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Martin Lorber, Thomas Schutz

Gaming für Studium und Beruf

Warum wir lernen, wenn wir spielen

ISBN Print: 978-3-0355-0466-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-0467-5

Gestaltung und Satz: tiff.any GmbH, Berlin

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

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Zusatzmaterialien und -angebote zu diesem Buch:
http://mehr.hep-verlag.com/gaming

Inhalt

Vorwort

1 Gaming und die Entwicklung von Lernkompetenzen auf Expertenniveau

1.1 Die digital geprägten Generationen Y und Z

1.2 Attack of the Gaming Grannies

2 Wie digitale Spiele zum Leitmedium wurden

3 Gaming als Motor der Kompetenzentwicklung

3.1 Kompetenzen sind Selbstorganisationsfähigkeiten

3.2 Gaming und Aufmerksamkeit

3.3 Aufmerksamkeit aus Sicht der Kognitionsneurowissenschaften

3.4 Gaming und Kompetenz

4 Gaming für das Gemüt

4.1 Gaming als Ort der Zuflucht: Das therapeutische Potenzial der Computerspiele

4.2 Social Prototyping: Kompetenz der Zukunft in einer digitalen Gesellschaft (von Martin A. Ciesielski)

5 Learning by Gaming: Computerspiele als Lehr- und Lernmittel in Schule, Hochschule und im Beruf

6 Was Organisationen und Unternehmen von Gamern lernen können

7 Fazit

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Mitwirkende Autoren

Vorwort

»The primary function of gaming is not information transfer, but influencing thought and action.« (Duke/Kriz, 2014, S. 13)

Schaut man heutzutage in einen Hörsaal, ist folgendes Szenario nicht unwahrscheinlich: Trotz der frühen Stunde – 10:00 Uhr – ist der Raum gut gefüllt, und in den hinteren Reihen drängeln sich Studierende, die fast in ihren aufgeklappten Laptops verschwinden – oder sich alternativ in ihre Smartphones vertiefen. Das Spiegelbild in der dahinterliegenden Glasfassade lässt erahnen, wozu die Computer und mitunter auch die Smartphones gerade genutzt werden: zum Gamen. Vor, während und nach der Vorlesung. Fragt man Lehrende hierzu, bestätigt sich: Dieses Phänomen ist recht weitverbreitet. Eben auch im Hörsaal. Gaming ist also überall. Und was nun?

Zunächst einmal ein Blick auf die Fakten (McGonigal, 2012, S. 22):

image40 Prozent aller Gamer sind Frauen.

imageJeder vierte Gamer ist älter als 50.

imageDer durchschnittliche Spielende ist 35 Jahre alt und spielt bereits seit 12 Jahren.

image61 Prozent aller Geschäftsführer und Finanzvorstände nutzen täglich kleine Pausen bei der Arbeit zum Spielen.

Die Öffentlichkeit assoziiert mit Computerspielen meist ausschließlich Unterhaltungszwecke, Wirklichkeitsflucht und negative Auswirkungen auf die Gehirn- und Persönlichkeitsentwicklung. Jedoch stellt sich bei der weltweiten, lebenslangen und generationenübergreifenden Verbreitung des Computerspielens die Frage, warum die enormen Lernpotenziale der Gamer nur eingeschränkt bis gar nicht für das Lernen an (Hoch-) Schulen oder im Beruf genutzt werden. Denn allein in Deutschland spielen 42 Prozent aller Bundesbürger ab 14 Jahren Computer- oder Videospiele, was rund 30 Millionen Personen entspricht (BITKOM, 2015a, Web.). Was lernen wir also, wenn wir Computer- oder Videospielen?

Zum einen sind die Antworten auf diese Fragen für die Gamer selbst interessant: Denn ist man sich seiner Lernkompetenzen auf Expertenniveau (siehe Kapitel 1) bewusst und kann diese entsprechend auf das Lernen in der (Hoch-)Schule und im Beruf übertragen, fällt das eigene Lernen viel leichter, ist Ressourcen schonender und durchaus wieder mit Spaß und Freude verbunden wie einst in den Kindertagen.

Zum anderen können diese virulenten Fragen für Unternehmen im digitalen Zeitalter schnell existenziell werden: Laut einem amerikanischen Team aus Forschern, Fachkräften und Unternehmensberatern »vergeuden« Wissensarbeiter in den Vereinigten Staaten 25 Prozent ihrer Zeit mit der Bearbeitung der immer stärker anwachsenden Datenströme. Das kostet die amerikanische Wirtschaft jährlich 997 Milliarden Dollar (Rosen/Samuel, 2015, S. 92). Eine andere Studie belegt diese Entwicklung, formuliert jedoch wie folgt: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen widmen sich meist nur drei Minuten ihrer eigentlichen Aufgabe, bevor sie sich anderer elektronischer Kommunikation zuwenden. Erst nach 20 Minuten kehren sie zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurück (vgl. Rosen/Samuel, 2015, S. 93).

Auch im (Hoch-)Schulkontext gibt es diverse Mythen darüber, wie lange sich Lernende konzentrieren können: Die Streuung solcher Aufmerksamkeits- und Konzentrationsmythen ist enorm, die Bandbreite der Qualität der wissenschaftlichen Fundierung ebenfalls. Lernende, die bereits lange und erfolgreich gamen, haben dadurch – je nach Spielgenre – gelernt, mit der allgegenwärtigen, digitalen Ablenkung zielführend umzugehen (Kapitel 3.2).

Umso beachtlicher wirkt dies vor dem Hintergrund, dass wir uns gerade jetzt an einem medienhistorisch bedeutsamen Wendepunkt befinden (Kapitel 2): Informelle und spielende Lern- und Arbeitskulturen sind nicht nur allgegenwärtig und werden immer prägender, sondern sie scheinen weltweit zu dominieren. An dieser Stelle ist der Ort und die Zeit für den ersten Warnhinweis:

Erster Warnhinweis

Dieses Buch versteht sich weder als Lobeshymne noch als Leidensabgesang auf Gaming. Ebenfalls nicht zu finden sind hier didaktisch charmante Gaming-Konzepte und Erfahrungsberichte (Empfehlung hierfür: »Planspiele und Serious Games in der beruflichen Bildung: Auswahl, Konzepte, Lernarrangements, Erfahrungen – Aktueller Katalog für Planspiele und Serious Games 2015«, Blötz, 2015). Vergebens wird man in diesem Band auch eine Binnendifferenzierung zwischen Games und Serious Games suchen, zumal »der Begriff ›Serious Games‹ […] nach wie vor kritisch gesehen [wird]. […] Es existieren bisher nämlich keine wissenschaftlich haltbaren Kriterien, um die Ernsthaftigkeit von Spielen schlüssig zu definieren oder gar zu messen. Sind Spiele im Sandkasten, in denen kleine Kinder ihrer Fantasie freien Lauf lassen, nicht ebenso ›ernsthaft‹? […] Der Begriff ›Ernsthaftigkeit‹ bringt also an sich noch gar keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn.« (Kriz, 2015, S. 266)

Nach einer ersten Erkundung der Generation Gaming und ihrer Lernpotenziale in Kapitel 1 und des medienhistorisch bedeutsamen Wendepunktes in Kapitel 2 möchte dieses Buch vor allem ein neues Didaktikkonzept präsentieren, in dem sowohl der Lehrende als auch der Lernende seine Lern- und Gamingexpertise einbringen kann. Dies soll neue Perspektiven eröffnen, Lernen und Lernkompetenzen, welche Gamer je nach Spielgenre meist auf Expertenniveau entwickeln, in ihrer individuellen Entwicklung zu reflektieren. Hierzu wurde an der Hochschule München an der Fakultät »Studium Generale und Interdisziplinäre Studien« im Rahmen der Allgemeinwissenschaftlichen Wahlpflichtfächer (AW)-Fächer ein neues Didaktikformat konzipiert und bereits siebenmal erfolgreich durchgeführt. Die Veranstaltung namens Why we game? lädt computerspielende Studierenden dazu ein, die Kompetenzen ihres Spielgenres als auch ihres Studienganges u. a. anhand einer wissenschaftlich fundierten Diagnostik und von Literaturstudien zu reflektieren. Die Ergebnisse dokumentieren die Studierenden in einer Seminararbeit. Teile dieser Arbeiten sind als Exkurse in Kapitel 3, 4 und 6 enthalten. Hierfür möchten wir allen beteiligten Studierenden an dieser Stelle herzlich danken.

Auch die Ideen zu den Kapiteln 4 bis 6 stammen aus der wissenschaftliche Recherche im Rahmen des Seminars Why we game? und beschäftigen sich mit folgenden Themen: »Gaming für das Gemüt«, »Learning by Gaming: Computerspiele als Lehr- und Lernmittel in Schule, Hochschule und im Beruf« und schließlich »Was Organisationen und Unternehmen von Online Gamern lernen können«.

Wir wünschen Ihnen nun viel Spaß beim Lesen dieses Buches und freuen uns über einen regen Austausch mit Ihnen. Here we go!

Martin Lorber und Thomas Schutz

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Kapitel 1 Gaming und die Entwicklung von Lernkompetenzen auf Expertenniveau

Mit talentierten Schachgroßmeistern wie dem 23-jährigen Niclas Huschenbeth werden oft strategische und taktische Fähigkeiten als auch enorme Lern- und Gedächtnisleistungen assoziiert. Bis ein Spieler solche Spitzenleistungen entwickeln kann, muss er 10 000 bis 50 000 Stunden bzw. mindestens zehn Jahre intensiv trainiert haben (Simon/Chase, 1973, S. 402). Auf diese Anzahl an Trainingsstunden kommen Gamer recht häufig. Welch eine Lernexpertise, die für andere Bereiche wie Schule, Hochschule und Beruf bislang ungenutzt bleibt!

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|Abb. 1| Das weltweit erste populäre Computerspiel: Pong

Pong. Mit Pong fing alles an. Im Jahre 1972 veröffentlichte der im selben Jahr gegründete Pionier der Computerspieleunternehmen, Atari Inc., das weltweit erste populäre Computerspiel: Pong |Abb. 1|.

Zur damaligen Zeit konnte man Pong jedoch nicht einfach auf seinen Computer laden und los spielen. Computer waren zum einen exorbitant teuer und konnten nur von Spezialisten bedient werden. Zum anderen nutzten Computer eine Technologie, welche die Integration eines Videospielsystems nicht erlaubte. Also begann Ralph H. Baer (1922–2014), für Pong eigenständige Hardware-Prototypen zu entwickeln.

Um Pong zu spielen, brauchte man zu damaligen Zeiten eigenständige Geräte, beispielsweise die Pong-Arcade-Maschine. Damals wie heute funktioniert das Spiel so: Der Spieler bewegt einen Balken nach oben oder unten, sodass ein Ball, symbolisiert durch einen Punkt, abprallt und zum gegnerischen Spieler fliegt. That’s it.

Vergleicht man die Geschwindigkeit mit heutigen Video- und Computerspielen, hat Pong selbst im sehr schnellen Modus einen eher meditativen Charakter. Pong wurde jedoch über Jahrzehnte gespielt und ist längst zum Mythos geworden: In Berlin sieht man heute beispielsweise in so manchen Schaufenstern alte TV-Geräte mit Pong in unendlicher Schleife. Auch Ausstellungen widmen sich dem Mythos Pong, zum Beispiel pong.mythos – Ein Ursprungsmythos und seine Geschichte. Eine Ausstellung über einen Ball, zwei Schläger, ein Spielfeld und unsere Situation in einer digitalen Welt (www.pong-mythos.net).

Ja, diese digitale Welt, die mit ihren Endgeräten unser Lernen, Arbeiten und Leben immer fulminanter zu prägen und zu beherrschen scheint: Smartphones gehen vor, erst danach kommt alles andere (vgl. Belwe/Schutz, 2014). Dies mag man bedauern – so manche hoffen und glauben ja, dass das Internet bald oder spätestens irgendwann wieder verschwindet. Das ist jedoch eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist – zahlreiche wissenschaftliche Studien konnten dies bereits zeigen –, dass die Digitalisierung die Generationen unterschiedlich geprägt zu haben scheint.

1.1Die digital geprägten Generationen Y und Z

Generationen sind Gruppen, Kollektive von Menschen, die zu einer bestimmten Zeit geboren worden sind: Die Einteilung von Generationen erfolgt also nach Produktionsdatum |Tab. 1|.

|Tab. 1| Generationenzugehörigkeit (Belwe/Schutz, 2014, S. 33)

Name

 

Abkürzung

 

Geburtsjahr

Silent Generation

 

–/–

 

1925 bis 1945

Baby Boomer

 

–/–

 

1945 bis 1965

Generation X

 

Gen X

 

1965 bis 1980

Generation Y

 

Gen Y

 

1980 bis 1995

Generation Z

 

Gen Z

 

1995 bis 2010

Lernbiologisch interessanter ist jedoch die partielle Gemeinsamkeit innerhalb einer Generation, deren Kindheit und Jugend durch die gleichen technischen Geräten geprägt wurden |Abb. 2|.

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|Abb. 2| Generationen und die sie prägenden technischen Geräte (Belwe/Schutz, 2014, S. 33)

»Zunächst gibt es die Generation von Kindern, die mit einem Fernseher, Taschenrechner, Walkman und mit MTV aufgewachsen ist (ab Gen X). Danach kommt die Generation von Kindern, die mit einem PC und Laptop, mit dem Internet und den ersten Mobiltelefonen aufgewachsen ist (ab Gen Y). Schließlich gefolgt von der Generation von Kindern mit einer Vielfalt mobiler, internetfähiger Endgeräte und mit Google, Facebook, Twitter und Co. (ab Gen Z). Diese digitalen Technologien scheinen heute sowohl die Generationen der Eltern und Lehrenden (bis Gen X) als auch die der heute in der Schule oder Hochschule Lernenden (Gen Y/Z) in ihrem Lebens-, Lern- und Arbeitsverhalten unterschiedlich geprägt zu haben.« (Belwe/Schutz, 2014, S. 34)

Man mag einwenden, dass alle Generationen heute ganz selbstverständlich Smartphones nutzen. Das ist wahr: Alle Generationen nutzen heute Smartphones. Aber nur die Gen Z ist Smartphones seit ihrer Geburt gewöhnt, woran sich die Gehirne dieser Generation angepasst haben (vgl. Belwe/Schutz, 2014, S. 22 ff.). Forscher der Universitäten Zürich und Fribourg konnten in einer Studie beispielsweise nachweisen, dass durch den täglichen Gebrauch von Smartphones nicht nur die Fingerfertigkeit trainiert wird (Wischkompetenz), sondern dass sich auch die Gehirne schnell an diese sich wiederholenden Fingerbewegungen anpasst haben (Gindrat et al., 2015). Es wurde ferner gezeigt, dass sich die kortikalen Repräsentationen von Nutzern eines Touchscreen-Smartphones von denen von Personen mit herkömmlichen Handys unterscheiden. Sie sind sogar umfangreicher als die von Geige- oder Klavierspielern. Zu diesem Vergleich erfahren Sie im Verlauf dieses Kapitels mehr.

Infolge dieser alltäglichen technologischen Prägung des »Homo Zappiens« (Veen, 2003) vermag es die Gen Y, mehr noch die Gen Z, schnell zwischen mehreren Informationskanälen hin und her zu zappen und bedeutungsvolles Wissen aus mehreren Informationsquellen zu entnehmen |Abb. 3|.

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|Abb. 3| Zapping – Prozessieren diskontinuierlicher Informationen (Belwe/Schutz, 2014, S. 49)

Nutzte die Gen Y in ihrer Kindheit und Jugend noch zwei Bildschirme (Second Screen), gehören für die Gen Z vier bis fünf (je nach Autor) zum Alltag. »Auch während der Nutzung des Computers, des Laptops oder des Tablet-PCs für eine bestimmte Aufgabe werden parallel Nebentätigkeiten durchgeführt, die der Kommunikation, dem Computerspielen oder der Unterhaltung dienen. Am Beispiel »Fernsehen und gleichzeitig Internet nutzen« lässt sich zeigen, dass die programmunabhängige Internetnutzung während des Fernsehens stärker ausfällt als die programmabhängige (|Abb. 4| vgl. Feierabend et al.: JIM-Studie 2013, Web.).« (Belwe/Schutz, 2014, S. 44)

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|Abb. 4| Gründe der Gen Z für die gleichzeitige Internetnutzung beim Fernsehen (Belwe/Schutz, 2014, S. 44)

Ähnliche Nebentätigkeiten lassen sich auch bei Studierenden während einer Vorlesung beobachten |Tab. 2|: »Die Psychologin Lydia Burak von der Bridgewater State University in Massachusetts/USA stellte einen Fragebogen zu derlei Aktivitäten sowie zu demografischen und Persönlichkeitsvariablen zusammen und befragte damit 774 Studenten im mittleren Alter von 20,75 Jahren (67,1 Prozent weiblich; 90,6 Prozent ›white, non-hispanic‹). Gerade einmal neun Studenten gaben an, während der Lehrveranstaltung keinerlei zusätzlichen Aktivitäten nachzugehen, und auch wenn man Essen und Trinken nicht berücksichtigt (beides kann automatisiert geschehen und lenkt daher eher wenig ab), sind nur 44 (5,6 Prozent) Studenten während der Vorlesung nicht zugleich mit anderen Aufgaben zugange. Alle anderen tun während der Vorlesung alles Mögliche nach eigenen Angaben ›oft‹ oder ›sehr oft‹.« (Spitzer, 2013, S. 806)

|Tab. 2| Nebentätigkeiten von Studierenden während einer Vorlesung (Spitzer, 2013, S. 806)

Tätigkeiten während der Vorlesung

Prozent der Befragten

Facebook

 

24,7

SMS

 

50,6

Chatten

 

13,2

E-Mail

 

15,0

Musik hören

 

6,5

Aufgaben für andere Lehrveranstaltungen bearbeiten

 

17,6

Telefonieren

 

3,2

Essen

 

26,1

Trinken

 

56,8

Es scheint so, dass die Gen Y und Z nicht lange bei nur einem Kanal verweilen kann, sondern auf anderen Kanälen nichts verpassen möchte, was gerade in diesem Moment interessanter erscheint. Das Akronym »FOMO« bringt es auf den Punkt: Fear Of Missing Out. Nur nichts verpassen und alle Kanäle gleichzeitig beobachten. Dass dies ein wahrnehmungsbiologischer Trugschluss ist und es das sogenannte Multitasking eigentlich gar nicht gibt, kann mit selbst durchgeführten Experimenten leicht überprüft werden. »Inattentional Blindness«, Blindheit durch Nicht-Aufmerksamkeit, (vgl. Slavich/Zimbardo, 2013) heißt das Zauberwort, denn Zauberer wenden dieses Phänomen immer recht raffiniert an, um mit ihren Zauberkunststücken bzw. den zugrundeliegenden Wahrnehmungstricks das Publikum zu verblüffen. Nicht nur das unwissende Publikum, sondern selbst geübte Experten in ihrem Fachbereich sind anfällig für dieses Wahrnehmungsphänomen: »The invisible gorilla strikes again: sustained inattentional blindness in expert observers.« (Drew at al., 2013) Dieses Phänomen ist also nicht charakteristisch für eine Generation und hat weder etwas mit Intelligenz noch mit digitalen Technologien zu tun. Eine umfangreiche Übersicht dazu bietet Cathy N. Davidson (2011) in Now You See It – How the Brain Science of Attention Will Transform the Way We Live, Work, and Learn. »Wie das letzte Wort im Untertitel andeutet, gibt es beachtliche Auswirkungen dieses Phänomens im Bereich Lernen.« (Belwe/Schutz, 2014, S. 47 ff.)

Beispielsweise können als Folge der immer höheren Taktfrequenzen immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspannen, eine geringere Sorgfalt, meist ein rudimentäres Google-Gedächtnis und fragmentierte Lese- und Schreibfertigkeiten auftreten (Mumme: Kulturgut Handschrift kommt an den Schulen zu kurz, Web.; vgl. Belwe/Schutz, 2014). Dies kann zu einer eingeschränkten Studier- und Arbeitsfähigkeit führen |Tab. 3|.

|Tab. 3| Merkmale der Studierenden 1969 vs. 2009 (vgl. Black, 2010, S. 94; Belwe/Schutz, 2014, S. 46)

1969

2009

meist studierfähig

 

Fehlen grundlegender Fertigkeiten

Fehlen von Erfahrungen mit Diversitäten

 

Akzeptanz / Toleranz von Diversitäten

selbstunsicher

 

selbstüberzeugt

selbstverantwortlich

 

Verantwortung wird externalisiert, bspw. an die Helikopter-Eltern

Akzeptanz institutioneller Strukturen

 

Kundenerwartung mit sofortigem Kundenservice

stabile Familienverhältnisse

 

instabile Familienverhältnisse

Papier und Stift

 

digitale Medien

Texte und Zahlen

 

Farben und Visualisierungen (Fotos, Grafiken)

händisches Mitschreiben

 

Tippen und/oder »Copy & Paste«

Fehlen den Studierenden, die in den Vorlesungen digitalen Nebenbeschäftigungen nachgehen |Tab. 2|, grundlegende Studienfähigkeiten |Tab. 3|, wenn beispielsweise 25 Prozent der Studierenden, die in der Vorlesung einen Laptop benutzen, diesen zum Computerspiele spielen nutzen (Fried, 2008, S. 910)? Ja und nein: »Long thought only to be a distraction, current research is beginning to tell a different story about gaming in education.« (Sheninger, 2014, S. 13) Dies schreibt Eric Sheninger, ehemaliger Direktor der New Milford High School, in seinem preisgekrönten Buch Digital Leadership – Changing Paradigms for Changing Times.

Die Zeiten haben sich auch in Deutschland geändert. Ein Blick auf die Zahlen verrät:

image»Zwei von fünf Bundesbürgern (42 Prozent) ab 14 Jahren spielen Computer- oder Videospiele, was rund 30 Millionen Personen entspricht.« (BITKOM: Gaming hat sich in allen Altersgruppen etabliert, Web.)

image»93 Prozent der 10- bis 18-Jährigen spielen Computer- und Videospiele – im Schnitt 104 Minuten pro Tag. Während Jungen durchschnittlich 122 Minuten pro Tag spielen, sind es bei den Mädchen nur 82 Minuten.« (BITKOM: Studie zu Kindern und Jugendlichen in der digitalen Welt, Web.)

imageIn der Electronic Sports League (ESL) sind ca. 5,4 Millionen Gamer registriert, von denen nahezu 2,4 Millionen aktiv im Wettbewerb spielen. (ESL: Statistiken, Web.)

image»Die mit Abstand meisten Gamer finden sich unter den Jüngeren: 81 Prozent der 14- bis 29-Jährigen spielen digital. Allerdings ist Gaming längst kein reines Jugendphänomen mehr: In der Altersgruppe zwischen 30 und 49 Jahren ist mehr als jeder zweite Deutsche (55 Prozent) ein Gamer. Unter den 50- bis 64-Jährigen sind es 25 Prozent und in der Generation 65-Plus spielen immerhin 11 Prozent Computer- oder Videospiele.« (BITKOM: Gaming hat sich in allen Altersgruppen etabliert, Web.)

Dies bedeutet, dass die Generation Gaming keine Generation im oben genannten Sinne ist, sondern eher eine Misch-Generation, ähnlich wie die Generation Golf. Klaus P. Hansen bezeichnet dies als Multikollektivität: »Individuelle Identität, so erkennen wir, setzt sich additiv aus vielen Eigenschaften, Überzeugungen und Hobbys zusammen, die kollektiv gestützt werden. So gesehen ist meine Identität eine Addition oder besser ein Amalgam aus einerseits vorgegebenen und andererseits frei gewählten Kollektiven. Diesen kollektiven Reichtum kennen die monokollektiv fixierten Tiere nicht. Ihnen gegenüber zeichnet sich das menschliche Individuum durch, wie wir es nennen wollen, Multikollektivität aus.« (Hansen, 2011, S. 156)

Ferner können innerhalb von Generationen bzw. von Kollektiven auch Subkollektive auftreten |Abb. 5|. Wenn man also zu Pauschalurteilen übergeht (vgl. Hansen, 2010), sollte man sich stets bewusst sein, dass ein solches den individuellen Menschen einer Generation nicht vollständig charakterisieren kann oder eben ein nicht individuelles Pauschalurteil ist. Was nützt es dann im konkreten Einzelfall?

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|Abb. 5| Die Lebenswelten der 14- bis 17-Jährigen in Deutschland (Belwe/Schutz, 2014, S. 43)

Wissen ermöglicht eine Vorschau, Vorschau ermöglicht die Tat. Demgemäß ermöglichen Informationen über eine Generation eine gewisse Vorschau, insbesondere wenn Vertreter der Generation das Verhalten derselben amüsant reflektieren wie in Generation doof – Wie blöd sind wir eigentlich? (Bonner/Weiss, 2008). Aber ist Digital Native gleich smart und Gamer gleich blöd?

Die Fähigkeit, ein Smartphone zu bedienen, also die Wischkompetenz, macht nicht unbedingt smart, zumindest nicht im Sinne einer IT-Kompetenz. Belege dafür bietet u. a. die ICILS-Studie 2013 (Bos et al., 2014), in welcher die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der achten Jahrgangsstufe international verglichen wurden. Eines der Ergebnisse: Die deutschen 14-Jährigen liegen im internationalen Vergleich von computer- und informationsbezogenen Kompetenzen nur im unteren Mittelfeld. (Bos et al., 2014)

Erschreckender sind drei weitere Details: 30 Prozent der Alterskohorte erreichen nur die unteren beiden Kompetenzstufen, haben also eher rudimentäre Fertigkeiten und Wissensbestände. Weiteren Anlass zur Sorge gibt der folgende Fakt: »ICILS zeigt, wie andere internationale Vergleichsuntersuchungen auch, dass der Anteil der besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler in Deutschland nicht sehr hoch ist.« (BMBF, 2014, Web.)