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Christian Jakob
DIE BLEIBENDEN

Christian Jakob

DIE
BLEIBENDEN

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Wie Flüchtlinge
Deutschland seit
20 Jahren verändern

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der Regel auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten, sofern sie sich nicht auf eine konkrete Person beziehen, gleichwohl für beide Geschlechter.

2. Auflage als E-Book, Juli 2016
entspricht der 2., aktualisierten Druckauflage vom Juli 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover und S. 3: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag,
unter Verwendung mehrerer Grafiken von Thinkstock
Karten: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-86284-322-0

Inhalt

Vorwort:
Von Hoyerswerda zu den »Trains of Hope«

Der lange Aufstand:
Die Flüchtlingsbewegung von 1994 bis 2011

»Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.«

Osaren Igbinoba und die Organisierung der Flüchtlinge

Die Schmach des Diktators

Leonard Attoh blockiert den Deutschlandbesuch von Togos Machthaber.

Wie ein Strich durchs Leben

Meryem Kaymaz’ Jugend als Geduldete

80 Mark für die Freiheit

Sunny Omwenyeke geht ins Gefängnis, weil er sich der Residenzpflicht nicht beugt.

Kein Ohr für die Roma

Dzoni Sichelschmidt muss die Untiefen der Parteipolitik kennenlernen.

Die Wahrheit des Auswärtigen Amtes

Ali Safianou Touré und die Berichte der deutschen Diplomaten

Der Weg der Frauen

Die geflüchteten Frauen können sich nur selbst helfen, sagt Elizabeth Ngari.

Der Unabschiebbare

Akubuo Chukwudis später Sieg über die Asylgesetze

Ehrung eines Ausgegrenzten

Salomon Wantchoucou wird vom Staat ausgezeichnet. Bleiberecht bekommt er nicht.

Ilhams letzte Wochen

Wie das erzwungene Nichtstun eine armenische Familie zerstört.

Tod in der Polizeizelle

Mouctar Bah will wissen, warum sein Freund Oury Jalloh verbrannte.

Zwischen den Welten

Riadh Ben Ammar schmiedet ein Bündnis gegen das Sterben auf dem Mittelmeer.

Was aus den Porträtierten wurde

Der Durchbruch:
Die Flüchtlingsbewegung von 2012 bis heute

»We will rise«: Plötzlich in der Tagesschau

Die Eskalation: Mit Durststreiks gegen die CSU

Ende eines Zyklus: Der Protest verflüchtigt sich

Anfang und Ende der Flüchtlingsrepublik

Die Akteure

Die deutsche Linke

Die Aktivistinnen und Aktivisten

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Die Gerichte

Die Polizei

Die Heimindustrie

Die »besorgten Bürger«

Nicht wieder!
Wie Deutschland und Europa die Fehler der Vergangenheit vermeiden können

Deutschland

Europa

Schluss: Was sich nicht rückgängig machen lässt

Anhang

Anmerkungen

Lektüreempfehlungen

Glossar

Chronik des Asylrechts

Karten

Dank

Über den Autor

Vorwort:
Von Hoyerswerda zu den »Trains of Hope«

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Je öfter eine Geschichte weitererzählt werden soll, desto schöner muss sie sein, vor allem am Ende. Die Geschichte von Deutschland und den Flüchtlingen, die sich im letzten Jahr auf der ganzen Welt erzählt wurde, geht so: Ein Land, dem es besser geht als allen anderen, hat lange nur an sich gedacht. Ans Sparen und an Disziplin. Es ist erfolgreich, aber egoistisch und hart. Doch als das Elend der Welt immer größer wird und alle anderen sich abwenden von den Sterbenden und Leidenden, da entdeckt dieses Land sein Herz. Vielleicht ist auch etwas Eigennutz im Spiel, vor allem aber Verantwortungsgefühl und Vertrauen in die eigene Kraft, die es so groß gemacht hat. Es nimmt die Verfolgten auf, zu Hunderttausenden. Die Menschen in den »Trains of Hope« werden beklatscht und begrüßt, mit Brezeln und Schokolade und schwarz-rot-goldenen Fähnchen. Die Frau, die Deutschland mit nur einem Satz in diesen offenen Ort voll Zuversicht und Großmut verwandelt hat, heißt Angela Merkel. Die Welt liebt sie dafür, von China bis nach Argentinien. Sie soll den Friedensnobelpreis bekommen und wird zur »Frau des Jahres«. Der amerikanische Präsident feiert sie, und die Menschen, auf die der Diktator Assad seine Fassbomben wirft, halten ihr Foto hoch, als Zeichen der Hoffnung.

Diese Geschichte ist ein Märchen.

Kein Märchen ist, dass sich die Art und Weise verändert hat, wie dieses Land mit Migranten und Flüchtlingen umgeht. Es hat sich modernisiert. Diese Transformation hat ökonomische Ursachen, aber sie ist vor allem auch das Werk der Migranten und Flüchtlinge selbst. Sie haben nicht akzeptiert, dass Deutschland kein Einwanderungsland sein wollte und dass es auch keine Flüchtlinge wollte. Sie haben dieses Dogma herausgefordert, den Zugang zu Deutschland freigekämpft und dabei die Gesellschaft verändert. Diese Geschichte handelt von selbstbestimmter Migration und Ungehorsam, von Abschottung und von Auflehnung, von Kontaktaufnahme mit der Mehrheitsgesellschaft und von Konfrontation mit dem Staat. Sie wird in diesem Buch erzählt.

Oktober 2014. Die Katastrophe von Lampedusa – etwa 390 Flüchtlinge waren am 3. Oktober 2013 vor der Insel ertrunken – war genau ein Jahr her. Ein Artikel reichte da nicht, fand die Redaktion. Ein Dossier sollte es sein, eine kleine Sonderausgabe. Als alle Texte da sind, sitze ich mit einer Kollegin bei der taz zusammen, wir sollen das Vorwort schreiben. Die Lage ist unübersichtlich: Es gibt immer mehr Tote im Mittelmeer, in der Region herrscht Chaos, die EU ist deshalb zerstritten. Die Umfragewerte der rechten »Alternative für Deutschland« (AfD) steigen, auch in anderen EU-Staaten sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Die Innenminister in Deutschland und der EU machen ständig neue Vorschläge, um Flüchtlinge aufzuhalten, und es gibt Flüchtlingsproteste, überall. Zu viel für 65 Zeilen. Was ist das Wichtigste über diese Zeit?

»Wir müssen schreiben, dass die Stimmung besser ist als in den 1990er Jahren, obwohl fast wieder so viele Flüchtlinge kommen«, sage ich.

Meine Kollegin ist skeptisch. »Damals waren es 400 000, jetzt sind es gerade mal die Hälfte«, sagt sie. »Was glaubst du, was passiert, wenn es wieder 400 000 werden? Dann ist hier die Hölle los.«

Ich war sicher, dass sie recht hatte.

Ein Jahr später kommen eine Million Flüchtlinge.

Unbekannte schießen auf Flüchtling oder ihre Heime, im April in Leipzig1 und Hofheim2, im Juli in Böhlen3, im Oktober in Merseburg4, im November in Berlin5, dazu kommen 126 Brandanschläge6. 2015 zählt das Bundeskriminalamt 1005 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte7, mehr als je zuvor. Es ist ein Wunder, dass niemand stirbt. Pegida (»Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«) ist die größte fremdenfeindliche Mobilisierung in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die AfD wird radikaler, völkischer und stärker. Im asylpolitischen Rollback setzt die CSU unter anderem neue Lager für Schnellverfahren durch und schränkt das Recht ein, Angehörige nachzuholen. Sie feiert sich deshalb für das »schärfste Asylrecht aller Zeiten«8 und ist dabei mit ihren sogenannten Reformen noch längst nicht am Ende. Flüchtlinge müssen tagelang völlig unversorgt vor Aufnahmeeinrichtungen warten, Kommunen bringen viele Asylsuchende auch im Winter nur in Zelten unter.

Und trotzdem ist alles anders als in den 1990er Jahren. Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Mölln fanden unter entgegengesetzten Vorzeichen statt wie Tröglitz, Heidenau und Freital. Die früheren Pogrome und Brandanschläge waren der radikalste Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Die Bevölkerung und die Politik waren der Meinung, dies durchsetzen zu können. Diesen Konsens gibt es nicht mehr. Der rechte Terror im Jahr 2015 spielt sich in einem Land ab, das Migration und die Migranten letztlich akzeptiert hat. Einen echten Einwanderungsstopp will auch die CDU nicht mehr, das Einwanderungsgesetz, gegen das sie sich so lange gesperrt hat, soll kommen. Die Medien sind auf Promigrationslinie, Flüchtlingssolidarität ist eine breite soziale Bewegung.

1992 töten Neonazis in Deutschland 34 Menschen9, unter anderem bei einem Brandanschlag auf das Haus von zwei türkischen Familien in Mölln. Bundesinnenminister Manfred Kanther und Kanzler Helmut Kohl (beide CDU) nehmen an keiner einzigen Trauerfeier für diese Toten teil. Auf eine Nachfrage erklärt Kohls Sprecher, die Regierung wolle »nicht in einen Beileidstourismus ausfallen«.10 2012 veranstaltet die CDU-Kanzlerin Angela Merkel für die Opfer des »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) einen Staatsakt. Als am Karsamstag 2015 im sachsen-anhaltinischen Tröglitz ein noch unbewohntes Flüchtlingsheim angezündet wird, steht acht Stunden später der CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff mit einem Megafon auf dem Dorfplatz. Im August 2015 greifen Hunderte Nazis zwei Nächte lang ein Flüchtlingsheim in Heidenau an. Danach fährt Merkel in die sächsische Kleinstadt. Sie wird als »Volksverräterin« beschimpft, aber sie besucht das Heim.

1991 titelt der Spiegel: »Ansturm der Armen« und zeigt eine schwarzrot-goldene, von Menschenmassen überschwemmte Arche. Die Bild-Zeitung macht am 2. April 1992 auf mit der Zeile: »Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?« Drei Tage später stimmen 10,9 Prozent der baden-württembergischen Wähler für die Republikaner. Die Partei hatte den Slogan »Das Boot ist voll« und das Bild einer vollen Arche auf ihre Plakate gedruckt.

2015 hat die Bild an der Pegida-Bewegung kein gutes Haar gelassen, ebenso wenig wie fast alle anderen Medien. Als die Bundesregierung im Sommer 2015 verkündet, dass sie mit 800 000 Asylanträgen im laufenden Jahr rechnet – fast doppelt so viele wie im bisherigen Rekordjahr 1992 –, »entlarvt« die Bild »die sieben größten Lügen über Asylbewerber«. Sie weist darauf hin, dass diese niemandem einen Job wegnehmen, nicht besonders häufig kriminell seien und Deutschland sich »diese Art der Zuwanderung nicht nur finanziell leisten kann, wir brauchen sie sogar!«.11 Einen Tag später heißt die Bild-Titelschlagzeile: »Flüchtlingen helfen! Was ich jetzt tun kann«, ihr Chefredakteur ersetzt sein eigenes Twitter-Profilbild mit einem »Refugees Welcome!«-Logo. Viele wundern sich über den Sinneswandel. Doch nicht die Zeitung hatte sich geändert. Geändert hatte sich die Gesellschaft, die Bild hatte die Stimmung bloß erspürt und gespiegelt, wie es ihr Geschäft ist.

Nach dem Pogrom von Hoyerswerda darf die damals bei Nazis hochbeliebte Rechtsrock-Band »Störkraft« (»Blut und Ehre«) zu dritt bei der wichtigsten Sat1-Polit-Talkshow, »Einspruch«, auftreten und erklären, dass »nur deutsch sein kann, wer deutschstämmig ist«. 2015 wird die Facebook-Seite des Senders Sat1 von Rechten attackiert, nachdem dessen Morgenprogramm einen Song »für alle Kinder, die in unser Land kommen«, aufnehmen lässt.

Im April 2000 schlägt die damalige grüne EU-Abgeordnete Ilka Schröder vor, die Schleuser an der EU-Ostgrenze zu subventionieren. Deren Dienstleistungen seien für Flüchtlinge die einzige Möglichkeit, nach Europa zu kommen, schrieb Schröder. Doch die »Gebühren sind für Flüchtlinge oftmals zu hoch«.12 Der Grünen-Bundesvorstand lässt erklären, die damals 23-Jährige sei ein »Kind, das nichts von praktischer Politik versteht«13, ein Schiedsgericht berät über einen Parteiausschluss, Schröder verlässt die Grünen.

Im August 2015 ruft die Aktionskünstlergruppe »Peng Kollektiv« mit einem Werbeclip Urlauber dazu auf, auf der Rückreise vom Mittelmeer Flüchtlinge im Auto mitzunehmen. »Unterstütze Menschen auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft!«14, fordern die Aktivisten – juristisch gesehen ist das Beihilfe zur illegalen Einreise. Spiegel Online postet das Werbevideo zu der Aktion auf seiner Seite; die Zeit lässt einen Strafrechtsprofessor erklären, wie Touristen, die einen Flüchtling mitnehmen, Strafen vermeiden, und selbst der Bayerische Rundfunk erinnert daran, dass die Fluchthelfer an der DDR-Grenze schließlich auch »im Nachhinein für ihren Mut geehrt«15 wurden. Kurz darauf veranstalten die kommunalen Münchner Kammerspiele einen »Schlepper- und Schleuserkongress« zur »Image-Aufwertung« und »Neubewertung der Dienstleistungen Schleppen und Schleusen«.16 Der Versuch der rechten Zeitung Junge Freiheit, die öffentliche Förderung dieser durchaus ernstgemeinten Kunstaktion zu skandalisieren, floppt.

1996 verteilt der Bundesgrenzschutz (BGS) an der deutschen Ostgrenze Flugblätter an Taxifahrer, damit diese keine Flüchtlinge befördern. »Das in Deutschland bestehende Asylrecht für politisch Verfolgte wird durch illegal eingereiste Personen, die aus rein wirtschaftlichen oder sonstigen – einschließlich krimineller Absichten – Gründen einreisen, missbraucht«17, schreibt der BGS. 2015 stellt der Bund Deutscher Kriminalbeamter fest, es gebe »überhaupt keine legale Möglichkeit für Flüchtlinge nach Deutschland einzureisen und ihr Recht auf Asyl in Anspruch zu nehmen«. Es sei »höchste Zeit, die fortgesetzte Kriminalisierung von Flüchtlingen zu beenden«. Die derzeitige Rechtspraxis sei »schizophren« und sie diskriminiere die Betroffenen. »Auf der einen Seite wollen wir Menschen in Deutschland vor Krieg und Verfolgung schützen, auf der anderen Seite machen wir sie zugleich zu Straftätern.«18 Antirassistische Gruppen in der linken Szene sind fassungslos: Exakt das Gleiche hatten sie seit Jahren gesagt. Die Formulierungen glichen sich aufs Wort.

In den letzten zwei Jahren habe ich an über einem Dutzend Podiumsdiskussionen zum Thema Asyl teilgenommen. Fast jedes Mal mussten sich die Moderatoren zu Beginn für das einseitig besetzte Podium entschuldigen. Nie war es den Veranstaltern gelungen, konservative Politiker, die Flüchtlingsrechte einschränken wollen, als Diskutanten zu gewinnen, obwohl es die natürlich gibt. War ich selbst der Moderator und stellte Flüchtlingen kritische Fragen, etwa wegen widersprüchlicher Forderungen, gab es meist hörbaren Unmut im Publikum. Einmal stellten sich nach einer Veranstaltung zwei Mitarbeiter einer Unternehmensberatung vor. Sie wollten mich als »Experten« für eine Studie gewinnen, um für einen großen Wirtschaftsverband »wirksame« Flüchtlingsinitiativen zu finden. Ihre Auftraggeber suchten nach Spendenempfängern in dem Bereich.

Noch vor einigen Jahren hatten die Flüchtlingsräte Mühe, die Öffentlichkeit auch nur für die allerhärtesten Abschiebeschicksale zu interessieren. Ihr Verhältnis zu Journalisten war das von Bittstellern. Heute werden Flüchtlingsinitiativen mit so vielen Anfragen von Festivals, Theatern, Kunstprojekten, Filmschaffenden, Autorinnen, Fotografen, Publizisten, Journalisten, Akademien, Schulen, Unternehmen, Studenten, Wissenschaftlern, Werbeagenturen, Vereinen und NGOs (Non-Governmental Organization) bestürmt, die alle irgendwas mit Flüchtlingen machen wollen, dass manche es nicht mal mehr schaffen, auch nur Mails mit Absagen zu verschicken.

Die taz vergibt jedes Jahr den Panter Preis für zivilgesellschaftliche Initiativen. 2015 bezog sich die Hälfte aller eingesandten Vorschläge auf Gruppen, die sich um Flüchtlinge kümmern. Unter den Praktikanten in der taz und unter den Teilnehmern von Journalismus-Seminaren, die ich gegeben habe, war zuletzt kaum jemand, der auf die Frage, über welche Themen er oder sie schreiben wolle, nicht auch »Flüchtlinge« genannt hätte.

Flüchtlingssolidarität ist nicht nur eine dominierende soziale Bewegung und boomender Wirtschaftszweig, sondern auch ein popkultureller Hype geworden. Seit einigen Jahren gehen in Städten wie Berlin und Hamburg in manchen Clubs und Kulturzentren Teile der Einnahmen von praktisch jeder Party an Flüchtlingsprojekte. Und das liegt nicht nur am sozialen Gewissen der Veranstalter, sondern auch daran, dass diese Ankündigung Gäste anzieht. Im ganzen Jahr 2015 habe ich kein Konzert besucht, bei dem die Band nicht ihre Solidarität mit den Flüchtlingen bekundet hätte. Wenn die Sänger mit belegter Stimme und ernster Miene ankündigten, dass sie nun eine ganz besonders wichtige Message loswerden wollten, war immer schon klar, was kommt. Hätten sich die Schöpfer des »kein mensch ist illegal«- und des »Refugees welcome«-Logos diese einst schützen lassen, sie würden sich heute eine goldene Nase an all den T-Shirts, Pullovern, Taschen und Aufklebern verdienen. Flüchtlingssolidarität ist auch Modeaccessoire und Bekenntnisformel geworden.

Wie ist das passiert?

Da gibt es die Folgen des Konflikts in Syrien. Er ist eine der größten humanitären Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg und spielt sich direkt vor den Toren Europas ab. Auch den Hartgesottensten ist klar, dass dessen Opfern Hilfe kaum zu versagen ist. Syrien hat es fast unmöglich gemacht, Asyl als solches zu delegitimieren.

Deutschland ist Gewinner der Eurokrise, mit Rekord-Steuereinnahmen, niedriger Arbeitslosigkeit, schwarzer Null im Haushalt, einem demografischen Problem und Arbeitskräftemangel. Seit langem treiben die Wirtschaftsverbände die Union mit ihren Forderungen nach mehr Zuwanderung vor sich her. Als sich Ende 2015 abzeichnet, dass im Laufe des Jahres wohl eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, sagt der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, dies sei »das Beste, was 2015 passiert ist«.19 Kurz danach erneuert die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ihre Forderung, noch mehr Zuwanderung zu ermöglichen.20

Doch es gibt auch eine gesellschaftliche Dimension. Sie geht zurück in die Zeit von Rot-Grün, ab 1998. Es war die erste Bundesregierung, die sich zum Einwanderungsland bekannte. Eines ihrer zentralen Projekte war die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, mit beschleunigter Einbürgerung und einer Abkehr vom starren, anachronistischen Blutsprinzip bei der Staatsangehörigkeit. In den folgenden Jahren wurde heftig um ein Einwanderungsgesetz gerungen. Das am Ende stehende Zuwanderungsgesetz von 2004 brachte zwar keineswegs den Durchbruch – der steht bis heute aus –, aber die jahrzehntelange bleierne Verleugnung der Einwanderungsrealität war gebrochen.

In diesem Zusammenhang spielte eine Gruppe von Menschen eine wichtige Rolle, die heute als »postmigrantisches Milieu« bezeichnet wird – die zweite bis dritte Einwanderergeneration, die den Bildungsrückstand aufgeholt hatte und mit großer Kraft in wichtige gesellschaftliche Schaltstellen wie Wissenschaft, Politik, Journalismus und Kunst drängte. Nun tauchten Deutsche mit anderen Namen und anderem Aussehen auf – als Abgeordnete oder Nachrichtensprecher, sie saßen in Talkshows und hielten Vorträge. Selbstbewusst forderten Gruppen wie das Netzwerk Kanak Attak die Dominanzkultur der Mehrheitsgesellschaft heraus21 und formten den Einwanderungsdiskurs. Auch wenn es Konkurrenzen gab, waren sie ein faktisches Bindeglied zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der marginalisierten Flüchtlingscommunity, für die der Weg zu gleichen Rechten und Teilhabe am weitesten war.

Vor zwei Jahrzehnten haben Flüchtlinge begonnen diesen Weg zu gehen. Sie erkämpften substanzielle Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen: Das Arbeitsverbot und die Residenzpflicht (→ S. 247 f.) wurden gelockert, die Sozialleistungen erhöht. Es war nicht ihre Absicht, aber sie haben dabei dieses Land verändert. Ein Land, in dem sich vor zehn Jahren fast alle, die sich mit Flüchtlingspolitik befassten, persönlich kannten, während es heute schwierig ist, alle Initiativen in manchem Stadtteil zu überblicken. Von der hinter diesem Wandel stehenden Geschichte von Widerstand und von Zivilisierung handelt dieses Buch.

Nach der Wende werden Flüchtlinge in leerstehenden Kasernen von NVA und sowjetischer Armee sowie in alten DDR-Ferienheimen in den neuen Bundesländern untergebracht. Sie leben dort viel isolierter als in den West-Bundesländern. Deshalb – und weil rassistische Über- und Angriffe stärker ausgeprägt sind – entsteht die Flüchtlingsbewegung in Ostdeutschland und behält dort bis 2012 auch ihren Schwerpunkt.

1994 gründen im Flüchtlingsheim Mühlhausen in Thüringen fünf afrikanische Asylbewerber das bis heute aktive The Voice Refugee Forum. Sie sind der vollen Härte des da gerade verschärften Asylrechts unterworfen: drastisch reduzierte Sozialleistungen, Lagerleben, Arbeitsund Studierverbot, Residenzpflicht, hohes Abschieberisiko, jahrelange Asylverfahren. Vor allem aber sind sie isoliert. Isoliert von der Mehrheitsgesellschaft und isoliert von anderen Asylbewerbern. Das war der tiefere Sinn der Restriktionen für Flüchtlinge: die Unterdrückung sozialer Beziehungen. Die Lager separieren und stigmatisieren die Bewohner, sie machen sie zur Projektionsfläche für Ängste. Die staatlich erzwungenen Parallelgesellschaften der Lager waren ein Programm bewusster Antiintegration. Das gab es sogar schriftlich: »Die Sammelunterbringung soll die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern«22, hieß es im bayerischen Asylrecht. Erst kürzlich wurde dieser Halbsatz gestrichen. Kollegen, Nachbarn oder Freunde können sich querstellen, wenn eine Abschiebung ansteht. Sozialer Ausschluss war deshalb das Ziel der Lagerunterbringung und Programm des sogenannten Asylkompromisses (→ S. 246 f.). Die Flüchtlinge sollten der Bevölkerung fremd und somit gleichgültig bleiben.

Das erkannten die Gründer von The Voice. Sie nannten die Asylpolitik Deutschlands »Apartheidsregime« und verglichen sie mit der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika. Vor der Bundestagswahl 1998 zogen sie durch 44 deutsche Städte. Sie wollten sichtbar werden. Das Netzwerk Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen war geboren. Es ist als Schwesterorganisation von The Voice bis heute aktiv. Niemand sonst gelang es über einen so langen Zeitraum, Flüchtlinge bundesweit zu organisieren. »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört«, so ihr Tenor. Es sei die seit der Kolonialzeit fortdauernde Ausplünderung, die die Menschen zur Flucht zwinge. Eine Welt, die die reichen Länder so eingerichtet hätten, dass sie fast alles bekommen und die meisten anderen fast nichts.

The Voice und die Karawane kämpften gegen Residenzpflicht und Abschiebungen, vor allem aber erboste sie, dass Deutschland die Regime ihrer Herkunftsländer wie Syrien, Togo, Kamerun, Nigeria, Iran, Sri Lanka oder Türkei hofierte. Über Jahre protestierten sie vor Heimen, Abschiebegefängnissen, Ausländerbehörden, Innenministerien und Botschaften. Immer wieder traten sie in Hungerstreik. Aktivisten wurden verprügelt, misshandelt, eingesperrt und abgeschoben. Die Öffentlichkeit nahm nur wenig Notiz.

Von dieser Phase, den Jahren 1994 bis 2011, handelt der erste Teil dieses Buches. Es ist eine Sammlung von zwölf Porträts. Jedes erzählt exemplarisch die Geschichte einer wichtigen Auseinandersetzung in einer Zeit, in der sich kaum jemand dafür interessiert hat.

Erst nach der Besetzung des Berliner Oranienplatzes im Oktober 2012 durchbrachen die Protestaktionen die Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit. Es gab den ersten Bericht über Flüchtlingsproteste in der Tagesschau, es gab die erste Flüchtlingsdemo mit über 10 000 Menschen, »#refugeeswelcome« war ein Top-Hashtag bei Twitter. Menschen, die sich vorher nie politisch engagiert hatten, standen plötzlich nachts bei Minusgraden am Hungerstreiklager und buhten Polizisten aus, die kontrollierten, dass die Flüchtlinge nicht schliefen, wie es die Auflagen verlangten. Flüchtlingsselbstorganisationen, die vorher nie Geld hatten, bekamen Spenden im sechsstelligen Bereich und wussten nicht, wie solche Summen zu verwalten sind.

Die Kämpfe, die nun so viel Interesse weckten, gab es schon seit vielen Jahren. Die Forderungen waren dieselben: bleiben und arbeiten dürfen, nicht im Lager leben müssen, Bargeld statt Essenspakete, sich frei bewegen dürfen.

Zum Durchbruch fehlte ihnen aber ein entscheidender Faktor: Es war der Wille zur Eskalation, den vor allem eine Gruppe junger Iraner mitbrachte, die in ihrer Heimat gegen das dortige Regime gekämpft hatten. Als Mahmud Ahmadinedschad 2009 in Teheran als Präsident wiedergewählt wurde, eskalierten die Proteste. Die Repression nahm zu, viele Oppositionelle mussten fliehen. Am 29. Januar 2012 machte der Iraner Mohammed Rahsepar in einem Asylbewerberheim in Würzburg seine Ankündigung wahr, sich zu erhängen (→ S. 106). Zuvor hatten seine Ärzte erfolglos darauf gedrängt, ihm einen Auszug aus dem Heim zu erlauben. Für seine Freunde war klar: Das Leben im Lager hatte Rahsepar in den Tod getrieben. Sie errichteten ein Protestcamp in Würzburg. Sie traten in Hungerstreik, nähten sich die Münder zu und erstritten vor Gericht das Recht, so in der Fußgängerzone sitzen zu dürfen. Die jungen Iraner ließen sich über Monate nicht vertreiben. Dauermahnwachen mit Zelten in immer mehr deutschen Innenstädten entstanden. Sie nahmen an einem Camp der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen teil. Die Idee eines Marsches gegen Abschiebungen und Residenzpflicht wurde geboren, sie knüpften ein Netz von Unterstützern und liefen los, 500 Kilometer, quer durch Deutschland (→ S. 116 f.).

Ihre Aktionen fielen in eine Zeit, in der flüchtlingspolitisch Tauwetter herrschte: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschied am 18. Juli 2012, dass Asylbewerbern bei den Sozialleistungen das Existenzminimum nicht vorenthalten werden darf, um Migration abzuwehren. In einigen Ländern bröckelten da bereits Residenzpflicht und Heimunterbringung; andere wollten das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG; → S. 246 f.) ganz abschaffen. Lange Kampagnen entfalteten Wirkung.

Dennoch erreichten die Proteste jetzt eine Intensität wie nie zuvor. Die Gruppe der Iraner hatte die Protestkultur aus dem Kampf gegen die Mullahs mit in die fränkischen Sammelunterkünfte gebracht. Ihre Kompromisslosigkeit, ihre Bereitschaft zur Selbstzerstörung durch lebensgefährliche Durststreiks wirkten wie ein Katalysator und strahlten über die nordbayerischen Städte hinaus. Die gesamte Flüchtlingsszene in Deutschland gewann durch die »Tent Action«, wie die Protestierenden ihre Aktion nannten, den Marsch nach Berlin und die folgende, 17 Monate währende Besetzung des Oranienplatzes im Berliner Stadtteil Kreuzberg einen gemeinsamen Bezugspunkt.

Fast 20 Jahre hatten The Voice und ähnliche, später entstandene Gruppen, ohne Beachtung der breiten Öffentlichkeit agiert, ohne Geld und von Sanktionen der Ausländerbehörden bedroht. Der neue Protestzyklus machte Flüchtlinge zum Mainstream-Thema. Die jungen Iraner gingen offensiver zu Werk, doch der Boden für sie war bereitet worden durch die vielen Vorläufer, die stabile Fäden in die Zivilgesellschaft geknüpft hatten. Mehr Flüchtlinge als je zuvor traten jetzt aus der Isolation, die der Asylkompromiss ihnen zugewiesen hatte. Sie wurden greifbar, sichtbar für die Mehrheitsgesellschaft.

Das ist die Grundlage für die Solidarität, die sie heute in Deutschland erfahren, und hiervon handelt der zweite Teil dieses Buches zu den Jahren 2012 bis 2015. Es ist die Geschichte einer Zeit nie da gewesener Dynamik im deutschen Migrationsgeschehen. Deshalb ist dieser Teil, anders als der erste, in der Form einer Chronologie gehalten.

Der Wandel, von dem hier die Rede ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Es hätte ganz anders kommen können, andere EU-Staaten zeigen das. Und nicht erst nach den Übergriffen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof fürchten viele, dass auch in Deutschland die Stimmung kippt. Die Atemlosigkeit, mit der seit dem Herbst 2015 Asylrechtsverschärfungen diskutiert wurden, spricht dafür.

Einwanderung in großer Zahl hat fast immer Gegenreaktionen ausgelöst. Pegida und die AfD waren bereits zu einem Zeitpunkt aufgestiegen – Ende 2014 –, als die Asylzahlen noch auf sehr moderatem Niveau waren. Niemand konnte damit rechnen, dass ein solcher Anstieg der Einwanderung wie 2015 keine Konflikte auslöst. Die Geschwindigkeit aber, mit der Gewalt, Bedrohungen und Hetze eskaliert sind, hat viele erstaunt. Es gibt die sogenannten besorgten Bürger (→ S. 198) und ihre neuen Nazifreunde; ein fremdenfeindliches Kontinuum zwischen Pegida und Parteienverdruss, Neuer Rechter und entfremdeter Unions-Klientel, AfD, NPD und Autonomen Kameradschaften. Einerseits halten sie sich für das Sprachrohr einer schweigenden Mehrheit, gleichzeitig fühlen sie sich verraten von den etablierten Parteien und Medien und halluzinieren von sich als verfolgter Minderheit im eigenen Land. Der Herausgeber des rechten Compact-Magazins, Jürgen Elsässer, beklagt »totalitären Asyl-Jubel«23, der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke warnt, die Deutschen könnten bald »keine Heimat mehr«24 haben.

Es ist offen, wie weit diese Polarisierung zunimmt, wie sehr sich die gesellschaftliche Spaltung entlang der Migrationsfrage vertieft. Die Verwerfungen werden erheblich sein. Und es ist unklar, wie viel nach den »Asylpaketen«, die noch kommen werden, vom Asylrecht übrig sein wird. Insgesamt aber wird sich das Rad nicht zurückdrehen lassen. Wer den Zugang zu diesem Land wieder verschließen will, wird scheitern: weil sich mit Fremdenfeindlichkeit allein keine Wahlen mehr gewinnen lassen. Und weil die Realität der Migration es nicht zulassen wird.

Der lange Aufstand:
Die Flüchtlingsbewegung
von 1994 bis 2011

»Wir sind hier,
weil ihr unsere Länder zerstört.«

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SELBSTORGANISIERUNG: Osaren Igbinoba aus Nigeria war der Erste, der in den Asylheimen Ostdeutschlands eine Protestbewegung aufgebaut hat. Sie existiert bis heute. Nur wenn die Flüchtlinge ethnische Grenzen überwinden, können sie ihre Lebensbedingungen verbessern, sagt er.

Manche sehen die Welt als einen Ort, der immer komplizierter wird, so sehr, dass sich kaum noch erklären lässt, was auf ihr geschieht. Osaren Igbinoba nicht. »Es gibt keinen Hunger. Es gibt nur Ausplünderung«, sagt er. Die westliche Zivilisation werde als »die grausamste, die zerstörerischste Macht«25 in die Geschichte eingehen. Wegen solcher Sätze haben sie ihn heute hergeholt.

Es ist der 19. Juli 2001, und kurz vor dem Treffen der mächtigsten Männer der Welt fällt der Hafen von Genua in orange-blaues Licht. Gewerkschafter, Kommunisten, Autonome, Parteileute, linke Intellektuelle aus vielen Ländern sind seit dem Nachmittag durch die Straßen gezogen. Der Gastgeber des G8-Gipfels 2001, Italiens Präsident Silvio Berlusconi, hatte von den Bewohnern der Stadt verlangt, ihre Wäsche nicht zum Trocknen herauszuhängen. Die Präsidenten sollten ein makelloses Genua sehen. Johlend schwenken die Demonstranten Unterhosen und BHs, winken den Leuten an den Fenstern zu, rütteln am schwarzen Gitter, das die Polizei am Kongresszentrum in den Beton eingelassen hat, laufen vorbei am provisorischen Quartier der Carabinieri, die am nächsten Tag einen der Demonstranten erschießen werden, und Osaren Igbinoba läuft vorn mit, denn dieser erste Tag des Protests ist den Migranten gewidmet.

300 000 Menschen kommen in diesen Tagen nach Genua. Die Antiglobalisierungsbewegung ist auf ihrem Zenit, und für viele Demonstranten ist ausgemacht, dass sie hier die Welt verändern. Der erste Marsch ist vorbei, sie sitzen auf dem Beton, auf Bänken, trinken Bier, rauchen Joints, Blaskapellen und Sambagruppen laufen umher, Reporter und Kameraleute. Transparente und Schilder liegen herum, Flugblätter werden verteilt und weggeworfen. Die Italiener klopfen mit Flaschen auf die Bänke und besingen schon jetzt den Sieg, den sie am nächsten Tag über den Kapitalismus erringen wollen. Seit über einem Jahr wurde zu den Protesten aufgerufen, das Nein zur Ordnung der Welt soll unüberhörbar werden. Diese Tage sind der Kristallisationspunkt für eine ganze Generation von NGOs, aber jetzt, kurz bevor es losgeht, ist es Osaren Igbinoba, der sprechen darf.

Die Dämmerung zieht über dem Ligurischen Meer heran, und Igbinoba, ein massiger Mann von 40 Jahren, betritt die Bühne, die die Demonstranten auf dem Platz am Hafen aufgebaut haben. Seine Stimme ist heiser, er spricht Englisch mit starkem nigerianischem Akzent, die Soundanlage ist nicht die beste. Ein Jahrzehnt hat er in Nigeria gegen die Militärdiktatur gekämpft, die ihre Gegner tötet, an der Macht gehalten auch von den Milliarden, die britische, holländische und US-amerikanische Ölkonzerne überweisen – nie vergisst Igbinoba das zu erwähnen.

Weg wollte er nie. Er wollte, dass sein Land eines würde, in dem er leben kann.

Wie so oft sind es Künstler und Intellektuelle, die den Kampf um Bürgerrechte in Nigeria anführen. Der Schriftsteller Wole Soyinka etwa, der Arzt Beko Kuti oder sein Bruder, der berühmte Afrobeat-Musiker Fela Kuti. Ihre Anhänger sammeln sich in der Campaign for Democracy, sie wird zur politischen Heimat Igbinobas. 1993 übernimmt der General Sani Abacha die Macht. Er annulliert die Wahl, die der Oppositionskandidat Moshood Abiola gewonnen hatte, schwere Unruhen sind die Folge.

Abacha wurde an der Mons Officer Cadet School in Aldershot nahe London ausgebildet, er macht Geschäfte mit British Petrol, Shell und Exxon und stiehlt Milliarden aus der nigerianischen Staatskasse. Abacha verbietet Parteien und alle anderen politischen Gruppen. Igbinoba flieht nach Deutschland.

Das Ende des Kalten Krieges liegt da erst kurz zurück, es hat die Flüchtlingspolitik verändert. In der alten Bundesrepublik wollten jahrzehntelang weniger als 10 000 Menschen im Jahr Asyl, viele davon aus Osteuropa. Für den Westen sind sie Verfolgte sozialistischer Diktaturen und verdienen Zuflucht. In den 1980er Jahren stiegen die Zahlen an, vollends dann nach dem Mauerfall: 1992 kommen 430 000 Asylsuchende in das vereinigte Deutschland, die Mehrheit aus Osteuropa. Jetzt sind sie »nicht mehr Erfolgsnachweis in der globalen Systemkonkurrenz, sondern Zusatzbelastung in der Krise des nationalen Sozialstaats«26, so der Migrationsforscher Klaus J. Bade. Der Bundestag beschließt den sogenannten Asylkompromiss, um aus Deutschland einen Ort zu machen, den Flüchtlinge meiden.

Igbinoba kommt trotzdem. Er landet in Mühlhausen im Westen Thüringens. Das Flüchtlingsheim dort ist eine alte russische Kaserne. Mit vier anderen Männern lebt er in einem Zimmer, »wie Sardinen in Fischbüchsen«, schreibt er. Keine Arbeit, keine Möglichkeit zu kochen, keine Ausbildung. Strafen für jeden, der den Landkreis verlässt.

Er fühlt sich wie in einem »leisen Krieg, den die Bürokratie gegen uns führt«, sagt er später, keine Perspektive, nur Stillstand, eine »langsame, aber ständige Vergeudung des Lebens. Nur essen und schlafen, essen und schlafen«, schreibt er, ein »Dahinvegetieren«, bis »wir entweder deportiert werden oder, wenn unser Lebenswille gebrochen ist, wir ›freiwillig‹ in unsere Länder zurückkehren.« Den Flüchtlingen würden die Fingerabdrücke abgenommen, sie würden ins Lager gesteckt »verhört und absichtlich Misshandlungen unterworfen. Dabei werden wir oft ausgelacht, angeschrien, gedemütigt«. Wer nicht nützlich sei, müsse in »Militärbaracken verfaulen, weitab von normalen Menschen«.27 Diese Isolation soll es möglich machen, die Flüchtlinge zu kontrollieren, sagt Igbinoba.

Er sieht historische Kontinuitäten, vor allem bei der Residenzpflicht: Die deutschen Kolonialherren verboten den Menschen in Togo, bestimmte Gebiete zu verlassen, um die Zwangsarbeit besser durchsetzen zu können. Auch die Ausländerpolizeiverfügung der Nazis von 1938 verbot Ausländern das freie Reisen innerhalb Deutschlands.28 Igbinoba recherchiert dies, ebenso wie die Geschichte der DDR, in »der du als kasernierter Ausländer nur hier warst, um wie vom Staat bestellt zu arbeiten, oder du hattest zu gehen«. Durch all diese Zeiten, sagt Igbinoba, habe sich eine »Kontrollmentalität« erhalten, die Lager sollen dich »stigmatisieren, deinen Willen zerstören zu leben und dich zu wehren«.

Es ist ein düsterer, radikaler Befund. Viele Menschen, die nie in dieser Lage waren, können ihn nur schwer nachvollziehen. Igbinoba gibt er Kraft für zwei Jahrzehnte Kampf.

Zwei Monate nach seiner Ankunft, im Oktober 1994, gründet er mit drei anderen Männern aus Nigeria und Liberia das The Voice Africa Forum. Die Gruppe zieht durch die Flüchtlingsheime in Thüringen, beruft Versammlungen ein, immer wieder. So müsst ihr nicht leben, sagen sie den Flüchtlingen. Keine Angst! Doch ihre Anstiftung zu Aufruhr – manche empfinden sie als Bedrohung. »Sie dachten, wenn wir uns beschweren, schieben sie uns ab«, sagt Igbinoba. Einige Flüchtlinge gehen mit Stühlen auf ihn los, zerreißen seine Flugblätter. Nachts läuft er heimlich zurück und sucht im Kerzenschein nach Exemplaren, die heil geblieben sind. Jeder versuche »mit seinen Problemen allein fertig zu werden, immer in dem Glauben, dass wir in Ruhe gelassen werden, wenn wir uns ruhig verhalten«, sagt Igbinoba. »Am Ende aber sind die Probleme nur noch größer, einfach weil wir Angst gehabt haben, uns selber als machtvoll zu begreifen.« Immer wieder sagt er das bei den Versammlungen in den Asylheimen.

Igbinobas Asylverfahren läuft schlecht. Er zeigt seinen Führerschein, Zeitungsartikel aus Nigeria. Alles gefälscht, sagen die deutschen Behörden. Sie lehnen seinen Asylantrag ab. 1995 dokumentiert Amnesty International Hunderte tote Regimegegner, Tausende Verhaftungen in Nigeria.29 Die Bundesregierung lobt derweil ein »Demokratisierungsprogramm«30 des Diktators Abacha. Kritik am nigerianischen Regime sei »möglich und bleibt in der Regel ohne Folgen«.31 Einmal wird Igbinoba auf der Ausländerbehörde von Sicherheitsleuten mit Handschellen an den Stuhl gefesselt, weil er in Abschiebehaft kommen soll. Er fühlt sich gedemütigt, entwürdigt, ausgeliefert. Sein Anwalt kann Aufschub aushandeln. An einem Morgen im April 1995 kommen zwei Polizisten in das Heim in Rothenstein, südlich von Jena, wo Igbinoba jetzt lebt. Die Ausländerbehörde in Eisenberg hat sie geschickt, angekündigt hatten sie sich nicht. Sie sollen Igbinoba zum Flughafen Düsseldorf bringen. Doch jetzt wollen die anderen Flüchtlinge im Heim ihn nicht kampflos aufgeben. Einer weckt ihn, andere sammeln in aller Eile 200 D-Mark und drücken sie ihm in die Hand, andere stellen sich in den Flur, der zu seinem Zimmer führt. »Warum« ist eines der wenigen deutschen Wörter, das viele von ihnen kennen. Immer wieder fragen sie das die Polizisten: »Warum wollt ihr ihn holen?« Es ist ein Vorwand, um sie nicht vorbei zu lassen. Igbinoba kann den Tumult hören, er öffnet das Fenster und springt hinaus. Er läuft durch den Wald, schlägt sich durch in die nächste Stadt. Nach einer Weile versteckt ihn eine befreundete Sozialarbeiterin bei Leuten, die ein autonomes Zentrum in Oldenburg betreiben. Unter ihnen ist ein Architekt, in seinem Haus findet Igbinoba Platz.

In der Zwischenzeit sind in Nigeria immer mehr Oppositionelle im Gefängnis gelandet. Schon vorher hatte Igbinoba auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht, jetzt, in Oldenburg, setzt er sich gleichsam in Vollzeit für ihre Freilassung ein, obwohl dies keine besonders unauffällige Tätigkeit ist. »Das hat mir Kraft gegeben«, sagt Igbinoba, »Was aus mir wurde, war mir egal.« Am 10. November 1995 hängt Nigeria den Schriftsteller Ken Saro-Wiwa. Weltweit wächst die Kritik am Regime. Igbinoba organisiert ein Symposium nigerianischer Oppositioneller im Exil, aus vielen Ländern reisen sie nach Oldenburg, es ist das größte Treffen dieser Art. Irgendwie muss Igbinoba dabei auf sich aufmerksam gemacht haben. Polizisten kommen zu dem Haus, in dem er sich versteckt. Igbinoba kann fliehen, er stellt einen neuen Asylantrag. Nach einiger Zeit vereinbart ein Anwalt einen Termin für eine neue Anhörung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Er stellt sich.

1996 wird er als politischer Flüchtling anerkannt (Anerkennung, → S. 246). Er ist kein Asylsuchender mehr, aber The Voice ist sein Lebensinhalt. Igbinoba bezieht ein kleines Büro unter dem Dach eines alternativen Zentrums, hinter dem städtischen Theater in Jena. Von hier aus koordiniert er Hungerstreiks, Blockaden und immer wieder Kundgebungen. Nach und nach schließt Thüringen abgelegene, besonders heruntergekommene Flüchtlingsheime wie Mühlhausen, Saalfeld, Jena-Forst oder Tambach-Dietharz.

Es gibt schon vor The Voice migrantische Selbstorganisationen in Deutschland: Vereine der Gastarbeiter-Communitys, Frauengruppen wie Agisra in Köln, migrantische Antifagruppen wie Antifaşist (Antifa) Gençlik in Berlin, parteinahe Exilorganisationen wie die kurdischen Vereine oder Gruppen aus der zweiten Generation der Arbeitsmigranten wie Kanak Attak. Aber es gibt keine Organisation der Flüchtlinge in den Heimen. Auch andere versuchen später diese zusammenzubringen, etwa die African Refugee Organisation in Hamburg, die Flüchtlingsinitiative Brandenburg (→ S. 66), Refugee Emancipation e. V. oder Women in Exile (→ S. 64). Aber Igbinoba ist der Erste, dem dies dauerhaft und über ethnische Grenzen hinweg gelingt. Die Strukturen der Selbstorganisation, die er schafft, sind die ältesten, die sich dauerhaft halten, bis heute.

Die Nacht, in der die Polizei ihn holen will, macht Igbinoba klar, dass die Flüchtlinge verlieren, wenn sie in ihren ethnischen Communitys bleiben. Solidarität soll die Enge der Exilorganisationen überwinden. »Die Gesetze betreffen alle Flüchtlinge gleichermaßen«, sagt er. Gemeinsam ungehorsam zu sein, das sei »ein Schrei nach Freiheit, aber schon ein Teil der Freiheit selbst«. Die Gruppe benennt sich in The Voice Refugee Forum um, will offen sein für Menschen aus anderen Kontinenten, fusioniert mit Gruppen aus Westdeutschland zur Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen. »Große Ideen ohne Selbstorganisierung sind leer«, sagt Igbinoba.

Im Oktober 1998 scheidet der Kanzler Helmut Kohl aus dem Amt, vor der Bundestagswahl im September zieht die Karawane durch 44 deutsche Städte, »We have no vote but a voice« – »Wir haben kein Wahlrecht, aber eine Stimme«, ist ihr Slogan. In Flüchtlingsheimen, in die sonst kein Besucher einen Fuß setzt, berufen sie Versammlungen ein. Wir wollen gleiche Rechte, sagt Igbinoba. Keine Unterordnung. Die Bewohner sollen sich der Disziplinierung nicht länger beugen. Nicht alle folgen dem Aufruf, aber einigen gibt The Voice bei diesen Treffen zum ersten Mal das Gefühl, wieder etwas für ihr Schicksal in Deutschland tun zu können, den Ämtern und Gesetzen, die sie so wenig durchschauen, nicht nur hilflos gegenüberzustehen.

1999 besetzen von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge das Büro der Grünen in Köln (→ S. 48) Ihr Hungerstreik dauert 16 Tage. Im Mai 2000 lädt The Voice Flüchtlinge und Aktivisten aus der ganzen Welt zu einem Kongress in die Jenaer Universität ein. Es ist das erste Treffen dieser Art in Deutschland. In Thüringen gilt die Residenzpflicht. Flüchtlinge, die kommen wollen, müssen die Ausländerbehörden um Erlaubnis bitten. Die damalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) fordert die Ämter auf, die Erlaubnisse zu erteilen. Auch Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) schreibt den Ausländerbehörden. Doch er verlangt, die Flüchtlinge sollen nicht nach Jena reisen dürfen. Die Beamten hören auf Schönbohm. Wer fährt, dem drohen sie mit Haft.

Es versammeln sich 600 Menschen in Jena. Viele sollen bald abgeschoben werden. Es kommen Papierlose und geflüchtete Frauen, Togoer und Nigerianer, alevitische Syrer und kommunistische Türken, nepalesische Maoisten und tamilische Exguerilleros, Tschetschenen und Kongolesen, Kameruner, Sierra Leoner und Sudanesen, Nordafrikaner, Palästinenser, ehemalige politische Gefangene aus Lateinamerika, iranische Frauen, Kurden aus einem Kirchenasyl. Manche haben politische Erfahrungen, andere nicht; aber bei einer solchen Zusammenkunft war noch keiner von ihnen.

Ihre Selbstermächtigung geht nicht ohne Friktionen ab. Damals beginnen die Ausländerbehörden in Bremen, Hamburg, München und anderen Städten, Flüchtlinge ohne Pass zu Botschaften von Ländern wie Guinea oder Nigeria zu bringen. Die Konsulatsmitarbeiter dort stellen gegen Gebühren – viele sagen: Bestechungsgelder – einmalige Reisepapiere aus. Deutschland kann die Flüchtlinge so abschieben, ohne geklärt zu haben, aus welchem Land sie stammen. Die Flüchtlinge in Jena planen, die nächste dieser Vorführungen zu blockieren. Bei ihnen handele es sich um »Blackmail«, soll im Aufruf stehen, Erpressung, denn wer sich diesen Terminen verweigert, dem streichen die Ausländerbehörden das Geld und führen ihn dann zwangsweise vor.

Eine Gruppe Afrikaner beschwert sich: »Blackmail«, das sei rassistisch. »Alles Schlechte ist immer schwarz«, sagen sie. Das Wort soll raus. »Kindisch«, sagen die Tamilen. Die Deutschen sagen lieber nichts.

Zehn Tage debattieren die Flüchtlinge in Jena. Abschiebungen, Ausländerbehörden, Residenzpflicht, Polizeiübergriffe, politische Gefangene überall in der Welt, alles kommt auf den Tisch. Sie beschließen zu demonstrieren, Faxe zu schreiben, zu blockieren. Die Abschlusserklärung ihres Kongresses ist viele Seiten lang.32 »Wir werden eine »friedliche, würdevolle, aber dennoch kräftige Kampagne« beginnen, schreiben sie.

Sie haben keinen Verein für Steuerabzugsquittungen, keine Mitgliedsbeiträge, keinen Vorstand, keinen Presseverteiler, keine Satzung. Der harte Kern besteht aus weniger als 40 Aktivisten aus 20 Ländern, verstreut in Heimen in ganz Deutschland. Sie sprechen keine gemeinsame Sprache. Wer zu den Treffen fährt, gibt für die Zugfahrt das halbe Monats-Taschengeld von 80 D-Mark aus, muss Polizeikontrollen und Gefängnis befürchten. Aber sie haben Ideen. Der Singhalese Viraj Mendis schart eine Gruppe von Informatikern um sich, sie programmieren eine mehrsprachige Webseite für Kampagnen gegen Abschiebungen, www.humanrights.de. Mit ihr landet Mendis in der Ausgabe vom 10. Juli 2000 des US-Magazins Fortune – als »ein menschliches Gesicht der Internetrevolution«.33 Ein Kommunist in einer der wichtigsten Wirtschaftszeitungen der Welt. In Jena baut nadir, ein Hamburger Informatiker-Kollektiv, Computer auf, mit denen die Flüchtlinge in Echtzeit von ihrem Kongress bloggen können. Sie sind eine kleine Avantgarde des Netzaktivismus.

Monate bevor es bei der WTO-Konferenz in Seattle schwere Auseinandersetzungen gibt, tun sich die Flüchtlinge von The Voice mit Hunderten indischen Bauern zusammen. Die sind zum G7-Gipfel im Juni 1999 nach Köln unterwegs, um gegen die Liberalisierung des Agrarmarktes zu demonstrieren, die sie in den Ruin treibt. Die Flüchtlinge reihen sich bei den Bauern vor deren Ankunft in Köln ein – eine kleine Avantgarde der Gipfelproteste.

Dabei ist Globalisierung für Igbinoba nur ein Modewort. Er kann damit nichts anfangen. Die britischen Offiziere, die Abacha das Töten beigebracht hatten, die BP-Manager, die das Öl aus dem Niger-Delta abpumpen ohne dem Volk dafür etwas zu geben, die Sachbearbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Flüchtlinge »in nützliche und unnütze einteilen«, wie er sagt; die deutschen Polizisten, die in der Nacht kommen, um ihn zu holen und in das Flugzeug nach Lagos zu setzen – für Igbinoba sind es Facetten »koloniale[r] Ungerechtigkeit«, er sieht eine »Kontinuität der immer gleichen Macht«. Immer gleich, aber anpassungsfähig: »Die vor Senegal gelegene Insel Gorée war während der Sklaverei eines der großen Tore zur Hölle, von hier wurden Millionen AfrikanerInnen als Sklaven nach Amerika und Europa verschifft.«34 Heute benutze die EU-Grenzschutzagentur Frontex (→ S. 247) die Insel, um die afrikanischen Küstengewässer zu überwachen.

Für Igbinoba ist seine Flucht Mittel zum Zweck. »Wir sind hier, um den Kampf weiterzuführen, den wir in unseren Ländern begonnen haben«, sagt er. Es gehe nicht nur um Abschiebungen, es gehe auch um »die furchtbaren Probleme unserer Brüder und Schwestern, die wir zurücklassen mussten«. Niemand komme freiwillig. Jeder wisse, dass die EU und die USA die Diktatoren Afrikas bewaffneten und ihre Armeen trainierten, Kriege führten und Ressourcen raubten, seit der Kolonialzeit.

Am Abend des 19. Juli 2001 ist er es, der die Rede vor dem Großkampftag der globalen Protestbewegung halten darf. Für die Ausbeutung der Armen, die Verwüstung des globalen Südens, den Neokolonialismus, für alles, was die Demonstranten hier den G8 vorwerfen, ist Igbinoba der Kronzeuge; anders als die meisten von ihnen spricht er in der ersten Person, er ist Opfer wie Kämpfer gleichermaßen, seine Anklage nicht verhandelbar, »wir werden es immer so sagen, wie wir es fühlen, es kann darüber keinen Kompromiss geben«, sagt er. Deswegen haben sie ihn hierher gerufen, auf die Bühne im Hafen von Genua, auf die jetzt Zehntausende schauen, die hier die Ordnung der Welt schlagen wollen, und oben steht Igbinoba in seinem zerschlissenen Pullover und seiner Basketballmütze und sagt, was die Flüchtlinge auf dem reichsten Kontinent der Erde die G8 wissen lassen wollen:

»Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.«

Die Schmach des Diktators

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