Vorwort

Abwehr ist nicht beliebt. Sie verrät, dass eine Person in die Defensive geraten ist und sich gegen eine innere Gefahr zur Wehr setzen muss. Meist sind es Drohungen aus dem Über-Ich oder quälende Ansprüche des Ich-Ideals, die zu radikalen Selbsteinschränkungen zwingen. Abwehrmechanismen müssen unbewusst ablaufen, um wirksam zu sein, das macht sie erst recht suspekt. Sie setzen sich gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts durch und durchkreuzen seine Idee von selbstbewusstem und entscheidungsfreiem Handeln. Indem sich die Abwehr gegen eigene Phantasien, Wünsche und Absichten richtet, scheint sie den Menschen von sich selbst zu entfremden – zugunsten einer blinden Anpassung an internalisierte, „triebfeindliche“ Verbote oder soziale und kulturelle Ansprüche.

Psychoanalytiker halten sich gern zugute, dass sie „triebfreundlich“ sind und ihre Patienten ermutigen, die Fesseln ihrer eigenen Abwehrmechanismen zu lösen und dadurch Erlebnisfähigkeit und Handlungsfreiheit zurückzugewinnen. Darin ähneln sie den Verfechtern einer „antiautoritären“ Erziehung, die in der abwehrbetonten Persönlichkeit den zwar gut angepassten, aber politisch unmündigen und leicht manipulierbaren Untertanen erblickten. Beide übersehen aber, dass es die Abwehrmechanismen dem Menschen überhaupt erst ermöglichen, sich zu einer sozialen Persönlichkeit zu entwickeln und ein kulturelles Leben in einer modernen Gesellschaft mit zu gestalten.

Das Subjekt ist im „Abwehrkampf“ nicht nur ein Verlierer, sondern auch ein Gewinner. Zwar verengt es in der Abwehr seine Selbsterkenntnis und schränkt seine Handlungsfreiheit im ärgsten Falle bis zur Symptombildung ein, aber es entwickelt über Abwehrprozesse seinen Charakter und bereichert seine Erlebens- und Genussmöglichkeiten um ein Vielfaches. Dieser Doppelcharakter der Abwehr zeigt sich in der Betrachtung individueller Entwicklungsgeschichte, in der Analyse sozialer Gruppierungen wie auch in der Makro-Perspektive auf kulturelle Prozesse.

Weil über die negativen Seiten der Abwehr schon viel geschrieben wurde, soll sich dieses Buch ausführlicher mit dem Subjekt beschäftigen, das als „Sieger“ aus dem „Abwehrkampf“ hervorgeht, indem es an seiner eigenen Selbstbeschränkung sogar zu wachsen vermag.

Berlin, im Frühjahr 2013

Jürgen Körner

1. Vorlesung
Begriff und Geschichte

Der Begriff der „Abwehr“ lässt an kriegerische Auseinandersetzungen denken: Ein gefährlicher Angriff muss abgewehrt, also zurückgeschlagen, unschädlich gemacht werden, da hilft sich ein Verteidiger in einer bedrängten Lage, und nur wenn die Abwehr gelingt, kann er sich wieder sicher fühlen. Auch andere Begriffe der frühen Freud’schen Terminologie legen solche bedrohlichen Assoziationen nahe: Besetzung und Gegenbesetzung, Unterdrückung, Reaktionsbildung und Widerstand. Tatsächlich stellte Freud sich das Seelenleben des Menschen von Anfang an als ein spannungsreiches Konfliktgeschehen vor, also schon zu jener Zeit (1895)1, als er noch stoffliche (elektrische, chemische) Ursachen für die körperlichen Erkrankungen seiner Patientinnen suchte. Auch wenn Freud seinen naturwissenschaftlich angelegten Entwurf recht bald in eine psychologische Theorie über die Dynamik des Seelenlebens verwandelte, behielt er den Begriff der Abwehr zunächst bei.

Ehlers2 beschreibt, dass Freud in seinen Konzepten von der kurz zuvor entwickelten Infektionstheorie von Pasteur und Koch beeinflusst worden war. Diese hatten erkannt, dass zahlreiche Krankheitssymptome des Körpers nicht nur Fehlfunktionen darstellen, sondern als Ergebnis aktiver Versuche zu verstehen seien, sich gegen gefährliche Angriffe feindlicher, also etwa giftiger Erreger zur Wehr zu setzen. Auf ähnliche Weise verstand Freud auch die psychische Abwehr als aktive Form der Auseinandersetzung mit belastenden Erfahrungen, die nicht nur Schaden anrichtet, indem sie das Individuum einengt, sondern im günstigen Falle sogar seine Handlungsfreiheit vergrößert.

Im Jahre 1906 ersetzte Freud den Begriff der Abwehr durch den der Verdrängung3, jedoch nicht vollständig, denn er behielt Begriffe wie etwa „Abwehrkampf“ bei. Für längere Zeit setzte er „das Verdrängte“ mit dem Unbewussten gleich und stellte es in einen spannungsreichen Gegensatz zu dem Bewussten und Vorbewussten. Erst als ihm klar wurde4, dass auch große Teile des Ichs unbewusst waren, gab er dieses „erste topische Modell“ wieder auf und setzte an seine Stelle das „Strukturmodell“ mit seiner Gliederung Es – Ich – Über-Ich. Die Gleichungen „Das Unbewusste entspricht dem Abgewehrten“ und „Das Vorbewusste und Bewusste entspricht dem Ich“ konnten nicht aufrechterhalten werden5. 1926 dann führte Freud den Begriff „Abwehr“ wieder als einen Oberbegriff ein, nämlich als Bezeichnung einer Gruppe sehr unterschiedlicher Methoden, subjektiv gefährliche psychische Inhalte aus dem Bewussten zu entfernen und damit unschädlich zu machen. Verdrängung ist seither einer von zahlreichen, sehr unterschiedlichen „Abwehrmechanismen“, Freud nannte in der gleichen Arbeit6 auch noch die Regression, die Reaktionsbildung (reaktive Ich-Veränderung), die Introjektion (mit dem Sonderfall der Identifikation mit dem Angreifer), das Ungeschehenmachen, das Isolieren und die Projektion.

Anna Freud veröffentlichte 19367 ihr Werk „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ mit einer systematischen Darstellung der unterschiedlichen Abwehrformen. Seither sind zahlreiche Arbeiten zum Thema erschienen, und es fehlt nicht an Versuchen, die sehr heterogene Gruppe von Abwehrmechanismen zu kategorisieren und unter verschiedenen Gesichtspunkten in eine Systematik zu bringen: Man kann „reife“ von „unreifen“ Abwehrmechanismen unterscheiden, man kann Anlässe und Ziele des Abwehrprozesses differenzieren und insbesondere die jeweils verwendete Technik des Abwehrens zum Ausgangspunkt für systematische Unterscheidungen nehmen. Ich werde im Weiteren einige dieser Gliederungsvorschläge behandeln.

Innere Konflikte

Welches sind nun die Gefahren, die unsere Abwehr hervorrufen? Es sind selbstverständlich innere Vorgänge, also Gedanken, Gefühle, Phantasien, Erinnerungen und Handlungsimpulse, die uns selbst in Bedrängnis bringen, die wir fürchten, die uns peinlich sind oder die uns mit unserem Gewissen in Konflikt bringen. Häufig genug sind äußere Ereignisse der Anlass für eine innere Gefahr, z. B. dann, wenn wir etwas Schreckliches erleben und Angst haben, von diesem Erlebnis überwältigt zu werden. Die wichtige Unterscheidung zwischen einem äußeren Anlass und einer inneren Gefahr führte mitunter zu dem Vorwurf dass die Psychoanalyse die Wirksamkeit realer Erfahrungen unterschätze, wenn nicht gar ignoriere8. Das ist ein Missverständnis. Nach psychoanalytischer Auffassung reagiert das Subjekt aber nicht auf die Ereignisse an sich, sondern mit wenigen Ausnahmen immer darauf, was diese Ereignisse subjektiv bedeuten und in welchem Kontext sie geschehen. Das kann dazu führen, dass ein scheinbar harmloser Zwischenfall als äußerst bedrohlich wahrgenommen wird. Nur in den Grenzfällen traumatischer Erlebnisse spielt die subjektive Bewertung des Geschehens eine untergeordnete Rolle.

Freuds Krankengeschichte vom „Kleinen Hans“9 gibt ein gutes Beispiel für den Unterschied und das Zusammenwirken inneren und äußeren Geschehens. Der „Kleine Hans“ war ein fünfjähriger Knabe, der eine Pferdephobie entwickelt hatte, deretwegen sein Vater Freud mehrfach konsultierte. Freud entwickelte die Hypothese, dass der „Kleine Hans“ eine große Angst vor dem Vater auf Pferde verschoben hatte; den Erklärungshintergrund bildete die Theorie über die Dynamik des ödipalen Konfliktes. Diese Erklärung war richtig, und sie half auch in diesem Falle.

Beim Studium der Fallgeschichte vom „Kleinen Hans“ wird das ödipale Drama, dem sich der Junge ausgesetzt sah, anschaulich und anrührend. Tatsächlich liebte dieser Junge seine Mutter über alles, wollte ihr überall nahe sein, und offenkundig hätte er sich gern an die Stelle seines Vaters gesetzt. Dieser spielte das ödipale Drama mit, ohne sich dessen bewusst zu sein, und in seinen Schilderungen wird deutlich, dass seinem Sohn unverhohlen mit Kastration gedroht wurde. Waren diese Drohungen nun schon der äußere Anlass, der den kleinen Jungen in solche Angst versetzte und zur Symptombildung zwang? Wahrscheinlich nicht, denn diese Drohungen wurden erst dadurch zu einer großen Gefahr, dass der „Kleine Hans“ sie als einen tatsächlich tödlich gemeinten Angriff phantasierte. Er glaubte, der Vater könnte ihn wirklich ernsthaft verletzen und sich dadurch für die Todeswünsche seines Sohnes rächen. Das heißt: Erst die Wünsche des Kleinen Hans, seinen Vater zu beseitigen, verwandelten die bewusst nur halbwegs ernst gemeinten Drohungen des Vaters für den Sohn in die Ankündigung eines tödlichen Angriffs. Dass dieser Vater im Unbewussten sehr wohl die Rivalität seines Sohnes wahrgenommen hatte, mag in seinen Drohungen durchaus zum Ausdruck gekommen sein. Diese sind aber für sich genommen kein rechter Anlass für eine Phobie gewesen; erst der Kontext, in dem der „Kleine Hans“ sie verstand, stattete sie mit dieser Bedrohlichkeit aus.

Es sind also die inneren Gefahren, denen wir mit unserer Abwehr begegnen. Während wir, so meinte Anna Freud 1936, zumeist in der Lage wären, einer äußeren Gefahr auszuweichen oder ihr zu entfliehen, ist es nicht möglich, inneren Gefahren zu entgehen – außer, wir wehren sie ab.

Die Abwehr wendet sich also gegen alle Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Phantasien oder Handlungstendenzen, die wir als innere Gefahr erleben. Zunächst sind es die eigenen Triebansprüche, die uns in Angst versetzen können. Warum machen sie Angst, wo sie doch eigentlich lustvoll sind, weswegen sie ja nach Verwirklichung drängen, eben dem Lustprinzip folgen wollen? Sie machen Angst, weil sie im System Es zwar als lustvoll erscheinen mögen, dem Ich hingegen erscheinen sie als gefährlich, schon allein wegen ihrer Primärprozesshaftigkeit und der Gefahr einer „Überschwemmung“ und des Kontrollverlustes. Außerdem machen sie Angst, weil sie schwere innere Konflikte mit den eigenen Bewertungssystemen des Über-Ichs und des Ich-Ideals heraufbeschwören.

Abwehrmechanismen werden nicht nur von inneren Konflikten heraufbeschworen, sondern auch von starken Affekten, die das Ich zu überschwemmen drohen: Schwere narzisstische Kränkungen und Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls (Hoffmann), depressive Affekte (Brenner), Schamaffekte (Wurmser) und heftige, schmerzhafte Affekte überhaupt (A. Freud). Für viele Autoren ist aber der Konflikt zwischen dem Triebanspruch und dem Über-Ich der klassische Fall des inneren Konfliktes, der die Abwehraktivität des Ichs heraufbeschwört. Auch in diesem Falle (ähnlich wie im Beispiel des Kleinen Hans oben) ist es aber wichtig, den auslösenden Konflikt als inneren Konflikt zu verstehen – nicht als einen Konflikt zwischen dem Triebwunsch eines Kindes und den Verboten der Erwachsenen. Zwar entwickelt das Kind sein Über-Ich immer auch in Anlehnung an die Wertvorstellungen seiner Eltern, aber die Internalisierung dieser Wertvorstellungen ist niemals als reine Abbildung jener elterlichen Normen zu verstehen. Vielmehr interpretiert das Kind seine Welt, und es entwirft seine eigenen Vorstellungen von Moral, die nicht selten sehr viel strenger sind als die seiner Eltern.

Nun sind zu diesem „klassischen“ Konflikt zwischen dem Triebimpuls und dem eigenen Über-Ich Differenzierungen angebracht. Zunächst lässt sich der Triebbegriff erweitern, denn die dualistische Triebtheorie aus den Anfängen der Psychoanalyse – gemeint ist der Sexualtrieb und der Aggressionstrieb – wurde mit überzeugenden Argumenten von Lichtenberg10 erweitert zu einer Theorie von Motivsystemen, die als Differenzierung dieser dualen Triebtheorie verstanden werden können, und die einen genaueren Blick auf das motivationale Geschehen im menschlichen Subjekt erlaubt. Hier eine Aufzählung dieser Motivsysteme11:

Diese Motivsysteme können zueinander durchaus in Konflikt geraten, tun es sogar regelmäßig: Z. B. muss jedes Kind das Motivsystem der Bindung mit dem der Neugier und der Exploration gegeneinander ausbalancieren. Der Dreijährige also, der einerseits die Bindung zu seiner Mutter genießt und am liebsten immer in ihrer Nähe sein möchte, hat aber doch andererseits den Wunsch, die Welt selbst zu erobern und mit anderen Kindern zusammen zu sein. Beides aber geht nicht gleichzeitig, und so pendelt er häufig hin und her, rennt los, folgt also seinem Explorationswunsch, um sich dann aber bald wieder herumzuwerfen und zumindest kurz bei seiner Mutter wieder „aufzutanken“, wie Margret Mahler das nannte.

Alle Kinder müssen in diesem Konflikt zwischen den Motivsystemen von Bindung und Exploration immer wieder eine Lösung finden, und es liegt bei den Erwachsenen, inwieweit sie die Lösungsversuche ihrer Kinder fördern oder behindern. Nicht selten erschweren Mütter ihrem Kind die Lösung, indem sie ihm vermitteln, dass sie seine Entfernung als schmerzvoll erleben und eigentlich nur darauf warten, dass es endlich zu ihnen zurückkehrt. Das Lied vom „Hänschenklein“ schildert diese Szene sehr präzise, es ist eine Geschichte von einem abgebrochenen Individuationsversuch. Und der Liedtext macht uns darauf aufmerksam, dass es sich auch hier um einen inneren, nicht um einen äußeren Konflikt handelt: Denn nachdem das Hänschen „in die weite Welt hinein“ gegangen war, weinte die Mutter sehr – genauer gesagt: Er glaubte, die Mutter weinte sehr, und er „besann sich“ und „kehrt nach Haus geschwind“.

Es ist interessant, dass der Liedtext im Original aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz anders endete. Nach dem

„Doch die Mutter weinet sehr
Hat ja nun kein Hänschen mehr“

fährt der Text im Original fort:

„Wünsch dir Glück!“
Sagt ihr Blick,
„Kehr’ nur bald zurück!“

So wurde aus der Geschichte über die Ablösung eines jungen Mannes des 19. Jahrhunderts ein Text über den gescheiterten Individuationsversuch eines Kindes im 20. Jahrhundert. In dieser Rückverlegung des inneren Konfliktes von der Thematik des Erwachsenwerdens hin zu dem Problem der Ablösung von der Mutter spiegelt sich gewiss das wachsende Bewusstsein für die schwierigen Entwicklungsaufgaben eines kleinen Kindes.

1 Freud S (1895)

2 Ehlers W (2008), S. 15

3 Freud S (2006), S. 156

4 Freud S (1923)

5 Es ist charakteristisch für Freud, dass er es akzeptierte, wenn seine Beobachtungen in der Anwendung der Psychoanalyse mit seinen Theorien nicht übereinstimmten und er war – ein Glück für uns – bereit, seine theoretischen Erkenntnisse den Erfahrungen anzupassen – und nicht umgekehrt.

6 Freud S (1926), S. 149 ff

7 Freud A (1936)

8 Man denke nur an den Vorwurf (z. B. Masson 1984), Freud habe mit seiner Wendung von der Traumatheorie zur Konflikttheorie die Schuld vieler Väter seiner Generation an der Sexualunterdrückung, wenn nicht gar an dem sexuellen Missbrauch ihrer Töchter verharmlosen wollen.

9 Freud S (1909)

10 Lichtenberg J (1991)

11 Nach Ludwig-Körner (2012), S. 96 f

2. Vorlesung
Theorie und Systematik

Anna Freud12 nannte zehn Abwehrmechanismen: Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Introjektion (mit Identifizierung gleichgesetzt), Projektion, Wendung gegen die eigene Person, Verkehrung ins Gegenteil und Identifizierung mit dem Aggressor. Schon ihr Vater hatte in einer frühen Arbeit13 zahlreiche Mechanismen der Abwehr unterschieden und den bis dahin bekannten Krankheitsbildern zugeordnet: Der Zwangsneurose die Ersatzbildung, der Psychose die Projektion und der Hysterie die Konversion.

Aus heutiger Sicht erscheinen die zehn „Mechanismen“ Anna Freuds als sehr heterogen:

Der Ärger in der Kinokassen-Schlange

Bevor ich versuchen will, die Theorie und Systematik durchzugehen, möchte ich anhand eines alltäglichen Beispiels einige der besonders häufigen Abwehrformen charakterisieren. Man stelle sich folgende Situation vor: Wir stehen vor der Kinokasse in einer langen Warteschlange. Es ist schon spät, die Schlange ist lang, und es könnte sein, dass nur noch wenige Plätze zur Verfügung stehen. In dieser Situation geht ein Unbekannter von hinten an uns vorbei und stellt sich ganz weit vorn in die Warteschlange. Jetzt droht uns eine innere Gefahr: Ein Wutaffekt, der je nach Persönlichkeit milder oder krasser ausfallen könnte und – wiederum je nach Persönlichkeit – von uns selbst mehr oder weniger gefürchtet würde – wenn er ins Bewusstsein oder gar ins Handeln drängte. Hier nun eine Auswahl möglicher Abwehrformen:

Für die Verdrängung kann ich hier kein eigenes Beispiel erfinden. Sie kommt allein wohl auch gar nicht vor, sondern sie erscheint als Reaktionsbildung oder als Verleugnung oder als Verneinung usw. Insofern ist sie in ihrer Funktion, ein unlustvolles Erleben unbewusst zu halten, an den hier aufgezählten Abwehrformen mehr oder weniger beteiligt – stärker im Falle der Verleugnung, weniger stark im Falle der Rationalisierung. Vielleicht sollte man die Verdrängung gar nicht als eigene Abwehrform betrachten, sondern als Bezeichnung für das allgemeine Schicksal des Abgewehrten: nämlich unbewusst zu werden.

Zahlreiche Autoren haben versucht, die Liste der Abwehrmechanismen zu erweitern und auszudifferenzieren. Bibring et al.14 zählen 45 mehr oder weniger komplexe Abwehrformen, Laughlin15 kam auf 22 „major“ und 26 „minor“ Abwehrmechanismen, und Vaillant16 schlug aufgrund seiner empirischen Langzeitstudie eine Liste mit 18 Mechanismen vor. Andere, empirische Forschungsarbeiten17 operierten mit Fragebögen der Selbst- oder auch Fremdbeurteilung und suchten die Antworten faktorenanalytisch zu gruppieren. Mehrfach ergaben sich so etwa fünf Gruppen von Abwehrmechanismen oder -stilen, unter denen sich regelmäßig die Projektion, die Wendung gegen die eigene Person und die Regression befanden.

Von Anfang an lag es nahe, die Vielfalt der Abwehrformen klinischen Bildern zuzuordnen und dadurch zu kategorisieren – genau genommen war aber die Reihenfolge umgekehrt: Zu den Charakteristika der klinischen Bilder gehörten auch die „typischen“ Abwehrformen. Schon Freuds Verknüpfung bestimmter Krankheitsbilder mit den dafür typischen Abwehrmechanismen stellte einen solchen Versuch dar, der auch bis heute seine Gültigkeit behalten hat. Ehlers und Czogalik unterschieden18 in einer empirischen Arbeit die Abwehrstile von depressiven, zwanghaften und hysterischen Charakteren, und Ehlers wies 1993 in seinen klinischen Studien nach, dass depressive im Vergleich zu hysterischen Charakteren signifikant stärker zur Wendung gegen die eigene Person neigen, während Zwanghafte deutlich häufiger solche Abwehrformen entwickelt haben, mit denen sie eigene Triebimpulse unbewusst machen, wie z. B. durch das Ungeschehenmachen und die Reaktionsbildung.

Man sollte vielleicht gar nicht erst den Versuch unternehmen, eine abschließende Liste aller möglichen Abwehrformen zu suchen. Dabei würde sich jedenfalls zeigen, dass es sich hierbei um eine sehr heterogene Gruppe handelte, deren theoretische Grundlegung, wie auch schon Hoffmann19 in seiner sehr gründlichen Untersuchung fand, dringend einer Revision bedürfte.

Abwehr auf der Zeitachse

Anna Freud20 wies mit Nachdruck darauf hin, dass Abwehrmechanismen an sich kein pathologisches Merkmal seien, sondern durchaus auch bei gesunden Personen vorkämen. Außerdem ordnete sie die Abwehrmechanismen auf einer Zeitachse der Entwicklungsstufen an und beschrieb, unter welchen Voraussetzungen eine Abwehrform überhaupt möglich ist. Mit ihr und aufgrund des Beitrages von Ehlers21 können wir unterscheiden:

Diese Anordnung entlang einer Zeitachse erfuhr eine Ausdifferenzierung insbesondere im Hinblick auf die frühe Entwicklung. Strittig ist seither die Frage, ob Abwehrmechanismen ein funktionsfähiges Ich und die Entwicklung einer symbolisch-repräsentativen Innenwelt des Kleinkindes voraussetzen oder ob schon der Säugling in der frühesten Entwicklungsphase Abwehrmaßnahmen einsetzt, um z. B. Enttäuschungen über eine unempathische Mutter zu verarbeiten, wie z. B. Lichtenberg22 meint. Man sollte in diesen Fällen aber von neurophysiologisch gesteuerten Vorläufern der Abwehrmechanismen sprechen, auch wenn deren Ergebnisse wie z. B. die „Verleugnung“ von Angstzuständen oder eine Wut in Begriffen der symbolisierten Welt gefasst werden.

Auch der Abwehrmechanismus der Projektion setzt voraus, dass das Kind begonnen hat, Selbst- und Objektrepräsentanzen zu differenzieren. Wenn man allerdings wie Melanie Klein die Auffassung vertritt, dass Säuglinge schon von Anfang an über ein funktionsfähiges Ich verfügen, lassen sich z. B. auch projektive Identifikationen beschreiben, wie sie für die paranoid-schizoide Entwicklungsstufe typisch sein sollen. Empirische Belege für diese Auffassung beizubringen dürfte schwierig sein, aber in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und Psychosen haben sie sich offenkundig bewährt, wie z. B. Kernberg23 glaubt.

Wir sollten uns aber davor hüten, den Begriff der Abwehr allzu weit auszudehnen und jede Form der Bewältigung innerer, belastender Situationen einzubeziehen. Zur Seite der bewussten Bewältigungsformen hin gibt es doch eine hinreichend gut erkennbare Grenze zu den Coping-Mechanismen, denen allesamt das entscheidende Merkmal der Abwehrmechanismen fehlt: Dass Bewusstes unbewusst gemacht oder gehalten werden soll. Auch wenn diese Grenze fließend sein mag und Abwehr- und Coping-Mechanismen eine Reihe von Gemeinsamkeiten erkennen lassen24, hat sich die Trennung von Abwehr und Coping durchaus bewährt25.

Zur Seite der frühen oder Vorformen der Abwehrmechanismen hin sollte, so möchte ich vorschlagen, ebenfalls eine Grenze gezogen werden. Es empfiehlt sich doch, ein funktionsfähiges Ich als den Organisator der Abwehr vorauszusetzen und all die Formen der sehr frühen, auch neurophysiologisch gesteuerten Bewältigung belastender Lebensereignisse nicht auch unter den Abwehrbegriff zu fassen. Denn bei diesen geht es ja nicht um den Ausschluss eines Erlebnisses aus der symbolisch repräsentierten Welt, sondern um Affektregulierung und um den Aufbau eines episodischen (oder autobiografischen) Gedächtnisses, in das die sensomotorisch-affektiven, also körperlichen („embodied“) Erfahrungen eingehen.

Sollte der Abwehrbegriff all diese frühen Bewältigungsformen einschließen, dann müsste man auch auf Freuds Auffassung über die frühe Ich-Entwicklung zurückgreifen. Wie er 1923 schrieb, ist der „Charakter des Ich ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen“26. Es handele sich, schrieb Freud, um sehr frühe Identifizierungen, die denen im Falle einer Melancholie ähnlich sind: Ein „aufgegebenes“ Objekt wird im Ich „errichtet“, das ist zweifellos eine Form der Bewältigung und vielleicht auch der Selbsttröstung. Weitet man diesen Gedanken aus, kommt man rasch zu der Hypothese, dass überhaupt erst die Verlusterfahrung das Subjekt zur Symbolisierung zwingt: Nicht die Erfahrung „Da ist Milch!“ ermöglicht dann die symbolische Repräsentation der mütterlichen Brust, sondern erst die bittere Enttäuschung „Da ist keine Milch!“ erzwingt die Symbolisierung. Hier erscheint die pessimistische Vorstellung der Freud’schen Psychoanalyse, dass es vor allem der Mangel ist, der menschliche Entwicklung vorantreibt – nicht die Befriedigung. Steht also am Anfang des menschlichen Lebens wirklich die „primäre Liebe“ oder nicht doch die „primär traumatisierende Welterfahrung“, wie Frommer und Tress (1998) argwöhnen?