssler

Inhalt

Umschlag

Haupttitel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Vorwort

1. Teil: Flüchtlinge berichten

Steckbrief Afghanistan

Die Taliban haben meinen Bruder getötet

Gott hat mir eine neue Familie geschenkt

Steckbrief Somalia

Ich möchte Polizist werden, um den Menschen hier zu helfen

Steckbrief Kurdistan/Kurden

Ich möchte die Hilfe, die ich empfangen habe, gern weitergeben

Steckbrief Syrien

Ich denke, es ist möglich, seinen eigenen Weg zu finden

Steckbrief Iran

Als Flüchtlingsfamilie die echte Freiheit gefunden

Steckbrief Irak

Hier erlebe ich, dass es auch menschliche Regierungen gibt

Steckbrief Bosnien-Herzegowina

Meine Kinder sollen es besser haben als wir

Steckbrief Togo

Es ist schrecklich schön, in Deutschland zu sein

2. Teil: Weiterführung

Der erste Eindruck zählt

Einfach anders …

… und doch so gleich

Trauma – die Realität im Alltag vieler Flüchtlinge

Und was nun?

Jede Münze hat zwei Seiten

GetAwayDays

Warum tue ich, was ich tue

Was passiert mit dem Erlös des Buchs …

Fremdworterklärung

Quellen

Co-Autoren

Anmerkungen

EINLEITUNG

In diesem Buch erzählen neun Menschen ihre Geschichte. Jede ist anders. Doch haben die Schreiber eines gemeinsam – sie sind/waren alle Flüchtlinge.

Einzelne sind schon etliche Jahre hier. Sie können herausfinden, wie Integration in einzelnen Fällen gelungen ist. Manche sind erst seit ein paar Monaten in Deutschland und Österreich, mit ihnen können Sie allerdings schon ein bisschen Deutsch reden. Teilweise sind sie ganz frisch hier und verstehen außer »Bitte« und »Danke« noch so gut wie nichts. Aber eines haben sie gemeinsam: Sie haben vieles mitgemacht in ihrem kurzen Leben. Jetzt haben sie große Hoffnungen.

Auf jeden Fall versuchen sie, mit ehrlichen und authentischen Worten die letzten Jahre ihres Lebens zu reflektieren, um Ihnen ein reales Bild über ihre Heimatländer zu vermitteln und warum für sie der Gedanke »Hauptsache weg« zur einzigen Überlebenschance geworden ist.

Für keinen der Schreiber und Schreiberinnen war es leicht, die eigenen Erlebnisse aufzuschreiben, da vieles wieder in ihrer verletzten Seele angerührt wurde. Manche konnten den eigenen Bericht nicht abschließen, weil die Erinnerungen an die Vergangenheit zu viel Schmerz verursachten – andere sprangen dafür ein und waren bereit, aus ihrem Leben zu erzählen.

Um die einzelnen Schreiber und Schreiberinnen zu schützen, werden in diesem Buch keine Fotos abgebildet. Die meisten wollten auch keinen oder einen »falschen« Namen für ihre Geschichte. Jeder/jede spricht über das eigene Heimatland, das ungefähre Alter und das Geschlecht.

Im Anschluss an die Lebensberichte kommen noch einige Kapitel, die Anregungen und Gedankenanstöße geben, zu dieser ganzen Thematik.

Es war eine große Herausforderung, Ihnen als Leser einen so breiten Einblick in die unterschiedlichsten Menschenleben, Kulturen, Länder und Situationen zu verschaffen. Hätte ich das im Vorhinein gewusst, hätte ich wahrscheinlich nie angefangen mit diesem Buch 

Doch jetzt ist es fertig – dank vieler Menschen, denen es ein Anliegen war, dass dieses Buch zustande kommt. Danke euch allen für euren Mut, eure Ausdauer trotz Rückschlägen und allem Weitermachen trotz Enttäuschungen. Danke, dass dieses Buch für euch nicht nur ein »Job« war, sondern ein Spiegelbild eures eigenen Herzens.

VORWORT

»Hauptsache weg« – wer hat das nicht schon einmal gedacht? Wenn alles im Leben schiefzulaufen scheint, eine Beziehung vor dem Aus steht, man in der Firma gemobbt und unterdrückt wird oder man auf Facebook gerade übel bloßgestellt worden ist.

Vielleicht hatten Sie schon einmal das Gefühl absoluter Hoffnungslosigkeit, Angst vor der ungewissen Zukunft oder einfach nur den Gedanken: »Schnauze voll«. Dann dachten Sie nur noch: »Es muss sich was ändern, und zwar schnell!«

Auch mir ging es etliche Male so. Ich denke an den Moment, in dem ich als Teenager das erste Mal beim Stehlen erwischt wurde. Da schoss mir dieser Gedanke durch den Kopf: »Hauptsache weg!«

In den letzten Jahren meiner Schulzeit waren diese Worte oft mein Begleiter: »Egal, was danach kommt, Hauptsache weg von der Schule.« Obwohl ich ja wirklich überwiegend nette und motivierte Lehrer hatte und auch nicht der Schlechteste war im Unterricht.

Ein paar Jahre später, am Tag meines ersten Boxkampfes, stieg ich mit absoluter Siegessicherheit in den Ring. Obwohl gut vorbereitet und total ambitioniert, erlebte ich trotzdem gleich eine Niederlage. Als der Ringrichter das Ergebnis verkündete, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.

Schon aus Prinzip habe ich diesem Gedanken nie nachgegeben. Als junger, talentierter und sehr zielstrebiger Mann war für mich Davonlaufen und Aufgeben überhaupt keine Option – eine der vielen guten Dinge, die mir meine Eltern beigebracht hatten.

Doch dann kam die erste schwerwiegende Beziehungskrise – ein Miteinander war völlig ausgeschlossen, aber ein Ohneeinander war auch unvorstellbar. Da war er wieder, dieser Gedanke: »Hauptsache weg!«

Natürlich gab ich nicht nach – ich doch nicht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Koste es, was es wolle, aber ich gebe doch nicht auf!

Dieser Krise folgten weitere Krisen. Alles wurde immer chaotischer, die Situation wuchs mir völlig über den Kopf und irgendwann … ungefähr ein Jahr später, war es so weit. Ich war so am Ende und so zermürbt, es war auf einmal glasklar, ich musste weg. Egal wohin, egal wie es woanders ist, einfach nur weg!

Und ich ging. Nach Schladming, ein kleines Bergstädtchen in den österreichischen Alpen. Ich kannte es nur vom Hörensagen. Wenn ich in meiner damaligen Situation gewusst hätte, wo und in was für einem Umfeld ich dort lande, dann wäre ich nie gegangen. Denn dieses eine Mal »Weglaufen« vor meinen Umständen hat mein ganzes Leben verändert! Es war das Beste, das mir jemals widerfahren ist. Eine scheinbar absolute Niederlage, die zum Erfolg und zu einem sinnerfüllten Leben voller Hoffnung führte. Aber davon erzähle ich später mehr 

»Hauptsache weg!« Das denken im Moment wahrscheinlich mehr Menschen auf der Welt als jemals zuvor: Flüchtlinge.

Dieses Thema wird ständig und überall präsentiert – ob man es will oder nicht.

Flüchtlinge, das sind Massen von Menschen, die nach wie vor versuchen, im Eiltempo Europa zu erreichen. Hunderttausende, ja sogar Millionen – was soll aus ihnen werden?

Ja, das weiß keiner so genau.

Was sind das für Menschen, die nur einen Gedanken verfolgen: »Hauptsache weg«?

Es sind bestimmt manche, die einfach »keine Lust« mehr haben auf ihr Land, die von irgendwem hören, dass bei uns das Gold auf der Straße liegt und die sich einfach aus dem Staub machen. Ziemlich sicher sind etliche Wirtschaftsflüchtlinge unter den Millionen.

Ganz sicher sind auch manche dabei, die fanatische Anhänger des Islam sind und denen unser zügelloses christliches Abendland einfach so gegen den Strich geht, dass sie mal rüberkommen wollen, um mal radikal »aufzuräumen«. Keine Frage, solche werden auch unter den fliehenden Massen sein.

Manch einer hat auch schon Familie hier bei uns und flieht, um seinen Angehörigen wieder nahe zu sein – irgendwie verständlich, aber das ist ja auch nur eine kleine Anzahl.

Vielen wurde das Blaue vom Himmel versprochen durch Schlepperbanden, die durch das letzte Geld dieser Leute zu Millionären wurden.

Nicht wenige fliehen aus religiösen Gründen.

Dann bleibt da aber trotzdem noch die große Masse – warum flieht die?

Weil es nicht anders geht! Weil alles um sie herum zerstört ist. Weil die Menschen, die ihnen alles bedeuten, einfach niedergeschossen, vergewaltigt und abgeschlachtet oder verbrannt werden. Weil ihnen alles genommen wird, was sie besitzen. Weil ihnen der gesunde Menschenverstand sagt: »Wenn du jetzt nicht fliehst, dann gibt es kein Morgen mehr.«

Das sind die Massen. Die Millionen Flüchtlinge, in Europa und vor den Türen Europas.

Was denken Sie darüber? Was für Emotionen regen sich da in Ihnen, wenn Sie das hören, sehen, lesen – jeden Tag? Wenn Sie überrumpelt werden von der Nachricht: »Morgen sind 100 Flüchtlinge Ihre neuen Nachbarn.«

Angst oder das Anliegen, solchen Menschen zu helfen?

Frustration oder Freude über die wachsende kulturelle Vielfalt?

Grenzenlose Wut oder herzzerbrechendes Weinen über all das Elend in unserer Welt?

Gleichgültigkeit, oder vielleicht ist es einfach nur Unsicherheit?

Ablehnung?

Die »Geht mich nichts an«-Einstellung?

Eins ist sicher: Solange alle Flüchtlinge nur »überwältigende Massen« bleiben, ist eine entstehende Antihaltung wahrscheinlicher als alles andere. Solange ich nur Millionen von Menschen sehe, die ganz anders sind als ich und mein Leben hier, überfordert mich das ganze Thema.

Wenn ich die Zahlen höre, die sich ständig nur steigern, dann lähmt mich das und weckt das Verlangen in mir, mich in meiner Komfortzone zu verschanzen – vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich.

Aber haben Sie sich mal überlegt, was passieren würde bzw. passieren könnte, wenn wir hier nicht mehr die überwältigenden Massen sehen, sondern den Einzelnen?

Stellen Sie sich vor, ein Flüchtling schaut Ihnen direkt in die Augen und Sie nehmen sich ein paar Minuten Zeit, ihm/ihr zuzuhören 

STECKBRIEF AFGHANISTAN

Lage – Kontinent: Südasien

Einwohnerzahl: ca. 35 Millionen

Durchschnittsalter: 18 Jahre

Landesfläche: 647 500 km²

Hauptstadt: Kabul

Staatsform: Islamische Republik Afghanistan

Amtssprache(n): Dari (afghanisches Persisch), Paschtu

weitere (nicht amtliche) Sprachen: Usbekisch, Turkmenisch, indische Sprachen, Pamir-Sprachen, Drawidisch

Analphabeten: 72 %

Todesstrafe: Ja

Mehrheitsreligion: Islam

Durchschnittseinkommen/Jahr in $: 410 $

Hauptprobleme laut UNO: Todesstrafe, Folter, Zwangsheiraten

Verfolgte Gruppen: Christen

Währung: 100 Afghani = 1,37 Euro

DIE TALIBAN HABEN MEINEN BRUDER GETÖTET

Sommer 2011, in Afghanistan. Mitten in der Nacht werde ich von einem lauten Pochen aus dem Schlaf gerissen. Mein Vater und ich sind sofort hellwach. Taliban schlagen mit Gewehrkolben gegen unsere Tür und brüllen, wir sollen sofort aufmachen. Leise ziehen wir uns etwas über und verschwinden durch die Hintertür. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Geduckt rennen wir in zwei verschiedene Richtungen durch den Garten davon und immer weiter in die Nacht hinaus, bis mir der Atem ausbleibt und ich das Gefühl habe, in Sicherheit zu sein. Ich bin sechzehn und mache mir schreckliche Sorgen um meine Mutter und meine Geschwister. Was passiert mit ihnen, wenn die Taliban unsere Tür aufbrechen? Weil ich meinen Vater nicht finden kann, suche ich mir einen Unterschlupf für die Nacht und schlafe ein wenig. Am nächsten Morgen begegne ich dem Sohn eines Bekannten, der mich mit zu seinem Vater nimmt. Von ihm bekomme ich ein wenig Geld für meine weitere Flucht, denn ich kann unmöglich zurück. Wenn Taliban nachts an die Tür klopfen, kommen sie, um die Männer der Familie zu töten oder zu entführen. Mit nichts weiter als der Kleidung an meinem Leib und ein wenig Geld in der Tasche wandere ich Richtung Herat, wo einer meiner Onkel lebt.

Nach mehreren Tagen zu Fuß und mit dem Bus erreiche ich schließlich die Stadt und kann bei meinem Onkel unterkommen. Er besorgt mir sogar einen Job am Flughafen, der hier gerade von den Amerikanern gebaut wird, damit die Menschen im Krieg mit Hilfsgütern versorgt werden können.

Als wir Kontakt mit meiner Familie aufnehmen, erfahre ich die schreckliche Nachricht. Meine Mutter erzählt verzweifelt, dass die Taliban in dieser Nacht meinen ältesten Bruder getötet haben, weil er lieber gegen sie kämpfen wollte, anstatt zu fliehen. Mein jüngster Bruder hat durch eine Handgranate beide Beine verloren. Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht laut zu schreien. Und das alles nur, weil mein Vater ohne Einverständnis der Taliban bei der Polizei arbeitet. Ich würde gern nach Hause, um mit den anderen zu trauern, was leider viel zu gefährlich ist. Ich habe Angst und fühle mich so schrecklich allein. Jeden der wenigen Afghani, die mir beim Flughafen gezahlt werden, spare ich, denn ich möchte gern nach Europa. Ich habe gehört, dass Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, dort aufgenommen werden und in Sicherheit leben können. Weil ich mich mit meinem Onkel nicht besonders gut verstehe, ziehe ich nach acht Monaten weiter, Richtung Iran. Ich schließe mich einer Gruppe von 15 oder 20 Flüchtlingen an. Gemeinsam schlagen wir uns durch den Wald und über die Berge. Oft gehen mir Nahrung und Wasser aus und ich muss im Freien übernachten. Das ist sehr gefährlich. Es sind schon viele Menschen bei ihrem Versuch, in den Iran zu gelangen, verdurstet oder wurden von Grenzpolizisten erschossen. Deshalb sind wir sehr vorsichtig und lassen uns an verschiedenen Stützpunkten immer wieder von der Schleuser-Mafia den Weg weisen. Natürlich gegen Bezahlung.

Manchmal müssen wir große Umwege gehen oder werden ein Stück wieder zurückgeschickt, weil eine Polizeistreife uns entdeckte. Nach gut zwei Wochen gelangen wir endlich an die iranische Grenze, wo wir einen tiefen Bach durchwaten müssen. Dann sind wir auf einmal im Iran. Ich bin erleichtert und wandere weiter. Mein Ziel ist Teheran, wo ein alter Freund aus meiner Heimat lebt. Nach einem ganzen Monat auf der Flucht erreiche ich schließlich die Stadt. Mein Freund nimmt mich bei sich auf und gibt mir einen Job in seiner Firma.

Mithilfe von so etwas wie einer Nähmaschine stellen wir Maschendrahtzäune her. Das macht richtig Spaß und die Bezahlung ist auch gut. Doch darf ich mich aus Sicherheitsgründen nur innerhalb der Firma aufhalten, weil ich keinen Pass habe. Nach einigen Monaten traue ich mich doch ab und zu zum Einkaufen nach draußen. Bei einem dieser Ausflüge, nach über einem Jahr in Teheran, werde ich auf einmal am Arm gepackt. Es ist ein Polizist und er will meinen Pass sehen. Wie gelähmt, versuche ich zu erklären, weshalb ich keinen Pass bei mir habe. Die Taliban, meine Flucht, alles musste so schnell gehen in dieser Nacht. Doch die Polizisten kennen keine Gnade.

Sie bringen mich in eine feucht-kühle Gefängniszelle ohne Heizung. Die Zelle ist schon so voller Menschen, dass wir die ganze Zeit eng aneinandergedrängt hocken müssen. Zwei Tage lang kann ich mich nicht hinlegen, weil dafür einfach kein Platz ist. Dann kommen sie, um mich in eine andere Zelle zu verlegen. Ich will aufstehen, doch mein Körper gehorcht mir nicht. Meine Glieder sind so steif von der starren Haltung, dass es eine ganze Weile dauert, bis ich mich wieder bewegen kann. In der anderen Zelle ist mehr Platz, doch es ist Herbst und ich friere fürchterlich. Nachts, während ich schlafe, kommen die Wärter und schlagen mit Knüppeln auf uns ein. Heute noch wache ich manchmal mitten in der Nacht voll Schrecken auf oder zucke zusammen, weil ich von diesen Schlägen träume. Innerhalb kürzester Zeit bin ich ernsthaft krank. Nach acht langen Tagen und Nächten im Gefängnis werde ich schließlich entlassen. Doch ich darf nicht gehen, sondern muss in einen Bus steigen, der mich zurück nach Afghanistan bringt. Natürlich bin ich froh, diese Folterzelle verlassen zu können, doch gleichzeitig macht es mich wütend und frustriert, auf meiner Reise zurückgeworfen zu werden. Nachdem ich mich eine Woche lang bei meinem Onkel auskuriert habe, mache ich mich trotz der Gefängniserfahrungen erneut auf den Weg nach Teheran. Auch diesmal gelingt die Flucht.

In Teheran treffe ich nach ein paar Wochen eine Familie aus meiner Heimatstadt, die mir erzählen, dass sie in die Türkei fliehen werden. Ob ich mitwolle. Natürlich will ich.

Sie geben mir die Nummer ihres Schleusers, der umgerechnet 7 000 Euro verlangt und verspricht, mich dafür bis nach Deutschland zu bringen. Als ich daran zweifle, auch wirklich in Deutschland anzukommen, erklärt er mir, dass wir einen Vertrag mit der Bank abschließen würden. Wenn ich dort 7 000 Euro auf einem Konto hinterlege, erhalte ich eine Nummer. Erst wenn ich im Zielland ankomme, soll ich bei der Bank anrufen, die das Konto dann für die Schleuser freigibt. Diese Strategie habe sich bewährt und der Schleuser habe schon viele Menschen nach Deutschland gebracht. Obwohl ich so viel, wie ich nur konnte, gespart habe, besitze ich noch nicht genug Geld. Zum Glück verspricht meine ältere Schwester, die mit ihrer Familie in Pakistan lebt, mir den Rest zu schicken.

Jeden Tag sehe ich in der Post nach, und dann kommt der Umschlag tatsächlich gerade noch rechtzeitig. Ich kann mit.

Mitten in der Nacht geht es los. Die Schleuser lassen mich und eine Gruppe weiterer Afghanen hinten in ihren Transporter einsteigen und fahren bis zu einem abgelegenen Ort in Grenznähe. Von da aus müssen wir die ganze Nacht lang querfeldein über Wiesen, durch Wälder und Flüsse laufen. Schließlich erreichen wir, ohne einen Grenzposten passiert oder auch nur einen Zaun gesehen zu haben, im Morgengrauen die Türkei. Unsere Schleuser sind perfekt organisiert. Als wir an der geplanten Stelle ankommen, steht dort schon ein Auto bereit, das uns in eine Wohnung bringt. Wir bekommen gefälschte Ausweise, die wir bei möglichen Kontrollen zeigen sollen. Am Tag dürfen wir hier nicht gesehen werden. Früh am nächsten Morgen geht es weiter. Die Schleuser setzen uns am Bahnhof in einen Bus nach Istanbul, wo wir wieder von anderen Männern abgeholt und in eine Ein-Raum-Wohnung gebracht werden. Als wir ankommen, traue ich meinen Augen nicht. In dieses einzige Zimmer quetschen sich bereits über fünfzig Männer, Frauen, alte Menschen und sogar Familien mit Kindern. Alle aus Afghanistan. Insgesamt sind wir nun bestimmt 70 Flüchtlinge und es ist fast genauso eng wie in der Gefängniszelle. Eng und stickig ist gar kein Begriff und natürlich sind die Leute hier nicht gerade erfreut über uns Neuankömmlinge, die ihnen die Luft zum Atmen noch dicker machen. Es ist so wenig Platz, dass wir uns nicht alle zur selben Zeit auf den Boden legen können. Deshalb müssen wir uns irgendwie organisieren und schlafen etappenweise. Die nicht schlafende Hälfte von uns geht währenddessen meist nach draußen, wo wir sogar auf einem nahe gelegenen Fußballplatz ein wenig kicken können. Mit einigen jungen Männern freunde ich mich ein wenig an. Jeder Einzelne von ihnen hat seine Geschichte mit den Taliban, will nur weg aus Afghanistan und in Sicherheit leben. Vielleicht eines Tages auch seine Familie nachholen. Trotzdem scheint die Zeit stillzustehen. Die Schleuser bringen uns jeden Tag Wasser und Reis, Nudeln oder Bohnen. Wir fragen sie, wann es endlich weitergeht. Der Gestank hier im Raum wird immer unerträglicher von all den Menschen, die seit Tagen nicht geduscht haben. Doch die Schleuser vertrösten uns nur: »Heute gibt es kein Boot. Vielleicht morgen. Die See ist zu rau. Die Küstenwache lässt sich nicht bestechen.« Doch morgen scheint für uns nie zu kommen, denn wir hören immer wieder nur dieselben Antworten. Jetzt schon seit über einem Monat. Ab und zu werden ein paar Leute abgeholt und andere kommen. Doch mich und meine Freunde nehmen sie nie mit. Ich verbringe die wachen Stunden im Raum damit, vor mich hinzuschauen, zu essen oder über Körper hinwegzusteigen, um die einzige Toilette zu erreichen. Wir alle werden immer ungeduldiger. Die Atmosphäre ist angespannt. So langsam fühlen wir uns von den Schleusern verarscht und würden ihnen am liebsten so richtig die Meinung sagen. Doch wir sind abhängig von ihnen, können uns nicht erlauben, sie gegen uns aufzubringen. Endlich, nach den wahrscheinlich längsten sechs Wochen meines Lebens, bin ich an der Reihe. Mitten in der Nacht werde ich mit einer Gruppe anderer aus dem Raum getrieben. Es geht alles sehr schnell, sodass ich von meinen Freunden getrennt werde. Wir sollen uns in zwei kleine Transporter zwängen. Es ist unglaublich stickig und heiß hier im Laderaum, noch enger als in dem Raum und wir haben kein Wasser. Zwei ältere Menschen leiden unter ernsthaften Kreislaufproblemen, bis wir endlich halten und mit Wasser versorgt werden. Die Fahrt geht an den Strand, in die Nähe der griechischen Seegrenze.

Im Wasser liegt ein größeres Schlauchboot mit Motor. Jeder hat Angst, zurückgelassen zu werden, und so tummeln sich innerhalb kürzester Zeit 30 Menschen auf dem Boot, was vielleicht für zehn konzipiert ist. Jetzt sehe ich noch weitere Flüchtlingsgruppen am Strand auftauchen. Insgesamt sind es ca. 70 Menschen, die in ein Boot aus Holz steigen, was keinen besonders stabilen Eindruck macht. Die Schleuser sagen uns, wo es langgeht, dann müssen wir ohne sie zurechtkommen. Ich habe schon viele Geschichten von überfüllten Booten, die gesunken sind, gehört, weshalb ich große Angst habe. Ich spreche ein Gebet zu Allah und dann legen wir gemeinsam mit dem Holzboot ab. Am Anfang sehen wir es immer einige Hundert Meter hinter uns, doch dann ist es irgendwann verschwunden. Wir sind schneller mit unserem völlig überfüllten Motorboot, in dem ich mich die ganze Zeit über nicht traue, mich zu rühren.

Nach ca. sieben Stunden Fahrt erreichen wir am frühen Morgen tatsächlich eine griechische Insel. Erleichtert fallen wir uns in die Arme. Wir haben es geschafft, europäischen Boden zu betreten. Das Schlauchboot stechen wir mit Messern kaputt und lassen es am Strand zurück. Schnell werden wir von der griechischen Küsten-Polizei aufgegriffen und in ein Camp gebracht. Nach zwei Tagen erhalte ich ein Papier, auf dem steht, dass ich mich einen Monat lang in Griechenland aufhalten darf. Danach muss ich entweder zurück nach Afghanistan oder weiter Richtung Deutschland, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Doch die Schleuser haben sich schon um eine Weiterfahrt gekümmert, sodass wir noch am selben Tag ein großes Schiff nach Athen besteigen können. Die Überfahrt dauert 18 Stunden und gelingt problemlos. In Athen werden wir wieder in einer Wohnung untergebracht. Diesmal mit etwas mehr Platz. Die andere Hälfte der Gruppe, die mit uns in der Nacht aufgebrochen und im Holzboot gefahren ist, ist noch immer nicht aufgetaucht. Irgendwann erzählt jemand, er habe gehört, dass das Boot auf der Überfahrt nach Griechenland gesunken sei. Nur vier Personen mit Schwimmwesten hätten überlebt. Ich bin geschockt. Auch meine Freunde sind wahrscheinlich in dem Boot gewesen. Obwohl ich schon 7 000 Euro auf der Bank hinterlegt habe, soll ich für diese Unterkunft zusätzlich drei Euro pro Nacht bezahlen. Jeder versucht hier noch ein kleines Extrageschäft mit den Flüchtlingen für sich rauszuschlagen. Von Athen aus geht es nach gut zwei Wochen schließlich mit dem Zug weiter bis an die mazedonische Grenze. Von da aus müssen wir wieder zu Fuß laufen. Zum Glück habe ich mir in Athen ein paar Packungen Kekse und zwei Liter Wasser gekauft. Meine einzige Verpflegung für die nächsten fünf Tage Fußmarsch. Nachts schlafen wir auf dem Waldboden. Ich kenne nur noch ein paar Leute aus meiner Gruppe vom Sehen, die anderen sind Syrer, die zu uns gestoßen sind. Wir überqueren die mazedonische Grenze ohne Schwierigkeiten und fahren mit dem Bus weiter bis zur serbischen Grenze. Doch die korrupte serbische Grenzpolizei will uns nicht weiterlassen, ehe wir eine beträchtliche Summe Geld bezahlen. Meine Gruppe von einem guten Dutzend Flüchtlingen legt ihre letzten Ersparnisse zusammen. 500 Euro reichen den Polizisten zum Glück, um uns nach Serbien zu lassen. Ich kann schon gar nicht mehr sagen, wie lange ich unterwegs bin. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, dass ich das letzte Mal in einem richtigen Bett geschlafen oder eine ordentliche warme Mahlzeit gegessen und geduscht habe.

Ein Transporter bringt uns in die Nähe von Ungarn. Bei unserem anschließenden Fußmarsch über die ungarische Grenze werden wir von der Polizei aufgegriffen und in ein Camp gebracht. Doch die Ungarn sind nicht besonders scharf darauf, uns bei sich zu behalten, sodass ich nach zwei Tagen mit dem Bus weiter nach Budapest fahren darf. Dort holt mich ein Schleuser mit seinem Pkw ab und fährt mich zusammen mit zwei anderen Flüchtlingen noch in derselben Nacht über Österreich bis nach Deutschland. Ich kann kaum glauben, wie einfach das auf einmal gegangen ist. Bevor wir aussteigen, vergewissern wir uns mehrmals, dass wir auch wirklich in Deutschland sind. Es ist wahr, ich habe es geschafft. In Passau fragen wir uns müde und erleichtert bis zum Bahnhof durch, wo uns ein paar Polizisten in Zivil aufgreifen. Mithilfe eines Übersetzers erhalten wir schließlich Fahrscheine zu einem Erstaufnahme-Camp in Nürnberg-Zirndorf. Aus Platzgründen werde ich eine Woche später nach Erlangen verlegt, in ein ehemaliges Freibad.

Nach 45 Tagen soll ich weiter nach Karlsruhe, doch dort heißt es, das Camp sei voll, ich solle erst mal nach Mannheim. 19 Tage später werde ich wieder nach Karlsruhe gefahren und von dort aus weiter nach Öhringen. Ich verstehe nicht, weshalb ich ständig in andere Camps verlegt werde, doch es hat den Anschein, dass sich etwas bewegt, und darüber bin ich froh. Es ist November 2014, als ich schließlich in Öhringen ankomme, wo ich in einem Asylbewerberheim wohnen darf. Hier lerne ich auch die ersten Deutschen kennen. Andere Asylbewerber, die schon ein wenig deutsch sprechen, übersetzen für mich. Jetzt darf ich endlich selbst auch für drei Monate einen Deutschkurs besuchen und danach bekomme ich einen Platz in einer Schule. Ich bin inzwischen 20 Jahre alt. Neben Deutsch habe ich Mathematik, Informatik, Hauswirtschaftslehre und Sport. Nächsten Sommer werde ich hier wahrscheinlich meinen Abschluss machen und mich danach um eine Ausbildungsstelle bewerben. Immer schon war es mein Traum, Automechaniker zu werden. Jeden Morgen stehe ich um halb sieben auf und räume auf oder putze im Asylbewerberheim. Dann bin ich bis zum Nachmittag in der Schule. Abends unternehme ich nach den Hausaufgaben und dem Essen etwas mit meinen Freunden oder schaue fern. Ich mag die Deutschen. Sie sind sehr freundlich und hilfsbereit. Es ist schön, endlich ein Zuhause gefunden zu haben und zur Ruhe zu kommen, auch wenn ich meine Familie natürlich sehr vermisse. Seit vier Jahren habe ich sie nicht gesehen. Zum Glück können wir regelmäßig über das Internet telefonieren. Montags besuche ich eine internationale Gruppe, in der wir Deutsch lernen, zusammen essen und gemeinsam Unternehmungen machen. Darauf freue ich mich immer schon die ganze Woche. Seit ein paar Monaten mache ich ein Praktikum bei einer Lkw-Spedition, in deren Werkstatt ich arbeite. Ich wechsle Reifen und Bremsbeläge, repariere die Planen der Lkws und wasche sie. Am liebsten würde ich hier auch meine Ausbildung machen. Doch leider weiß ich noch nicht mal, ob ich nächstes Jahr noch in Deutschland sein darf, da ich bisher nur eine Duldung bis Ende 2015 habe.