Über Donna Woolfolk Cross

Donna Woolfolk Cross wurde in den vierziger Jahren in New York geboren, wo sie auch aufwuchs. Nach ihrem Studium arbeitete sie unter anderem in der Verlagsbranche. Heute lebt sie einige Autostunden nördlich der Großstadt im Bundesstaat New York und lehrt »Writing« am Onondaga College. »Die Päpstin« ist der erste Roman der Autorin, ihre vorausgegangenen Publikationen waren Sachbücher, die sich mit den Themen Gesprächstraining und Kommunikation befassten.

Informationen zum Buch

Im bitterkalten Winter des Jahres 814 bringt die heidnische Frau des Dorfpriesters ein Mädchen zur Welt: Johanna. Sie wächst in einer Welt düsteren Aberglaubens auf, gegen den ihr Vater grausam zu Felde zieht; er läßt sogar die Hebamme des Ortes als Hexe verfolgen. Ein Mensch erkennt bei Johanna besondere Gaben: Aeskulapius, der Pädagoge aus dem fernen Byzanz, weist sie als einziges Mädchen in die Lehren der Philosophie und Logik ein. Doch beinahe wird Johanna ihr Wissensdurst zum Verhängnis. Nur der Ritter Gerold, ihr Freund und späterer Liebhaber, vermag sie vor dem grausamen Magister Odo zu bewahren. Nach einem verheerenden Feldzug der Normannen weiß sie endgültig: Frauen wie sie überleben in dieser Welt nicht. So geht sie als Mönch verkleidet ins Kloster Fulda. Als Medicus betritt sie Jahre später Rom, die Stadt des Papstes – wo die Wechselfälle des Schicksals sie schließlich selbst auf den heiligen Stuhl bringen.

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Donna Woolfolk Cross

Die Päpstin

Roman

Inhaltsübersicht

Über Donna Woolfolk Cross

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Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog: Zweiundvierzig Jahre später

Anmerkungen der Verfasserin: Gab es Päpstin Johanna?

Fußnoten

Impressum

Prolog

Es war am siebenundzwanzigsten Tag des Wintarmanoth im Jahre unseres Herrn 814, im härtesten Winter seit Menschengedenken. Hrotrud, die Hebamme des Dorfes Ingelheim, kämpfte sich durch den Schnee zum Haus des Dorfpriesters. Eine Windböe fegte zwischen den Bäumen hindurch, krallte ihre eisigen Finger in Hrotruds Körper und drang durch die Löcher und Flicken ihrer dünnen Wollkleidung. Der Waldweg war von hohen Schneewehen bedeckt; bei jedem Schritt sank Hrotrud fast bis zu den Knien ein. Eine Schneekruste hatte sich über ihren Brauen und Lidern gebildet; immer wieder wischte sie sich übers Gesicht, um den Weg sehen zu können. Die Hände und Füße schmerzten ihr vor Kälte, obwohl sie mehrere Stofflappen darumgewickelt hatte.

Ein Stück voraus erschien ein verschwommener schwarzer Fleck auf dem Pfad. Es war eine tote Krähe. Selbst diese zähen Aasfresser starben in diesem bitterkalten Winter. Sie verhungerten, weil die Kadaver dermaßen hart gefroren waren, daß sie mit den Schnäbeln das Fleisch nicht lospicken konnten. Hrotrud erschauderte und schritt schneller aus.

Bei Gudrun, der Frau des Dorfpriesters, hatten die Wehen eingesetzt, einen Monat früher als erwartet. Da hat sich das Kleine ja eine schöne Zeit ausgesucht, ging es Hrotrud voller Bitterkeit durch den Kopf. Allein letzten Monat habe ich fünf Kinder zur Welt gebracht, und keins von ihnen hat länger als eine Woche gelebt.

Ein Schwall windgepeitschten Schnees blendete Hrotrud, und für einen Moment verlor sie den spärlich markierten Weg aus den Augen. Entsetzen stieg in ihr auf. Schon mehr als ein Dorfbewohner war ums Leben gekommen, weil er bei einem solchen Wetter die Orientierung verloren hatte und bis zur völligen Erschöpfung im Kreis umhergeirrt war, manchmal nur ein paar Schritt von seinem Haus entfernt. Hrotrud zwang sich, stehenzubleiben und zu warten, während der Schnee um sie herum toste und wirbelte und sie mit einer vollkommen konturlosen Landschaft aus reinem Weiß umgab. Als der Sturmwind endlich nachließ, konnte Hrotrud nur noch mit Mühe die Umrisse des Weges erkennen. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Der Schmerz in den Händen und Füßen war verschwunden; sie waren jetzt völlig taub vor Kälte. Hrotrud wußte, was das bedeuten mochte; aber sie konnte es sich nicht leisten, groß darüber nachzudenken. Es war wichtig, die Ruhe zu bewahren.

Ich darf nicht an die Kälte denken.

Sie rief sich das Bild des Anwesens ins Gedächtnis, auf dem sie aufgewachsen war: eine casa, ein herrschaftliches Haus mit gut sechs Hektar fruchtbarem Ackerland. Das Haus war gemütlich und warm gewesen, mit festen Wänden aus dicken Balken – viel schöner als die Häuser der Nachbarn, deren Wände aus schlichten, mit Lehm verfugten Holzlatten bestanden. Im Herd, der sich in der Mitte des Hauses befand, hatte ein großes Feuer gelodert, und der Rauch, der kräuselnd aufgestiegen war, zog durch eine Öffnung in der Decke zum Himmel empor. Hrotruds Vater hatte ein kostbares Wams aus Otternfell über seinem bliaud aus feinem Leinen getragen, und ihre Mutter besaß Bänder aus Seide für ihr langes schwarzes Haar. Hrotrud selbst hatten zwei Überkleider mit weiten Ärmeln gehört, und ein warmer Mantel aus feinster Wolle. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie kuschelig und weich der teure Stoff sich auf ihrer Haut angefühlt hatte.

Und dann hatte alles ein so schnelles Ende gefunden. Zwei Dürresommer und eine verheerende Frostperiode hatten die Ernten vernichtet. Überall verhungerten die Menschen; in Thüringen hatte es angeblich Fälle von Kannibalismus gegeben. Durch den umsichtigen Verkauf des Familienbesitzes hatte Hrotruds Vater die Familie eine Zeitlang vor dem Hungern bewahrt. Hrotrud hatte geweint, als der Vater ihr den wollenen Mantel fortnahm. Damals hatte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen können, als ihren Mantel abgeben zu müssen. Hrotrud lächelte trotz der Eiseskälte. Damals war sie acht Jahre alt gewesen und hatte die Schrecknisse und Grausamkeiten dieser Welt noch nicht gekannt.

Erneut wühlte sie sich durch eine hohe Schneewehe und wehrte sich gegen ein zunehmendes Schwindelgefühl. Sie hatte seit mehreren Tagen nichts gegessen. Aber, sagte sie sich, wenn alles gutgeht, bekomme ich heute abend ein Festessen. Falls der Dorfpriester zufrieden mit mir ist, wird er mir sogar Speck als Bezahlung mit auf den Nachhauseweg geben. Der Gedanke verlieh ihr neue Kraft.

Hrotrud gelangte auf eine Lichtung. Dicht voraus konnte sie die konturlosen Umrisse einer großen Hütte sehen: das Grubenhaus des Dorfpriesters. Hier, auf der Lichtung, lag der Schnee höher, da nun das schützende Dach fehlte, das die Bäume gebildet hatten. Doch Hrotrud kämpfte sich unbeirrt weiter, wühlte sich mit ihren kräftigen Schenkeln und Armen voran, von der Gewißheit erfüllt, bald in Sicherheit zu sein.

An der Tür angelangt, klopfte sie einmal; dann trat sie unaufgefordert ein, ohne zu warten. Es war zu kalt, um auf standesgemäße Höflichkeiten Rücksicht zu nehmen. Dann stand sie blinzelnd in der Dunkelheit des Raumes. Das einzige Fenster des Grubenhauses war der Winterkälte wegen mit Brettern vernagelt, und das einzige Licht stammte vom Herdfeuer sowie mehreren rauchenden Talglichtern, die an verschiedenen Stellen standen. Nach kurzer Zeit gewöhnten Hrotruds Augen sich an das Licht, und sie sah zwei Jungen, die in der Nähe des Herdfeuers beieinander saßen.

»Ist das Kind schon da?« fragte sie.

»Noch nicht«, antwortete der ältere der beiden Jungen.

Hrotrud murmelte ein kurzes Dankgebet an den heiligen Kosmas, den Schutzpatron der Hebammen. Mehr als einmal war sie um ihre Bezahlung betrogen worden, weil das Kind ein bißchen zu früh gekommen war, so daß sie ohne einen denarius für all die Mühe, die sie auf sich genommen hatte, wieder nach Hause gehen mußte.

Am Herdfeuer wickelte sie sich die gefrorenen Lappen von Händen und Füßen und stieß einen erschreckten Schrei aus, als sie die kränkliche, blauweiße Farbe der Haut sah. Heilige Mutter, laß nicht zu, daß der Frost mir die Hände und Füße nimmt. Für eine verkrüppelte Hebamme hatten die Dorfbewohner nur noch wenig Verwendung. Elias, der Schuhmacher, hatte auf diese Weise seinen Broterwerb verloren. Auf dem Rückweg von Mainz war er von einem Schneesturm überrascht worden. Seine Fingerkuppen waren binnen einer Woche schwarz geworden und dann abgefallen. Seither kauerte er halb verhungert und zerlumpt neben den Kirchentüren und erbettelte sich sein tägliches Brot von mildtätigen Mitmenschen.

Hrotrud schüttelte zornig den Kopf, als sie nun ihre tauben Finger und Zehen rieb und massierte, wobei die beiden Jungen ihr schweigend zuschauten. Der Anblick der Knaben erfüllte Hrotrud mit Zuversicht. Es wird eine leichte Geburt, sagte sie sich und versuchte, die Gedanken an den armen Elias zu vertreiben. Schließlich habe ich Gudrun schon von diesen beiden Jungen entbunden, ohne daß es Probleme gab. Der ältere mußte jetzt beinahe sechs Winter zählen; er war ein untersetzter Knabe, auf dessen Gesicht ein Ausdruck wacher Intelligenz lag. Sein jüngerer, pausbäckiger, dreijähriger Bruder schaukelte vor und zurück, wobei er mißmutig am Daumen lutschte. Beide Jungen besaßen den dunklen Teint und das fast schwarze Haar ihres Vaters; keiner von beiden hatte das außergewöhnliche, weißgoldene Haar seiner sächsischen Mutter Gudrun geerbt.

Hrotrud konnte sich erinnern, wie die Männer im Dorf Gudruns Haar angestarrt hatten, als der Dorfpriester sie von einer seiner Missionsreisen nach Sachsen mitbrachte. Zuerst hatte es für ziemlichen Wirbel gesorgt, daß ein Priester sich eine Frau genommen hatte. Einige Leute sagten, es würde gegen das Gesetz verstoßen; denn der Kaiser habe eine Verordnung erlassen, die es Männern der Kirche untersagte, sich Frauen zu nehmen. Andere jedoch erklärten, so könne es nicht sein; denn es liege ja auf der Hand, daß ein Mann ohne Frau allen Arten sündhafter Verlockungen und verderbten Lastern ausgesetzt wäre. Schaut euch die Mönche von Bobbio an, sagten diese Leute, die mit ihrer Unzucht und ihren Saufgelagen Schande über die Kirche bringen. Und daß der Dorfpriester ein nüchterner, hart arbeitender Mann war, stand für die Bewohner Ingelheims außer Frage.

Im Zimmer war es warm. Neben der großen Feuerstelle lagen, hoch aufgestapelt, dicke Scheite Birken- und Eichenholz, und in gewaltigen Schwaden stieg der Rauch zu dem Loch im Strohdach empor. Wenngleich nur eine bessere Hütte, war das Grubenhaus ein gemütliches Heim. Die Wände bestanden aus festen Holzbalken; die Fugen zwischen den Balken waren mit einer dicken Schicht aus Stroh und Lehm abgedichtet, die Wind und Kälte draußen hielt. Das einzige Fenster war mit kurzen, dicken Eichenbrettern vernagelt – eine zusätzliche Schutzmaßnahme gegen die nordostroni, die klirrend kalten, winterlichen Nordostwinde. Das Haus war sogar groß genug, daß man es in drei getrennte Bereiche unterteilen konnte: in einem befanden sich die Schlafstätten des Dorfpriesters und seiner Frau; in einem weiteren waren die Tiere zum Schutz vor der strengen Kälte untergebracht – Hrotrud hörte das leise Scharren und Kratzen der Hufe zu ihrer Linken –; und schließlich gab es den eigentlichen Wohn- und Arbeitsraum, in dem die Familie beisammensaß, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden und in dem die Kinder schliefen. Vom Bischof abgesehen, dessen Haus aus Stein errichtet war, besaß niemand in Ingelheim ein schöneres Zuhause.

Als das Gefühl in Hrotruds Glieder zurückkehrte, begannen sie zu jucken und zu pochen. Sie betastete ihre Finger: Sie waren rauh und trocken, doch die bläuliche Farbe der Haut wich allmählich einem gesunden und kräftigen Rot. Hrotrud seufzte vor Erleichterung und nahm sich vor, dem heiligen Kosmas zum Dank eine Opfergabe darzubringen. Hrotrud blieb noch einige Minuten am Feuer stehen und genoß dessen Wärme; dann – nachdem sie den beiden Jungen aufmunternd zugenickt und ihnen auf die Schultern geklopft hatte – eilte sie um die Trennwand herum, hinter der die Frau auf sie wartete, die in den Wehen lag.

Gudrun war auf ein Lager aus Torf gebettet, das mit frischem Stroh bestreut war. Der Dorfpriester, ein dunkelhaariger Mann mit dichten, buschigen Augenbrauen, die ihm einen ständigen Ausdruck von Strenge verliehen, saß ein Stück entfernt. Er begrüßte Hrotrud durch ein Kopfnicken; dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem großen, in Holz gebundenen Buch zu, das auf seinem Schoß lag. Hrotrud hatte dieses Buch schon bei früheren Besuchen in diesem Haus bemerkt, doch sein Anblick erfüllte sie stets aufs neue mit Ehrfurcht. Es war eine Abschrift der heiligen Bibel und das einzige Buch, das Hrotrud jemals gesehen hatte. Wie auch die anderen Dorfbewohner, konnte Hrotrud weder lesen noch schreiben. Dennoch wußte sie, daß dieses Buch ein kostbarer Schatz war, viel mehr Gold-solidi wert, als alle Dorfbewohner zusammen in einem Jahr verdienten. Der Dorfpriester hatte das Buch aus seiner Heimat England mitgebracht, wo Bücher nicht so selten waren wie im Frankenreich.

Als Hrotrud ihre Patientin untersuchte, erkannte sie sofort, daß es sehr schlecht um Gudrun bestellt war. Ihr Atem ging flach, ihr Puls raste bedrohlich schnell, und ihr ganzer Körper war gedunsen und aufgebläht. Hrotrud erkannte diese Zeichen. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren. Sie griff in ihren Beutel und nahm eine bestimmte Menge Taubendung heraus, den sie im letzten Herbst mühsam gesammelt hatte. Sie ging zum Herd zurück, warf den Dung ins Feuer und beobachtete zufrieden, wie der dunkle Qualm aufstieg und die Luft von bösen Geistern reinigte.

Sie mußte den Schmerz lindern, damit Gudrun sich entspannen und das Kind zur Welt bringen konnte. Hrotrud beschloß, zu diesem Zweck Bilsenkraut zu benutzen. Sie holte ein kleines, getrocknetes Bündel der winzigen, gelben, purpurn geäderten Blumen hervor, legte sie in einen Mörser aus gebranntem Ton und zerstampfte sie geschickt zu Pulver, wobei sie bei dem stechenden Geruch, der dabei entstand, die Nase rümpfte. Dann gab sie das Pulver in einen Becher mit kräftigem Rotwein und brachte ihn Gudrun zum Trinken.

»Was willst du ihr denn da geben?« fragte der Dorfpriester, der unvermittelt hinter Hrotrud erschienen war.

Hrotrud zuckte zusammen; sie hatte beinahe vergessen, daß der Mann bei ihnen war. »Die Wehen haben Eure Frau geschwächt. Dieses Mittel wird ihren Schmerz lindern und es dem Kinde erleichtern, aus dem Mutterleib hervorzukommen.«

Der Dorfpriester machte ein düsteres Gesicht. Er nahm Hrotrud das Bilsenkraut aus der Hand, umrundete die Trennwand und warf das Kraut ins Herdfeuer, wo es zischend verbrannte. »Du versündigst dich gegen Gott, Weib.«

Hrotrud konnte es nicht fassen. Da hatte es sie Wochen anstrengender Suche gekostet, um diese kleine Menge der kostbaren Medizin zu sammeln, und nun so etwas! Sie wandte sich dem Dorfpriester zu und wollte ihrem Zorn Luft machen, hielt dann aber inne, als sie den harten, kalten Blick in seinen Augen sah.

»›Zur Frau sprach der Herr: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären‹«, sagte er und klopfte zur Bekräftigung seiner Worte mit der Hand auf den Einband des Buches. »So steht es geschrieben. Eine solche Medizin ist gottlos!«

Hrotrud wurde von wildem Zorn gepackt. An ihrer Medizin gab es nichts Gottloses. Sprach sie nicht jedesmal, wenn sie eine Pflanze aus der Erde zog, neun Vaterunser? Aber sie hatte nicht die Absicht, ein Streitgespräch mit dem Dorfpriester zu führen. Er war ein einflußreicher Mann. Ein Wort von ihm über ihre ›gottlosen‹ Praktiken, und sie mußte ihren Beruf aufgeben und betteln gehen.

Gudrun stöhnte, als eine neuerliche Schmerzwoge sie durchflutete. Also gut, dachte Hrotrud. Wenn der Dorfpriester ihr die Benutzung des Bilsenkrauts nicht erlaubte, mußte sie eben etwas anderes versuchen. Sie ging zu ihrem Beutel und nahm ein langes Stück Stoff heraus, das so zurechtgeschnitten war, daß es der wahren Körpergröße Jesu Christi entsprach. Mit raschen, geschickten Bewegungen band Hrotrud das Tuch um Gudruns Unterleib. Als sie Gudrun dabei auf die Seite drehte, stöhnte die Schwangere erneut. Jede Bewegung bereitete ihr Schmerzen; aber dagegen konnte man nun mal nichts tun. Hrotrud nahm ein Päckchen aus ihrem Beutel, das zum Schutz gegen Beschädigungen sorgfältig in ein Stück Seide eingewickelt war. Im Innern des Päckchens befand sich eine von Hrotruds Kostbarkeiten – das Sprungbein eines Kaninchens, das an Weihnachten getötet worden war. Sie hatte es sich letzten Winter von einer der Jagdgesellschaften des Kaisers erbettelt. Mit äußerster Sorgfalt schabte Hrotrud drei hauchdünne Stückchen ab und legte sie der Schwangeren auf die Zunge.

»Kaue ganz langsam«, wies sie Gudrun an, die mit einem schwachen Kopfnicken reagierte. Hrotrud setzte sich zurück und wartete. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie den Dorfpriester, der weiterhin in dem Buch las, die Stirn in tiefer Konzentration gefurcht, so daß seine buschigen Augenbrauen sich über der Nasenwurzel beinahe berührten.

Wieder stöhnte Gudrun und wand sich vor Schmerzen, doch der Dorfpriester blickte nicht einmal auf. Er ist ein kalter Mann, ging es Hrotrud durch den Kopf. Trotzdem muß er Feuer in den Lenden haben, sonst hätte er Gudrun nicht zur Frau genommen.

Wie lange war es jetzt her, daß der Dorfpriester diese sächsische Frau mit nach Ingelheim gebracht hatte? Zehn Winter? Elf? Nach fränkischen Maßstäben war Gudrun schon damals nicht mehr jung gewesen – sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig vielleicht –; aber wunderschön mit ihrem langen, weißgoldenen Haar und den blauen Augen der alienigenae. Gudrun hatte ihre ganze Familie bei dem Massaker in Verden an der Aller verloren. Tausende von Sachsen waren an jenem Tag lieber gestorben, als die Wahrheit Unseres Herrn Jesus Christus als ihren Glauben anzunehmen. Verrückte Barbaren, dachte Hrotrud. Das wäre mir nicht passiert. Sie hätte auf alles geschworen, auf das zu schwören man von ihr verlangt hätte – und so würde sie es auch heute noch halten, sollten die Barbaren jemals wieder über das Frankenreich hinwegfegen. Sie würde auf sämtliche fremden und schrecklichen Götter schwören, die von diesen Schlächtern angebetet wurden. Was machte das schon aus? Wer wußte denn, was im Innern eines Menschen wirklich vor sich ging? Eine Hebamme und Kräuterfrau behielt nicht nur ihre Geheimnisse, sondern auch ihre Meinung für sich.

Das Feuer war inzwischen heruntergebrannt. Es flackerte und sprühte Funken. Hrotrud ging zum Holzstapel, der in einer Zimmerecke stand, suchte zwei große Scheite Birkenholz heraus und legte sie auf den Herd. Sie beobachtete, wie die Scheite prasselnd Feuer fingen und die Flammen um das Holz herum in die Höhe leckten. Dann begab Hrotrud sich wieder zu Gudrun, um nach der Schwangeren zu sehen.

Es war eine gute halbe Stunde vergangen, seit Gudrun die abgemeißelten Stückchen vom Kaninchenknochen zu sich genommen hatte, doch ihr Zustand war unverändert. Selbst diese starke Medizin hatte nicht gewirkt. Die Schmerzen blieben, unberechenbar und hartnäckig, und Gudrun wurde immer schwächer.

Hrotrud seufzte müde. Offensichtlich mußte sie zu stärkeren Mitteln greifen.

Der Dorfpriester lehnte brüsk ab, als Hrotrud ihm erklärte, daß sie bei der Geburt seine Hilfe bräuchte.

»Laß die Frauen aus dem Dorf holen«, sagte er gebieterisch.

»Äh … das ist unmöglich, Herr. Wer sollte die Frauen holen?« Hrotrud hob die Hände, um ihre Worte zu unterstreichen. »Ich kann nicht fort, denn Eure Frau braucht mich. Euren ältesten Sohn können wir auch nicht schicken. Er scheint zwar ein kräftiger Bursche zu sein, aber bei einem solchen Wetter könnte er sich verirren, und dann wär’s aus mit ihm. Ich hätte mich beinahe selbst verlaufen.«

Unter seinen dunklen, buschigen Brauen hervor starrte der Dorfpriester Hrotrud düster an. »Also gut«, sagte er. »Dann gehe ich selbst.« Als er sich aus dem Stuhl erhob, schüttelte Hrotrud ungeduldig den Kopf.

»Das nützt nichts. Bis Ihr zurück seid, ist es zu spät. Wenn Ihr wollt, daß Eure Frau und das Kind überleben, brauche ich Eure Hilfe, und zwar rasch.«

»Meine Hilfe? Hast du den Verstand verloren, Weib? Das«, er wies mit allen Anzeichen von Abscheu auf das Bett, »ist Sache der Frauen. Schlecht und unrein. Ich habe nichts damit zu tun.«

»Dann wird Eure Frau sterben.«

»Das liegt in Gottes Hand, nicht in der meinen.«

Hrotrud zuckte die Achseln. »Mir soll’s egal sein. Aber Ihr werdet Schwierigkeiten haben, zwei Kinder ohne Mutter großzuziehen.«

Der Dorfpriester starrte Hrotrud an. »Warum sollte ich dir glauben? Die beiden Jungen hat sie auch zur Welt gebracht, ohne daß es Komplikationen gab. Meine Gebete haben ihr Kraft gegeben. Du kannst gar nicht wissen, ob die Gefahr besteht, daß sie stirbt.«

Das war zuviel. Priester oder nicht – daß der Mann ihre Fähigkeiten als Hebamme in Frage stellte, konnte sie nicht hinnehmen. »Ihr wißt gar nichts«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Ihr habt sie Euch ja nicht einmal angesehen. Geht und schaut sie Euch jetzt an, und dann sagt mir, ob sie sterben wird oder nicht.«

Der Dorfpriester ging zur Liegestatt und blickte auf seine Frau hinunter. Ihr schweißnasses Haar klebte auf der Haut, die eine gelblichweiße Farbe angenommen hatte. Um die stumpfen, tief eingesunkenen Augen lagen dunkle Ringe. Wäre nicht ihr schwaches, unregelmäßiges Atmen gewesen, hätte man Gudrun für tot halten können.

»Nun?« fragte Hrotrud mit drängender Stimme.

Der Dorfpriester fuhr zu ihr herum. »Um Himmels willen, Weib! Warum hast du die anderen Frauen nicht sofort mit hierhergebracht?«

»Wie Ihr selbst gesagt habt, Herr, hat Eure Frau die beiden Söhne ohne die geringsten Schwierigkeiten geboren. Ich hatte keinen Grund, diesmal damit zu rechnen. Außerdem – wer wäre bei einem solchen Wetter schon bis hierher gekommen?«

Der Dorfpriester ging zur Feuerstelle und schritt vor den flackernden Flammen nervös auf und ab. Schließlich blieb er stehen. »Was soll ich tun?«

Hrotrud lächelte breit. »Oh, nur sehr wenig, Herr, nur sehr wenig.« Sie führte ihn wieder zur Liegestatt. »Zuerst einmal helft mir, sie hochzuheben.«

Sie nahmen Gudrun in die Mitte, packten sie unter den Armen und zogen sie hoch. Gudruns Körper war schwer und gedunsen, doch gemeinsam schafften es Hrotrud und der Dorfpriester, sie auf die Beine zu stellen. Schwankend taumelte Gudrun gegen ihren Mann. Der Dorfpriester war kräftiger, als Hrotrud geglaubt hatte. Das war gut so, denn gleich würde sie alle seine Kräfte brauchen.

»Wir müssen das Ungeborene in die richtige Lage bringen. Wenn ich die Anweisung gebe, dann hebt sie hoch, so hoch Ihr nur könnt. Und schüttelt sie ganz fest.«

Der Dorfpriester nickte; Entschlossenheit kerbte seine Mundwinkel. Gudrun hing wie ein totes Gewicht zwischen ihm und Hrotrud; der Kopf war ihr auf die Brust gesunken.

»Eins, zwei – hoch!« rief Hrotrud. Sie zerrten Gudrun an den Armen in die Höhe und schüttelten sie auf und nieder. Die Ärmste kreischte und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Schmerz und Angst verliehen ihr ungeahnte Kräfte; Hrotrud und ihr Helfer mußten sich sehr mühen, Gudrun zu bändigen. Hätte er mir doch bloß erlaubt, ihr das Bilsenkraut zu geben! dachte Hrotrud. Dann würde sie inzwischen so gut wie nichts mehr spüren.

Rasch ließen sie Gudrun herunter, doch sie wehrte sich weiterhin und schrie pausenlos. Hrotrud erteilte dem Dorfpriester einen zweiten Befehl, und wieder packten sie Gudrun, hoben sie hoch und schüttelten sie auf und ab; dann legten sie die Frau auf die Liegestatt. Halb bewußtlos lag sie da und murmelte in ihrer Barbaren-Muttersprache unverständliche Dinge. Gut, dachte Hrotrud. Wenn ich schnell mache, ist alles vorüber, bevor sie wieder richtig bei Sinnen ist.

Hrotrud schob die Hand in Gudruns Unterleib und suchte mit tastenden Fingern nach der Öffnung der Gebärmutter. Sie fand die Stelle und fühlte, daß sie von den langen Stunden nutzloser, ergebnisloser Wehen verkrampft und geschwollen war. Mit dem Nagel des rechten Zeigefingers, den sie sich zu diesem Zweck besonders lang hatte wachsen lassen, zerrte Hrotrud an dem widerspenstigen Gewebe. Gudrun stöhnte auf; dann wurde ihr Körper vollkommen schlaff. Warmes Blut strömte Hrotrud über die Hand, den Arm hinunter und aufs Bett. Dann, endlich, spürte sie, wie die Öffnung sich erweiterte. Mit einem leisen Jubelschrei griff Hrotrud sanft hinein und bekam den Kopf des Ungeborenen zu fassen. Ganz vorsichtig drückte sie ihn hinunter.

»Packt ihre Schultern und drückt sie in meine Richtung«, wies Hrotrud den Dorfpriester an, dessen Gesicht nun ziemlich bleich geworden war. Dennoch gehorchte er: Hrotrud spürte, wie der Druck stärker wurde, als die Kraft des Mannes zu der ihren hinzukam. Nach einigen Minuten konnte sie fühlen, wie das Ungeborene sich bewegte. Beharrlich zog Hrotrud an dem winzigen Leib, vorsichtig darauf bedacht, die weichen Knochen an Kopf und Hals nicht zu verletzen. Endlich erschien der Kopf des Kindes, von dichtem, nassem Haar bedeckt. Behutsam zog Hrotrud den Kopf aus dem Leib der Mutter; dann drehte sie den Körper ein wenig zur Seite, um zuerst der linken, dann der rechten Schulter den Durchgang zu ermöglichen. Ein letzter kräftiger Ruck, und der kleine nasse Körper glitt in Hrotruds wartende Hände.

»Ein Mädchen«, verkündete die Hebamme. »Und ein gesundes und kräftiges obendrein, so wie’s aussieht«, fügte sie hinzu, nahm mit Zufriedenheit den kräftigen Schrei des Neugeborenen zur Kenntnis und betrachtete wohlgefällig die rosige Haut.

Sie wandte sich dem Dorfpriester zu – und blickte in dessen mürrisches Gesicht.

»Ein Mädchen«, sagte er abfällig. »Also war alles für die Katz.«

»So etwas solltet Ihr nicht sagen, Herr.« Hrotrud hatte plötzlich Angst, daß der Dorfpriester ihr aus Enttäuschung weniger Lebensmittel als Lohn geben könnte. »Das Kind ist kräftig und gesund. Gott hat ihr das Leben geschenkt, auf daß sie Eurem Namen Ehre mache.«

Der Dorfpriester schüttelte den Kopf. »Sie ist eine Strafe Gottes. Eine Strafe für meine Sünden – und die ihren.« Er zeigte auf Gudrun, die regungslos dalag. »Wird sie überleben?«

»Ja.« Hrotrud hoffte, daß ihre Stimme sich überzeugt anhörte. Sie konnte es sich nicht leisten, daß der Dorfpriester auf den Gedanken kam, womöglich gleich zweimal enttäuscht zu werden. Sie hoffte immer noch, heute abend ein saftiges Stück Fleisch zwischen die Zähne zu bekommen. Außerdem bestanden ja tatsächlich begründete Aussichten, daß Gudrun überlebte. Sicher, es war eine schwere Geburt gewesen. Nach einer solchen Tortur erkrankten viele Frauen an Fieber und Auszehrung. Doch Gudrun war stark, und Hrotrud würde sie mit einer Wundsalbe aus Fuchsfett und Beifuß behandeln. »Ja«, wiederholte sie mit fester Stimme. »Wenn es Gottes Wille ist, wird sie überleben.« Hinzuzufügen, daß Gudrun wahrscheinlich nie mehr Kinder bekommen konnte, hielt Hrotrud nicht für erforderlich.

»Na, wenigstens das«, sagte der Dorfpriester. Er trat ans Bett und blickte auf Gudrun hinunter. Dann streichelte er ihr sanft über das weißgoldene Haar, das jetzt dunkel vom Schweiß war. Für einen Augenblick glaubte Hrotrud, der Dorfpriester würde seine Frau küssen. Dann aber veränderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck; er blickte ernst, ja zornig drein.

»Per mulierem culpa successit«, sagte er. »Durch eine Frau entstand die Sünde.« Er ließ Gudrun die schweißnasse Haarsträhne auf die Stirn fallen und trat zurück.

Hrotrud schüttelte den Kopf. Was war das denn für ein Spruch? Irgendwas aus dem heiligen Buch, kein Zweifel. Der Dorfpriester war wirklich ein seltsamer Mann; aber das sollte ihr egal sein, dem Himmel sei Dank. Sie machte sich eilig daran, Gudruns Körper von Blut und Fruchtwasser zu säubern, damit sie sich noch bei Tageslicht auf den Nachhauseweg machen konnte.

Gudrun schlug die Augen auf und sah den Dorfpriester neben dem Bett stehen. Der Anflug eines Lächelns gefror ihr auf den Lippen, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah.

»Was ist, mein Gemahl?« fragte sie zögernd.

»Ein Mädchen«, erwiderte der Dorfpriester mit kalter Stimme und gab sich gar nicht erst die Mühe, sein Mißfallen zu verbergen.

Gudrun nickte; dann kehrte sie das Gesicht der Wand zu. Der Dorfpriester drehte sich um und wollte gehen, hielt dann aber kurz inne und warf einen Blick auf das Neugeborene, das bereits sicher und behaglich auf seiner strohgedeckten Pritsche lag.

»Johanna. Sie soll den Namen Johanna tragen«, verkündete er und verließ abrupt das Zimmer.

1.

Ganz in der Nähe des Grubenhauses grollte Donner, und das kleine Mädchen erwachte. Es bewegte sich in seinem Bett und suchte die Wärme und Behaglichkeit, die von den Körpern seiner schlafenden älteren Brüder ausgingen. Dann fiel es dem Mädchen wieder ein: die Brüder waren fort.

Regen prasselte; Donner krachte. Ein heftiges Frühlingsgewitter tobte und erfüllte die Nachtluft mit dem süßsauren Geruch feuchter, frisch gepflügter Erde. Der Regen trommelte laut auf das Dach der Hütte des Dorfpriesters, doch das dicht verwobene Stroh hielt das Innere trocken, sah man von den ein, zwei Stellen in den Zimmerecken ab, in denen das Wasser sich sammelte, um dann in dicken, schweren Tropfen träge auf den festgestampften, lehmigen Fußboden zu klatschen.

Der Wind frischte auf, und eine Eiche, die neben der Hütte stand, begann unrhythmisch gegen die Wände zu klopfen. Der Schatten ihrer Äste fiel ins Zimmer. Das Mädchen betrachtete gebannt, wie die riesenhaften dunklen Finger an den Bettkanten zu zerren schienen. Dann griffen sie plötzlich gierig nach dem Kind, und es schrak zurück.

Mama! dachte das kleine Mädchen ängstlich und öffnete den Mund, um die Mutter zu rufen, hielt dann aber inne. Falls es ein Geräusch machte, würde die drohende schwarze Hand es packen und zerquetschen. Das Mädchen lag wie erstarrt da, beobachtete voller Entsetzen das Zucken der Blitze und brachte weder den Mut noch die Willenskraft auf, sich zu bewegen. Dann aber reckte es voller Entschlossenheit das kleine Kinn vor. Es mußte getan werden; also würde Johanna es tun. Sie bewegte sich mit größter Langsamkeit und nahm nicht für einen Moment den Blick vom Feind, als sie aus dem Bett kroch. Ihre Füße spürten die kalte Oberfläche des Fußbodens, und dieses vertraute Gefühl gab dem Mädchen Sicherheit. Dennoch wagte es kaum zu atmen, als es sich in Richtung der Trennwand bewegte, hinter der seine Mutter lag und schlief. Ein Blitz zuckte auf; die Finger des Ungeheuers bewegten sich wieder, wurden länger, griffen nach Johanna. Mit Mühe unterdrückte sie einen Schrei, und vor Anstrengung schmerzte ihr die Kehle. Sie zwang sich, nicht wild loszurennen, sondern sich langsam und vorsichtig zu bewegen.

Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, als plötzlich eine Salve von Donnerschlägen über ihr krachte. Im selben Moment wurde sie von irgend etwas berührt, das hinter ihr stand. Sie kreischte; dann warf sie sich herum, flitzte hinter die Trennwand und kippte dabei den Stuhl um, auf den sie sich geflüchtet hatte.

In diesem Teil des Hauses war es dunkel und still; das kleine Mädchen hörte nur das regelmäßige Atmen seiner Mutter. Am Geräusch konnte es erkennen, daß die Mutter tief und fest schlief, zumal das Poltern des Stuhles sie nicht geweckt hatte. Rasch ging das Mädchen zum Bett, hob die Wolldecke an und kroch schnell darunter.

Gudrun lag auf dem Rücken; ihre Lippen waren leicht geöffnet. Das Mädchen kuschelte sich an den Körper der Mutter und spürte die wohltuende Wärme und Weichheit ihrer Haut durch das dünne Hemdkleid aus Leinen.

Gudrun gähnte und drehte sich im Halbschlaf auf die Seite. Von der Berührung geweckt, schlug sie die Augen auf und blickte schläfrig auf das Kind. Dann erwachte sie vollends und umarmte ihre Tochter.

»Johanna«, schimpfte sie leise, wobei ihre Lippen das weiche Haar des Mädchens berührten. »Du solltest längst schlafen, mein Kleines.«

Hastig sprudelte Johanna ihre Geschichte hervor und erzählte der Mutter mit hoher, vor Anspannung atemloser Stimme von der Riesenhand.

Gudrun hörte zu, tätschelte und streichelte ihre Tochter, drückte sie an sich und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf sie ein, wobei sie ihr sanft mit den Fingerspitzen übers Gesicht strich, das in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen war. Hübsch ist sie nicht, dachte Gudrun reuevoll. Äußerlich kommt sie zu sehr nach ihm, mit seinem dicken Hals und den breiten Kiefern. Johannas kleiner Körper war jetzt schon untersetzt und stämmig; ganz anders als der der hochgewachsenen, anmutigen Menschen von Gudruns Volk. Doch das Kind hatte gute Augen, groß und ausdrucksvoll und von kräftiger Farbe: grün, mit dunkelgrauen Rauchringen im Zentrum der Pupillen. Zärtlich nahm Gudrun eine Strähne von Johannas Haar zwischen die Finger und betrachtete es, erfreute sich an seinem Schimmer – weißgolden, sogar in der Dunkelheit. Mein Haar, dachte sie stolz. Nicht das dicke schwarze Haar ihres Mannes oder das seines grausamen dunklen Inselvolkes. Mein Kind. Sanft wickelte sie Johannas Haarsträhne um den Zeigefinger und lächelte. Wenigstens dieses Kind ist meins.

Durch die Aufmerksamkeiten ihrer Mutter beruhigt, entspannte sich Johanna. In spielerischer Nachahmung zupfte sie an Gudruns langem Zopf, bis er sich löste und die Fülle des weißblonden Haares ihr über die Schultern fiel. Staunend betrachtete Johanna die schimmernde Pracht, die sich wie flüssiges Gold auf der Tagesdecke aus dunkler Wolle ausbreitete. Noch nie hatte Johanna das Haar ihrer Mutter offen gesehen. Der Vater bestand darauf, daß sie es stets sorgfältig geflochten trug, verborgen unter einer Kappe aus grobem Leinen. Das Haar einer Frau, sagte der Dorfpriester, ist das Netz, in dem der Teufel die Seele eines Mannes fängt. Und Gudruns Haar war außergewöhnlich schön – lang und weich und von makelloser, weißgoldener Farbe, ohne jeden Hauch von Grau, obwohl sie nun schon eine alte Frau war, die vierzig Winter erlebt hatte.

»Warum sind Matthias und Johannes fortgegangen?« fragte Johanna unvermittelt. Ihre Mutter hatte es ihr schon mehrere Male gesagt; doch Johanna wollte es noch einmal hören.

»Du weißt warum. Dein Vater hat sie auf seine Missionsreise mitgenommen.«

»Warum durfte ich nicht auch mitgehen?«

Gudrun seufzte geduldig. Das Kind war so wißbegierig, so voller Fragen. »Matthias und Johannes sind Jungen«, sagte sie. »Eines Tages werden sie Priester sein, genau wie dein Vater. Du bist ein Mädchen; deshalb hast du mit solchen Dingen nichts zu tun.« Als Gudrun erkannte, daß Johanna mit dieser Antwort nicht zufrieden war, fügte sie hinzu: »Außerdem bist du noch viel zu jung.«

Johanna rief entrüstet: »Im Wintarmanoth war ich schon vier!«

Gudruns Augen blitzten vor Erheiterung, als sie in das rundliche Kleinmädchengesicht blickte. »Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Du bist ja schon ein großes Mädchen. Vier Jahre! Das hört sich schon sehr erwachsen an.«

Johanna lag still da, als die Mutter ihr übers Haar streichelte. Dann fragte sie: »Was sind eigentlich Heiden?« Ihr Vater und ihre Brüder hatten sich vor ihrer Abreise ziemlich ausgiebig über ›Heiden‹ unterhalten. Johanna verstand nicht genau, was ein Heide war; sie hatte allerdings genug aufgeschnappt, um zu wissen, daß es etwas sehr Schlimmes sein mußte.

Gudruns Körper spannte sich an. Dieses Wort besaß Zauberkräfte. Die einmarschierenden Soldaten hatten es im Munde geführt, als sie Gudruns Zuhause geplündert und ihre Freunde und Familienangehörigen abgeschlachtet hatten. Die dunklen, grausamen Soldaten des fränkischen Kaisers Karl. ›Magnus‹, nannten die Leute ihn nun, da er tot war. ›Carolus Magnus.‹ Karl der Große. Würden die Menschen ihn immer noch so nennen, fragte sich Gudrun, wenn sie miterlebt hätten, wie seine Soldaten sächsischen Müttern die Säuglinge aus den Armen gerissen, sie herumgeschleudert und ihre Köpfe an Steinen zerschmettert hatten, die schon rot vom Blut anderer unschuldiger Kinder waren? Gudrun zog die Hand von Johanna fort und drehte sich auf den Rücken.

»Was ein Heide ist, mußt du deinen Vater fragen«, sagte sie.

Johanna wußte nicht, was sie falsch gemacht hatte, doch sie hörte die seltsame Härte in der Stimme ihrer Mutter und erkannte, daß sie ins eigene Bett zurückgeschickt wurde, falls es ihr nicht gelang, den Fehler auszubügeln. Rasch sagte sie: »Erzähl mir noch einmal von den alten Göttern.«

»Das kann ich nicht. Dein Vater mag es nicht, wenn ich dir solche Märchen erzähle.« Die Worte waren zum Teil eine Frage, zum Teil eine Feststellung.

Johanna wußte, was zu tun war. Feierlich legte sie sich beide Hände aufs Herz und sprach den heiligen Eid genau so, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. Beim geheiligten Namen von Thor dem Donnerer gelobte Johanna ewige Verschwiegenheit.

Gudrun lachte und zog das Mädchen wieder an sich. »Also gut, du kleine Wachtel. Ich werde dir die Geschichte erzählen, weil du so nett zu fragen verstehst.«

Ihre Stimme war wieder warm, wehmütig und melodisch, als sie von den Göttern ihrer Kinderzeit in Sachsen erzählte, von Wotan und Thor und Freyja und all den anderen – bis Karls Armeen einmarschiert waren und mit Flamme und Schwert das Wort Christi gebracht hatten. Andächtig erzählte Gudrun von Asgard, der strahlenden Heimstatt der Götter, einem Ort mit goldenen und silbernen Schlössern, der nur erreicht werden konnte, wenn man Bifrost überquerte, die geheimnisvolle Brücke des Regenbogens, die von Heimdall dem Wächter behütet wurde, der niemals schlief und dessen Ohren so scharf waren, daß er sogar das Gras wachsen hören konnte. In Walhall, dem schönsten aller Orte, wohnte Wotan, der Göttervater, auf dessen Schultern zwei Raben saßen: Hugin, der Gedanke, und Munin, die Erinnerung. Während die anderen Götter feierten, saß Wotan auf seinem Thron und grübelte darüber nach, was Gedanke und Erinnerung ihm erzählten.

Johanna nickte glücklich. Diesen Teil der Geschichte hörte sie am liebsten. »Erzähl mir von der Quelle der Weisheit«, bettelte sie.

»Obwohl er bereits sehr, sehr klug war«, erzählte Gudrun, »war Wotan stets auf der Suche nach immer mehr Wissen. Eines Tages ging er zur Quelle der Weisheit, die von Mimir dem Weisen bewacht wurde, und bat um einen Schluck aus dieser Quelle. ›Was gibst du mir dafür?‹ fragte Mimir. Wotan antwortete, daß Mimir sich wünschen könne, was immer sein Herz begehrt. ›Die Weisheit muß stets mit Schmerz erkauft werden‹, sagte Mimir. ›Wenn du einen Schluck von diesem Wasser haben möchtest, mußt du mit einem deiner Augen dafür bezahlen.‹«

Das Gesicht vor Aufregung gerötet, rief Johanna: »Und Wotan hat es getan, nicht wahr, Mama? Er hat es getan!«

Ihre Mutter nickte. »Obwohl es eine schwere Entscheidung war, erklärte Wotan sich einverstanden, eins seiner Augen herzugeben. Dann trank er von dem Wasser. Später gab er die Weisheit, die er auf diese Weise erlangt hatte, an die Menschen weiter.«

Mit großen, ernsten Augen schaute Johanna ihre Mutter an. »Hättest du das auch getan, Mama? Um weise zu sein? Um über alle Dinge Bescheid zu wissen?«

»Nur Götter treffen solche Entscheidungen«, erwiderte Gudrun, doch als sie den beharrlichen, fragenden Blick ihrer Tochter sah, gab sie schließlich zu: »Nein. Ich hätte zu große Angst gehabt.«

»Ich auch«, sagte Johanna nachdenklich. »Aber ich würde es tun wollen. Ich würde wissen wollen, was die Quelle mir erzählen kann.«

Gudrun lächelte auf das kleine, entschlossene Gesicht hinunter. »Aber es würde dir wahrscheinlich gar nicht gefallen, was du von der Quelle erfahren würdest. Bei meinem Volk gibt es ein Sprichwort. ›Das Herz eines weisen Mannes ist nur selten froh.‹«

Johanna nickte, obwohl sie den Sinn dieser Worte nicht richtig verstanden hatte. »Und jetzt erzähl mir von dem Baum«, sagte sie und kuschelte sich wieder eng an ihre Mutter.

Und Gudrun beschrieb Irminsul, die Weltesche. Der Baum hatte im heiligsten aller sächsischen Wälder gestanden, an der Quelle der Lippe. Gudruns Volk hatte diesen Baum verehrt; doch er war von den Armeen Kaiser Karls gefällt worden.

»Es war ein wunderschöner Baum«, erzählte Gudrun, »und so hoch, daß niemand den Wipfel sehen konnte. Der Baum …«

Sie hielt inne. Johanna spürte plötzlich, daß noch jemand im Raum war. Sie hob den Kopf. Ihr Vater stand im Türeingang.

Gudrun setzte sich im Bett auf. »Mein liebster Gemahl«, sagte sie erstaunt. »Ich habe dich erst in vierzehn Tagen zurückerwartet.«

Der Dorfpriester gab keine Antwort. Er nahm eine Wachskerze vom Tisch in der Nähe der Tür, ging zum Herdfeuer und zündete die Kerze an den glühenden Scheiten an.

»Das Kind hatte Angst vor dem Donner«, sagte Gudrun nervös, als das Licht der Kerze sich ausbreitete. »Da habe ich mir gedacht, ich lenke es mit einer harmlosen Geschichte ab.«

»Harmlos!« Die Stimme des Dorfpriesters zitterte vor Anstrengung, als er sich mühte, seine Wut im Zaum zu halten. »Eine solche Gotteslästerung nennst du harmlos?« Mit zwei langen Schritten war er neben dem Bett, stellte die Kerze ab und zog mit einem Ruck die Decke zur Seite, so daß Mutter und Tochter im flackernden Licht der Flamme zu sehen waren. Johanna hatte die Arme um Gudruns Leib geschlungen und war halb von einem Vorhang aus langem, weißgoldenem Haar verdeckt.

Für einen Augenblick starrte der Dorfpriester fassungslos auf das Bild, das sich ihm bot, und betrachtete ungläubig Gudruns langes, gelöstes Haar. Dann übermannte ihn wilder Zorn. »Wie kannst du es wagen! Wo ich es dir ausdrücklich verboten habe!« Er packte Gudrun und wollte sie aus dem Bett zerren. »Heidnische Hexe!«

Johanna klammerte sich an ihre Mutter. Das Gesicht des Dorfpriesters lief dunkel an. »Scher dich fort, du Balg!« brüllte er. Johanna zögerte, hin und her gerissen zwischen Furcht und dem Verlangen, ihre Mutter irgendwie zu beschützen.

Hastig und drängend stieß Gudrun sie an. »Geh. Rasch. Geh rasch!«

Johanna löste sich von ihr, sprang auf den Fußboden und rannte los. An der Tür drehte sie sich um und sah, wie ihr Vater das Haar der Mutter packte, ihren Kopf brutal nach hinten drückte und sie auf die Knie zwang. Johanna lief los, wollte zur Mutter zurück. Doch vor Entsetzen blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie sah, wie ihr Vater sein langes Jagdmesser mit dem Hirschhorngriff unter dem geschnürten Gürtel hervorzog.

»Forsachistu diabolae?« fragte er Gudrun auf Sächsisch, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Als sie nichts erwiderte, drückte er ihr die Messerspitze an die Kehle. »Sag die Worte«, zischte er drohend. »Sag die Worte!«

»Ec forsacho allum diaboles«, schluchzte Gudrun unter Tränen, doch in ihren Augen funkelte Trotz. »Wuercum und wuordum, thunaer ende woden ende saxnotes ende allum …«

Vor Angst wie erstarrt, beobachtete Johanna, wie ihr Vater wieder Gudruns Haar packte, mit der einen Hand einen dicken Zopf bildete und mit der anderen Hand das Messer darüberzog. Es gab ein reißendes Geräusch, als die seidenen Strähnen durchtrennt wurden, und ein langes, dickes, weißgoldenes Haarbüschel fiel zu Boden.

Johanna schlug die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, warf sich herum und rannte los.

In der Dunkelheit prallte sie gegen eine Gestalt, die nach ihr griff. Sie kreischte vor Angst, als sie gepackt wurde. Die Hand des Ungeheuers! Die hatte sie vollkommen vergessen! Johanna wand sich, trommelte mit den kleinen Fäusten auf die Bestie ein und wehrte sich mit aller Kraft. Doch das Ungeheuer war riesengroß und hielt sie fest gepackt.

»Johanna! Was ist denn, Johanna? Ich bin’s!«

Die Worte durchdrangen den Schleier aus Angst und Entsetzen. Es war ihr zehnjähriger Bruder Matthias, der gemeinsam mit dem Vater heimgekehrt war.

»Wir sind wieder zu Hause. Hör endlich auf, um dich zu schlagen, Johanna! Es ist alles gut! Ich bin’s.« Johanna streckte einen Arm aus und spürte die glatte Oberfläche des Brustkreuzes, das Matthias stets trug. Dann ließ sie sich erleichtert gegen ihn sinken.

Einige Zeit später saßen sie zusammen in der Dunkelheit und lauschten den leisen, ratschenden Lauten, mit denen das Messer des Vaters das lange Haar ihrer Mutter abtrennte. Einmal hörten sie, wie Gudrun vor Schmerz aufschrie. Matthias fluchte laut, und wie als Antwort erklang ein Schluchzen aus dem Bett, auf dem sich Johannas jüngerer, achtjähriger Bruder Johannes unter den Decken versteckt hatte.

Endlich verstummten die gräßlichen Laute. Nach einer kurzen Pause erklang die murmelnde Stimme des Dorfpriesters. Er betete. Johanna spürte, wie Matthias sich entspannte. Es war vorüber. Sie schlang die Arme um den Hals des älteren Bruders und weinte. Er hielt sie fest und wiegte sie sanft.

Nach einer Weile blickte sie zu ihm auf.

»Vater hat Mama eine Heidin genannt.«

»Ja.«

»Aber das ist sie nicht«, sagte Johanna zögernd, »oder doch?«

»Sie war es.« Als er den Ausdruck entsetzten Unglaubens auf dem Gesicht der kleinen Schwester sah, fügte er rasch hinzu: »Vor langer Zeit. Sie ist es längst nicht mehr. Aber was sie dir vorhin erzählt hat, waren Geschichten von den Heiden.«

Johanna hörte zu weinen auf, denn diese Information war höchst interessant.

»Du kennst doch das erste Gebot, nicht wahr?«

Johanna nickte und zitierte gehorsam: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.«

»Ja. Das bedeutet, daß es die Götter gar nicht gibt, von denen Mama erzählt hat, und daß es Sünde ist, von ihnen zu sprechen.«

»Hat Vater sie deshalb …?«

»Ja«, unterbrach Matthias die kleine Schwester. »Mama mußte zum Wohle ihrer Seele bestraft werden. Und sie hat ihrem Ehemann nicht gehorcht, und auch das ist ein Verstoß gegen Gottes Gesetz.«

»Warum?«

»Weil es so in der Heiligen Schrift steht«, erwiderte Matthias und zitierte: »›Denn der Gatte ist der Beherrscher des Weibes; deshalb sollen die Weiber sich in allen Dingen dem Manne unterwerfen.‹«

»Warum?«

»Wa- warum?« Matthias war perplex. Diese Frage hatte ihm noch niemand gestellt. »Na ja, ich nehme an, weil … weil Frauen von Natur aus den Männern unterlegen sind. Männer sind größer, stärker und klüger.«

»Aber …«, setzte Johanna zur Erwiderung an, wurde jedoch von ihrem Bruder unterbrochen.

»Das waren vorerst genug Fragen, Schwesterchen. Du müßtest längst im Bett sein. Komm jetzt.« Er trug sie zum Bett und legte sie neben Johannes, der bereits in tiefem Schlaf lag.

Wie immer war Matthias lieb zu ihr gewesen. Um ihm seine Freundlichkeit zu danken, schloß Johanna die Augen, deckte sich zu und tat so, als würde sie schlafen.

Doch sie war viel zu aufgeregt, als daß sie hätte schlafen können. Sie lag in der Dunkelheit und spähte auf den leise schnarchenden Johannes, dessen Kinnlade schlaff herunterhing; der Mund stand offen.

Er ist schon acht Jahre alt und kann immer noch nichts aus dem Buch der Psalmen aufsagen. Johanna war erst fünf, doch sie kannte die ersten zehn Psalmen bereits auswendig.

Folglich war Johannes nicht so klug wie sie. Aber er war ein Junge und hätte klüger sein müssen