Stefanie Taschinski

Die kleine Dame und der rote Prinz

Stefanie Taschinski

Die kleine Dame und der rote Prinz

Mit Bildern von Nina Dulleck

Für meine Eltern

Erika und Curt Taschinski

Wie ein Blitz

Es war ein trüber Mittwochnachmittag. Durch die Straßen blies ein nasskalter Wind und die goldene Brezel, die über dem Eingang des Brezelhauses hing, glänzte kein bisschen. Lilly zog ihre Mütze tief über die Ohren und schlüpfte aus dem Haus. War das ungemütlich! Wie hielt es die kleine Dame bei diesem Wetter nur in ihrem Zelt aus? Lilly wollte eben in den Torweg laufen, da hörte sie das Geräusch: risch-risch, risch-risch. Vorsichtig linste sie um die Ecke. Vor den Mülltonnen stand Herr Leberwurst, der Hausmeister, und fegte ein Häuflein zerrissener Mülltüten zusammen.

»Diebe!«, grunzte er. »Räuber!«

Was für Räuber?

In diesem Moment raschelte es hinter den Mülltonnen. Lilly konnte nicht sehen, was es war, aber Herr Leberwurst packte seinen Besen fester und stieß in die dunkle Nische hinein. Mit einem wilden Fauchen schoss etwas Rotes hervor, sprang durch die Stäbe des Tores und flüchtete in den Hinterhof. Nur für eine Sekunde blitzte ein buschiger roter Schwanz auf, dann war das Tier verschwunden.

Der Hausmeister fluchte. »Na warte! Du entkommst mir nicht!« Wütend machte er auf dem Absatz kehrt und fegte zwei links, zwei rechts auf Lilly zu! Sie konnte gerade noch ihre Nasenspitze zurückziehen und sich flach gegen die Hauswand pressen – da schlurfte die Leberwurst auch schon an ihr vorbei.

Er war so mit dem Räuber beschäftigt, dass er Lilly glatt übersah.

Mit pochendem Herzen rannte Lilly durch den Torweg in den Hinterhof. Was war das nur für ein Tier gewesen? Für einen Hund war es zu klein. Und gebellt hatte es auch nicht. Lilly war sich fast sicher, dass es eine Katze sein musste. Vielleicht hatte die Ärmste kein Zuhause mehr und suchte sich ihr Fressen nun im Müll. Lilly lief auf die Hecke zu. Im vorderen Teil des Hofs hatte sich eine große Pfütze gebildet. Die Bäume reckten ihre nackten Zweige in den grauen Himmel. Keine schöne Zeit, um hier draußen herumzustreunen. Wenn sich die Katze ihr Versteck doch nur auf der geheimen Seite des Hinterhofs suchen würde! Dort wäre sie vor Leberwurst sicher.

Während Lilly zwischen den Zweigen der Hecke abtauchte, wartete die kleine Dame in ihrem Zelt.

»Wo sie nur bleibt?«, fragte sie und legte ihren Stift zur Seite. Chaka, der es sich neben dem Ofen gemütlich gemacht hatte, öffnete ein Auge.

»Ob sie noch Schlauarbeiten macht?«, überlegte die kleine Dame und sah wieder auf die Zeichnung, die vor ihr auf dem Tisch lag. Es war der Bauplan für ein feines, dreistöckiges Vogelhäuschen, das sie gemeinsam mit Lilly bauen wollte.

Die kleine Dame ging an das runde Zeltfenster. Aber von Lilly war nicht die allerkleinste Spur zu sehen.

»Seltwürdig, seltwürdig.« Die kleine Dame drehte sich wieder zu Chaka, der still und leise das blaue Blümchenmuster des Ohrensessels angenommen hatte.

»Es juckt in meiner großen Zehe!«, sagte sie und setzte ihren Tropenhelm auf. »Du weißt, was das bedeutet. Ich glaube, wir sollten einmal nach ihr schauen!«

Widerstrebend gab Chaka sein warmes Plätzchen auf und huschte den Sessel herunter. Die kleine Dame pustete das Licht in der silbernen Laterne aus, die auf ihrem Tisch stand, und öffnete den Zelteingang.

Genau in diesem Augenblick kletterte Lilly aus der Hecke und schüttelte sich. »Iiiieh! Alles nass!« Sie wischte sich die Hände an der Hose ab.

»Huhu, Lilly!«, rief die kleine Dame.

Lilly schob die Zweige der Weide auseinander und lief zum Zelt hinüber. »Hallo, kleine Dame! Hallo, Chaka!«

Die kleine Dame hielt den Eingang auf und Lilly trat ein. Hier war es wunderbar warm. Denn in den vergangenen Wochen hatte die kleine Dame ihr Zelt winterfest gemacht: Sie hatte den Boden mit Holz ausgelegt und in der Mitte des Zelts bullerte ein kleiner Ofen.

»Ich dachte schon, Herr Leberwurst hätte dich mit seinem Besen beiseitegefegt«, sagte die kleine Dame.

»Nee, mich nicht.« Lilly zog ihre Jacke aus. »Aber die rote Katze.«

Die kleine Dame sah sie überrascht an.

»Felidae rubicundus? In unserem Hof?«

»Feli-was?«, wiederholte Lilly.

»Wie rot war die Katze denn?«, fragte die kleine Dame neugierig. »Feuerrot? Klatschmohnrot? Oder eher wie Tomatenketchup?«

Lilly versuchte sich zu erinnern. Sie hatte das Tier ja nur für ein paar Sekunden gesehen.

»Ich weiß nicht genau«, sagte sie. »Ein bisschen wie … ein Blumentopf. So einer aus Ton.«

»Ah, Terrapotta«, nickte die kleine Dame mit Kenner miene.

»Und sie war ziemlich schmutzig«, erzählte Lilly weiter. »Aber sie hat sich ja auch hinter den Mülltonnen versteckt.«

»Ach?«, machte die kleine Dame und betrachtete den Bauplan des Futterhäuschens.

»Vermutlich ist die Katze ja nur auf der Durchreise«, überlegte sie und fügte dem Plan ein paar Linien hinzu. Lilly schaute ihr über die Schulter. Die kleine Dame verlängerte die Hölzer, auf denen das Häuschen stand, um das Doppelte. »So ist es besser. Wir wollen ja ein Futterhäuschen für die Vögel bauen und keinen Katzenimbiss.«

Während die kleine Dame und Lilly den ganzen Nachmittag vergnügt an dem Vogelhäuschen zimmerten, kauerte gar nicht weit von ihnen entfernt ein rotes Tier und lauschte mit gespitzten Ohren dem Sägen und Klopfen.