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Anke Clausen

Ostseehexe

Sophie Sturms dritter Fall

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Hamburg (2011), Dinnerparty (2009), Ostseegrab (2007)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lutz Eberle und © olly / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5088-4

Widmung

Für Papa

Prolog

Dresden 1992

Es war jetzt wieder dunkel. Die Hexe brachte ihn zurück in den staubigen Keller. Wie jede Nacht. Anfangs hatte er große Angst gehabt, doch mittlerweile hatte er sich an den Ablauf gewöhnt. Seine Schwester gab ihm wie immer einen Kuss auf die Stirn und sah ihn lieb an. Sie weinte oft leise, das hatte er bemerkt, auch wenn sie ihm streng erklärte, er solle alles machen, was man von ihm verlangte. In ein paar Stunden würden sie wieder zusammen sein. Er musste sich einfach zusammenreißen, sonst würde er es noch schlimmer machen. Und er war ja nicht ganz allein. Da war die Frau, die ihn in den muffigen Keller brachte und manchmal kurz bei ihm blieb. Sie gab ihm immer das Märchenbuch. Sie war nicht nett, sie war die Hexe. Wenn er die Märchen lesen durfte, war er von seiner Schwester getrennt. Er war doch erst neun Jahre alt. Er machte sich oft Gedanken. Müsste er nicht in eine Schule gehen? Vermissten Mama und Papa sie vielleicht doch? Und warum musste seine Schwester jeden Abend weg? Warum war sie immer so traurig?

»Jetzt sei ganz still! Lies das Buch!«

Er kannte alle Märchen auswendig. Er mochte die meisten nicht. Sie waren grausam. Die Kinder in den Geschichten wurden schlecht behandelt. Man schickte sie in den Wald und ließ sie arbeiten. Es war wie die Wirklichkeit. Er kannte es nicht anders. Seine Eltern waren abends immer komisch gewesen, und sie hatten ihn oft verhauen. Er wusste meistens gar nicht warum. In seiner Welt gab es keine Prinzen und Prinzessinnen. Es gab nur ihn und seine Schwester. Und es gab nur ein Märchen, das er wirklich liebte. »Jorinde und Joringel«. Das war seine Geschichte. Eines Tages würde er seine geliebte Schwester befreien. Er würde sie aus den Fängen der bösen Hexe retten. Sie würde wie Jorinde ihren Käfig verlassen und wieder bei ihm sein. So war jede Nacht. Der dunkle Keller, die schmutzige Matratze und das alte Buch, in dem er im Schein einer Taschenlampe blätterte. Manchmal hörte er Schreie. Manchmal schlief er ein und träumte von früher. War wirklich alles so schlimm gewesen? Schlimmer als hier? Er war noch klein, aber er wusste, dass das hier nicht richtig war. Wenn seine Schwester sich Stunden später mit angezogenen Beinen an ihn kuschelte, war ihr Gesicht geschwollen. Sie wimmerte, und eines Tages sah er das Blut, das durch ihren Pyjama drang. Er streichelte vorsichtig ihr Haar zurück und küsste sie sanft.

»Ich werde hier sterben«, sagte sie leise. Es erschreckte ihn. Es klang wie eine unausweichliche Tatsache. Er hielt sie noch fester.

»Nein, ich werde auf dich aufpassen«, erklärte er bestimmt. Seine Augen füllten sich mit heißen Tränen.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie zärtlich. »Du hast recht. Es wird sicher alles gut.«

Er fragte sich, ob es richtig gewesen war, von zu Hause wegzulaufen, und ob sie wirklich glaubte, dass alles gut werden könnte. Er wünschte sich nichts anderes, aber er hatte kaum noch Hoffnung. Er würde sie nicht retten können. Er war doch erst neun Jahre alt.

»Mein Vöglein mit dem Ringlein rot singt

Leide, Leide, Leide:

es singt dem Täubelein seinen Tod,

singt Leide, Lei – zicküth, zicküth, zicküth.«

Aus »Jorinde und Joringel« aus der Sammlung der Gebrüder Grimm.

Berlin, Dezember 2014

Er versuchte, die geschmückten Fenster und Lichterketten zu ignorieren. Weihnachten, das Fest der Liebe, deutete sich blinkend an. Ihm ging das am Arsch vorbei. Dass man noch immer den Geburtstag des kleinen Jesus feierte, kotzte ihn an. Wo war Gott denn gewesen? Wenn es einen Gott gab, dann hatte dieser ihn einfach vergessen. Ein kalter Wind zog durch die Straßen, und die kleinen eisigen Schneeflocken schmerzten wie gesplittertes Glas. Die Kappe ins Gesicht gezogen und die Fäuste tief in den Taschen seiner Daunenjacke stieg er die Stufen zur Praxis hinauf. Seit über zehn Jahren führte er hier regelmäßig Gespräche, um seine verkorkste Kindheit und seine kriminelle Jugend aufzuarbeiten. Anfangs gehörten die Sitzungen zu den Auflagen seiner Bewährungsstrafe. Er hatte sich daran gewöhnt, an das Reden und an die Pillen, die ihm gegen seine immer noch aufflammenden Angstzustände verschrieben wurden. Zumindest war er von den Drogen weg. Da er seine Vergangenheit nie vergessen würde können, sollte er sie verarbeiten. Das war zumindest die Meinung seines Therapeuten. Seit Jahren bildete sich dieser selbstverliebte Arzt ein, er würde ihm helfen können. Viel besser ging es ihm nicht, auch wenn seine Krankenkasse dem Doktor mindestens schon einen Porsche finanziert hatte. Gleich würde der Seelenklempner in seinem frischen weißen Polohemd ihm wieder die Hand schütteln und ihn auffordern, auf der teuren Ledercouch Platz zu nehmen. Am Ende würde er die Praxis wie immer mit einem Rezept verlassen und genug Tabletten aus der Apotheke holen können, um seinen Alltag zu schaffen, nicht mehr und nicht weniger. Er klingelte. Die eindrucksvolle Tür des schönen Jugendstilhauses in Charlottenburg öffnete sich mit einem Surren, und er betrat den eleganten Empfangsbereich.

»Herr Kowalski, da sind Sie ja schon«, begrüßte ihn die immer freundliche Sprechstundenhilfe. »Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz.«

Er nickte und betrat das großzügige Wartezimmer. Es roch angenehm nach Bergamotte. Auf pompöse Weihnachtsdekoration hatte man hier verzichtet. Nur ein paar weiße Amaryllis und Kiefernzweige standen in einer schweren Glasvase. Zum Glück war er allein. Er hasste es, wenn noch andere Patienten im Raum waren. Er hatte dann immer das Gefühl, alle beäugten einander und versuchten zu erraten, wer welchen Psychoknacks hatte. Er hängte seine Jacke auf einen Bügel, nahm auf einem der kühlen Designerledersessel Platz und griff wahllos nach einer Zeitschrift. Gelangweilt blätterte er durch die Seiten. Plötzlich war er wie elektrisiert. Sein Verstand weigerte sich zu verstehen, was er dort vor sich hatte. Wie war das möglich? Er suchte auf dem Cover nach dem Erscheinungsdatum der Illustrierten. Diese Ausgabe der »Stars & Style« war bereits vor vielen Monaten erschienen. Er hatte jetzt keine Zeit, sich darüber zu wundern, warum eine gut gehende Praxis ihre Patienten mit alten Magazinen langweilte. Er blätterte zurück zum Foto. Auf dem Bild waren im Vordergrund drei Models zu sehen, die in die Kamera lächelten. Sie stand im Hintergrund. Auch wenn sie leicht zur Seite blickte, hatte er sie sofort erkannt. Die Augen dieser Hexe würde er nie vergessen. Ohne zu atmen las er die Überschrift des Artikels. MODENSHOW FÜR DEN GUTEN ZWECK IN HAMBURG. Wie war das möglich? Sie war doch tot. Seit mehr als 20 Jahren schon. Mit zitternden Händen rollte er die Zeitschrift zusammen und steckte sie in seine Jacke. Ihm war schwindlig, als er das Wartezimmer verließ.

»Herr Kowalski? Der Doktor ist gleich für Sie da.«

Er räusperte sich. »Es tut mir leid, mir ist etwas dazwischen gekommen.« Er verließ die Praxis ohne weitere Erklärung. Jetzt spürte er den eisigen Wind nicht mehr. Wie durch einen Tunnel lief er die Straße entlang bis zu einem kleinen Park. Er setzte sich auf eine Bank und nahm zwei Tabletten ein. Er musste sich beruhigen. Die Hexe lebte, und es ging ihr anscheinend bestens. Noch. Er würde sie finden.

Sechs Monate später

Freitag

Sophie Sturm lehnte sich satt und zufrieden zurück. Sie saß auf ihrer Terrasse und genoss den wunderbaren Abend. Robert hatte eine köstliche Lachslasagne mit Spinat zubereitet. Nun war er in der Küche und kümmerte sich um das dreckige Geschirr. Es war ein heißer Tag gewesen. Nun war ein leichter Wind aufgekommen, und die Temperatur war auf angenehme 25 Grad zurückgegangen. Sophie streckte ihre braun gebrannten Beine aus und beobachtete das Geschehen in ihrem Garten. Ihre junge Podenco Ibicenco Hündin Ronja forderte den müden Königspudel Alexander zum Spiel auf. Sophie musste grinsen. Aus dem noch vor einem Jahr perfekt getrimmten Alexander war ein kleiner Hippie geworden. Sein Fell war zu lang für einen Pudel. Sie musste ihn dringend wieder trimmen lassen. Der Pudel gehörte Roberts Mutter. Da die mittlerweile im »Augustinum« lebte, einer sehr exklusiven Seniorenresidenz direkt an der Elbe, kümmerten sich Sophie und Robert um den Hund. Robert kam mit zwei Espressi zurück auf die Terrasse.

»Hier, mein Schatz«, sagte er und reichte ihr die kleine Tasse. Sophie warf ihm eine Kusshand zu und stellte lächelnd fest, dass sich nicht nur der Königspudel verändert hatte, auch Robert trug das Haar länger. Zudem war er mit Cargoshorts und T-Shirt bekleidet. Noch vor Kurzem hatte Robert höchstens zum Joggen Oberteile ohne ordentlichen Kragen an.

»Alles in Ordnung?«, fragte Robert irritiert nach. »Du guckst so komisch.«

»Ich habe nur gerade gedacht, was für einen attraktiven Freund ich doch habe.«

»Ich habe die Küche bereits aufgeräumt. Du musst mir also keinen Honig ums Maul schmieren. Oh, schau!« Robert deutete auf die Elbe. Ein Kreuzfahrtschiff zog majestätisch vorbei. Sophie liebte den Blick auf den Strom. Seit einem guten Jahr wohnte sie in der Villa in Othmarschen zur Miete. Ihre Vermieterin Misses Hamilton verbrachte ihren Lebensabend in ihrem Geburtsland, dem heutigen Malaysia. Sophie hatte die Villa für sich, auch wenn sie nur das Erdgeschoss bewohnte. Im oberen Stockwerk befanden sich noch immer die Möbel der alten Dame. Robert stellte seine leere Tasse ab und lächelte geheimnisvoll.

»Ich muss da was mit dir besprechen.«

Sophie nickte und schlug nach einer Mücke. »Was ist denn los?«

»Wir sollten den nächsten Schritt machen. Ich denke, es ist der richtige Zeitpunkt«, begann Robert. Er schenkte Wein nach und sah sie erwartungsvoll an.

»Ich verstehe kein Wort. Wovon sprichst du?« Sophie war irritiert.

»Sophie, die Umstände haben sich geändert. Mutter wird nicht wieder in ihr Haus zurückkehren. Sie fühlt sich ausgesprochen wohl in ihrer Seniorenwohnung. Es gibt Fahrstühle und keine schmalen Treppen. Ich bin froh, mir keine Sorgen mehr machen zu müssen, dass sie sich bei einem weiteren Sturz nicht nur den Oberschenkel, sondern gleich das Genick bricht.«

Sophie runzelte die Stirn. »Schatz, ich kann dir gerade nicht folgen.«

»Das ist doch ganz einfach. Es ist unlogisch, dass ich ein Appartement bewohne, dass ich nur noch als Schrank nutze. Du lebst in einer halben Villa, die zugegeben sehr charmant ist, aber für uns beide auf Dauer zu klein. Ich habe jetzt ein Traumhaus am Elbstrand zur Verfügung. Lass uns dort zusammenleben.«

Sophie frage sich, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Wir sollen zusammen in das Haus deiner Mutter ziehen?«

Robert nickte begeistert. »Genau. Das ist die einzig vernünftige Lösung.« Er lächelte sie breit an. »Das wird super.«

Sophie stellte ihre Tasse heftig zurück auf den Tisch »Nein!«

»Nein?« Robert sah sie ungläubig an. Das Lächeln erstarb in seinen Gesicht.

»Ich will nicht schon wieder umziehen. Ich habe hier fast ein Jahr herumgebastelt. Nun ist es genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich liebe diese Wohnung.«

»Und ich liebe dich.«

Sophie seufzte. »Das weiß ich, Robert. Aber es geht mir zu schnell. Nur weil deine Mutter dir ein hübsches Haus vererbt, bin ich nicht automatisch bereit, jetzt plötzlich mein Leben so entscheidend zu verändern. Wir sind noch viel zu kurz zusammen. Wir wissen doch gar nicht, wo die Reise hingeht.« Robert Feller strich sich das Haar zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. Sophie bekam fast ein schlechtes Gewissen. »Robert, wir wollten es langsam angehen lassen. Ich mag es so, wie es jetzt ist. Schatz bitte, verstehe mich doch. Ich brauche mein eigenes Reich, zumindest noch eine Weile.«

Robert nickte und sah dabei sehr unzufrieden aus. Sie wusste, dass er sich eine andere Reaktion gewünscht hätte, doch sie war noch nicht bereit für einen so großen Schritt. Es gab für sie auch keinen Grund dazu. Es ging ihnen doch gut. Sie wohnten nah beieinander, und wenn sie mal nicht die Nacht zusammen verbrachten, trafen sie sich morgens mit den Hunden zum Joggen. Sie machten viel gemeinsam, trotzdem hatten sie beide die Möglichkeit, sich auch mal zurückzuziehen.

»Ich dachte, es wäre schön zusammenzuleben.«

Sophie streichelte Roberts Arm. »Natürlich wäre das schön. Du darfst mich aber nicht so überrumpeln. Jetzt mach wieder ein freundliches Gesicht. Morgen ist das Sommerfest bei Tina auf Fehmarn. Das wird bestimmt super.«

Robert rollte mit den Augen. »Ja, ich freu mich total, mit meinem Vorgesetzten Kommissar Sperber am Grill zu stehen.«

Sophie kicherte leise. »Ihr versteht euch doch eigentlich ganz gut. Was soll ich denn sagen? Wie lange wird es diesmal dauern, bis Stefan und ich uns in die Haare kriegen?«

Robert zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, fünf Minuten?«

Sophie stöhnte auf. Es war leider eine Tatsache, dass Stefan und sie sich verstanden wie Hund und Katz. Es war zwar schon etwas besser geworden zwischen ihnen, aber es kam immer wieder zu hässlichen Auseinandersetzungen, die besonders Tina, ihrer besten Freundin und Stefans Frau, sehr zusetzten. »Ich werde versuchen, brav zu sein«, versprach sie lächelnd.

»Es wird bei dem Versuch bleiben«, entgegnete Robert trocken. »Wenn ich dir aber einen guten Tipp geben darf, misch dich einfach nicht in seine Polizeiarbeit ein. Richtig wütend wird Stefan nämlich eigentlich nur, wenn du rumschnüffelst, der Meinung bist, alles besser zu wissen, und dich am Ende selbst in tödliche Gefahr bringst.«

Olga Solowjowa stieg aus der Wanne und wickelte sich in ein Handtuch. Sie hatte sich ein heißes Bad gegönnt und gehofft, so ein wenig entspannen zu können. Als sie in den Spiegel blickte, starrte eine zarte dünne Frau sie aus dunklen Höhlen an. Ihr langes rotblondes Haar ließ ihre Haut unnatürlich blass aussehen. Ihre Schlüsselbeine standen stark hervor, und ihre Arme waren zu dünn. Sie musste aufpassen, dass sie nicht noch mehr Gewicht verlor. Zu knochige Models waren nicht mehr gefragt. Die letzten Wochen hatten ihr zugesetzt. Olga versuchte, Ruhe zu bewahren, doch mit der Dämmerung kam die Angst zurück. Erst vor ein paar Monaten war sie in die hübsche Zweizimmeraltbauwohnung in der Hamburger Schanze gezogen und hatte sich sofort zu Hause gefühlt. Jetzt war alles anders. Olga putzte sich die Zähne und schlüpfte in den Minnie-Maus-Pyjama. Bevor sie in ihr kleines Schlafzimmer ging, kontrollierte sie nochmals das Schloss an der Haustür und verriegelte alle Fenster. Sie würde jetzt einfach ins Bett gehen und schlafen. Was sollte denn geschehen? Ihre Wohnungstür hatte einen Riegel, die Fenster lagen zu hoch, als das jemand einsteigen konnte, und außerdem wohnte sie in einem Mehrfamilienhaus. Wenn jemand mit der Axt auf die Tür eindrosch, würde einer der Nachbarn doch sicher die Polizei rufen. Wahrscheinlich hatte sie einfach zu viel Fantasie. Olga seufzte. Die Situation war schrecklich und machte ihr wirklich zu schaffen. Mittlerweile geriet sie ständig in Panik. Auf der Straße drehte sie sich dauernd um. Sie fühlte sich immer verfolgt. Olga schaltete die Nachttischlampe an und kuschelte sich in ihr Bett. Sie schob noch eine CD der »Fünf Freunde« in den Player und lauschte dem Hörspiel. Dabei hatte sie schon als Kind gut einschlummern können. Olga war endlich in tiefen Schlaf gefallen, als ihr Telefon klingelte. Erschöpft setzte sie sich auf. War er es wieder? Sie musste wissen, was der Irre von ihr wollte. »Ja?«, meldetet sie sich kurz.

»Entschuldige, dass ich dich so spät noch störe, aber du siehst so süß aus in deinem Pyjama. Minnie Maus, oder?« Olga begann zu zittern. Wie konnte er wissen, was sie anhatte? »Du bist krank. Warum tust du mir das an? Ich werde die Polizei verständigen.«

Er lachte leise. »Mach das. Aber sei mir nicht böse, wenn ich dir jetzt schon sage, dass es die Bullen gar nicht interessieren wird. Die kommen doch erst, wenn etwas passiert ist. Und bis jetzt ist ja noch gar nichts passiert.«

Olga drückte das Gespräch weg und ärgerte sich sofort. Sie hätte cool bleiben und ihn weiter sprechen lassen müssen. Vielleicht hätte er sich verplappert, und sie wäre dahintergekommen, wer sie stalkte. Olga begann zu weinen. Seit Wochen ging das schon so. Ständig Anrufe, ein toter Vogel auf ihrer Fußmatte, Blumen vor der Tür, über die sie sich längst nicht mehr freute. Und anscheinend wusste er immer alles über sie. Sogar, welchen kindischen Pyjama sie gerade trug. Sie hätte gerne ihren Freund Max angerufen, aber der war nach Venedig geflogen, um einem Fotografen bei einem Modeshooting zu assistieren. Max nahm sie allerdings sowieso nicht richtig ernst, und sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Wenn Max bei ihr übernachtete, blieb es meist ruhig. Nur zwei Mal hatte nachts das Telefon geklingelt, und der Anrufer hatte sofort aufgelegt, als er seine Stimme gehört hatte. Olga putzte sich die Nase und überlegte. Sie würde ihren Kumpel Karl anrufen. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer. Karl war wirklich immer für sie da. Er schien der Einzige zu sein, der sie verstand und ihre Ängste ernst nahm.

»Jorinde, wir hätten nicht von zu Hause weggehen sollen. Wenn wir der Hexe begegnen.« Er hatte Angst.

Jorinde lächelte ihn an. »Wir werden vorsichtig sein.«

Der Wald war dunkel, und er fürchtete sich. Seine Schwester lief immer weiter. Seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er konnte ihr nicht folgen. Sie entfernte sich immer mehr von ihm. Warum drehte sie sich nicht um? Sie konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen.

»Jorinde, bitte warte! Warte!« Er erwachte. Hatte er geschrien? Diese Albträume machten ihn fertig. Seit er vor ein paar Monaten erfahren hatte, dass die Hexe noch am Leben war, waren seine Nächte ein echter Horrortrip. Die alten Ängste waren zurück und machten aus ihm wieder den kleinen neunjährigen Jungen aus dem Keller. Er schaute auf den Wecker. Es war drei Uhr. Wahrscheinlich würde er nicht wieder einschlafen können. Er stand auf, lief in die kleine Küche und trank gierig aus einer Wasserflasche. Er musste sich beruhigen. In Wirklichkeit war er nicht Joringel. Er war es nie gewesen. Als Kind hatte er sich in dieses Märchen geflüchtet. Seine Schwester war in der Hand dieser Hexe gewesen, und nicht nur sie. Es gab viele Nachtigallen im Käfig, und er konnte ihnen nicht helfen. Er hätte sie so gern befreit. Im Märchen fand Joringel die magische Blume, und die Geschichte endete glücklich. In der Realität hatte er keine Zauberblüte aufspüren können. In seinen Träumen hatte er sie jahrelang gesucht, und nun suchte er wieder danach. Fast jede Nacht. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob er im Begriff war verrückt zu werden. Dass er seine Therapie abgebrochen hatte und nach Hamburg gezogen war, hatte sicher auch damit zu tun, dass er sich wieder in einem erbärmlichen Zustand befand. Aber er hatte nun einmal eine Mission. Wenn er seiner Schwester damals nicht helfen konnte und in seinen Träumen immer versagte, dann musste er seinen neuen Weg weitergehen und die Hexe zur Strecke bringen. Und wenn es das Letzte war, das er in seinem jämmerlichen Leben zustande bringen würde.

Samstag

Tina Sperber stellte das letzte Schneidebrett in die Spülmaschine und schaltete das Gerät an. Milder Sommerwind wehte durch die geöffneten Fenster. Sie hatten wirklich Glück mit dem Wetter. Der Himmel war blau, und nur wenige kleine Wolken zogen vorbei. Tinas Blick fiel durch die offene Küche auf den Esstisch, der sich unter den zubereiteten Kuchen, Torten und diversen Salaten gebogen hätte, wäre er nicht so massiv gewesen. Sie war bereits seit sieben Uhr morgens in der Küche, um die letzten frischen Speisen für das Sommerfest zuzubereiten. Das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen, dachte Tina zufrieden. Sie liebte es zu kochen und zu backen, aber mit drei kleinen Kindern blieb ihr nicht viel Zeit. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einfach alleine ein paar Stunden in der Küche gezaubert hatte. Tina wischte noch einmal über die Arbeitsflächen ihrer modernen Edelstahlküche und grinste. »Danke, Oma Hedi«, flüsterte sie leise. Oma Hedi war seit ein paar Monaten eine echte Geheimwaffe. Tina erinnerte sich. Es gab einen Punkt, an dem sie mit ihren drei Kindern überfordert gewesen war. Alle waren noch so klein, und ihr Mann Stefan blieb unter der Woche meistens in seiner Wohnung in Lübeck. Mehr oder weniger alleinerziehend hatte sie alles möglichst perfekt machen wollen. Am Ende des Tages war sie immer öfter in Tränen ausgebrochen. Es fiel ihr schwer einzugestehen, dass sie Hilfe brauchte. Durch Zufall war sie eines Tages Hedi begegnet. Sie war im April mit ihren Kindern am Strand entlang spaziert, noch immer in warmen Fleecejacken, als die ältere Dame aus dem Wasser kam.

»Mama, da kommt eine alte Meerjungfrau an Land«, hatte ihre siebenjährige Tochter Antonia verwundert geäußert.

Die nette Dame hatte geantwortet: »Ja, wir alten Meerjungfrauen kommen nur selten an den Strand. Wir wollen eigentlich nicht erkannt werden. Darum nehmen wir auch unsere Flosse ab.«

Antonia hatte über den Witz gelacht, und der kleine Paul hatte eins und eins zusammengezählt.

»Sie sind viel zu alt. Und überhaupt keine Meerjungfrau.« Die Frau, die im kurzen Neoprenanzug noch eine sehr sportliche Figur machte, hatte die Kinder angestrahlt und gemeint: »Ihr habt mich ertappt. Ich bin nur Oma Hedi, die bei Wind und Wetter schwimmt.«

Als Tina die reizende Dame wenige Tage später zufällig im Supermarkt in Petersdorf wiedergetroffen hatte, kamen beide schnell ins Gespräch. Hedwig Müller, so ihr eigentlicher Name, hätte gerne etwas zu tun, seit sie in Rente war, und Tina brauchte eine helfende Hand. Sie waren sich schnell einig geworden. Oma Hedi war ein echter Glücksfall. Sie wohnte nur ein paar Kilometer entfernt in Neujellingsdorf und unterstützte die Familie, wann immer Not am Mann war. So wie heute. Tina goss sich eine Tasse Kaffee ein und ging in den Garten. Oma Hedi hatte die Kinder heute um acht Uhr abgeholt und ihnen in ihrem Häuschen ein Frühstück gemacht. Sie hatte ihr den Rücken frei gehalten wie schon so oft. Hedi würde die Bande um zwei Uhr heimbringen. So hatte Tina noch genug Zeit, die Kinder umzuziehen, bevor sie ab drei Uhr ihre Gäste zum Sommerfest begrüßen würde. Stefan sollte dann auch spätesten aus Lübeck zurück sein. Tina setzte sich in den Strandkorb und hoffte, dass ihm kein Mordfall dazwischenkommen würde.

Karl reckte seine müden Glieder. Wie immer hatte er furchtbar geschlafen auf Olgas viel zu kurzer Couch. Sie hatte ihm so leidgetan, dass er noch in der Nacht zu ihr gefahren war. Er mochte das dünne Mädchen mit den Rehaugen sehr und hatte das Gefühl, sie beschützen zu müssen, wenn ihr Freund Max mal wieder unterwegs war. Als Fotoassistent musste der oft reisen. Max war ein anständiger Kerl, und sie kamen gut miteinander aus. Er war nur viel zu selten da. In der jetzigen Situation war das wirklich schlecht. Karl sah auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es fast Mittag war.

»Hallo«, sagte Olga in diesem Moment und trat mit zwei Bechern ins Wohnzimmer. Sie reichte ihm den Kaffee. »Ich frage dich nicht, wie du geschlafen hast.«

»Nein, lass es lieber. Es wird nicht besser, aber das hatte ich auch nicht erwartet.« Er setzte sich auf und trank schlürfend einen Schluck. »Ah, das tut gut.«

»Warum lässt du mich denn nicht auf dem Sofa pennen?«

»Olga, bitte. Ich weiß doch, was sich gehört.«

Olga setzte sich auf den Couchtisch und sah ihn entmutigt an. Ihr Gesicht wirkte so jung. Er hätte sie gern berührt.

»Ich möchte dir noch mal dafür danken, dass du zu mir gekommen bist. Ich hatte solche Angst heute Nacht. Jetzt scheint die Sonne, und ich komme mir total albern vor.«

Karl winkte ab. »Das ist nicht albern. Da versucht jemand, dich kaputt zu machen. Ich komme wirklich gern, um dir zu helfen, nur auf Dauer ist das keine Lösung. Du solltest zur Polizei gehen.«

»Was soll ich denn sagen? Es ist doch nichts passiert.«

»Dann lass zumindest deine Telefonnummer ändern«, schlug er vor.

Olga nickte nachdenklich. Sie war bereis fertig angezogen. Die engen Jeans zeigten, dass sie wirklich viel zu dünn war. »Wir sollten frühstücken gehen«, schlug er vor.

»Ich habe keine Zeit. Ich bin eingeladen. Zu einem Sommerfest auf die Insel Fehmarn bei Tina Sperber.«

»Bei der Tina? Dem Model? Du hast mir von ihr erzählt. Von ihr und Sophie Sturm.«

Olga nickte. »Ja genau. Als ich mit dem Modeln anfing, waren die beiden in dem Geschäft bereits alte Hasen und hörten wenig später auf. Tina hat geheiratet, und Sophie ist zu einem Lokalsender gegangen und hat als Reporterin gearbeitet. Das ist alles schon ewig her. Vor ein paar Monaten habe ich beide dann bei einem Charity-Event wiedergetroffen.«

»Das klingt doch nett. Wird dir gut tun und dich auf andere Gedanken bringen.«

»Ich war wirklich überrascht, dass Tina mich eingeladen hat.«

»Warum bleibst du nicht ein paar Tage dort?«, schlug Karl vor.

Olga sah ihn verwundert an. »Also wirklich. Wie stellst du dir das vor? Ich kann mich doch nicht einfach bei ihr einnisten.«

»Das musst du doch auch gar nicht. Ruf diese Tina an und frage, ob sie nicht eine Pension in ihrer Nähe kennt. Du solltest mal raus. Geh spazieren, baden, und iss mal wieder was Richtiges.« Sie schien tatsächlich darüber nachzudenken. »Ich meine es ernst, Olga. Du siehst nicht gut aus. Wenn du so weitermachst, kippst du bald um. Und dann hat der Stalker vielleicht genau das erreicht, was er erreichen wollte.«

Sophie war bester Laune. Sie packte noch schnell die Bücher ein, die sie für die Kinder gekauft hatte, und legte sie in den Korb zu dem wunderschönen Seidentuch, das sie als Mitbringsel für Tina erstanden hatte. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite. Es würde ein herrliches Fest werden. Als es draußen hupte, rief sie ihre Hündin.

»Ronja, komm! Robert und Alex sind da.«

Ronja rannte begeistert herbei und sprang an ihr hoch. Sie konnte Sophie dann fast die Pfoten auf die Schultern legen. »Ronja, ab. Du weißt, dass du das nicht darfst. Mach mir auf den Fest bloß keine Schande.« Sie griff ihren kleinen Trolley, verschloss die Haustür der Villa und ging zum Wagen. Robert nahm sie in den Arm und küsste sie.

»Hallo, Schatz, wollen wir deinen Wagen nehmen?« Robert deutete auf ihr Cabriolet.

»Auf jeden Fall!«

Sie ließen die Hunde auf die Rückbank springen. Sophie wickelte sich ein Tuch um den Kopf und setzte die Sonnenbrille auf, bevor sie sich hinter das Steuer setzte und den Motor startete. Robert blickte sie anerkennend an. »Du siehst aus wie die junge Grace Kelly.«

Sophie lachte. »Vielen Dank. Du siehst zum Glück nicht aus wie der Fürst.«

»Sondern?«

Sophie überlegte kurz. »Na groß, braun gebrannt, einfach unverschämt gut aussehend.«

Robert nickte. »Du kannst Menschen sehr treffend beschreiben. Du würdest eine gute Zeugin abgeben.«

»Würdest? Also hör mal. Ich kann mich an zwei Fälle erinnern, bei denen ich sogar mehr war als eine Zeugin.«

»Stimmt. Da warst du ja sogar fast das Opfer. Ich will gar nicht daran denken.«

Sie fuhren eine Weile schweigend. Sophie ärgerte sich über Roberts Aussage. Sie war ja nicht absichtlich in Schwierigkeiten geraten.

»Ich wollte nur helfen.«

Robert atmete tief durch. »Lass uns bitte das Thema wechseln. Mir ist nach wie vor nicht wohl bei dem Gedanken, dass wir bei Sperbers übernachten. Ich finde immer noch, dass wir in ein Hotel gehen sollten.«

»Das hatten wir doch besprochen. Tina möchte uns gerne bei sich haben. Es ist sowieso schade, dass wir nur eine Nacht bleiben können. Und so können wir ihr später noch beim Aufräumen helfen, ein Gläschen zu viel trinken und den nächsten Tag gemütlich angehen. Ich habe keine Lust, um elf Uhr auszuchecken, obwohl ich noch im Eimer bin.«

»Ach, du glaubst, Tinas Kinder lassen dich ausnahmsweise mal länger schlafen?«

Sophie grinste. »Wahrscheinlich nicht. Aber wir kriegen jetzt sowieso kein Zimmer mehr. Schon gar nicht mit zwei riesigen Hunden.«

Sie kamen gut voran. Als sie über die Fehmarnsundbrücke fuhren, musste Sophie plötzlich an Pelle denken. Ihr brauner treuer Labrador war vor zwei Jahren auf der Insel erschlagen worden, von dem Menschen, der kurze Zeit später versucht hatte, sie zu ertränken. Sie vermisste Pelle immer noch schmerzlich, auch wenn sie ihre Hündin Ronja über alles liebte. Ein Hund ließ sich eben nicht durch einen anderen ersetzen.

Karl sprang schnell unter die Dusche, während Olga bei Tina Sperber auf Fehmarn anrief. Das heiße Wasser löste seine verspannten Muskeln. Ihm war klar, dass er das nächste Mal lieber auf dem Fußboden schlafen würde als noch einmal auf dem kurzen Sofa. Als er fünf Minuten später mit einem Handtuch um die Hüften zurück ins Wohnzimmer kam, war Olga in Tränen aufgelöst.

»Was ist passiert?«, erkundigte er sich erschrocken.

»Tina hat gesagt, die meisten Pensionen sind zu dieser Jahreszeit ausgebucht«, schniefte Olga.

»Ach so ein Mist.«

»Nein, warte«, fuhr Olga fort, nachdem sie sich die Nase geputzt hatte. »Tina hat mich eingeladen, bei ihr zu wohnen.«

»Ja aber das ist doch toll. Warum weinst du denn dann?«

»Ach Kalle, ich heule, weil ich mich freue und auch weil ich mich dabei irgendwie komisch fühle. Ich bin einfach total durcheinander und übermüdet. Außerdem kenne ich Tina ja kaum.«

Karl stöhnte genervt auf. »Jetzt wirst du sie ja kennenlernen. Pack deine Sachen. Ich bring dich hin.«

Es dauerte fast 20 Minuten, bis Olga ihre Tasche gepackt hatte, und sie im Wagen saßen.

»Ich danke dir. Es ist so lieb, dass du mich fährst.«

»Unsinn. Ich bin froh, wenn du mal ein paar Tage ausspannen kannst. Dann kann ich auch beruhigt in meinem eigenen Bett schlafen. Mein Rücken freut sich schon.«

Olga kuschelte sich auf dem Beifahrersitz zusammen und war nur kurze Zeit später eingeschlafen. Karl kurbelte das Fenster runter und zündete sich eine Zigarette an. Er war zufrieden. Diese Tina Sperber schien wirklich nett zu sein. Es war schließlich nicht selbstverständlich, dass sie Olga sogar in ihr Haus einlud.

Karl weckte Olga erst kurz vor der Fehmarnsundbrücke.

»Wir sind gleich da.«

Sie streckte sich und sah ihn unsicher an.

»Ich werde der Familie doch nicht auf den Wecker fallen?«

»Wenn du dich weiterhin so bescheuert verhältst, dann ganz sicher. Mensch, jetzt mach dich mal locker. Du kannst dich bestimmt nützlich machen. Nach dem Fest gibt es garantiert genug aufzuräumen. Und wenn du zwischendurch mal für dich sein möchtest, dann gehst du an den Strand, futterst Krabbenbrötchen und sammelst Muscheln.«

Sie nickte. »Du hast recht.«

Karl lächelte sie aufmunternd an. »Wenn du in ein paar Tagen wieder in Hamburg bist, hast du neue Kraft und einen freien Kopf. Dann sollten wir uns überlegen, wie wir dem Mistkerl eine Falle stellen können.«

Tina lief durch den Garten und stellte die letzten Vasen mit frischen Blumen auf die mit weißen Tüchern eingedeckten Tische. Alles sah perfekt aus, trotzdem wurde sie langsam nervös. Die Zapfanlage hätte schon vor Stunden geliefert werden müssen, und auch die Cateringfirma, die das Fleisch und den großen Schwenkgrill vorbeibringen sollte, ließ auf sich warten. Von Stefan fehlte ebenfalls jede Spur, und er ging auch nicht an sein Handy. Tina war leicht verärgert. Er könnte sich zumindest mal melden. Außerdem wollte er das Eis mitbringen. Bevor sie noch weiter über ein katastrophales Sommerfest mit warmen Getränken nachgrübeln konnte, hupte es auf der Auffahrt. Tina lief ums Haus und war unendlich froh, dass es Sophie und Robert waren.

»Schön, dass ihr schon da seid. Es gibt hier noch ein paar Dinge zu tun.«

Sophie umarmte sie herzlich. »Dann sind wir hier ja richtig.«

Robert küsste Tina auf die Wangen. »Was soll ich machen?« Bevor sie antworten konnte, fuhr endlich der Bierlieferant, gefolgt vom Wagen des Cateringservices und einem alten VW Caddy, vor. Mit der Ruhe am Morgen war es jetzt definitiv vorbei.

»Robert, vielleicht könntest du nach einem geeigneten Grillort Ausschau halten. Außerdem muss die Zapfanlage aufgebaut werden.«

Robert salutierte und nahm die Männer vom Catering in Empfang. Sophie ließ die Hunde aus dem Wagen und kümmerte sich um das Gepäck. Tina lief zu dem alten Caddy. Die Tür ging auf, und Olga stieg unsicher aus dem Wagen. Tina versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen wie geschockt sie war. Olga war nur Haut und Knochen. Der Fahrer stieg ebenfalls aus und nickte ihr zu.

»Tina, ich bin dir ja so dankbar«, begrüßte Olga sie schüchtern.

»Ach, das ist doch keine große Sache. Schön, dass du da bist.«

Tina war jetzt schon froh, dass sie Olga ihr Gästezimmer angeboten und sie ermutigt hatte, noch ein paar Tage länger zu bleiben. Das Mädchen musste aufgepäppelt werden.

»Das ist Karl, ein Freund von mir«, stellte Olga ihren Fahrer vor.

»Oh wie nett. Sie bleiben doch zum Fest?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber ich muss leider zurück nach Hamburg.«

Plötzlich kamen die Kinder um die Ecke gerannt. Oma Hedi folgte ihnen. Der kleine Finn warf sich in Tinas Arme, und Paul sprudelte los: »Oma Hedi hat uns Pfannkuchen zum Frühstück gemacht.«

»Ich danke dir, Hedi. Ich hoffe, die Bande hat sich gut benommen.«

»Aber ja. Sie waren kleine Engel.«

Tina küsste ihre kleinen Söhne und streichelte ihrer Tochter den Lockenkopf. »Ihr hattet es also fein?«

Antonia nickte. »Es war super. Oh, da sind ja Ronja und Alexander!« Sofort tobte sie mit den Hunden durch den Garten.

Tina schüttelte den Kopf. »So ist es immer. Erst werden die Hunde begrüßt.«

Oma Hedi nahm ihr Finn ab. »Ich bringe den Kleinen nach oben. Er ist todmüde.«

Tina lächelte sie an und nickte. »Gute Idee.«

»Ich fahr mal«, verabschiedete sich Karl. Er gab Olga einen schnellen Kuss auf die Wange und startete dann den Wagen. Tina klatschte in die Hände. »Paul, sei so lieb und zeige Olga doch bitte unser Gästezimmer?«

Paul griff begeistert nach Olgas Hand. »Komm mit!«

Olga folgte dem Jungen ins Haus.

Sophie trat neben Tina. »Jetzt kommt hier ja Bewegung in die Sache.«

Tina nickte. »Das wird auch Zeit. Der Grill und das Bier sollten schon vor Stunden geliefert werden, und wo Stefan bleibt, weiß der Himmel. Gut, dass Robert jetzt da ist und sich um den Aufbau kümmert. Das scheint ja wirklich was Ernstes zu sein mit euch beiden.«

Sophie lächelte. »Zumindest halten wir es jetzt schon eine Weile miteinander aus.«

»Ich finde es sehr beruhigend, dass du einen Kerl an deiner Seite hast. Du neigst ja dazu, dich selbst in Gefahr zu bringen.«

Stefan Sperber fragte sich, was er in einem früheren Leben verbrochen haben musste, um jetzt in dieser vollkommen absurden Situation zu stecken. Statt bereits auf Fehmarn zu sein, um seiner Frau zu helfen, das Fest vorzubereiten, ging es ihm hundeelend. Er war auf dem Weg zu seiner Lübecker Stadtwohnung. Die Nacht hatte er im Präsidium verbracht, unfreiwillig. Er hatte schon seit Tagen an starken Zahnschmerzen gelitten. Irgendwann am gestrigen Nachmittag konnte er sie nicht mehr ignorieren. Selbst die starken Tabletten wirkten nicht mehr. Er bekam noch einen Zahnarzttermin am frühen Abend. Vor lauter Qualen vergaß er, Tina zu verständigen. Der Arzt hatte nur den Kopf geschüttelt und ihm erklärt, dass der Weisheitszahn nicht mehr zu retten wäre. Eine gefühlte Ewigkeit hatte es gedauert, bis der Zahn gezogen war. Stefan war sich vorgekommen wie Dustin Hoffman in dem Film »Marathon Man«. Die Spritzen schienen überhaupt nicht zu wirken. Nach der Behandlung war er vollkommen fertig. Er fuhr zurück ins Präsidium, um sein Smartphone zu holen, das er zu allem Übel dort hatte liegen lassen. Sein Kiefer pochte, als er sein Büro erreichte. Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken und kramte eine der Tabletten aus der Packung, die ihm der Zahnarzt mitgegeben hatte. Er spülte sie mit einem Schluck Whisky aus der unschuldigen Apfelsaftflasche herunter. Tina anzurufen, hätte keinen Sinn gemacht. Er hatte Watte im Mund, und die Spritzen hatten zumindest eine Wirkung gezeigt: Sein Gesicht war noch immer halb gelähmt. Er würde sich anhören wie ein Schlaganfallpatient, und Tina würde kein Wort verstehen und sich unnötig Sorgen machen.Plötzlich war er von einer Müdigkeit überfallen worden, gegen die er sich nicht zu wehren wusste. Er hatte seinen Kopf auf den Schreibtisch gelegt und sich geschworen, in ein paar Minuten endlich aufzubrechen. Aufgewacht war er vor einer halben Stunde. Sein Gesicht hatte in einer Pfütze aus Speichel und Blut gelegen. Und dann hatte er die Tablettenpackung gesehen. Er hatte versehentlich die starken Pillen für die Nacht genommen. Das Codein hatte ihn natürlich ausgeknockt. Stefan parkte den Wagen und stürmte die Treppe hinauf. Er ging ins Bad und erschrak, als er sich im Spiegel sah. Seine Visage war auf der linken Seite stark angeschwollen und leuchtete in einer Farbpalette von gelb bis lila. An seinem Mund klebte angetrocknetes Blut. Man konnte meinen, er wäre in eine Schlägerei verwickelt gewesen. Stefan versuchte zu sprechen. Es hörte sich an, als habe er eine Socke im Mund. Am liebsten hätte er sich im Bett verkrochen. Sollte er Tina zumindest eine SMS schreiben? Er entschied sich dagegen. Das Kind war ohnehin schon in den Brunnen gefallen. Entschlossen zog er sich aus und drehte die Dusche auf. Er hatte keine Wahl. Jetzt musste er so schnell wie möglich los. Hoffentlich war Tina nicht ganz so sauer, wenn sie ihm ins lädierte Gesicht sah, falls sie ihn überhaupt noch ansehen würde.

Fabian König saß im Büro und trank die dritte Tasse Kaffee. Er konnte sich überhaupt nicht auf seinen Job konzentrieren. Gestern hatte er einen schlimmen Streit mit seiner Freundin gehabt, mal wieder. Melanie war ein Albtraum. So süß und sexy sie am Anfang auch gewesen war, davon war nicht mehr viel übrig. Sie war zum Drachen mutiert. Aus dem fürsorglichen Frauchen, das immer Zeit für ihn hatte und abends mit einem leckeren Abendessen auf ihn gewartet hatte, war ein Kontrollfreak geworden. Er war ihrem anfänglichem Charme zu schnell verfallen. Es war ein großer Fehler gewesen, Olga für sie zu verlassen. Das war ihm mittlerweile klar geworden. Fabian atmete tief durch. Er musste arbeiten. Er konnte nicht am Schreibtisch sitzen und Löcher in die Luft starren. Er war kein Teenager mehr. Olga hatte einen neuen Freund, das hatte er von gemeinsamen Bekannten erfahren. Warum hatte er sie nur verlassen? Weil sie oft weg war? Sie war nun mal ein Model, und es gehörte zu ihrem Job zu reisen. Sie war so unkompliziert gewesen. Oft hatte er sie spät vom Flughafen abgeholt, und sie waren dann noch etwas essen gegangen. Er hatte es immer erstaunlich gefunden, welche Berge von Wok Gemüse Olga in sich reinstopfen konnte, ohne ein Gramm zuzunehmen. Jetzt hatte er ein Schlafzimmer in Pink, einen Kontrollanruf alle zwei Stunden und ein allabendliches Dinner, bei dem Melanie schick zurecht gemacht von ihrem harten Tag im Nagelstudio und der schweren Hausarbeit, die sie ja noch nebenbei zu erledigen hatte, erzählte. Nicht ohne zu bemerken, dass er ja keinen Finger krumm machen würde, um die gemeinsame Wohnung in Schuss zu halten. Fabian atmete tief durch. Er musste sich unbedingt von dieser Frau trennen. Er würde lieber in ein Einzimmerappartement ziehen, als in dieser überdekorierten Wohnung, die ja eigentlich auch seine war, zu bleiben. Er zog die Schreibtischschublade auf. Dort lag noch ein Foto von Olga. Er hatte es selbst aufgenommen. Olga lag auf dem Bett und lachte. Er konnte sich nicht mehr an den Grund erinnern, aber sie war einfach schön in diesem Moment. Sie war immer schön, aber auf dieser Fotografie zeigte sich auch ihr Humor und ihre kindliche Seite. Er hatte sich schon länger vorgenommen, wieder um sie zu kämpfen. Er musste jetzt was tun. Nur dasitzen, würde nichts ändern. Entschlossen rief er einen Blumenhändler an und bestellte 20 langstielige rote Rosen. Er nannte die Adresse und diktierte den Spruch für das Kärtchen. »Nimm mich zurück! Ich war ein Idiot!«.