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Table of Contents

Über dieses Buch

[Titelei]

[Frontispiz]

Flucht

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Impressum

Über dieses Buch

»Ein Hauch von Wahnsinn umgab sie. Ihre weitgeöffneten Augen glänzten. Ihre vernachlässigte Kleidung, die Flecken auf ihrem Rock, der Staub auf den Schuhen und ihre müden Gesichtszüge – all das vermochte ihre kindliche Frische und Unbekümmertheit gleichwohl nicht zu verbergen. Wenn sie sich auch als munteres Dämchen gab, so lag in ihrem glühenden Blick etwas Reines und Ungezähmtes …«

»Flucht« erschien im Oktober 1928 in einer Auflage von nur 300 Exemplaren, mit einer Originallithographie von Alexander Alexejew als Frontispiz. In seinem Vorwort zur Neuausgabe 1984 schrieb Raymound Cousse: »Die jugendliche Heldin ist von zu Hause ausgerissen. Mehrere Leute begeben sich auf die Suche. Zum einen sieht man die Erwachsenen, ihr Verhalten und ihre widerlichen Motive; zum anderen sind da die Arglosigkeit des Mädchens, seine Selbstsuche und erfundenen Geschichten, die so entwaffnend sind. Ein Kampf zwischen Plumpheit und Anmut.«

»Es sind immer die scheinbar unbedeutenden Ereignisse, die die Katastrophen auslösen.« (Emmanuel Bove)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Der Übersetzer

Martin Hennig, geboren 1951 in Basel, war Drehbuchautor, Regisseur und arbeitete als Dramaturg für verschiedene Fernsehsender. Er lebt heute als freier Autor und Dramaturg für Film und Theater in Zürich.

Zuletzt erschienene literarische Veröffentlichungen: »Teufel, Mestre und Madonna« (Novelle, 2016) und »Logans Party« (Roman, 2012), beide im Spiegelberg Verlag, Zürich.

Flucht

Erzählung

Aus dem Französischen
von Martin Hennig

Edition diá

 

Im Wartezimmer des Advokaten Agostini war die ursprüngliche Ordnung im Laufe der Jahre einer gewissen Nachlässigkeit gewichen. Die Zeitschriften auf der Konsole stammten noch aus der Zeit des Waffenstillstands von 1918. Kleine Geschütze aus Bronze, die der Advokat aus seiner Wohnung verbannt hatte, zierten den Kamin. Auf dem Sims lag eine dichte Staubschicht. Im Winter brannte inmitten dieses verblichenen Prunks nur ein lächerlicher Gasofen. Alles schien feucht zu sein. Man hätte sich in eins jener Häuschen versetzt fühlen können, die, etwas verloren am Rand eines Grundstücks gelegen, als Liebesnest dienen. Durch dieses triste Vorzimmer waren schon die verschiedensten menschlichen Schicksale gezogen. Den Advokaten Agostini ließen sie längst gleichgültig. Berufe, die viel Abwechslung mit sich bringen, ermüden oft jene, die sie ausüben, über die Maßen. Ärzte, Gefängniswärter oder Richter lassen sich nur für kurze Zeit von den Leiden der Menschheit bewegen. Und so war auch Agostini zu Anfang wie die meisten seiner Kollegen vom Glauben an seinen Beruf beseelt gewesen. Er hatte in einem höheren Auftrag zu handeln geglaubt. Demjenigen zu helfen, der gestrauchelt war, das war ihm als eins der vornehmsten Ziele erschienen. Bereits als Gymnasiast, verwöhnt im Schoß einer wohlhabenden Familie lebend, sah er sich das Gericht maßregeln.

»Dieser Mann«, schrie er im Bett, kurz bevor ihm die Augen zufielen, »ist nicht verantwortlich für das Verbrechen, dessen man ihn anklagt!« Er ging dann zurück bis zum Anbeginn der Welt. »Die ersten menschlichen Wesen stellten Waffen aus Feuerstein her. Stets auf der Hut, mussten sie kämpfen, um Frau und Kinder zu verteidigen. Wenn auf uns eine solche Erbschaft lastet, wie können Sie, meine Herren Richter, in Ihrem Herzen so ohne tiefes Mitleid sein?« Statt auf den Fakten herumzureiten, wollte er die Verhandlung auf höherer Ebene führen und der Justiz selbst den Prozess machen. Er konstruierte aussichtslose Rechtsfälle, erzählte von Mordtaten, die sorgfältig geplant und mit empörendem Zynismus ausgeführt worden waren – einzig aus Lust an glänzenden Plädoyers. Beglückt vom erzielten Freispruch, schlief er endlich ein.

Doch mit der Zeit war die Flamme der Begeisterung erloschen. Die Mahnungen des Gerichtspräsidenten, realistisch zu bleiben, die Ironie der eifersüchtigen Kollegen, die Zwischenrufe des feindseligen Publikums in Augenblicken, da er zu ihm sprach, und schließlich das Misstrauen und die Verschlagenheit gerade der Angeklagten, an deren Schicksal er teilhaben wollte, dämpften nach und nach seinen Eifer. Jetzt fanden sich weder unter den Klienten, die ihn aufsuchten, noch unter den Gefangenen, mit denen er sich in den Besuchszimmern der Gefängnisse traf, Gestalten von Format. Ihm schienen die Verbrecher und Gestrauchelten alle gleich. Wie es für die einzelnen Blumen Familien gibt, so kennt die Justiz ein Ordnungsprinzip, das die Unendlichkeit der strafbaren Handlungen zu klassifizieren weiß. Bewegt sich ein Fall zwischen zwei möglichen Schablonen, hängt es von der augenblicklichen Gemütsregung ab, welcher er zugeordnet wird. Die Notwendigkeit zur Vereinfachung, Überdruss und Einförmigkeit vergröbern diese Unterteilungen zusätzlich, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass schließlich jeder Gefängnisinsasse entweder ein Dieb oder ein Mörder ist. So weit war es mit dem Advokaten Agostini gekommen. Es war ihm nicht gelungen, der Routine oder der déformation professionelle Widerstand entgegenzusetzen. Der Justizpalast war für ihn zu einer Welt wie jede andere geworden, mit dem einzigen Unterschied, dass man sich in ihr förmlicher, vorsichtiger und aufmerksamer bewegen musste.

An einem Julimorgen verlangte ein junges Mädchen Agostini zu sprechen. Sie schien um die zwanzig zu sein, war ziemlich hübsch und elegant gekleidet. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine tiefe Unruhe. Trotz der wiederholten Bitte des Dienstmädchens setzte sie sich nicht. Allein gelassen lief sie im Wartezimmer hastig hin und her und hustete. Ihre Nervosität war offenkundig. Nicht einen Blick warf sie auf die Einrichtung. Sie benahm sich in dem Zimmer, als habe man sie mit verbundenen Augen hereingeführt. Gelegentlich hielt sie inne vor dem großen Spiegel über dem Kamin. Man konnte sich darin schlecht sehen, denn der Spiegel lag im Dunkeln. Jedes Mal, wenn sie davorstand, versuchte sie eine neue Pose. Trotz ihrer Aufregung nahm sie sich offensichtlich vor, Agostini zu gefallen. In jeder Frau, die darauf wartet, irgendwo vorgestellt oder eingeführt zu werden, erwacht die Eitelkeit aufs Neue. Das ist ein Augenblick, den sie bereits aus ihrer Vorstellung kennt, jener Augenblick, da eine schwere Tür sich öffnet und ein Mann erscheint, von dem vieles abhängt, der zur Seite tritt und nur sagt: »Darf ich Sie bitten einzutreten, Madame …«

Auf einmal öffnete sich besagte Tür. Das Mädchen stellte fest, dass es sich um eine Doppeltür handelte; erst dann bemerkte sie den Advokaten, einen etwa vierzigjährigen Mann mit gelblicher Gesichtsfarbe und kurzgeschnittenem schwarzen Schnurrbart. An seiner Weste baumelte ein Monokel. In seinem schwarzen Haar zeigten sich helle Flecken beginnender Kahlheit. Er verneigte sich leicht und warf einen Blick über den Raum, in dem sich zu seinem großen Bedauern nur die eine Besucherin befand. Wortlos hielt er mit gestrecktem Arm den einen Türflügel auf – denn die Schließvorrichtung der Tür ging schwer –, während er mit dem linken Fuß den andern Türflügel zurückhielt, bis das Mädchen bei ihm angelangt war.

Gewöhnlich empfing er die Klienten mit den Worten: »Wollen Sie so gut sein und mir folgen.« Heute aber, nach dem Kampf mit der Tür, schwieg er.

Nachdem die Unbekannte das Büro betreten hatte, stand sie reglos da. Sie sah bleich aus. Obwohl sie die Lippen laufend netzte, waren sie mit Runzeln überzogen. Maître Agostini bot ihr einen Sessel an. Wie ein Theaterdirektor stellte er sich hinter den Sessel, reckte sich über die Lehne und kehrte erst an sein Pult zurück, nachdem die Besucherin sich gesetzt hatte.

– Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs, Mademoiselle?, fragte er in ernstem Ton.

Die Nähe zu Laster und Ruchlosigkeit, wie Juristen sie erleben, hat auf sie ebenso wenig Einfluss wie auf Mediziner die dauernde Berührung mit körperlichen Gebrechen und dem Tod. Nur weil ihr Beruf sie in die Nachbarschaft von menschlichem Elend rückt, können sie gleichwohl Konvention und Würde nicht über Bord werfen. Sie sind eben auch nur Menschen. Wenn es auch Zufall war, persönliche Neigung oder der Wunsch der Familie, der ihnen die berufliche Richtung wies, so darf man doch ihr Sendungsbewusstsein nicht vergessen.

Das Mädchen gab keine Antwort. Die Worte des Advokaten berührten sie peinlich. Sie war gekommen, um Schutz und Geborgenheit zu finden, und traf stattdessen auf einen Mann, der sich selbstgefällig, förmlich, ja allwissend benahm, noch bevor er sich nach dem Grund ihres Besuchs erkundigt hatte.