Cover

Über dieses Buch:

Der 17-jährige Dominik lebt in Burghausen. Tagsüber ist hier nicht viel los – doch nachts gelten andere Regeln: Als Crash-Kids brechen Dominik und seine Freunde Autos auf und veranstalten illegale Rennen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Bis der Tank leer ist. Doch eine Nacht verändert alles: Die Clique wird Zeuge eines Unfalls auf der Landstraße. Nur Dominiks Freundin Nina will nachsehen, ob dem Fahrer etwas passiert ist. Als sie auch am nächsten Tag nicht wieder aufgetaucht ist, beginnt Dominik sich Sorgen zu machen. Und dann wird der Besitzer des Unfallwagens ermordet aufgefunden …

„Ein rasanter Krimi über Crash-Kids, die mit einem Mord in Berührung kommen.“ Neue Presse

Über den Autor:

Thomas Kastura, geboren 1966 in Bamberg, lebt ebendort mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Er studierte Germanistik und Geschichte und arbeitet seit 1996 als Autor für den Bayerischen Rundfunk. Thomas Kastura veröffentlichte zahlreiche Erzählungen, Jugendbücher und Kriminalromane, u. a. Der vierte Mörder (2007: Platz 1 auf der KrimiWelt-Bestenliste).

Die Website des Autors: thomaskastura.de

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eBook-Neuausgabe Juli 2016

Copyright © der Originalausgabe 2008 cbt/cbj Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von istockphoto/Rasica

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-141-8

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Thomas Kastura

Drive

Ein Roman über Crashkids

jumpbooks

Keine der Personen in diesem Buch hat einen realen Menschen zum Vorbild. Die Geschichte ist frei erfunden, wenngleich die Orte, an denen sie spielt, zum größten Teil wirklich existieren.

Kapitel 1

Dominik konnte den Kreidestrich auf dem Parkplatz nicht sehen. Das war auch gar nicht nötig, solange sich die Außenspiegel auf gleicher Höhe befanden. Durch die Scheibe erkannte er seinen Rivalen neben sich.

Meik trat aufs Gas. Der Motor des Geländewagens heulte auf. In dieser Nacht hatten sie richtig teure Autos geklaut. Holzpaneele, Bordcomputer, Alarmanlage. Dieses Mal würde er den Krüppel endlich besiegen, dachte Meik und blickte grinsend zu seiner Freundin Mareike. Sie hielt es vor Anspannung kaum aus.

»Muss das sein?«, fragte Nina im anderen Auto.

Dominik ging vom Gas. Er hatte gegengehalten, ein Reflex.

»Lass Meik doch den Angeber spielen. Wenn er das braucht.«

»Hab dich nicht so.« Dominik versuchte, sich zu beherrschen. Meik spulte das Standard-Imponiergehabe ab. Nina kotzte dieses Getue nur an, doch die andern standen drauf.

Er trat aufs Gas, der Drehzahlmesser schnellte hoch.

»Hey!«, protestierte Nina.

»Das gehört dazu. Hör auf rumzujammern.«

»Was mach ich hier eigentlich?« Sie drehte die Augen zur Decke. Wenn Nina in einem gestohlenen Wagen saß, fühlte sie sich wie eine Gefangene. Sie durfte nichts anfassen, wegen der Fingerabdrücke trug sie Winterhandschuhe. Sie konnte nichts tun, um die Fahrt zu beeinflussen. Im Grunde war sie nur Dekoration. Dominik behauptete immer, sie sei sein Glücksbringer. Gar nicht einfach, jemandes Glücksbringer zu sein bei einer Sache, die gefährlich, kriminell und reichlich kindisch war.

»Wir wollen Spaß. Begreifst du das nicht?«

Ein wenig genoss es Nina ja, mit diesen dicken Kisten durch die Gegend zu rasen. Die kosteten mehr Geld, als ein Arbeiter aus Bangladesch in seinem ganzen Leben verdiente. Davon machten sich die Besitzer der Autos vermutlich gar keine Vorstellung. Es geschah ihnen ganz recht, dass ihre Autos plötzlich weg waren, wenn sie vom Fitnessstudio oder aus einem Schmuckgeschäft kamen.

Ungeduldig fragte sie: »Wann geht’s endlich los?«

»Gleich.« Dominiks Finger steckten in Handschuhen, die man bei Kartrennen benutzte.

Er ließ das rote Licht nicht aus den Augen. Es brannte an einer Lampe, die der lange Puschkin mit beiden Armen hochhielt. Wenn sie auf Grün umsprang, würden Dominik und Meik Vollgas geben oder zumindest so viel, dass die Reifen nicht zu stark durchdrehten.

Ein leerer Parkplatz im nächtlichen Nirgendwo des Marktier Waldes. Eine Gruppe Jugendlicher im Alter von fünfzehn bis siebzehn, manche von ihnen mit jeder Menge Alkohol im Blut. Das Geräusch der Motoren, der Kitzel des Verbotenen. Puschkins Spitzname ging auf eine Wodkamarke zurück, nicht auf den russischen Dichter. Er schob den Schalter an der Lampe nach unten. Grün. Die Autos schossen los.

Meik lag nach den ersten fünfzig Metern vorn. Er fuhr einen silbernen BMW X5 mit manueller Gangschaltung. Den konnte er richtig treten. Das verschaffte ihm einen Vorsprung. Er bog als Erster auf die Forststraße ein.

Dominiks linkes Bein lag nutzlos im Fußraum seines Mercedes ML 350. Im Lauf der vergangenen Wochen hatte er gelernt, mit einer Automatik umzugehen. Er musste das Gas entsprechend dosieren, damit der Motor seine optimale Kraft entwickelte. Bei hohen Geschwindigkeiten war die Übersetzung der Automatik ein echter Pluspunkt. In der Beschleunigungsphase spielte sie einem manchmal üble Streiche. Doch bei diesem Modell konnte er die Stufen mit einem Hebel hinter dem Lenkrad anwählen wie bei einem Formel-1-Rennwagen.

Mit 120 steuerten sie die erste Kurve an. Das war harmlos bei freier Strecke. Gegen 23 Uhr war die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein Autofahrer die B 20 zwischen Marktl und Burghausen verließ und im Wald herumgondelte. Radfahrer und Spaziergänger waren um diese Zeit nicht mehr unterwegs. Sie hatten die Strecke ganz für sich. Die Einmündung in die Alte Poststraße ließen sie hinter sich. Das Heck von Meiks Wagen brach aus, aber er bekam es schnell wieder unter Kontrolle.

Jetzt hatten sie eine lange Gerade vor sich. Dominik nutzte den Kick-down der Automatik. Voll durchtreten, über einen kleinen Widerstand hinaus, das gab die bestmögliche Beschleunigung. Bis hoch in den siebten Gang. Die Tachoanzeige erreichte 150 und stieg weiter. In der Dunkelheit sah der Wald wie ein spärlich beleuchteter Tunnel aus. Die vorüberfliegenden Baumreihen zu beiden Seiten erzeugten ein Geräusch, als säße man in einem Düsenjet. Oder auf einer Startbahn in den Hyper-Raum.

»Wir holen auf!«, rief Nina.

»Muss an den Reifen liegen«, gab Dominik zurück. Die beiden Autos hatten etwa die gleiche Motorleistung. Doch Meiks Wagen hatte Allwetterreifen – im Gegensatz zu den schnellen Sommerreifen an dem Mercedes. Dom setzte zum Überholen an.

Unendlich langsam zog der Wagen an Meik vorbei. Dominik konnte das Gesicht des älteren Jungen im Schein der Instrumentenbeleuchtung erkennen. Eine Grimasse, verbissen und hilflos. Dann verschmolz sie mit der Dunkelheit. Geil, sich auf diese Weise an die Spitze zu setzen, dachte Dominik.

Nina sah die Scheinwerfer zuerst. »Da kommt einer entgegen.«

»Hey!«

»Das schaffen wir nicht.«

»Locker.«

Dominiks Wagen lag um eine Kühlerlänge vorn. Die beiden Autos fuhren, was die Motoren hergaben. Trotz der besseren Reifen konnte sich Dominik nicht die entscheidenden Meter nach vorn schieben. Nach der asphaltierten Forststraße war der Untergrund jetzt geschottert. Schlecht für ihn.

Das Rennen schien wieder ausgeglichen.

»Brems!«, rief Nina.

»Nie im Leben«, erwiderte Dominik.

»Der kommt direkt auf uns zu!« Eine Lichthupe erhellte das Innere ihres geklauten Wagens.

»Na und?« Dominik fuhr dicht an Meik heran. Er dachte gar nicht daran zu bremsen. Die Straße war breit genug für drei. Man musste nur die Nerven behalten.

»Du spinnst«, sagte Nina. Sie versuchte, Dominik ins Lenkrad zu greifen.

»Weg da!« Er stieß sie mit dem Ellenbogen zur Seite.

Der entgegenkommende Wagen konnte sich kaum auf der Straße halten. Die Hinterreifen brachen aus, er schleuderte.

Dominik kniff die Augen zusammen. Im Vorüberwischen konnte er einen Teil des Kennzeichens erkennen. Dann hörte er ein scharfes metallisches Krachen. Er bremste, ziemlich kontrolliert, sein Wagen hatte ABS. Auch Meik stoppte.

So waren die Regeln: anhalten und überprüfen, ob irgendwas Ernsthaftes passiert war. Bei den bisherigen Rennen war das zum Beispiel nach einem Fahrfehler von Meik erforderlich gewesen, der an einem Stapel geschlagenem Holz hängen geblieben war. Schließlich hatte er aber mit demolierter Stoßstange weiterfahren können.

Der unbekannte Wagen hatte Glück im Unglück. Er war auf eine freie Fläche geraten und in einem Abstand von gut hundert Metern zum Stehen gekommen. Das musste die Baustelle sein, auf der die Sauer AG ein neues Chemiewerk plante.

Dominik ließ die Scheibe herunterfahren und spähte nach hinten.

»Dem ist nichts passiert«, rief Meik, der ein Stück vor ihm stand.

»Scheinwerfer brennen noch«, sagte Dominik. »Der ist nur ein bisschen vom Weg abgekommen.«

»Wir müssen zurück. Nachsehen«, sagte Nina.

»Bist du verrückt?«

»Wir müssen!«

Meik beschleunigte wieder. Er hatte genug gesehen.

»Dem fehlt nichts.« Dominik machte Anstalten, Meik zu folgen.

»Bleib stehen!«

»Dann verlieren wir!«

»Egal.«

Dominik wies mit dem Daumen nach hinten. »Der kann mich drankriegen. Die Karre ist geklaut, schon vergessen?«

»Ich fahr nicht weiter.« Nina öffnete die Tür und sprang hinaus.

»Was soll das?«

»Verpiss dich!«

»Steig ein, Nina! Wir können noch gewinnen.«

»Du kannst gewinnen, Dominik. Ich nicht.«

»Mach keinen Scheiß!«

»Du kotzt mich an! Verschwinde!« Sie atmete schwer. »Am besten für immer!«

Dominik ließ die Scheibe wieder hochfahren.

Kapitel 2

Die Rücklichter von Meik waren noch zu erkennen. Dich krieg ich, dachte Dominik und gab Gas. An Nina verschwendete er keinen weiteren Gedanken. Das Rennen zählte, nichts anderes. Keiner konnte es mit ihm aufnehmen. Meik schon gar nicht.

Sie fuhren einen Rundkurs. Der geschotterte Teil lag hinter ihnen, die Straße war jetzt wieder befestigt. Dominik holte auf. Das war fast noch besser, als in Führung zu liegen. Zu spüren, wie man unaufhaltsam näher kam. Mit so viel PS unter der Haube, dass es für vier Kleinwagen reichte. Die Lenkung reagierte fantastisch. Trotz des hohen Tempos hatte Dominik nie das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Geschwindigkeit stabilisierte, das war ihm beim Skifahren in Leib und Blut übergegangen. Bevor er sein Bein verloren hatte.

Die letzte Gerade war schwierig. Die Strecke machte ein paar leichte Schlenker, man musste höllisch aufpassen, vor allem bei Nässe. Zum Glück hatte es seit Wochen nicht mehr geregnet. Alles oder nichts, dachte Dominik. Er spürte, wie die Räder auf der Beifahrerseite kurz abhoben.

Dann hatte er Meik im Sack. Kurz vor der Ziellinie setzte sich Dominik an die Spitze.

Puschkin schwenkte eine Flagge, die sie bei einem Tourenwagenrennen in Salzburg hatten mitgehen lassen. Beim Bremsen staubte es gewaltig. Dann bogen sie auf den Parkplatz ein.

Diesmal hatten sie eine Flasche Champagner für den Sieger mitgebracht. Dominik ließ den Korken knallen und spritzte die kreischenden Mädchen nass. Die Clique feierte ihren Anführer, die Flasche ging rum.

Sie standen im Licht der Autoscheinwerfer, mitten im riesigen düsteren Wald, und waren die Könige der Welt. Wer außer ihnen traute sich so was?

Aus den Lautsprechern des Mercedes schallte die Siegeshymne »Ready for the Victory«. Dominik hatte die CD eingelegt, es war wie im Film. Der Krüppel hatte gewonnen. Er hatte es allen wieder gezeigt.

»Der Kerl ist einfach nicht zu schlagen«, sagte Meik. »Nächstes Mal besorg ich mir einen Porsche.« Er spielte seine erneute Niederlage herunter und schob sie auf die miesen Reifen des BMW. Das stimmte sogar. Doch niemand hörte zu. Er war bekannt dafür, dass er immer eine Ausrede hatte.

Meik spürte ein Gewicht in seiner Lederjacke. Dort steckte sein kleines Fundstück. Er hatte gute Lust, es hervorzuholen und damit Eindruck zu machen. Keiner von den andern wusste etwas von der Pistole, nicht einmal Mareike, diese hysterische Pute, die ihn während der gesamten Fahrt genervt hatte. Jetzt hing sie an Dominiks Hals und schmierte ihm ihren Lippenstift auf die Wange.

»Wo hast du eigentlich Nina gelassen?«, wunderte sie sich und lachte dem Sieger ins Ohr. Dominik roch ihr Parfüm. Sie sah umwerfend aus mit ihren langen blonden Haaren und ihrer Modelfigur. Als sie vor Kurzem zu der Clique gestoßen war, hatte sie Dominik noch keines Blickes gewürdigt. Jetzt sah sie ihn erwartungsvoll an.

»Ja, stimmt, wo ist Nina?«, fragten die anderen.

»Sie ist ausgestiegen.«

Dominik erklärte seinen verdutzten Freunden, was vorgefallen war. Er stellte die Sache möglichst harmlos dar. Dass dem entgegenkommenden Fahrer etwas passiert sei, glaube er nicht. Außerdem sei es kein Wagen aus der Gegend gewesen. Er habe ein B entziffern können, B wie Berlin. Weiß der Himmel, was so einer im Marktier Wald verloren hatte.

Der Schreck war dennoch groß.

»Und Nina ist raus? Ich fass es nicht!« Puschkin schüttelte den Kopf. »Was hat sie sich dabei gedacht?«

»Die spinnt doch. Wahrscheinlich ist sie mal wieder auf ihrem Sozialtrip.« Johanna hatte die größte Klappe in der Gruppe. Selbst beim geringsten Anlass ging sie gleich an die Decke. »Die dumme Gans verpfeift uns doch garantiert.«

»Einfach bescheuert«, sagte Mareike.

»Sie wollte nur helfen.« Dominik war klar, dass Nina bei den Crash-Kids nicht gerade beliebt war. »Crash- Kids«, so nannten sie sich. Puschkin hatte den Begriff in einer Fernsehsendung gehört und gleich beim ersten Rennen ins Spiel gebracht. Es war wie ein Ehrentitel, sie waren stolz drauf.

»Schöne Scheiße!«, mischte sich Meik ein. Jetzt hatte er Oberwasser und ergriff die Initiative. Er gab Dominiks Mercedes einen Tritt. »Hast du deine Alte nicht im Griff?« Er legte Mareike den Arm auf die Schulter und zog sie an sich. Sie ließ es widerstandslos geschehen. »Warum hast du sie überhaupt mitgenommen, wenn wir uns nicht auf sie verlassen können?«

»Nina ist nicht blöd«, erwiderte Dominik. »Die hält dicht.«

»Und wenn der Typ verletzt ist? Wenn er die Polizei ruft?«, fragte Puschkin.

»Egal, wir müssen schleunigst verschwinden.« Meik ging demonstrativ zu seinem BMW. »Die Feier ist beendet.«

»Wartet!« Dominik holte sein Handy heraus und wählte Ninas Nummer. »Das haben wir gleich.«

Sie blieben stehen und betrachteten ihn gespannt.

»Na, komm schon!«, sagte Dominik und lauschte dem Freizeichen. Die Sekunden verstrichen.

»Was ist los?«, drängte Johanna, als sie Dominiks entgeisterten Gesichtsausdruck sah.

»Mailbox.«

»Wahrscheinlich möchte sie nichts mehr von dir wissen«, höhnte Meik.

»Das ist doch kindisch!«

»Keiner widerspricht«, stellte Mareike fest.

»Ich kümmer mich drum, Leute.« Dominik versuchte, seine Freunde zu beruhigen.

»Riecht nach Ärger«, sagte Puschkin düster.

»Diesmal ist Nina zu weit gegangen.« Meik stieg in den geklauten BMW, gefolgt von Mareike. »Wir verschwinden.«

Wie auf Kommando löste sich die Clique auf.

Mit ihren Motorrollern nahmen sie unterschiedliche Wege nach Burghausen. Dort stammten sie alle her. Aus einer kleinen, äußerst wohlhabenden Stadt im Osten Oberbayerns, direkt an der Grenze zu Österreich. Mit vielen teuren Autos und einer notorisch unterbesetzten Polizeiwache. Grenzland, wie schon in früherer Zeit. Die Stadt war berühmt für ihre Burg und ihr internationales Jazzfestival. Sie hatte einiges an Kultur zu bieten, aber das war’s auch. Um was zu erleben, fuhren die Jugendlichen nach Mühldorf oder gleich nach München, mit der Bahn dauerte das allerdings eine Ewigkeit. In den Sommerferien wurde die Langeweile manchmal unerträglich. Da musste man sich was einfallen lassen.

Kapitel 3

Dominik stellte den Mercedes auf einem Feldweg in der Nähe von Altötting ab. In dieser Sonntagnacht war kein Mensch mehr auf den Beinen. Er hatte sich schon öfter ein Auto »geliehen«, niemals in Burghausen selbst, immer in den umliegenden Ortschaften. Der Wagen sollte möglichst schnell gefunden werden, sein Besitzer sollte ihn zurückbekommen. Manchmal blieb eine Beule zurück, meistens war der Tank leer. Ansonsten hinterließen die nächtlichen Rennen nichts, was intensivere polizeiliche Nachforschungen notwendig machte. Und die örtlichen Bullen hielten still. Die hatten sicher Wichtigeres zu tun, schätzte Dominik.

Sein Motorroller stand in dem kleinen Gehölz, wo er ihn versteckt hatte. Er fuhr nach Burghausen zurück. Nicht direkt, er machte noch einen Umweg.

Mit ihrem Aussteigen hatte Nina den Bogen überspannt. Er würde Schluss machen, obwohl es ihm widerstrebte. Im Grunde mochte er Nina. Sie hatte etwas im Kopf, machte sich Gedanken über Gott und die Welt – manchmal zu viele. Mit den Autorennen hatte sie leider ein Problem. Zumindest tat sie immer so, aber Dominik hatte den Eindruck, dass es ihr auch ein bisschen gefiel, mit den teuren Schlitten durch die Landschaft zu brausen und den Besitzern dadurch ein Schnippchen zu schlagen. Die Leute sollten merken, wie leicht ihnen ihre geliebten Blechkisten abhandenkommen konnten. Dass nichts sicher war, schon gar nicht Reichtum. Diese Vorstellung amüsierte sie.

Vorsichtig näherte sich Dominik dem Unfallort. Er achtete auf Blaulicht und Polizeifahrzeuge. Nichts war zu sehen. Die Baustelle der Sauer AG lag in völliger Dunkelheit. Von dem Fahrzeug, das ihnen während des Rennens entgegengekommen war, fehlte jede Spur. Von Nina auch.

Es musste so gewesen sein, wie er vermutet hatte. Dem Fahrer und seinem Wagen war nichts passiert. Vielleicht hatte er ein paar Worte mit Nina gewechselt, froh, dass er mit dem Schrecken davongekommen war. Nina hatte sich klug verhalten und ihm irgendeine Geschichte aufgetischt: dass sie auf dem Nachhauseweg gewesen sei und die Raser in den dicken Kisten nicht kenne, etwas in der Art. Im Geschichtenausdenken war sie gut. Dann hatte sich alles in Wohlgefallen aufgelöst.

Er probierte es noch einmal auf Ninas Handy, dann bei ihr zu Hause. Sie hatte es nicht weit. Schützing war ein winziger Ort zwischen Burghausen und Altötting, mitten im Nirgendwo. Ninas Eltern besaßen dort ein größeres Anwesen mit Swimmingpool und Sonnenkollektoren auf dem Dach. Sie musste die Strecke zu Fuß gelaufen sein. Geschah ihr ganz recht.

Bei den Dahlbergs meldete sich nur der Anrufbeantworter, kein Wunder, Ninas Eltern waren in Urlaub. Sommerferien. Dominik beneidete Nina, dass sie allein zu Hause bleiben durfte. Sein Vater würde das nie erlauben. Aus Sorge. Er übertrieb es damit, seit Mutter gestorben war.

Dominik rief auf Mareikes Handy an und gab Entwarnung. Keine besonderen Vorkommnisse. Die Baustelle wirkte so, als sei nicht das Geringste passiert. Nina lag wahrscheinlich längst im Bett. Sie hielt es auch sonst nicht lange aus und war bei Partys immer unter den Ersten, die aufbrachen.

»Kommst du?«, fragte Mareike. Sie saß mit Puschkin und den andern in einer Kneipe in Burghausen. »Meik ist schon wieder weg«, setzte sie hinzu. »Der taucht heut Nacht nicht mehr auf.«

Das ließ sich Dominik nicht zweimal sagen. »Bin gleich da.« Er betrachtete Ninas weißen Helm, den er an den Lenker geschnallt hatte. Eigentlich wollte er ihn ihr zurückbringen.

»Beeil dich!«, drängte Mareike.

»Hey, du kennst meinen Roller. Kann sich nur um Minuten handeln.« Nina sollte bis morgen warten. Dominik hatte seinen Roller bei einem befreundeten Werkstattmeister frisiert. Er lief fast 100, der schnellste seiner Art im ganzen Umkreis.

Mareike empfing ihn mit einem frisch gemixten Cocktail und fuhr mit den Fingern durch seine schwarzen Locken. Es war halb zwei. Sie redeten und tranken, bis sich ihre Freunde nach und nach verabschiedeten und der Wirt sie vor die Tür setzte.

Mareike nahm Ninas Helm und fuhr auf dem Rücksitz mit. Dominik musste immer wieder anhalten, weil sie nicht aufhören konnten zu lachen.

An den Ufern der Salzach gab es ein paar einladende Stellen. Sandstrand, hohes Schilf, ein geschützter Badeplatz. Mareike war nicht so zimperlich wie Nina. Ohne Ausreden und Hinhaltetaktik. Sie machte nicht einmal eine Bemerkung über Dominiks Prothese. Es war eine Sommernacht, wie er sie sich in seinen Träumen immer vorgestellt hatte.

Kapitel 4

Dominik hörte seinen Vater zur Arbeit gehen. Da er Ferien hatte, schlief er aus. Er umarmte sein Kissen und stellte sich vor, es sei Mareike. Ihr Haar war so unglaublich weich. Ihr Hals, ihr Nacken. Schließlich schälte er sich aus der Decke, duschte und machte sich auf den Weg ins Bogart’s.

Die Crash-Kids waren bereits da: Mareike, Puschkin, Christel, Bille, Johanna, Rupert, Ingo, Lukas. Nur Nina fehlte. Und Meik, der beim Autohaus Pranter eine Lehre machte. Er war frühzeitig von der Schule abgegangen, um endlich Geld zu verdienen.

Im Café lief der Lokalsender, den sie nach jedem Rennen hörten. Sie saßen an einem runden Tisch vor den geöffneten Terrassentüren – in einer Nische, die von den übrigen Plätzen abgetrennt war. Außer ihnen gab es nur ein paar vereinzelte Gäste.

Keiner sagte etwas, als Dominik kam.

»Waren wir schon drauf?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. Er suchte Mareikes Blick, doch sie saß zwischen Christel und Bille und sah an ihm vorbei.

Kopfschütteln.

»Hat einer was von Nina gehört?«

Augenrollen. Als sei es das Letzte, was jetzt interessiere.

Dominik setzte sich. Die Radiomusik verebbte. Es kamen die Nachrichten.

Todesfall im Marktier Wald. In der Nacht von Sonntag auf Montag wurde der bekannte Burghauser Rechtsanwalt Franz Conradi tot aufgefunden. Von seinem Fahrzeug, einem BMW X5 mit Silber-Metallic-Lackierung, fehlt jede Spur. Die Polizei geht von einem Gewaltverbrechen aus, da es Hinweise auf einen Schusswechsel gibt. Die Todesursache ist noch nicht geklärt.

Der Moderator unterbrach seine Durchsage für einen kurzen Nachruf. Franz Conradi wurde als geistiger Kopf des Burghauser Jazzherbstes geehrt, einer Veranstaltung, die an das große internationale Jazzfestival im Frühjahr anknüpfte, beliebt beim Publikum, begehrt bei Musikern. Conradi habe viel für die Region getan, sein Tod hinterlasse eine große Lücke.

Dann die nächste Meldung. Der Moderator legte Dramatik in seine Stimme: In der gestrigen Nacht ist in Altötting ein Mercedes ML 350 entwendet worden. Das Fahrzeug wurde inzwischen aufgefunden, es ist unbeschädigt. Die Polizei geht von einer Tätergruppe aus, auf deren Konto auch die Autodiebstähle der vergangenen Wochen gehen.

Es folgte ein Interview mit Kommissar Krebitz von der Kriminalpolizei Mühldorf. Der Kommissar erklärte, dass eine Verbindung zwischen dem Tod von Franz Conradi und den Diebstählen wahrscheinlich sei. Die Ermittlungen liefen in verschiedene Richtungen, noch könne man nichts Genaueres sagen, auch nicht über den möglichen Schusswechsel. Als Fundort der Leiche nannte er ein Waldstück in der Nähe des Golfplatzes bei Piesing, etwa fünfzig Meter vom Forstweg entfernt. Die Tatzeit sei gegen 21 Uhr gewesen, doch Conradi sei erst in den frühen Morgenstunden von einem Spaziergänger entdeckt worden. Krebitz beschrieb den gestohlenen BMW. Für sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung sei die Polizei dankbar.

Es folgten weitere Nachrichten. Dominik hörte gebannt zu und gab den andern ein Zeichen, still zu sein, um nichts zu verpassen. Doch es kam nichts mehr. Von einem Unfall im Marktier Wald war nicht die Rede. Wenigstens schienen sie Glück im Unglück zu haben.

»Was jetzt?«, fragte Puschkin.

Dominik sah sich um. Das Café war zwar nicht gerade der ideale Ort für eine Krisensitzung, aber egal. Er stand auf und schloss die Terrassentür. Die andern Gäste saßen unter Sonnenschirmen im Freien. Die Crash-Kids waren ungestört.

»Die Frage ist: Was hat Meik getan?«, fing Dominik an.

»Meik hat Mist gebaut!«, zischte Johanna.

»Du glaubst doch nicht …«

»Mit dem Toten hat er nichts zu tun«, sagte Mareike. »Das war einfach Pech.« Sie sprach leiser. »Wir sind mit dem Roller an dem BMW vorbei. Weit und breit keine Menschenseele. Das Auto war nicht abgeschlossen, der Schlüssel steckte. Es hieß doch, wir schnappen uns für das Rennen einen Offroader. Also bitte, da stand einer. Meik hat bloß zugegriffen.«

»Und sonst habt ihr nichts gesehen?«, fragte Johanna.

»Weder gesehen noch gehört.« Mareike deutete auf ihre Ohren. »MP3-Player. Glaub mir, da stand nur dieser BMW. Herrenlos, könnte man sagen.«