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Thomas Reich

Roadkill Straßengott





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Roadkill Straßengott

Roadkill

Straßengott


 

 

 

 

Thomas Reich

Text 2016 © von Thomas Reich

 

Coverphoto © https://www.pexels.com/photo/person-wearing-red-hoodie-1097456/ mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Ich heiße Marc Roberts. Mein Leben ist die reinste Hölle.

 

Mein alkoholkranker Pflegevater vermöbelt mich nach Strich und Faden. Und wenn Mom keine Lust hat, muss ich für ihn die Beine spreizen. Das macht mich echt kaputt! Um den Kopf freizubekommen, steige ich in meinen Pickup und gehe auf die Jagd... nach Menschen. Ich bin der dunkle Straßengott. Von meiner Kühlerhaube tropft Blut. Ich ficke alles was mir vor den Wagen kommt. Ob es noch lebt und schreit, oder nur aus zermatschten Träumen besteht.

Nummernschilder

++ ACHTUNG EINE AKTUELLE VERKEHRSMELDUNG ++


AUF DEM HIGHWAY 29 ZWISCHEN MASON UND LLANO EREIGNETE SICH GEGEN 8:45 UHR EIN SCHWERER VERKEHRSUNFALL. LAUT ERSTEN INFORMATIONEN GERIET EIN 27-JÄHRIGER PICKUPFAHRER AUF DER FAHRT VON MASON RICHTUNG ART MIT SEINEM WAGEN ÜBER DIE MITTELLINIE UND KOLLIDIERTE MIT EINEM ENTGEGENKOMMENDEN FAHRZEUG. BEI DEM FRONTALZUSAMMENSTOSS WURDE DIE GEGNERISCHE FAHRERIN DURCH DIE FRONTSCHEIBE GESCHLEUDERT UND VERLETZTE SICH SCHWER. IHR SOHN WURDE VON DEN ÄRZTEN INS KÜNSTLICHE KOMA VERSETZT. DER FAHRER DES PICKUPS IST LEDIGLICH LEICHT VERLETZT UND WIRD VON DER COUNTY POLICE ZU DEN GENAUEREN UMSTÄNDEN VERNOMMEN. DIE FEUERWEHR VON LLANO WAR VOR ORT. VOR DER UNFALLSTELLE IN FAHRTRICHTUNG LLANO STAUT SICH DERZEIT (STAND 9:30 UHR) DER VERKEHR. DIE SPERRUNG DÜRFTE EIN BIS ZWEI STUNDEN ANDAUERN. EIN LANGER STAU BILDET SICH AUCH RICHTUNG STADTGRENZE HIN. BITTE NEHMEN SIE DIE AUSGESCHILDERTE UMLEITUNG ÜBER CASTELL. BEI DEN BESCHÄDIGTEN FAHRZEUGEN BELÄUFT SICH DIE SCHADENSHÖHE NACH VORLÄUFIGEN SCHÄTZUNGEN DER TEXAS STATE POLICE AUF ETWA ZWANZIGTAUSEND DOLLAR. EIN SACHVERSTÄNDIGER WURDE ZUR UNFALLSTELLE GERUFEN.


*


Sagen wir mal, es ist nicht immer so gelaufen. Das Leben meine ich. Es kann ein wortkarger Tresenheld sein, der dir auf dem Parkplatz die letzten Zähne ausschlägt. Das Schicksal kennt viele hässliche Verkleidungen. Ich hatte im Gefängnis viel Zeit, darüber nachzudenken. Manchmal zwingen dich die Umstände, frühzeitig erwachsen zu werden. Freiwillig tut das niemand. Jedenfalls kenne ich keinen, bei dem es so gewesen wäre. Ich heiße Marc Roberts, aber das wusstet ihr bereits. Mein Gesicht war landesweit im Fernsehen. Zusammen mit den Fotos meines heißgeliebten Wagens, den ich gepflegt habe wie eine Geliebte. Was hatte ich denn schon im Leben? Einen jähzornigen Stiefvater, der von morgens bis abends einen in der Krone hatte. Und eine schweigsame Stiefmutter, die mich nie als ihr eigenes Kind geliebt hatte. Der Wagen war meine einzige Flucht. Vor dem Dreckstall, den ich liebevoll Elternhaus nannte. Aber ich greife vor. Meine gut bewachte Einzelzelle darf ich nur zum Duschen verlassen. Trotz meiner jungen Jahre zähle ich im Travis County Jail zu den ganz harten Brocken. Mit solch blutrünstigen Straftaten wie meinen hast du Credit bei den Homies, noch bevor du die Klappe aufreißt. Verlangt nicht jeder Gott ein Menschenopfer? Und kommt er nicht auf den Geschmack, sobald er das erste Blut einer Muschi geleckt hat? Ich wollte verehrt werden. Angebetet. Gehuldigt. Und wenn niemand dich auf einen goldenen Sockel hebt, musst du es eben selbst tun.


*


Hofgang ist erst bei guter Führung drin. Wenn ich dem Psychofuzzi was vorplärre oder aufrichtige Reue zeigen kann. Jeden Tag arbeite ich die Reue in mein Gesicht hinein. Wie Gott aus einem Klumpen Ton, will ich den neuen Menschen formen. Das werde ich solange tun, bis man sie mir abkauft und im Gegenzug das Sonnenlicht schenkt. Erwähnte ich, dass meine Zelle kein Fenster hat? Mit der rissigen Betonwand im Rücken, die beim bloßen Versuch eines humanen Anstrichs hemmungslos versagt? Vor mir der eiserne Vorhang. Jede einzelne Stahlstrebe misst exakt vier Zentimeter im Durchmesser. Ich habe nachgemessen als mir langweilig war. Und wichsen nicht mehr in Frage kam. Weil ich mich wundgerieben hatte und keine weiteren Strafpunkte kassieren wollte. Masturbation wird von den Wärterinnen streng geahndet. Besonders wütend macht es sie, wenn man sich offensiv vor ihnen entblößt.

„Na, auch ein Stück Wurst?“

„Marc Roberts, sie sehnen sich nach Einzelhaft. Kein Licht. Niemand zum reden. Sie erinnern sich?“

„Was brauche ich Licht? Ich bin die Lichtmaschine! Deus ex machina!“

„Freitag hast du ein Gespräch mit Doktor Culberson. Sei pünktlich.“

Der Spiegel ist aus bruchsicherem Edelstahl. Damit die Häftlinge ihn nicht in Scherben hauen und Waffen daraus basteln. Darin sehe ich einen jungen Mann mit tiefen Augenringen der Erschöpfung. Sein Lächeln sitzt schief, als hätte die Hebamme ihm noch einen Schlag ins Gesicht verpasst, bevor sie ihn in die menschenfeindliche Welt schickte. Man ahnt, dass da irgendetwas nicht stimmt. Seine Narben erzählen die Geschichte eines Kinds. Er trägt die orangefarbene Kluft aller Insassen. Sein braunes Haar fällt ihm in die Stirn und sollte mal wieder geschnitten werden. Ich hatte es wachsen lassen für den öffentlichen Prozess. Um bei den Geschworenen Mitleid herauszuschinden. Für ein versautes Leben und mildernde Umstände. Hat mir auch nicht viel genützt. Mir schlug der gleiche Hass entgegen, wie ich ihn von Dad kannte. Liebt so ein Vater seinen Sohn? Ich erinnere mich an meine Stiefeltern in der zweiten Bank. Trau ihren Tränen nicht. Es sind falsche Fuffziger, alle beide.

Wenn ich die Augen schließe, erkenne ich den kleinen Jungen mit den durchgescheuerten Knien und der hässlichen Latzhose von der Fürsorge. Ich hatte eine richtige Mutter gehabt. Ich wurde geliebt. Das ist alles vorbei. Möchtet ihr in meinem Wagen Platz nehmen? Ich nehme euch mit auf eine Spritztour in die Vergangenheit. Nennen wir es eine glückliche Kindheit. Bis zu jenem Tag der mein Leben vollständig auf den Kopf stellte.

Schrottplatz

Eine leichte Brise raschelte in den Bäumen, als wir zum Nationalpark fuhren. Es war ein perfekter Frühlingstag mit flatternden Schmetterlingen und so. Weit entfernt von den brütenden Glutnachmittagen mit dampfendem Asphalt, zu denen texanische Sommer fähig waren. Ich kann das schlecht wiedergeben. Gefühle sind nie meine Stärke gewesen. Aber ich habe gelernt, was Schmerz bedeutet. Davon gibt es reichlich in der Welt. Manchmal scheint es mir, als könne das Leid der Menschheit nicht abgetragen werden, und wenn unsere Zivilisation noch ein paar tausend Jahren ihren Planeten quält. Mom wollte mir zum Geburtstag eine Freude machen. Ich war zwölf Jahre alt geworden. Kein Kind mehr und auch kein Mann. Ein beschissenes Alter, wenn ihr mich fragt. Pickel wucherten auf meinen Wangen wie Seepocken an einem Riff. Mein Gesicht verlor seinen kindlichen Speckgürtel und nahm härtere Züge an. Mom liebte mich wie nur eine Mom ein Kind lieben konnte, aber ich machte mir nichts vor. Ich war hässlich wie die Nacht. Wenn meine Fresse in einem Film auftauchte, dann als der bucklige Glöckner oder eine ausdrucksstarke Gaunervisage. Eine Karriere in Hollywood war mir nie vergönnt. Ich werde im Jugendknast versauern, bis ich alt genug bin, zu den Erwachsenen gesteckt zu werden. Damals glich meine Zukunft einem weißen Blatt voll ungeschriebener Träume. Ich war glücklich. Und natürlich zu alt für den Nationalpark. Mit niedlichen Tieren konnte ich nichts anfangen. Aber ich freute mich auf Moms selbstgemachte Hotdogs mit Sauerkraut und Senf. Im Kofferraum wartete ein prall gefüllter Picknickkorb mit Röstzwiebeln zum darüberstreuen und Hawaiipunsch mit frisch gepresstem Ananassaft. Sogar eine Picknickdecke hatte sie eingepackt. Auf dem Weg zum Big Bend bog sie auf den Highway TX118 ab. Uns blieben noch acht Minuten bis zur Kollision.


*


Palmengewächse und Kakteen zogen am Fenster vorbei. Moms Reifen wirbelten den trockenen Wüstensand auf.

„Ich hoffe es gefällt dir.“

„Eigentlich wollte ich nur mit meinen Freunden um die Häuser ziehen und vielleicht einen Erdbeershake bei McDoof oder so...“

„Dafür ist immer noch Zeit. In deinem Alter stehen dir alle Möglichkeiten offen. Morgen sind wir wieder zuhause. Dann kannst du dich mit ihnen verabreden.“

„Danke.“

Ich schob meine Baseballkappe tiefer in die Stirn, um der gleißenden Sonne Einhalt zu gebieten. Moms Blick ruhte mehr auf mir als auf dem Mittelstreifen. Sie dachte an Erwachsenendinge, die ich nicht verstand.

„Vielleicht lernst du im Park ein Mädchen kennen. Ich weiß, du bist eigentlich zu jung für solche Dinge.“

„Ach, Mom...“

„Kein aber. Aus dir wird bald ein Mann werden. Und bis dahin musst du einige Lektionen lernen. Nur wenige Dinge können das Leben einen Mannes aus der Bahn werfen. Frauen gehören dazu.“

„Was soll ich denn mit Mädchen anfangen? Ich finde sie alle doof.“

„Das sagst du jetzt in deinem jugendlichen Leichtsinn. Bald schon wird dein Pillermann dich in Probleme bringen.“

„Mom!“

„Ich sage dir nur, wie es im Leben läuft. Männer denken mit der Hose, sobald der kleine Glatzkopf laufen lernt. Frauen sind da viel vernünftiger.“

„Warum ist Dad damals gegangen?“

Mom lächelte verwirrt. Sie schob Doppelschichten im Diner, um sich den Ausflug in den Nationalpark überhaupt leisten zu können.

„Denk nicht darüber nach. Männer haben immer gute Gründe. Aus ihrer Sicht jedenfalls. Eines morgens wachte ich auf, und Jack war nicht mehr da.“

Die Erinnerung war bitter wie am ersten Tag. Sie schluckte sie herunter wie den Schlüssel zu Blaubarts Zimmer der abgetrennten Brautköpfe, und verzog das Gesicht. In diesem Augenblick erschien mir fremd, was ich zuvor bedingungslos geliebt hatte. Wer war diese Frau? Im Radio spielte der DJ den nächsten Song an. Alles Harte verschwand aus ihrem Blick. Die andere Frau hatte es nie gegeben. Nur in meiner Einbildung existierten solche Hexen. Müde war sie vielleicht von den vielen Nachtschichten, aber eindeutig meine Mom. Zärtlich streichelte sie meinen Arm. In ihren Augen flackerte die kleine Gasflamme vom Burgergrill.

„Wo immer er auch sein mag, Dad hat dich lieb.“

Ich schwieg. Mom überfrachtete mich mit Dingen, die mir ferne lagen. Bislang hatte ich meinen Pillermann nur als einen zum Pinkeln gedachten Schlauch betrachtet. Etwa eine halbe Meile die Straße hoch setzte ein blauer Pickup zum Überholen eines Tankwagens an, und geriet auf unsere Fahrbahn. Sein Lack spiegelte sich in der Sonne. Er verschmolz mit dem Himmel und Moms toten Winkel. Wenige Minuten später sollte sie tot sein und ich schwer entstellt.


*

Es war wie im Videospiel. Findet ihr das verrückt? Nicht wenn man als Kind den halben Tag vor der Konsole verbracht hat. Am liebsten sind mir zweidimensionale Autorennen gewesen. Auf dem Bildschirm. Die Wirklichkeit war um ein Vielfaches hässlicher.

„Fuck!“

Sie hat meine Hand gehalten. Das habe ich mir bestimmt nicht eingebildet, egal was die Psychologen mir eintrichtern wollten. Im letzten Moment hat Mom ihre Hände vom Lenkrad genommen und meine Hand gehalten. Das Schicksal kannst du nicht bescheißen. Das Mistschwein ist nicht korrupt. Wenn es gibt, dann gibt es. Aber wenn es nimmt, dann nimmt es reichlich. Du kannst bei ihm nicht anschreiben wie in einer Bar.

„Ich liebe dich mein Schatz.“

In solchen Momenten friert die Zeit ein wie in einem Film. Klingt abgeschmackt, ist aber so. Ich konnte den Wagen sehen, der uns rammen würde. Der Fahrer war ein Mann mit blondem Bürstenschnitt, vielleicht ein ehemaliger GI oder Arbeiter auf einer Bohrplattform, draußen im Atlantik. So ein richtiger Hamsterrad-Typ, der das ganze Geld nach Hause schafft und sich den Buckel krumm malocht. Und mit einer undankbaren Schnepfe geschlagen ist, die immer mehr fordert. Den neusten Fernseher, die neuste Spülmaschine, die zweiten Flitterwochen auf Hawaii und und und... Eine die meckert, wenn er auf Arbeit fährt und meckert, wenn er nach Hause kommt, das schreiende Kind im Anschlag.


*


Das kackende Windelbalg lag noch in weiter Ferne. Und wenn sie so weitermachten, würde es auch nie dazu kommen. Der Fahrer war sich der Gefahr nicht bewusst. Er hatte Moms Wagen nicht einmal bemerkt. Meine Hand schmerzte, und ich sah Mom an, wie ich sie nie zuvor angesehen hatte. Dann bohrte sich der Chevrolet in unsere Motorhaube. Mom wurde zusammengedrückt, Blut sickerte aus ihren Mundwinkeln. Die Lenksäule bohrte sich in ihre Brust. Genau zwischen die festen Titten, deren Milch ich als Baby getrunken hatte. Mom flog durch die Scheibe. Ein Stern erblühte. Dann ein Spinnennetz, und ab ging sie wie eine Rakete. Meine Hand griff ins Leere. Sie war fort. Ich fiel in eine schwarze Wolke und hörte auf zu fühlen. Zu denken. Zu empfinden. Ich ahnte die Gnade nicht, die ich empfing. Ich wurde eingefroren unter Stickoxid. Ich inhalierte das leere Weltall. Keine Wunde tat mir weh, das kam später. Nur diese allumfassende Dunkelheit. Ich konnte die Sandwichs auf der Rückbank riechen. Als unser geflochtener Picknickkorb durch die Luft wirbelte, bekam ich Mayonnaise in den Nacken und Salatblätter. Ich erinnere mich noch, wie herrlich kühl sie sich auf meiner Haut anfühlten. Knirschendes Metall und splitterndes Glas waren meine Wiegenlieder.

„Schlafenszeit, mein Spatz.“

Bildete ich mir Moms Stimme ein? Oder sprach sie wirklich zu mir? Jahrelang würde ich diesen Moment Revue passieren lassen. Und in jeder meiner Versionen höre ich diese Worte. Die Worte einer Mutter, die ihr Junges liebt.


*


Ich wachte auf in einem Metallbett mit verstellbarer Rückenlehne. Auf meinem Nachttisch stand eine Flasche Mineralwasser samt Plastikbecher. Der Unfall war eine in Nebel getauchte Erinnerung. Mein Schädel schmerzte unter engen Kompressen. Ich tastete mich durch zahlreiche Verbände. Wo der Verband aufhörte, fing ich an zu existieren. Tiere leben, weil sie Schmerz empfinden. Das unterscheidet uns von den Amöben. Ich fand Gipsschienen, mein linkes Bein und mein rechter Arm steckten darin. Metalldrähte, die seitlich an meinem Gesicht verliefen wie ein Vogelkäfig. Ich wusste nicht, wie ich hergekommen war. Oder wo meine Mutter sich aufhielt. Hatte sie den Unfall überlebt? Mir war zum Heulen zumute. Im Nachbarbett schnarchte ein alter Knacker mit offenem Gebiss. Ausgemergelte Knochen stachen durch das Laken. Seine Haut war gelb wie eine Zitrone. Man hatte mich nicht auf die leichte Abteilung verlegt, so viel stand fest. Es dauerte eine Weile, bis ich endlich den Summer fand, der mir eine Schwester schicken würde.


*


Wenn du schon einmal wegen schiefer Klöten oder einem kapitalen Schnapper eingelegen hast, kennst du die typischen Klinikgeräusche. Das Wispern von Kreppsohlen auf dem Gang. Das hungrige Geschnatter der Stationsschwestern. Das Gluckern einer Kaffeemaschine. Erwachsene gewöhnen sich vielleicht daran. Nicht aber ein Kind, das gerade Besuch vom Waisenmacher bekommen hat. Die Krankenschwester trug eine weiße Haube über schmutzblonden Strähnen und schien reichlich übernächtigt. Ich hatte sie am Ende ihrer Schicht erwischt. Meine Hoffnung schwand, aus diesem Alptraum erlöst zu werden. Auf dem Schild an ihrem Revers stand Caroline. Ein uramerikanischer Name wie Marshmallows und Apfelkuchen. Der gescheiterte Traum vom Tellerwäscher zum Spülkoch und zurück.

„Du hast geläutet?“

„Isch fill wischn wo meine Mudda liech.“

Was war mit meiner Stimme passiert? Nur mühsam kamen die Worte aus meinem Mund. Vernuschelt und in Watte gepackt. Ich bekam die Lippen kaum auseinander.

„Ach Junge, das ist eine lange Geschichte. Willst du sie wirklich hören?“

„Sonsch wödde isch kaum frgn.“

„Ihr hattet einen Autounfall. Du hast wirklich Glück gehabt.“

Was noch einmal dahingestellt wäre. Bei all den Schäden, die ich an meinem Körper ertasten konnte, dürfte es kein harmloser Auffahrunfall gewesen sein. Soviel war mir damals schon klar.

„Isch fill su meina Mudda!“

„Alles hat seine Zeit. Du musst dich ausruhen.“

Schwester Caroline wiegte mich in ihren fleischigen Armen. Ihr Busen drückte gegen meine schmerzenden Wangen. Nennt es pervers oder nicht, aber ich hatte einen gewaltigen Ständer! Ich lag wach unter der künstlichen Neonsonne und suchte nach Antworten. Irgendwann knipste der gnädige Schlaf mir die Lichter aus. Es sollte eine ganze Nacht vorübergehen, bis mir einer dieser Weißkittel reinen Wein einschenkte.


*


Der leitende Arzt auf der Kinderabteilung war ein von seiner klobigen Gleitsichtbrille dominierter dürrer Riese. Seine haarlose Schädelplatte glich einer Landkarte aus Leberflecken und blauviolett pulsierenden Adern. Wie eine verdammte Schildkröte vom Discovery Channel musterte er mich. War ich für ihn ein entwurzeltes Kind? Oder nur ein Patient von Vielen auf seiner Stippvisite? Beim Aufprall wurde mein Kopf gegen das Armaturenbrett geschleudert. So jedenfalls schilderte es mir der Chefarzt in schillernden Motiven.

„Wahun fäll mia dasch Spräche scho schwä?“

„Dein Kiefer musste an mehreren Stellen geschraubt werden. Bis die Knochen korrekt zusammenwachsen, wirst du dich an die Schienen gewöhnen. Suppen werden dein bester Freund. An feste Nahrung ist momentan nicht zu denken.“

„Wo ischd meina Mudda?“

„Du kannst von Glück sagen, dass du noch lebst.“

„Isch habbe schie naah menna Mohm gefrah!“

Doktor Lessing (so jedenfalls wollte er von den Schwestern genannt werden) schnaubte kurz und packte meine Hand. So wie es Mom getan hatte. Bevor sie durch die Scheibe geflogen war. Da ging mir wirklich der Arsch auf Grundeis.

„Du musst jetzt ganz stark sein.“

„Nehn! Dasch daaf nichd schein.“

„Du warst ja eine geraume Zeit weg. Deine Mutter ist vor zwei Tagen verstorben. Wir haben alles in unserer Macht stehende getan, um ihr Leben zu erhalten. Aber ihre Verletzungen waren zu schwer.“

Die Realität geriet aus den Fugen. Ich legte den Kopf zur Seite und sah alles schrecklich verzerrt. Die Dinge. Die Menschen. Verloren ihre gewohnte Schärfe und wurden zu Schemen. Wieder packte mich jemand verständnisvoll am Arm. Zeitlebens ist mir diese Geste seitdem verhasst. Schwester Caroline zeigte mir Photos. Wie ein gewiefter Kartenspieler schüttelte sie sie aus dem Ärmel. Bilder vom völlig zerstörten Wagen meiner Mutter. Meine Zahnabdrücke auf dem weichen Kunststoff des Armaturenbretts. Der Arzt meinte, ich hätte ordentlichen Kohldampf gehabt. So wie ich reingebissen hätte. Ärztehumor, ihr kennt die Sorte Mediziner. Am liebsten hätte ich ihm die lächelnde Visage Auf eine Art und Weise zusammengefaltet und neu zusammengesetzt, wie es der Herrgott nicht vorgesehen hatte. Ein Arschloch, wenn mir je eines untergelaufen ist. Das sich nicht einmal für einen Witz auf Kosten eines schwerverletzten Kindes zu schade war. Stundenlang habe ich betäubt auf einem Operationstisch gelegen, wo sie mir die Fresse neu zusammengesetzt haben. Später habe ich einmal die Akte zu sehen bekommen. Mein Kiefer war an drei Stellen gebrochen. Mehrere ausgeschlagene Zähne wurden durch Implantate ersetzt. Am Ende hatte ich mehr Schrauben und Draht zwischen den Backen als ein Eisenwarenladen.


*


Wochenlang lag ich im Krankenhaus, allein mit mir selbst. Die Ärzte haben mich mehr schlecht als recht zusammengesetzt. Ich hasse mein Gesicht. Es erinnert mich an einen unglückseligen Pinocchio, der in die Hände eines schlechten Schreiners geraten ist. Entweder das, oder eine landwirtschaftliche Maschine. Das schiefe Lächeln ist mir bis heute geblieben. Auch die roten Pockennarben, Resultat umherfliegender Glassplitter. Denke mal ich darf mich dankbar schätzen, überhaupt noch so etwas wie ein Gesicht zu besitzen. Ist nicht das Schönste. Aber ihr wisst, was ich meine.

Hilflos war ich an mein Bett gefesselt. Salzige Tränen drückten mir die Augen zu. Ich war blind für ihre Versprechungen. Und es ging nicht lange, bis sie jemanden nach mir schickten. Sie nannte sich Beverly, Baronin Betroffenheit von der Fürsorge. Warum man ausgerechnet sie schickte, war mir ein Rätsel. In der Geisterbahn hätte sie mehr Dollar machen können- um Kinder zu erschrecken. Das fleischgewordene Mitgefühl steckte in einem Hosenanzug, der ihr mindestens zwei Nummern zu klein war. Er mochte einmal gepasst haben. Bevor Bonbons und Schokoriegel ihre ständigen Begleiter wurden. Ihre rosige Wangen machten es nicht besser. Beverly war nicht meine Mutter, und würde es nie werden. Sie hatte Fürsorgefälle im Kopf die sie stur und lieblos abarbeitete.

„Marc, wir müssen reden.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Dann fände ich das sehr schade.“

„Fick dich.“

„Du bist wütend, okay. Und du hast alles Recht der Welt dazu. Aber irgendwie muss es auch weitergehen.“

„Wie stellst du dir das vor?“

„Du brauchst eine Familie. Deswegen bin ich hier.“

Für Beverly war ich nur ein Fall. Akte zu, Affe tot. Sie hatte Mom nie gekannt. Und wollte über mein Schicksal entscheiden. Ich würde es ihr schwermachen.

„Laut meinen Unterlagen hast du keine nähere Verwandten, bei denen wir dich unterbringen könnten. Mutter Grace Desmond, verstorben. Sie war ein Einzelkind ohne Geschwister. Tanten, Onkel, Großeltern: nicht existent. Dein Vater ist den Behörden unbekannt. Offensichtlich ein Streuner oder Herumtreiber.“

„Eine Frage.“

„Ja?“

„Wer ist wir? Ich sehe nur nur dich.“

„Oh! Ich meine den Bundesstaat Texas und die Fürsorge.“

„Schön. Also vertrittst du deine Interessen, und nicht meine.“

„Du bist wütend, und dazu hast du auch allen Grund. Glaube mir, ich verstehe dich.“

Wahrscheinlich bestätigte ich mit meinem hartnäckigen Schweigen ihre vorgefertigte Meinung. Mom hatte mich zur Ehrlichkeit erzogen. Gelernt, falschen Predigern und selbstgefälligen Wasserträgern zu misstrauen. Das Miststück log mich an. Ob aus Versehen oder mit voller Absicht konnte ich nicht erkennen. Es machte keinen Unterschied. Seufzend ergab ich mich in mein Schicksal. Ich war ein unmündiges Kind. Sie konnten mit mir anstellen, was ihnen eben so passte.

„Was hast du mir zu bieten?“

„Ein Zuhause, Schätzchen. Genau das was du jetzt brauchst.“