Dicker, Joël Die Geschichte der Baltimores

PIPER

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Le Livre de Baltimore« bei Éditions de Fallois.

Übersetzung aus dem Französischen von Brigitte Große und Andrea Alvermann

ISBN 978-3-492-97304-5

Mai 2016

© Éditions de Fallois, 2015

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Covermotiv unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock und eines Gemäldes von Edward Hopper, Sun on Prospect Street (Gloucester, Masachusetts), 1934, © bridgemanart

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Prolog

Sonntag, 24. Oktober 2004

Einen Monat vor der Katastrophe

Morgen muss mein Cousin Woody ins Gefängnis. Dort wird er die nächsten fünf Jahre seines Lebens verbringen.

Schon auf der Fahrt vom Flughafen in Baltimore zum Haus meines Onkels Saul in Oak Park, wo Woody seine Jugend verbrachte und wir ihm an seinem letzten Tag in Freiheit Gesellschaft leisten wollen, male ich mir aus, wie er durch das Gittertor der imposanten Strafvollzugsanstalt von Cheshire, Connecticut, geht.

Für ein paar Stunden werden wir wieder zusammen sein, das wunderbare Quartett aus Woody, Hillel, Alexandra und mir, das früher dort einmal so glücklich war. Noch habe ich nicht die geringste Vorstellung von den Auswirkungen, die dieser Tag auf unser aller Leben haben wird.

Zwei Tage später wird mein Onkel Saul mich anrufen.

»Marcus? Onkel Saul hier.«

»Hallo, Onkel Saul. Wie geht’s …?«

»Hör mir gut zu, Marcus«, unterbricht er mich. »Du musst sofort herkommen. Stell mir jetzt keine Fragen. Es ist etwas Schreckliches passiert.«

Dann ist das Gespräch weg. Erst denke ich, es liegt an der Verbindung, und rufe zurück, aber er geht nicht mehr ran. Als ich es beharrlich weiter versuche, nimmt er irgendwann einmal ab, sagt nur schnell: »Komm nach Baltimore!«, und legt wieder auf.

Wenn Sie dieses Buch in die Hände bekommen, dann lesen Sie es, bitte.

Ich möchte, dass jemand die Geschichte der Goldmans aus Baltimore kennt.

Erster Teil

Das Buch der verlorenen Jugend

1989–1997

1.

Ich bin der Schriftsteller.

So nennen mich alle. Meine Freunde, meine Eltern, meine Familie, selbst mir unbekannte Menschen, wenn sie mich in der Öffentlichkeit sehen: »Sind Sie nicht der Schriftsteller …?« Ich bin der Schriftsteller, das ist meine Identität.

Die Leute glauben, dass man als Schriftsteller eine ziemlich ruhige Kugel schiebt. Neulich beschwerte sich einer meiner Freunde darüber, wie viel Zeit ihn allein sein täglicher Arbeitsweg koste, und erklärte mir dann: »Du hast es gut, du musst ja morgens nur aufstehen, dich an den Schreibtisch setzen und schreiben.«

Ich gab ihm keine Antwort, wohl weil mich die Erkenntnis deprimierte, wie sehr meine Arbeit in der allgemeinen Vorstellung aus Nichtstun besteht. Alle denken, dass man den ganzen Tag Däumchen dreht, dabei arbeitet man vielleicht gerade dann am härtesten, wenn man nichts tut.

Ein Buch zu schreiben ist ungefähr so, als hätte gerade ein Ferienlager aufgemacht: Dein normalerweise einsames und stilles Dasein wird plötzlich von einem Haufen Leuten auf den Kopf gestellt, die ohne Vorwarnung hereinschneien. Da kommen sie eines Morgens angefahren in ihrem großen Bus, schon ganz aufgeregt über die Rolle, die sie spielen sollen, und reden beim Aussteigen alle durcheinander. Und dann ist alles deine Sache, du musst dich um sie kümmern, sie verköstigen und unterbringen. Du bist für alles verantwortlich. Weil du der Schriftsteller bist.

Diese Geschichte beginnt im Februar 2012, als ich aus New York nach Boca Raton, Florida, gefahren bin, um in meinem neuen Haus meinen neuen Roman zu schreiben. Das Haus hatte ich drei Monate zuvor gekauft, mit dem Geld für die Filmrechte an meinem letzten Buch, aber abgesehen von ein paar Stippvisiten im Dezember und Januar, um es einzurichten, war es das erste Mal, dass ich mich für längere Zeit dort aufhielt. Es ist ein geräumiges Haus mit einer breiten Glasfront, die auf einen bei Spaziergängern beliebten See hinausgeht. Die Nachbarschaft ist sehr ruhig und grün und hauptsächlich von reichen Rentnern bewohnt, unter denen ich extrem auffalle. Ich bin nur halb so alt wie die meisten, aber ich habe mir die Gegend gerade wegen der vollkommenen Stille ausgesucht. Das ist der Ort, den ich zum Schreiben brauche.

Anders als bei meinen früheren kurzen Aufenthalten hatte ich diesmal sehr viel Zeit vor mir und fuhr deshalb mit dem Auto. Die zwölfhundert Meilen von New York nach Florida schreckten mich nicht. Schließlich hatte ich diese Reise in den letzten Jahren unzählige Male unternommen, um meinen Onkel Saul Goldman zu besuchen, der nach der Katastrophe, die seine Familie heimgesucht hatte, in einen Vorort von Miami gezogen war. Ich kannte die Strecke auswendig.

Bei minus zehn Grad und einer dünnen Schneeschicht fuhr ich in New York los und war zwei Tage später im herrlich warmen tropischen Winter von Boca Raton angekommen. Der vertraute Anblick von Sonne und Palmen erinnerte mich an Onkel Saul. Er fehlte mir schrecklich. Wie sehr, wurde mir in dem Moment klar, als ich die Autobahnabfahrt Richtung Boca Raton nahm, obwohl ich viel lieber zu ihm nach Miami weitergefahren wäre. Schließlich fragte ich mich sogar, ob ich die letzten Male wirklich nur hergekommen war, um mich um die Einrichtung zu kümmern, oder ob ich im Grunde nicht einfach nur wieder in Florida sein wollte. Aber ohne ihn war es nicht mehr wie früher.

Mein unmittelbarer Nachbar in Boca Raton ist Leonard Horowitz, ein reizender emeritierter Professor aus Harvard, seinerzeit eine Koryphäe in Verfassungsrecht, der auf die achtzig zugeht, seine Winter in Florida verbringt und seit dem Tod seiner Frau ein Buch schreiben will, für das er keinen Anfang findet. Ich lernte ihn an dem Tag kennen, an dem ich das Haus gekauft hatte. Er klingelte an meiner Tür, um mich mit einem Sixpack Bier willkommen zu heißen, und wir verstanden uns auf Anhieb. Seither hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, jedes Mal vorbeizuschauen, wenn ich da bin. Wir haben schnell Freundschaft geschlossen.

Er schätzt meine Gesellschaft, und ich glaube, er hat sich gefreut, dass ich diesmal eine Weile bleiben wollte. Als ich ihm eröffnete, dass ich meinen nächsten Roman hier schreiben würde, erzählte er mir gleich von seinem. Er ist mit Herzblut dabei, kommt aber mit der Geschichte nicht recht voran. Ständig schleppt er ein großes Spiralheft mit sich herum, auf dem in Filzstift »Heft Nr. 1« steht, was zu der Vermutung Anlass gibt, dass es noch mehr werden sollen. Ich sehe ihn ständig hoch konzentriert am Werk: frühmorgens auf der Terrasse vor seinem Haus oder an seinem Küchentisch, ab und zu auch in einem Café in der Stadt, stets über seinen Text gebeugt. Er hingegen sieht mich spazieren gehen, im See schwimmen, unterwegs zum Strand oder zum Joggen. Abends klingelt er gern mit frischem Bier bei mir. Wir trinken es auf meiner Terrasse, spielen Schach und hören Musik. Im Hintergrund die hinreißende Landschaft aus See und Palmen, von der untergehenden Sonne rosa überhaucht. Ohne den Blick vom Schachbrett zu erheben, fragt er jedes Mal zwischen zwei Zügen: »Und, Marcus, was macht Ihr Buch?«

»Es geht voran, Leo, es geht voran.«

Eines Abends, ich war gerade zwei Wochen da, und er bedrohte meinen Turm, sah er plötzlich auf und fragte erregt: »Wollten Sie hier nicht Ihren neuen Roman schreiben?«

»Doch, warum?«

»Weil Sie nichts tun und mich das ärgert.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich nichts tue?«

»Das sehe ich doch! Sie träumen die ganze Zeit vor sich hin, machen Sport oder schauen den Wolken nach. Ich bin achtundsiebzig und dürfte vielleicht so in den Tag hinein leben. Aber Sie sind gerade mal dreißig und müssten sich doch krummlegen!«

»Was ärgert Sie wirklich, Leo? Mein Buch oder Ihres?«

Ich hatte ins Schwarze getroffen. Er beruhigte sich wieder.

»Ich würde nur zu gern wissen, wie Sie es machen«, sagte er schließlich. »Ich komme mit meinem Roman nicht weiter. Und ich bin einfach neugierig darauf, wie Sie arbeiten.«

»Ich setze mich auf die Terrasse und denke nach. Und das ist Arbeit, glauben Sie mir. Sie dagegen schreiben, um Ihren Geist zu beschäftigen. Das ist etwas anderes.«

Er zog seinen Springer vor und bedrohte meinen König.

»Hätten Sie nicht eine gute Romanidee für mich?«

»Ausgeschlossen.«

»Warum?«

»Weil die Idee aus Ihnen selbst kommen muss.«

»Wie auch immer, schreiben Sie in Ihrem Buch bitte nichts über Boca Raton. Das fehlt mir nämlich gerade noch, dass Ihre Leser dann alle hierherpilgern und sich die Beine in den Bauch stehen, um zu sehen, wie Sie wohnen.«

»Suchen Sie nicht nach einer Idee, Leo«, sagte ich ihm dann noch. »Eine Idee ist nichts weiter als ein Ereignis, das jederzeit eintreten kann.«

Wie hätte ich ahnen können, dass just, als ich es sagte, genau das passierte? Am Seeufer erblickte ich die Gestalt eines frei herumlaufenden Hundes: muskulös und schlank, mit spitzen Ohren, die Nase im Gras. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

»Man könnte meinen, der Hund hier ist ganz allein unterwegs«, sagte ich.

Horowitz hob den Kopf und beobachtete das Tier. »Hier gibt es keine Streuner«, erklärte er.

»Wer sagt denn, dass er streunt. Aber er ist eindeutig ganz allein unterwegs.«

Ich habe eine Schwäche für Hunde. Also stand ich auf und pfiff nach ihm. Der Hund spitzte die Ohren. Ich pfiff noch einmal, und er kam angelaufen.

»Sie sind wohl verrückt geworden«, grummelte Leo. »Woher wollen Sie wissen, dass er nicht die Tollwut hat? Sie sind am Zug.«

»Weiß ich nicht«, antwortete ich und zog zerstreut meinen Turm. Zur Strafe für meine Unaufmerksamkeit kassierte er meine Königin.

Der Hund erreichte die Terrasse. Ich hockte mich neben ihn. Es war ein recht großer Rüde mit dunklem Fell, einer schwarzen Maske um die Augen und einem langen Seehundsbart. Er schmiegte seinen Kopf an mich, und ich streichelte ihn. Er wirkte ganz sanftmütig. Ich spürte, wie ein Band zwischen ihm und mir entstand, eine Art Liebe auf den ersten Blick, und wer sich mit Hunden auskennt, weiß, was ich meine. Er hatte kein Halsband um, nichts, was zu seiner Identifizierung dienen konnte.

»Haben Sie diesen Hund schon einmal gesehen?«, fragte ich Leo.

»Nein, noch nie.«

Nachdem der Hund die Terrasse inspiziert hatte, ging er wieder, ohne dass ich ihn hätte aufhalten können, und verschwand zwischen Palmen und Sträuchern.

»Er scheint zu wissen, wo er hinwill«, bemerkte Horowitz. »Wahrscheinlich gehört er einem Nachbarn.«

Es war sehr schwül an diesem Abend. Als Leo aufbrach, konnte man trotz der Dunkelheit schon das drohende Unwetter am Himmel erahnen. Kurz darauf brach ein heftiges Gewitter los, das gewaltige Blitze über den See sandte, bevor ein Wolkenbruch sintflutartig niederging. Um Mitternacht saß ich noch lesend im Wohnzimmer, als ich ein Jaulen von der Terrasse hörte. Ich schaute nach, was los war, und sah durch die Terrassentür den Hund mit nassem Fell und trauriger Miene vor mir stehen. Ich öffnete die Tür ein wenig, er schlüpfte sofort ins Haus und blickte mich flehend an.

»Schon gut, du kannst hierbleiben!«

In zwei zu Näpfen umfunktionierten Kochtöpfen gab ich ihm zu fressen und zu trinken, hockte mich neben ihn, um ihn mit einem Badetuch trocken zu rubbeln, und dann schauten wir gemeinsam dem Regen zu, der an den Scheiben herunterlief.

Er blieb die Nacht bei mir. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag er friedlich schlafend auf den Küchenfliesen. Ich bastelte eine Leine aus Bindfaden, aber das wäre gar nicht nötig gewesen, er folgte mir brav, und so zogen wir los, um sein Herrchen zu suchen.

Leo trank auf seiner Veranda Kaffee, das Heft Nr. 1 aufgeschlagen vor sich, die Seite zum Verzweifeln leer.

»Was machen Sie denn mit dem Hund, Marcus?«, fragte er, als ich das Tier in den Kofferraum meines Wagens verfrachtete.

»Er stand heute Nacht vor meiner Tür. Bei dem Gewitter habe ich ihn natürlich hereingelassen. Ich glaube, er hat sich verlaufen.«

»Und wo wollen Sie mit ihm hin?«

»Ich will eine Anzeige im Supermarkt aufhängen.«

»Sie arbeiten wirklich nie.«

»Genau jetzt arbeite ich.«

»Aha, überanstrengen Sie sich bloß nicht, mein Lieber.«

»Versprochen.«

Nachdem ich in den beiden nächstgelegenen Supermärkten einen Zettel aufgehängt hatte, spazierte ich mit dem Hund die Hauptstraße von Boca Raton entlang, in der Hoffnung, dass ihn jemand erkannte. Umsonst. Irgendwann ging ich zur Polizei, die mich zu einem Tierarzt schickte. Manche Hunde haben einen Mikrochip implantiert, über den man den Besitzer ausfindig machen kann. Das war bei diesem Hund nicht der Fall, der Tierarzt konnte mir also auch nicht helfen. Er riet mir, den Hund ins Tierheim zu bringen. Das wollte ich nicht und kehrte daher mit meinem neuen Gefährten, der sich trotz seiner Größe als ausgesprochen sanft und folgsam erwies, nach Hause zurück.

Leo hatte auf der Veranda vor seinem Haus schon auf mich gewartet. Ein paar frisch ausgedruckte Seiten schwenkend, stürzte er, kaum dass er mich gesehen hatte, auf mich zu. Er hatte erst vor Kurzem das Wunder der Google-Suchmaschine entdeckt, die er seither alles fragte, was ihm gerade durch den Kopf ging. Da er als Wissenschaftler einen Großteil seines Lebens damit zugebracht hatte, in Bibliotheken herumzusitzen und nach Referenzen zu suchen, zeigte die Magie der Algorithmen bei ihm eine besonders heftige Wirkung.

»Ich habe ein bisschen recherchiert«, verkündete er so stolz, als hätte er soeben den Fall Kennedy aufgeklärt, und überreichte mir zig Seiten, aus denen ich zunächst nur schließen konnte, dass ich ihm in naher Zukunft beim Wechseln seiner Druckerpatronen assistieren müsste.

»Was haben Ihre Untersuchungen denn ergeben, Herr Professor Horowitz?«

»Dass Hunde immer nach Hause finden. Manche von ihnen legen dafür Tausende von Meilen zurück.«

»Und was raten Sie mir?«

»Sie sollten den Hund nicht zwingen, Ihnen zu folgen. Folgen Sie ihm! Er weiß, wohin er gehört, Sie nicht.«

Er hatte nicht unrecht. Ich beschloss also, dem Hund die provisorische Leine abzunehmen und ihn frei laufen zu lassen. Er trottete erst am See entlang und schlug dann einen Fußweg ein. Wir überquerten einen Golfplatz und gelangten in ein anderes, mir unbekanntes Villenviertel, das an einem Meerarm lag. Dann gingen wir eine Weile die Straße entlang und bogen zweimal rechts ab, bis der Hund schließlich vor einem Tor stehen blieb, hinter dem ein prächtiges Haus zu sehen war. Er setzte sich hin und bellte. Also klingelte ich. Der Frau, die sich über die Gegensprechanlage meldete, sagte ich, ihr Hund sei mir zugelaufen. Das Tor ging auf, und der Hund rannte zum Haus, offenbar glücklich, wieder daheim zu sein.

Ich ging langsam hinterher. Eine Frau erschien auf der Schwelle, und der Hund stürmte auf sie zu. Ich hörte sie seinen Namen rufen: »Duke!« Ich näherte mich, während die beiden ihrer Wiedersehensfreude freien Lauf ließen. Dann hob die Frau den Kopf, und ich blieb wie versteinert stehen.

»Alexandra?«, brachte ich schließlich hervor.

»Marcus?«

Es war unfassbar, dass wir uns über sieben Jahre nach der Katastrophe, die uns auseinandergerissen hatte, so wiederfanden. »Marcus, bist du es wirklich?«, fragte sie völlig verblüfft.

Und ich stand immer noch da wie vom Donner gerührt.

Sie lief auf mich zu. »Marcus!«

In einem Anflug spontaner Zärtlichkeit nahm sie mein Gesicht in beide Hände. Als ob sie sich vergewissern wollte, dass sie nicht träumte. Ich brachte kein Wort hervor.

»Marcus«, sagte sie schließlich noch einmal, »ich kann gar nicht glauben, dass du es wirklich bist.«

 

Wenn Sie die letzten Jahre nicht in einer Höhle verbracht haben, dann müssen Sie von Alexandra Neville gehört haben, der wohl bekanntesten Songwriterin dieser Zeit. Sie war der Superstar, auf den die Nation seit Langem gewartet hatte und dem die Musikindustrie einen Wiederaufschwung verdankte. Alexandras drei Alben hatten sich zwanzig Millionen Mal verkauft; zwei Jahre in Folge hatte die Times sie zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten gewählt, und ihr Vermögen wurde auf 150 Millionen Dollar geschätzt. Sie wurde vom Publikum verehrt und von der Kritik gelobt. Alle liebten sie, ob jung oder alt, und manchmal schien es mir, als hätte ganz Amerika nur noch die vier Silben ihres Namens auf den Lippen und riefe schmachtend und inbrünstig im Chor: A-lex-an-dra.

Kevin Legendre tauchte hinter ihr auf, ein kanadischer Hockeyspieler, mit dem sie liiert war.

»Ach, Sie haben Duke gefunden! Wir suchen seit gestern nach ihm! Alex war schon vollkommen fertig. Danke!«

Zur Begrüßung gab er mir die Hand. Ich sah, wie sein Bizeps schwoll, während er mir die Finger zermalmte. Natürlich kannte ich ihn nur aus den Promiseiten, die sich ununterbrochen mit seiner Beziehung zu Alexandra beschäftigten. Er sah unverschämt gut aus. Noch besser als auf den Fotos. Neugierig betrachtete er mich und sagte dann: »Ich kenne Sie doch!«

»Marcus. Marcus Goldman.«

»Der Schriftsteller, oder?«

»Richtig.«

»Ich habe Ihr letztes Buch gelesen. Alex hat es mir empfohlen, sie mag sehr, was Sie schreiben.«

Kevin hatte offenbar nichts begriffen. Er schlug mir vor, zum Abendessen zu bleiben, was ich gerne annahm. Es war nicht zu fassen: Ich hatte Alexandra wiedergefunden, und ihr Freund lud mich zum Essen ein.

Wir brieten riesige Steaks auf einem gigantischen Grill auf der Terrasse. Ich hatte die neuesten Entwicklungen in Kevins Karriere nicht so genau verfolgt und hielt ihn noch immer für einen Abwehrspieler der Nashville Predators, aber er war während der Sommertransfers zu den Florida Panthers gewechselt. Das hier war sein Haus. Er lebte jetzt in Boca Raton, und Alexandra hatte eine Pause während der Aufnahmen für ihr nächstes Album genutzt, um ihn zu besuchen.

Erst gegen Ende des Essens fiel Kevin wohl doch etwas auf.

»Du kommst aus New York?«, fragte er.

»Ja, ich lebe dort.«

»Und was hat dich nach Florida verschlagen?«

»Seit ein paar Jahren fahre ich regelmäßig in den Süden. Früher war ich öfter bei meinem Onkel in Coconut Grove zu Besuch. Und jetzt habe ich mir selbst ein Haus in Boca Raton gekauft, hier ganz in der Nähe, weil ich einen ruhigen Ort zum Schreiben brauche.«

»Wie geht es denn deinem Onkel?«, fragte Alexandra. »Ich wusste gar nicht, dass er nicht mehr in Baltimore ist.«

»Er ist nach der Katastrophe dort weggezogen«, antwortete ich ausweichend.

Kevin deutete mit der Gabel auf uns, ohne seine Unhöflichkeit zu bemerken, und fragte: »Träume ich, oder kennt ihr zwei euch?«

»Ich habe ein paar Jahre in Baltimore gelebt«, erklärte Alexandra.

»Und ein Teil meiner Familie wohnte auch dort«, ergänzte ich. »Der Onkel, von dem wir gerade sprachen, seine Frau und meine beiden Cousins. Im selben Viertel wie Alexandra und ihre Familie.«

Alexandra zog es vor, nicht weiter ins Detail zu gehen, und wir wechselten das Thema. Da ich zu Fuß gekommen war, bot sie an, mich nach dem Essen nach Hause zu fahren.

Als ich neben ihr im Auto saß, spürte ich eine gewisse Befangenheit zwischen uns. Um sie zu durchbrechen, sagte ich: »Irre, dass erst dein Hund bei mir vorbeikommen musste …«

»Er haut oft ab.«

»Vielleicht mag er Kevin ja nicht.«

»Lass die Witzchen, Marcus!« Ihr Tonfall war scharf.

»Sei nicht so, Alex …«

»Wie denn?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

Sie hielt mitten auf der Straße an und schaute mir direkt in die Augen. »Warum hast du mir das angetan, Marcus?«

Es fiel mir schwer, ihrem Blick standzuhalten.

»Du hast mich verlassen!«, brach es schließlich aus ihr heraus.

»Es tut mir leid. Aber ich hatte meine Gründe.«

»Was für Gründe? Es gab überhaupt keinen Grund, alles hinzuschmeißen!«

»Sie … sie sind tot, Alexandra!«

»Ja und, ist das meine Schuld?«

»Nein. Es tut mir leid. Es tut mir alles so leid.«

Ein lastendes Schweigen trat ein. Ich sagte nur noch ab und zu ein paar Worte, um ihr den Weg zu weisen.

Vor meinem Haus angekommen, bedankte sie sich, dass ich ihr Duke zurückgebracht hatte.

»Ich würde dich gern wiedersehen, Alexandra.«

»Ich glaube, wir lassen das besser. Komm bitte nicht wieder, Marcus!«

»Zu Kevin?«

»In mein Leben. Komm nie wieder in mein Leben.«

Dann fuhr sie davon.

Mir war nicht danach, ins Haus zu gehen. Ich hatte meine Autoschlüssel in der Tasche und beschloss, ein bisschen herumzufahren. Irgendwann war ich in Miami, und ohne darüber nachzudenken, fuhr ich quer durch die Stadt, bis ich das stille Viertel Coconut Grove erreicht hatte. Ich parkte vor dem Haus von Onkel Saul, lehnte mich an die Karosserie und starrte es lange an. Es war, als ob er noch da wäre, als ob ich seine Anwesenheit spüren könnte. Ich hätte ihn so gerne wiedergehabt, und dafür gab es nur eine einzige Methode: alles aufzuschreiben.

Saul Goldman war der Bruder meines Vaters. Vor der Katastrophe, also vor den Ereignissen, von denen ich Ihnen hier erzählen werde, war er, um es mit den Worten meines Großvaters zu sagen, ein sehr angesehener Mann. Als Anwalt leitete er eine der besten Kanzleien in Baltimore, und aufgrund seiner Erfahrung wurde er mit den berühmtesten Fällen von ganz Maryland betraut: Der Dominic-Pernell-Fall, die Stadt Baltimore gegen Morris, der Sache mit den illegalen Geschäften in Sunridge – das war alles er gewesen. In Baltimore war er eine Berühmtheit. In den Zeitungen und sogar im Fernsehen war von ihm die Rede, und ich weiß noch, wie sehr mich das damals beeindruckt hat. Er hatte seine Jugendliebe geheiratet, die für mich zu Tante Anita geworden war. In meinen Kinderaugen war sie die Schönste aller Frauen und die Liebevollste aller Mütter. Als Ärztin gehörte sie zu den Koryphäen der Krebsstation im Johns Hopkins Hospital, die im ganzen Land einen hervorragenden Ruf genoss. Die beiden hatten einen Sohn, Hillel, einen Jungen mit einem goldenen Herzen und von überragender Intelligenz, der fast genauso alt war wie ich und für mich wie ein Bruder war.

Die schönste Zeit meiner Kindheit und Jugend war die, die ich mit ihnen gemeinsam verbrachte, und lange Zeit machte mich schon die Nennung ihres Namens ganz närrisch vor Stolz und Glück. Für mich waren sie allen Familien, die ich bis dahin kennengelernt hatte, und allen Menschen, denen ich begegnet war, überlegen: glücklicher, erfüllter, ehrgeiziger, geachteter. Und das Leben gab mir lange Zeit recht. Sie waren Wesen einer anderen Dimension. Ich war fasziniert von der Leichtigkeit, mit der sie durchs Leben gingen, geblendet von ihrer Brillanz, überwältigt von ihrem Wohlstand. Ich bestaunte ihre Haltung, ihren Besitz, ihre gesellschaftliche Stellung. Das große Haus, die Luxusautos, die Sommerresidenz in den Hamptons, die Wohnung in Miami und den traditionellen Skiurlaub in Whistler, British Columbia. Ihre Einfachheit, ihr Glück. Ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Ihre ungeheure Überlegenheit, die ihnen eine ganz natürliche Bewunderung einbrachte. Sie zogen keinen Neid auf sich, weil sie dafür viel zu unerreichbar waren. Sie waren Lieblinge der Götter. Lange Zeit glaubte ich, ihnen könne nie etwas zustoßen. Lange Zeit glaubte ich, sie würden ewig leben.

2.

Nach meiner zufälligen Begegnung mit Alexandra schloss ich mich den ganzen Tag in meinem Büro ein. Nur bei Tagesanbruch hatte ich einmal das Haus verlassen, um in der morgendlichen Kühle am Seeufer zu joggen.

Ohne noch genau zu wissen, wie ich es angehen sollte, nahm ich mir vor, zunächst alle markanten Ereignisse im Leben der Goldmans aus Baltimore festzuhalten. Als Erstes zeichnete ich einen Stammbaum unserer Familie, wobei mir bald klar wurde, dass manches der Erläuterung bedurfte, vor allem Woodys Herkunft. So wurde aus diesem Baum bald ein ganzer Wald von Anmerkungen, und ich beschloss, aus Gründen der Klarheit lieber alles auf Karteikarten zu notieren. Vor mir auf dem Schreibtisch stand das Foto, das Onkel Saul vor zwei Jahren wiedergefunden hatte. Es zeigte mich vor siebzehn Jahren, umgeben von den drei Menschen, die ich am meisten liebte: meinen Cousins Hillel und Woody und Alexandra. Alexandra hatte jedem von uns einen Abzug geschickt und auf die Rückseite geschrieben:

ICH LIEBE EUCH, IHR GOLDMANS!

Sie war damals siebzehn, meine Cousins und ich gerade mal fünfzehn. Sie verfügte bereits über all jene Eigenschaften, die sie später zum Liebling von Millionen Menschen machten, aber noch mussten wir sie nicht mit der Welt teilen. Das Foto versetzte mich zurück in die Wirrungen unserer entschwundenen Jugend – lange bevor ich meine Cousins verlor, lange bevor ich zum aufstrebenden Stern am amerikanischen Literaturhimmel wurde, vor allem aber lange bevor Alexandra Neville zu dem Superstar wurde, der sie heute ist. Lange bevor sich ganz Amerika in sie und ihre Songs verliebte, lange bevor sie mit jedem Album Millionen Fans begeisterte. Lange bevor sie durch das ganze Land tourte, lange bevor sie zu der Ikone wurde, auf die die Nation gewartet hatte.

Am frühen Abend klingelte Leo, seinen Gewohnheiten treu, an meiner Tür.

»Alles in Ordnung, Marcus? Ich habe gar nichts mehr von Ihnen gehört. Haben Sie gestern den Besitzer des Hundes gefunden?«

»Ja. Es ist der neue Freund einer Frau, die ich jahrelang geliebt habe.«

»Die Welt ist klein«, staunte er. »Wie heißt sie?«

»Sie werden es nicht glauben: Alexandra Neville.«

»Die Sängerin?«

»Genau die.«

»Die kennen Sie?«

Ich holte das Foto und hielt es ihm hin.

»Ist das Alexandra?«, fragte Leo und zeigte mit dem Finger auf das Bild.

»Ja, und zwar zu der Zeit, als wir noch glückliche Teenager waren.«

»Und wer sind die anderen?«

»Meine geliebten Cousins aus Baltimore und ich.«

»Was ist aus ihnen geworden?«

»Das ist eine lange Geschichte …«

An diesem Abend spielten Leo und ich bis spät in die Nacht Schach. Ich war froh darüber, dass er da war und mich ablenkte. So konnte ich ein paar Stunden an etwas anderes denken als an Alexandra. Unser Wiedersehen hatte mich von Grund auf erschüttert. Trotz all der Jahre war es mir nie gelungen, sie zu vergessen.

Am nächsten Tag musste ich einfach wieder zum Haus von Kevin Legendre fahren. Ich wusste selbst nicht, was ich mir davon erhoffte. Sie zu sehen natürlich. Noch einmal mit ihr zu sprechen. Aber sie würde mir mein Kommen übel nehmen …

Ich hatte in einem Weg parallel zu Kevins Anwesen geparkt, als ich in der Hecke eine Bewegung wahrnahm. Neugierig geworden, schaute ich aufmerksam hin und sah auf einmal den guten Duke zwischen den Büschen durchschlüpfen. Ich stieg aus dem Wagen und rief ihn leise. Er erkannte mich sogleich und kam an, um sich streicheln zu lassen. Ein absurder Gedanke ging mir durch den Kopf und ließ sich nicht mehr verscheuchen: Duke könnte mir dabei helfen, den Kontakt zu Alexandra wiederaufzunehmen. Ich öffnete den Kofferraum, und er sprang brav hinein. Er war total vertrauensselig. Ich gab Gas und fuhr nach Hause. Duke kannte sich ja schon aus. Ich setzte mich an den Schreibtisch, er legte sich neben mich und leistete mir Gesellschaft, während ich mich wieder in die Geschichte der Goldmans aus Baltimore vertiefte.

 

Die Bezeichnung »Goldmans aus Baltimore« entsprach der meiner Familie: Wir waren die »Goldmans aus Montclair«. Das liegt in New Jersey, und wir unterschieden uns von den anderen schon durch den Wohnort. Mit der Zeit wurden aus den einen dann die Baltimores und aus den anderen die Montclairs. Diese Namen hatten die Großeltern Goldman aus Florida erfunden, die die Familie, um in ihren Gesprächen keine Unklarheiten aufkommen zu lassen und aus einem verständlichen Bedürfnis nach sprachlicher Reduktion, ganz selbstverständlich in zwei geografische Entitäten unterteilten. So konnten sie etwa, wenn die Feierlichkeiten zum Jahresende anstanden, sagen: »Samstag kommen die Baltimores, Sonntag die Montclairs.« Was anfangs edoch nur eine liebevolle Zuschreibung war, um uns leichter auseinanderhalten zu können, wurde im Laufe der Jahre zu einer Art Gütesiegel, das eine tiefe Spaltung im eigenen Clan ausdrückte. Die Fakten sprachen für sich: Die Goldmans aus Baltimore bestanden aus einem Anwalt und einer Ärztin, deren Sohn die beste Privatschule der Stadt besuchte. Bei den Goldmans aus Montclair war der Vater Ingenieur, die Mutter Verkäuferin in einer New-Jersey-Filiale eines schicken New Yorker Modelabels und der Sohn ein braver Zögling des staatlichen Bildungssystems.

Irgendwann hatten die Großeltern damit begonnen, die Aussprache und Betonung der Stammesnamen mit den besonderen Gefühlen aufzuladen, die sie dem jeweiligen Familienzweig entgegenbrachten. So hörten sich »die Baltimores« aus ihrem Munde an wie mit goldenen Lettern geschrieben, »die Montclairs« eher nach Schneckenschleim. Die Baltimores wurden mit Lob überhäuft, die Montclairs waren an allem schuld: Wenn der Fernseher nicht lief, hatte ich ihn wohl verstellt, war das Brot nicht frisch, hatte mein Vater es geholt. Die Wecken von Onkel Saul dagegen waren immer von allererster Qualität, und wenn der Fernseher wieder funktionierte, hatte bestimmt Hillel ihn repariert. Auch unter gleichen Umständen wurden wir ungleich behandelt: Kamen die Baltimores zu spät zum Abendessen, hatten die Armen bestimmt im Stau gesteckt. Waren es die Montclairs, lag es an deren beklagenswerter Unzuverlässigkeit. Was auch immer geschah: Baltimore war die Hauptstadt alles Schönen, Montclair der Hort alles Unzulänglichen. Der feinste Kaviar aus Montclair konnte nie an einen stinkenden Kohl aus Baltimore heranreichen. Wenn die Großeltern in Restaurants oder Geschäften Bekannte trafen, stellte Großmutter die Familie folgendermaßen vor: »Das ist mein Sohn Saul, ein berühmter Anwalt. Seine Frau Anita, eine großartige Ärztin am Johns Hopkins Hospital, und ihr Sohn Hillel, ein kleines Genie«, woraufhin jedes Mitglied des Hauses Baltimore mit einem Händedruck oder einer Verbeugung bedacht wurde. Dann machte Großmutter eine unbestimmte Handbewegung in unsere Richtung und fuhr fort: »Und das da ist mein jüngerer Sohn mit seiner Familie«, was meist nur ein kurzes Kopfnicken wert war, vergleichbar dem, mit dem man den Chauffeur oder das Dienstmädchen belohnt.

Das Einzige, worin die Baltimores und die Montclairs sich nicht unterschieden, war ihre Anzahl: Jede Familie bestand aus exakt drei Personen, zumindest solange ich klein war. Doch obwohl das Standesamt von Baltimore offiziell nur drei Goldmans registrierte, hätte jeder, der sie näher kannte, Ihnen erklärt, dass es eigentlich vier waren. Denn meinem Cousin Hillel, mit dem ich den Makel des Einzelkind-Daseins teilte, wurde das Privileg zuteil, vom Leben einen Bruder geliehen zu bekommen. Infolge von Ereignissen, auf die ich noch zurückkommen werde, war er nun nur noch in Begleitung eines Freundes, den man, wenn man ihm nicht begegnet war, leicht für eingebildet hätte halten können: Woodrow Finn – Woody, wie wir ihn nannten – war schöner, größer, stärker, zu allem fähig, aufmerksam und stets zur Stelle, wenn man ihn brauchte.

Woody gehörte bald ganz zur Familie der Baltimores und wurde so gleichzeitig einer der Ihren und einer der Unsern, Neffe, Cousin, Sohn und Bruder. Das war eine so selbstverständliche Tatsache, dass selbst im engsten Familienkreis immer nach ihm gefragt wurde, wenn er nicht da war – das höchste Zeichen der Integration. Es bewies, dass sein Dabeisein nicht nur geduldet, sondern für die Vollständigkeit der Familie unabdingbar war. Egal, wen Sie fragen – jeder, der die Goldmans aus Baltimore damals kannte, würde, ohne zu zögern, auch Woody dazu zählen. Damit hatten sie uns schon wieder etwas voraus: Im Match Montclair gegen Baltimore, in dem es bis dahin 3 : 3 gestanden hatte, stand es nun 3 : 4.

Woody, Hillel und ich waren die allerbesten Freunde, die man sich nur vorstellen kann. Woody war schon da, als ich zwischen 1990 und 1998 die besten Momente bei den Baltimores verlebte, eine gesegnete Zeit, aber auch die Grundlage für alles, was letztlich zu der Katastrophe führte. Zwischen zehn und achtzehn Jahren waren wir unzertrennlich, eine brüderliche Dreifaltigkeit, ein Dreigestirn, eine Triade, die wir stolz die »Goldman-Gang« nannten. Wir liebten einander, wie nur wenige Brüder einander lieben: Wir leisteten einander die heiligsten Schwüre, mischten unser Blut, gelobten einander die Treue und versprachen uns ewige Freundschaft. Trotz allem, was später geschehen sollte, werde ich diese Jahre stets als eine außergewöhnliche Zeit in Erinnerung behalten: die heldenhaften Abenteuer dreier glücklicher Jungen in einem von Gott gesegneten Amerika.

Nach Baltimore zu fahren, um mit ihnen zusammen zu sein, war für mich damals das Wichtigste. Nur in der Gemeinschaft mit ihnen fühlte ich mich vollständig. Gelobt seien meine Eltern, die mir in einem Alter, in dem nur wenige Kinder allein reisen durften, erlaubten, meine Cousins an verlängerten Wochenenden in Baltimore zu besuchen. Von da an wurde mein Leben durch den ewigen Kalender von Schulferien, Projekttagen und den Feiern zu Ehren der amerikanischen Helden rhythmisiert: Veterans Day, Martin Luther King Day und Presidents Day versetzten mich vor lauter Vorfreude in einen ungeheuren innerlichen Jubel. Ich war so aufgeregt, meine geliebten Vettern wiederzusehen, dass ich unerträglich wurde. Gelobt seien die Soldaten, die für unser Land gefallen sind, gelobt sei Dr. Martin Luther King jr. dafür, dass er ein so guter Mann war, gelobt seien unsere aufrechten, tapferen Präsidenten, die uns immer den dritten Montag im Februar freigaben!

Um wertvolle Stunden zu gewinnen, hatte ich bei meinen Eltern durchgesetzt, dass ich schon am letzten Schultag fahren durfte. Wenn der Unterricht endlich vorbei war, sauste ich wie der Blitz nach Hause, um meine Sachen zu packen. Dann hockte ich mit Schuhen und Jacke auf einem Sessel, die Reisetasche auf dem Schoß, und zappelte vor Ungeduld mit den Füßen, bis meine Mutter endlich von der Arbeit kam, um mich zum Bahnhof von Newark zu bringen. Ich war immer zu früh dran, sie zu spät. Um mir die Zeit zu vertreiben, betrachtete ich die Fotos unserer beiden Familien, die auf dem Möbel neben mir standen. Wir wirkten so blass wie sie grandios. Dabei führte ich in Montclair, einem hübschen Vorort von New Jersey, ein ruhiges, glückliches Leben, in dem es an nichts mangelte. Nur fand ich unsere Autos vergleichsweise weniger glänzend, unsere Gespräche weniger amüsant, unsere Sonne weniger strahlend und unsere Luft weniger rein.

Dann erklang die Hupe meiner Mutter. Ich stürzte hinaus und stieg in ihren alten Honda Civic. Sie lackierte gerade ihre Nägel nach, trank Kaffee aus einem Pappbecher, aß ein Sandwich oder füllte einen Werbegutschein aus. Manchmal auch alles gleichzeitig. Sie war elegant und immer hübsch zurechtgemacht. Schön und gut geschminkt. Aber wenn sie von der Arbeit kam, steckte an ihrer Jacke immer noch das Schild mit einem »zu Ihren Diensten« unter ihrem Namen, was ich furchtbar demütigend fand. Die Baltimores hatten Dienstboten, wir waren welche.

Ich warf meiner Mutter ihre Verspätung vor, und sie bat mich um Verzeihung. Ich schmollte, sie strich mir zärtlich über die Haare. Sie küsste mich und wischte mir mit einer liebevollen Handbewegung gleich die Lippenstiftspuren wieder von der Wange. Dann brachte sie mich zum Bahnhof, damit ich den Frühabendzug nach Baltimore erreichte. Unterwegs versicherte sie mir, dass ich ihr jetzt schon fehlte. Vor dem Einsteigen drückte sie mir noch eine Papiertüte mit Sandwiches in die Hand, die aus dem Laden stammten, in dem sie ihren Kaffee geholt hatte, dann musste ich ihr versprechen, mich gut zu benehmen. Sie umarmte mich und steckte mir dabei zwanzig Dollar in die Tasche, dann sagte sie: »Ich liebe dich, mein Kätzchen.« Anschließend drückte sie mir zwei Küsse auf die Wangen, manchmal waren es auch drei oder vier. Ein einziger, fand sie, sei nicht genug, dabei wäre mir schon das viel zu viel gewesen. Wenn ich heute daran zurückdenke, werfe ich mir vor, dass ich mich nicht zehn Mal küssen ließ. Dass ich sie viel zu oft allein gelassen habe. Dass ich mir nicht ständig ins Gedächtnis gerufen habe, wie vergänglich unser Glück ist, und mir nicht oft genug gesagt habe: Du sollst deine Mutter lieben!

Kaum zwei Zugstunden später kam ich am Hauptbahnhof von Baltimore an. Endlich konnte der Familientausch beginnen. Ich würde meinen zu engen Montclair-Anzug ablegen und meinen Körper in Baltimore-Tuch hüllen. Auf dem Bahnsteig erwartete sie mich in der einbrechenden Dunkelheit. Schön wie eine Königin, strahlend und elegant wie eine Göttin, die, deren Bild mir gelegentlich in schamvollen Nächten vor Augen stand: Tante Anita. Ich lief auf sie zu und umarmte sie. Ich spüre noch heute ihre Hand in meinen Haaren und ihren Körper an meinem. Ich höre ihre Stimme zu mir sagen: »Markie, Schätzchen, wie schön, dich zu sehen.« Ich weiß nicht, warum, aber meist kam sie allein, um mich abzuholen. Bestimmt, weil Onkel Saul oft erst spät aus der Kanzlei heimkehrte und sie sich nicht auch noch Hillel und Woody aufhalsen wollte. Ich jedenfalls bereitete mich auf das Wiedersehen vor wie ein Bräutigam: Ein paar Minuten vor der Ankunft des Zuges zupfte ich meinen Anzug zurecht und kämmte mich vor der Fensterscheibe, die ich als Spiegel benutzte, und wenn der Zug endlich hielt, stieg ich mit klopfendem Herzen aus. Ich betrog meine Mutter mit einer anderen.

Tante Anita hatte einen großen schwarzen BMW, der wahrscheinlich so viel gekostet hatte, wie meine Eltern zusammen im Jahr verdienten. Dort einzusteigen war der erste Schritt zu meiner Verwandlung. Ich verleugnete den schäbigen Civic und gab mich der Bewunderung dieser so luxuriösen wie modernen Karosse hin, die uns aus der Innenstadt in das schicke Viertel fuhr, in dem die Baltimores wohnten. Oak Park war eine eigene Welt mit breiteren Bürgersteigen und riesigen Bäumen am Straßenrand. Die Häuser dort waren eins größer als das andere, die Portale übertrumpften einander mit Ornamenten, und die Einfriedungen waren völlig überdimensioniert. Die Spaziergänger kamen mir schöner vor, die Hunde eleganter, die sonntäglichen Läufer athletischer. Bei mir zu Hause in Montclair gab es nur einladende Häuser ohne Gartenzaun, hier dagegen waren die meisten Villen von Hecken und Mauern geschützt. Durch die stillen Straßen kurvten private Sicherheitsdienste mit orangefarbenen Rundumlichtern und der Aufschrift »Oak Park Patrol« auf dem Auto, die über die Ruhe der Anwohner wachten.

Auf der Fahrt mit Tante Anita durch Oak Park vollzog sich die zweite Phase meiner Verwandlung: Ich begann, mich überlegen zu fühlen. Alles erschien mir selbstverständlich: der Wagen, das Viertel und meine Anwesenheit. Die Wachleute der Oak Park Patrol grüßten gewöhnlich die Anwohner, denen sie begegneten, mit einem schnellen Wink, und dieser Gruß wurde erwidert. Ein kurzes Zeichen zur Bestätigung, dass alles in Ordnung war und der Stamm der Reichen sich in Sicherheit wiegen konnte. Als ich zum ersten Mal sah, wie einer aus einem Streifenwagen winkte und Tante Anita zurückwinkte, beeilte ich mich, es ihr nachzutun. Nun war ich einer von ihnen. Vor dem Haus hupte Tante Anita zweimal, um uns anzukündigen, und betätigte die Fernbedienung, worauf die stählernen Kiefer des Tors auseinanderklappten. Dann fuhr sie durch die Einfahrt in die Garage mit den vier Stellplätzen. Kaum war ich ausgestiegen, flog die Eingangstür mit fröhlichem Radau auf, und schon liefen, sprangen sie mir aufgeregt schreiend entgegen, Woody und Hillel, die Brüder, die ich nie gehabt hatte. Das Haus entzückte mich jedes Mal aufs Neue: Alles war so schön, so luxuriös, so monumental. Die Garage war so groß wie unser Wohnzimmer. Die Küche so groß wie unser Haus. Die Badezimmer waren so groß wie unsere Schlafzimmer, und die Schlafzimmer so zahlreich, dass man mehrere Generationen darin hätte unterbringen können.

Jeder Aufenthalt in diesem Haus übertraf den vorherigen und trug zu meiner Bewunderung für meinen Onkel und meine Tante bei, aber vor allem zur perfekten Chemie der Gang, die Hillel, Woody und ich bildeten. Wir waren wie ein Fleisch und Blut. Wir liebten dieselben Sportarten, dieselben Schauspieler, dieselben Filme, dieselben Mädchen, und zwar nicht aus Übereinstimmung oder Absprache, sondern weil jeder von uns die Verlängerung des anderen war. Wir setzten uns über Naturgesetze und Wissenschaft hinweg: Die Stammbäume unserer Vorfahren hatten nicht dieselben Wurzeln, aber unsere Gensequenzen folgten denselben Windungen. Manchmal besuchten wir den Vater von Tante Anita, der in einem Altenheim lebte – wir nannten es das »Totenhaus« –, und ich weiß noch, wie seine leicht senilen Freunde mit ihrem etwas zerfransten Gedächtnis uns ständig mit Fragen zu Woodys Herkunft nervten und uns alle miteinander verwechselten. Sie zeigten mit ihren krummen Fingern auf Woody und stellten schamlos die ewig gleiche Frage: »Ist das ein Goldman aus Baltimore oder ein Goldman aus Montclair?« Und Tante Anita erläuterte jedes Mal mit einer Stimme, aus der die Zärtlichkeit klang: »Das ist Hills Freund Woodrow. Der Junge, den wir bei uns aufgenommen haben. Er ist einfach zauberhaft!« Dabei achtete sie aber stets darauf, dass Woody nicht mehr im Raum war, wenn sie das sagte. Sie wollte ihn nicht kränken. Aber ihrem Tonfall war anzuhören, dass sie bereit war, ihn wie ihren eigenen Sohn zu lieben. Die Antwort, die Woody, Hillel und ich auf diese Frage hatten, erschien uns der Wirklichkeit eher zu entsprechen: Wenn sie uns in diesen Wintern auf den Fluren, in denen so ein komischer Geruch nach Alter hing, mit ihren runzligen Händen aufhielten und von uns unbedingt den Namen wissen wollten, um die vielleicht unvermeidlichen Löcher ihrer kranken Gehirne damit zu stopfen, sagten wir immer: »Ich bin einer von den drei Goldman-Cousins.«

 

Am Nachmittag unterbrach mich mein Nachbar Leo Horowitz. Er machte sich Sorgen, weil er mich den ganzen Tag lang nicht gesehen hatte, und wollte sich vergewissern, dass alles in Ordnung war. »Alles gut, Leo«, versicherte ich ihm von der Türschwelle aus. Er fand es anscheinend merkwürdig, dass ich ihn nicht hereinbat, und argwöhnte gleich, dass ich ihm etwas verheimlichte. So leicht ließ er sich aber nicht abwimmeln. »Bestimmt?«, bohrte er neugierig nach.

»Ganz bestimmt. Ich arbeite einfach nur.«

Plötzlich sah er Duke hinter mir, der aufgewacht war und wissen wollte, was los war. Leo machte große Augen.

»Was macht der Hund bei Ihnen, Marcus?«

Ich ließ den Kopf hängen.

»Den habe ich mir ausgeliehen.«

»Sie haben was?«

Ich zog ihn schnell herein und schloss die Tür hinter ihm. Niemand durfte den Hund bei mir sehen.

»Ich wollte Alexandra besuchen«, erklärte ich. »Dann sah ich den Hund, wie er das Grundstück verließ. Und dachte, ich nehme ihn mit zu mir, behalte ihn den Tag über da, bringe ihn abends zurück und tue so, als wäre er von sich aus zu mir gekommen.«

»Sie sind wohl verrückt geworden, mein armer Freund. Das ist doch Diebstahl, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Ich leihe ihn mir doch nur, ich will ihn ja nicht behalten. Ich brauche ihn bloß für ein paar Stunden.«

Leo ging inzwischen in die Küche, nahm sich ungefragt eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentresen. Er war ganz entzückt von der überraschend unterhaltsamen Wendung, die sein Tag zu nehmen versprach.

»Wir könnten doch erst mal eine Partie Schach spielen!«, schlug er vor. »Das tut Ihnen vielleicht gut.«