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»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Armin Nassehi

Wie weiter mit

Niklas Luhmann?

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-692-7
Umschlagfoto: Universität Bielefeld

© 2008 by Hamburger Edition (Print)
Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Die Frage zu beantworten, wie es mit Luhmann weitergeht, suggeriert eine jener für die Soziologie eher langweiligen Fragestellungen, wie exegetisch und philologisch korrekt mit diesem Autor, dessen Werk bis heute, glaubt man gut informierten Bielefelder Kreisen, quantitativ noch kaum erschlossen ist, angemessen umzugehen sei. Diese Frage möchte ich nicht beantworten. Auf die Frage allerdings, wie sich die mit dem Namen Niklas Luhmanns verbundene systemtheoretische Soziologie weiter betreiben lasse, möchte ich schon eine eindeutige Antwort geben: Wenn es weitergeht, kann es nur empirisch weitergehen. Damit ist nicht gemeint, die von den kanonisierten Autoren der Systemtheorie vorgegebenen und kultivierten Diagnosen einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Entscheidender ist vielmehr, das empirische Potential systemtheoretischen Denkens auszuloten und zu nutzen. Womöglich überraschend gehört zu diesem empirischen Potential jener soziologische Grundbegriff, dem man üblicherweise die größte Empirieferne nachsagt, der Begriff der Gesellschaft nämlich. Mir geht es darum, einen empiriefähigen Begriff der Gesellschaft so zu formulieren, dass sich daraus ein Mehrwert für die Forschung ableiten lässt.

Einschluss – Ausschluss

Um die Frage »Wie weiter mit Luhmann?« beantworten zu können, werde ich als Leitmotiv meiner Überlegungen die Frage folgendermaßen präzisieren: Für welches Problem ist Luhmann eine Lösung? Antwortrichtungen sind im soziologischen Theoriediskurs relativ eindeutig vorgegeben. Gerade an Luhmann freilich kann man studieren, in welchem Zustand sich dieser theoretische Diskurs derzeit befindet. Man muss nur in die eingeführten Lehrbücher unseres Faches schauen, um sich ein Bild darüber verschaffen zu können, welch eindeutiges Bild die eingeführten Unterscheidungen zu zeichnen in der Lage sind. Ich möchte dies an vier kurzen Beispielen erläutern:

Luhmanns Theorie gilt als Makrotheorie, was zugleich bedeuten soll, dass seine Theorie für sogenannte Mikrophänomene offenbar kein Sensorium hat.

Luhmanns Theorie gilt als Systemtheorie, was in der Systematik unserer Lehrbücher zugleich bedeuten soll, dass es sich nicht um eine Handlungstheorie handelt.

Die Luhmannsche Soziologie gilt als theoretische Soziologie, die offensichtlich nicht nur keinen Ort für, sondern auch kein Interesse an Empirie hat.

Wenigstens bis vor kurzem galt Luhmanns Soziologie noch als affirmativ, womit vor allem gemeint war, dass es sich nicht um eine kritische Theorie gehandelt habe.