Franz Dobler

Ein Schlag ins Gesicht

Kriminalroman

Tropen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

 

Tropen

www.tropen.de

 

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München, unter Verwendung eines Filmbildes aus »The Professionals«; © Mark One Productions/Network Distributing L.

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50216-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10034-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Sie sollten hier in Ihrem eigenen Interesse wirklich besser nichts verschweigen

Glück

Kann man das so sagen? (1)

Bananen und Kanonen

Genau genommen

Die Aufgeregten Killerbienen

Die Gesetze

Kann man das so sagen? (2)

Ehrliche Arbeit

Vergessen

Kann man das so sagen? (3)

Ein bisschen Geschichte

Aktenordner Nachstellung

Das dritte Plakat

Ein Star in der Nacht

Notfall

Bahnhof Ecke Lessing

Heiße Girls, coole Drinks, echte Männer

Kann man das so sagen? (4)

Die Beschützer

Vorstellungen

Das ist nicht fair

Was denn?

Makarow

Kann man das so sagen? (5)

Drei Männer und ein Baby

Mit einem guten Herz

Allein im Auto

Noch was ganz anderes

Frauenzimmer

Disco in einer rauen Nacht

Kann man das so sagen? (6)

Reicher Mann

Ein bisschen Bildung hat noch keinem Straßenköter geschadet

Die Macht der Gewohnheit

Pling

Vorbei

Satansbraten

Vampire

Kann man das so sagen? (7)

Ein Mord, den nicht jeder begeht

Jeder Fortschritt weist einige Details auf, die als Rückschritte zu werten sind

Anschlag

Von vorne

Nicht die Polizei

Wird wieder werden

Die alten Geschichten

Im Interesse der Sicherheit

Home-Office is killing Outdoor-Entertainment

Die neuesten Meldungen

Angst

Wer war wer

Ich bin nur ein Foto

Auf der Straße

Warum nicht?

Die verdiente Erholung

Kann man das so sagen? (8)

Ein neues Lied

Quellenhinweise (Auswahl)






KÜMMERE DICH NICHT DARUM
WAS DEINE MUTTER VON DEINER SPRACHE HÄLT.

Elmore Leonard

Sie sollten hier in Ihrem eigenen Interesse wirklich besser nichts verschweigen

Die einzige Frau, mit der Fallner im letzten Jahr gerne geredet hatte, oft nicht erwarten konnte, endlich wieder mit ihr zu reden, hatte aus dem Fenster gesehen und nichts gesagt, obwohl er sie etwas gefragt hatte.

Mit einem verärgerten, vielleicht sogar verzweifelten Ausdruck im Gesicht sah seine Psychotherapeutin aus dem Fenster. Als wäre ihr an dem Punkt klar geworden, dass er ein hoffnungsloser Fall war.

Ein Kollege, der sich auskannte, hatte ihm erklärt, dass diese Psychos nur dafür bezahlt wurden, keine Fragen zu beantworten.

Die Frage, die er riskiert hatte, hatte nichts mit ihrem Auftrag zu tun, aber sie war nicht indiskret. Er wollte die Situation nur etwas auflockern, nachdem sie schon einige Minuten schweigend in die Luft gesehen hatte und er langsam Lust bekam, ihre Stimme wieder zu hören. Er fand, dass sie für eine Akademikerin ihres Alters eine interessante Stimme hatte. Wenn er die Augen schloss, dachte er nicht daran, dass sie seine Mutter sein könnte.

Er hatte bei einem Einsatz einen achtzehnjährigen Dealer in Notwehr erschossen und brauchte angeblich ihre Hilfe, und sie sah so genervt aus dem Fenster, dass er sich fragte, ob sie Polizisten mit Problemen prinzipiell nicht ausstehen konnte.

Im Fenster war nichts Spannendes zu erkennen. Nur die Fenster und Balkone eines Wohnblocks. In den Fenstern und auf den Balkonen war niemand zu sehen, der eine Flagge aufhängen, ein Liebeslied schmettern oder vom achten Stock abfliegen wollte. Auch die Vegetation hatte nichts zu bieten.

»Wo wohnen Sie eigentlich, wenn Sie nicht im Dienst sind, Frau Doktor?«, hatte Fallner sie gefragt.

Sie starrte ihn kurz an, als würde er etwas wahnsinnig Persönliches von ihr wissen wollen, und fing dann an, das Fenster zu erforschen. Frau Dr. Vehring eine harmlose Frage zu stellen, der sie auch mit einem freundlichen Lächeln hätte ausweichen können, war also verboten. Während man von ihr mit intimen Fragen bombardiert wurde.

Ob er ein besonderes Verhältnis zu seiner Waffe hatte.

Ob seine Frau ein besonderes Verhältnis zu ihrer Waffe hatte.

Was er empfunden hatte, als seine Frau einmal, wie er ihr dummerweise erzählt hatte, ihre Waffe im Bett mit ins Spiel brachte.

Welche Träume er hatte und was er zuletzt und was er als Kind am häufigsten geträumt hatte.

Ob er im Dunkeln Angst hatte.

Ob er in engen Räumen Angst hatte.

Ob er im Dunkeln und in engen Räumen Angst hatte seit dem Abend, an dem er diesen Gangster erschossen hatte. Nicht mal auf seine Frage, ob sie den Unterschied zwischen einem Kriminellen und einem Gangster kennen würde, hatte sie geantwortet, obwohl es eine sachliche Frage war.

Warum er den Beruf des Polizisten ergriffen hatte, den sein älterer Bruder vor ihm ergriffen hatte.

Ob seine Eltern damit einverstanden waren.

Ob er den Eindruck hatte, dass seine Eltern einen Unterschied zwischen ihm und seinem Bruder machten, und ob sein Eindruck heute ein anderer war als damals.

Sie fragte alles, und wenn auf eine Frage nichts kam, griff sie an dieser Stelle an.

»Hatten Sie mal den Wunsch, Ihren Bruder zu töten?«

»Nein. Also ja, tausendmal, aber nie ernsthaft.«

»Was soll das heißen, ja, aber nicht ernsthaft?«

»So ähnlich wie eine Mutter, die über ihr nervendes Kind sagt, sie könnte es an die Wand knallen. Sagt man eben so. Meint es aber nicht ernst.«

»Hat Ihre Mutter das gesagt?«

»Nein. Die hat nie was gesagt.«

»Hat sie nicht gute Nacht gesagt?«

»Die hat nichts geredet, nur wenn es absolut nicht zu vermeiden war.«

»Warum hat sie nicht geredet?«

»Sie war vom Planeten Jupiter, da reden die nicht.«

»Hat sie mit Ihrem Bruder geredet?«

»Das habe ich, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, schon mit der letzten Antwort beantwortet.«

»Hat sie schon immer nichts geredet oder irgendwann damit angefangen?«

»Das können wir sie leider nicht mehr fragen.«

»Wie haben Sie das als Kind empfunden?«

»Keine Ahnung.«

»Haben Sie sich nicht mit Ihrem Bruder darüber unterhalten, was hat er dazu gesagt?«

»Kann ich mich nicht erinnern.«

»Und wie denken Sie heute darüber?«

Er zuckte mit den Schultern. Sie atmete tief aus und korrigierte den Sitz der Brille. Las, was auf ihrem Kugelschreiber stand, und als sie es, vermutlich mehrmals, gelesen hatte, sah sie ihn mit dem Ich-warte-immer-noch-auf-eine-Antwort-denn-das-ist-mein-Job-Blick an.

Ob er heute noch oft an seine Mutter dachte.

Ob er den Wunsch hatte, ihr etwas zu sagen, was er ihr nie gesagt hatte.

Ob er den Eindruck hatte, dass sie ihm etwas verschwiegen hatte.

Ob er mit seinem Vater über die Mutter redete.

Ob er seiner Mutter heute etwas vorwarf, beschimpfte er sie in Gedanken?

Fragen, die er nicht beantwortete oder manchmal mit Gegenfragen (ob denn ihre Mutter noch lebte und sie von ihr beschimpft wurde, weil sie für die Polizei arbeitete), auf die er natürlich ebenfalls keine Antwort bekam. Warum sollte er ihr auf irgendwas eine Antwort geben, wenn sie sich zu fein war, ihm irgendwas zu beantworten.

»Ich habe das Gefühl, dass Sie mir etwas verschweigen, kann das sein?«, sagte Dr. Vehring.

Er überlegte, ob das sein konnte, und kam nach sorgfältiger Abwägung zu dem Ergebnis, dass das nicht nur sein konnte, sondern tatsächlich so war. Er verschwieg ihr tausend Sachen, vielleicht auch ein paar mehr.

Anschließend überlegte er, ob er ihr Sachen verschwieg, weil er ihr misstraute oder weil er sich beim Auspacken komisch gefühlt hätte oder ob beides der Fall war und miteinander zu tun hatte.

Danach fragte er sich, wie er aus dieser dämlichen Nummer jemals wieder rauskommen würde. Zum Glück war er trainiert, eine Lösung zu finden, wenn es anscheinend keine Lösung gab.

»Wo wohnen Sie eigentlich, wenn Sie nicht im Dienst sind, Frau Doktor?«

Sie starrte ihn kurz an, als würde er etwas wahnsinnig Persönliches von ihr wissen wollen, und fing dann an, das Fenster zu erforschen. Und wie immer, wenn jemand seinen Job ernst nahm, hatte das eine Weile gedauert.

Und dann hatte sie ihn streng angesehen und diesen Satz gesagt: »Sie sollten hier in Ihrem eigenen Interesse wirklich besser nichts verschweigen.«

Und er musste laut lachen.

Denn er hatte diesen Satz selber so oft gesagt wie ein Pfarrer Amen.

Glück

Er hatte damals kein gutes Gefühl gehabt, schon als er die beiden auf sich zukommen sah, daran konnte sich Fallner genau erinnern. Sie grinsten so komisch, als sie ihn kommen sahen. Ihre Ellenbogen berührten sich und sie machten kurze Bemerkungen zueinander.

Und sie machten so ein Gesicht.

Wahrscheinlich würden sie ihm nur ein paar dreckige Wörter an den Kopf werfen. Geh heim und fick deine Hure von Mutter. Oder sowas Ähnliches, das einen nicht umbrachte, wenn man es nicht zum ersten Mal hörte.

Der Gehsteig war schmal. Er wurde auf der einen Seite von einer Mauer begrenzt, und die enge Straße machte an der Stelle, wo sie sich begegnen würden, eine scharfe Kurve, weshalb er nicht auf die Straße ausweichen konnte, und auf der anderen Straßenseite gab es keinen Gehweg.

Er hatte kein gutes Gefühl, aber umdrehen und abhauen kam nicht in Frage.

Ein paar Schritte bevor sie sich trafen, ging der Jüngere, den er noch nie gesehen hatte, langsamer und ließ den Älteren vorgehen, den er nur vom Sehen kannte. Er war drei Klassen über ihm, wohnte in einer anderen Ecke des Viertels und gehörte zu einer anderen Bande.

Robert Fallner sah ihm ins Gesicht und nickte, und er nickte ebenfalls und zog die Augenbrauen hoch.

Als er dachte, er hätte sich getäuscht und es würde doch nichts passieren, bekam er seine Faust voll in den Bauch. Er klappte zusammen, und im nächsten Moment schlug ihm der Jüngere voll in die Seite.

Er lag auf dem Asphalt, bekam keine Luft mehr und sah ihnen nach. Ob sie es sich überlegten und ihm noch einen Nachschlag verpassen wollten. Aber sie gingen weiter, ohne sich umzudrehen und ohne schneller zu werden.

Einer von ihnen sagte: »Das wird der Schwanzkopf nie vergessen.« Dann lachten beide.

Er konnte sich dreißig Jahre später genau daran erinnern, dass er genau das gehört und sogar in diesem Zustand registriert hatte, dass das Wort Schwanzkopf neu für ihn war und er es nicht genau kapierte.

Er fand es unheimlich, dass er sich dreißig Jahre später so genau daran erinnerte wie am Tag danach.

Weit und breit kein Christenmensch auf der Straße. Er lag da und würgte und heulte. Hatte einen riesigen Kieselstein vor der Nase. Fragte sich, was der große dunkelbraune Berg dahinter zu bedeuten hatte, der, als der Schwindel nachließ, langsam zu einem Hundehaufen wurde.

Er hatte also noch Glück gehabt. Sie hätten seinen Kopf auch in die Hundescheiße drücken können. Er lag in der scharfen Kurve mit einem Bein auf der Straße, aber es kam kein Auto. Jede Menge Glück. Nur ein bisschen Heulen und Würgen und Kotzen.

Zu Hause erzählte er seinem fünf Jahre älteren Bruder Hans, was ihm passiert war. Dass er den Älteren der beiden Schläger vom Sehen kannte und dass er in den Ostblocks wohnte. Er fragte den Bruder, ob er sich eine feigere Tat vorstellen könnte.

»Ist dir noch schlecht?«, fragte sein Bruder.

»Richtig gut ist mir nicht.«

»Was soll das heißen?«

»Dass mir nicht besonders gut ist.«

»Also nicht schlecht. Dann mach dir nicht ins Hemd wegen dem Kinderkram.«

»Du blöder Arsch.«

»Pass auf, du fängst gleich noch eine.«

Er war schon erfahren genug, um zu wissen, dass jede Glückssträhne ein Ende hatte.

»Heulsuse.«

»Fick dich.«

Es war nur eine kurze Glückssträhne gewesen, sie hätte länger dauern können und wäre immer noch ziemlich kurz gewesen. So eine Glückssträhne konnte man fast schon Pech nennen. Auf so eine mickrige Glückssträhne konnte man eigentlich auch verzichten. Das war wieder typisch für ihn, dass er eine Glückssträhne hatte, die jeder andere nur als Pechsträhne angesehen hätte.

Wenn man es genau betrachtete, hatte er in seinem ganzen Leben noch keine Glückssträhne gehabt, die den Namen verdient hatte.

Warum sollte man eigentlich leben, wenn man so verflucht wenig Glück hatte?

Die Mutter kam herein, und sein Bruder erklärte ihr kurz, was passiert war, natürlich aus seiner Sicht. Eine kleine Sache, um die man sich nicht mehr kümmern musste. Die Mutter aber nahm den Jüngeren in den Arm, ohne etwas zu sagen, und hielt ihn fest.

»Mensch, stell dich nicht so an«, sagte sein Bruder, »du bist doch kein Mädchen, oder hab ich was übersehen?«

Kann man das so sagen? (1)

»Es gibt eine Menge Leute, die mich eine Schlampe nennen. Ich fange deswegen nicht zu flennen an. Wenn ich etwas darauf geben würde, was die Leute sagen, hätte ich mich schon lange aufgehängt. Oder ich würde immer noch in diesem dummen Nest sitzen, in dem ich aufgewachsen bin, und ich hätte wahrscheinlich nicht einmal genug Geld, um mir einen Strick zu kaufen.

Es gab wirklich eine Zeit, da habe ich mir jeden Tag überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn ich mich gleich aufhänge.

Ich weiß nicht, ob ich dabei wirklich an aufhängen dachte. Vermutlich habe ich eher an runterstürzen gedacht. Das war so mit dreizehn oder vierzehn und ich war wirklich sehr unglücklich.

Das hatte vor allem mit meiner Mutter zu tun. Ich konnte ihr nie etwas recht machen, und ich hatte auch das Gefühl, dass es immer schlimmer wurde.

Etwa zu dieser Zeit musste ich erfahren, dass mich meine Eltern adoptiert hatten. Ich habe zuerst nicht genau verstanden, was das bedeutet, und hatte deshalb auch kein Problem damit.

Dann wurde mir langsam klar, dass es eine problematische Sache war, weil meine Mutter immer sagte, wenn ich etwas getan hatte, was ihr nicht passte: ›Wenn ich das gewusst hätte, dann hätten wir dich nicht geholt.‹

Mein Vater war es, der mich dann immer tröstete, wenn er es mitbekam, aber sein Trost war zu schwach, um gegen solche Sätze etwas ausrichten zu können. Mein Vater war zu schwach, um gegen diese Frau etwas ausrichten zu können. Sie hatte die Hosen an.

Ich kann mich erinnern, wie ich mit meiner besten Freundin Brigitte auf dem Bett lag und wir hörten ›Jumpin’ Jack Flash‹ von den Rolling Stones. Das war gerade der neueste Hit, und wir haben es deshalb sicher wochenlang den ganzen Tag gehört. Und es wird schon etwas laut gewesen sein.

Und dann kam meine Mutter herein. Sie sagte keinen Ton, aber sie stürzte wie eine Furie auf mich zu und schlug mir rechts und links ins Gesicht, bevor wir überhaupt kapierten, was denn jetzt los war.

Sie schrie herum, wir wären dreckige Schlampen, und dann hat sie die Platte vom Plattenspieler gerissen und auf die Tischkante gedonnert.

Man schrieb das Jahr 1968 und sie hat mich immer noch geschlagen, das muss man sich vorstellen.

Dabei war eher sie die Schlampe. Ich denke, da ist der Ausdruck gerechtfertigt. Obwohl ich betonen möchte, dass Schlampe für mich eigentlich kein Schimpfwort ist, bis heute nicht.

Ich war etwa sieben Jahre alt, als ich sie das erste Mal mit den Beinen in der Luft strampeln sah. Außerdem konnte ich zwischen ihren Beinen den nackten Arsch von Onkel Reinhard bewundern und wie er heftig auf und ab ging. Onkel Reinhard war unser Nachbar. Ich mochte ihn gern. Das war ein schönes Quietschen und Stöhnen!

Ich verstand natürlich nicht, was die beiden auf dem Sofa im Wohnzimmer machten, aber ich hatte den Eindruck, dass es eine lustige Sache sein musste, denn meine Mutter rief immer: ›Ja, oh, ja!‹

Irgendwie habe ich in dem Moment auch kapiert, dass ich mich besser nicht bemerkbar machen sollte. Kinder verstehen ja immer etwas mehr, als man denkt.

Am selben Abend ging es dann auch noch lustig weiter. Meine Mutter rief wieder ›Ja, oh, ja‹, nur dass sie es jetzt im Schlafzimmer mit dem Vater trieb. Auch bei diesem zweiten Abenteuer an diesem Tag dachte sie, ich würde schlafen.

Am nächsten Tag kam ich auf die tolle Idee, meiner Mutter zu zeigen, dass ich sie nachmachen konnte. Ich legte mich auf das Sofa im Wohnzimmer, strampelte mit den Beinen und krähte: ›Ja, oh, ja!‹

Das fand sie natürlich nicht so lustig und hat mir auch sofort eine Ohrfeige verpasst. Und gesagt, sie würde mich in den Keller sperren und nie wieder herauslassen, wenn ich irgendjemandem erzählte, dass sie das mit Onkel Reinhard auf dem Sofa gespielt hatte.

Wenn es ein Spiel war, warum durfte ich es dann nicht erzählen?

Von heute aus betrachtet, könnte man denken, dass sie in diesem verschlafenen Nest eine emanzipierte Frau war, als so etwas damals noch eine Seltenheit war. Aber das war sie nicht wirklich. Sie war vor allem eine falsche Schlange. Es gab nichts, was sie ohne berechnende Hintergedanken getan hätte.

Deswegen bin ich der Meinung, dass man noch lange keine Schlampe ist, wenn man von einer Schlampe Schlampe genannt wird.«

Eine Sekunde Pause.

»Kann man das so sagen?«

Bananen und Kanonen

»Die haben mich grundlos zusammengeschlagen, und mein älterer Bruder sagt zu mir, Mensch, stell dich nicht so an, du bist doch kein Mädchen, oder hab ich was übersehen? Kannst du dir das vorstellen? Das baut dich in dem Alter echt nicht auf«, sagte Fallner.

Der alte Punk Armin nickte und sagte, das wäre verständlich.

»Und jedes Mal, wenn ich in der Heimat bin, hoffe ich, diesem Schlägertypen wieder zu begegnen, also dem Älteren der beiden, der hat das Kommando gegeben. Zweiunddreißig Jahre danach. Das ist doch krank.«

Obwohl ihm natürlich klar wäre, dass er den Schläger kaum noch erkennen würde und der womöglich schon seit Jahrzehnten in Salzgitter lebte oder in Kolumbien im Knast dämmerte oder an seinem achtzehnten Geburtstag, wie er es verdient hatte, von einem Krankenwagen überfahren worden war und, während er im Dreck der Straße krepierte, in seinen letzten Sekunden mitansehen musste, wie auf der anderen Straßenseite seine Mutter sich von einem fremden Mann befummeln ließ und den sterbenden Sohn anglotzte, ohne ihm zu Hilfe zu kommen.

»Ich weiß, es ist vollkommen absurd, aber ich kann einfach nichts dagegen machen.«

»Seit acht Tagen bei ihrer Schwester, das ist auch vollkommen absurd«, sagte Armin, »dass ich nicht lache. Du solltest die beiden mal zusammen sehen, die streiten sich schon beim ersten Bier.«

»Aber was würde ich denn dann tun, wenn ich ihm begegnen würde? Das frage ich dich, was würdest du tun?«

»Ich würde sie zuerst fragen, was Sache ist. Dann würde ich ihr die Haare abschneiden. Dann würde ich sagen, das war’s, die Sache ist vergeben und vergessen. Dann würde ich sie fragen, ob das früher die Nazis oder die Befreier gemacht haben, weil ich mir das nie merken kann. Oder haben die alle die Haare abgeschnitten? Sie kennt sich mit diesen Feinheiten aus, meine Marilyn hat eine Ahnung von Geschichte, da können wir alle einpacken.«

Punkarmin winkte mit zwei Fingern zur Theke.

Zwei Stunden vor Mitternacht war Fallner, umgeben von permanent jaulenden und explodierenden Raketen, vom Hauptbahnhof direkt zu seiner Sozialstation gegangen, ohne seine Wohnung im Haus gegenüber zu betreten.

Dort war niemand mehr, mit dem er seine schlechte Laune teilen konnte. Seine langjährige Lebensabschnittsgefährtin Jaqueline tobte sich jetzt bei einer Freundin aus, behauptete sie, und er musste mit jemandem reden. Ob mit oder ohne Sinn und Verstand.

»Ich würde dem die Haare ausreißen, verstehst du? Ich kann heute noch spüren, wie er mir seine Faust in den Bauch rammt. Ohne jeden Grund. Und dann die zweite Faust. Eine Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod-Nummer würde mir gefallen«, sagte Fallner.

»Ich kann dir ein Lied von Frauen singen, die plötzlich geschlagene acht Tage bei ihrer Schwester bleiben müssen. Aber von ihr hätte ich diese bescheuerte Nummer nicht erwartet«, sagte Armin.

Man wusste nie, was einen im Bertls Eck an Silvester erwartete. Veteranen berichteten von einer Straßenschlacht; auch von Abenteuern, die man weder bestellen noch bezahlen konnte. Fallner hatte keine dieser Legenden jemals miterlebt oder überprüft. Sicher war nur, dass das Eck an diesem Abend traditionell geöffnet hatte. Ohne die Ankündigung, es würde zu einer Party kommen. Man legte hier keinen Wert auf Party. Man war schon zufrieden, wenn das Haus nicht abgerissen wurde. An Abenden mit erhöhter Selbstmordgefahr war bis drei Uhr geöffnet, selbst wenn Bertl allein mit zwei am Tisch eingeschlafenen Betrunkenen durchhalten musste.

Fallner hatte sich den Status eines Veteranen noch lange nicht erarbeitet, aber es war seit einigen Jahren klar, dass er an diesem Abend auf mindestens ein Glas vorbeikam. Auch wenn er Dienst oder zu Hause Gäste hatte. Natürlich ohne seine Verlobte (wie man das hier nannte), jeder wusste, dass seine Jaqueline eine andere Sorte Lokal bevorzugte, und wenn sie manchmal auftauchte, dann nur, um etwas mit ihm zu besprechen. Bekam von Bertl ein Getränk aufs Haus – es war gut, wenn ein Stammgast Polizist war, und es war noch besser, dass er mit einer Polizistin verlobt war.

Als Fallner reinkam und seine Reisetasche unter den ersten Tisch stellte, wusste niemand von den Anwesenden, dass er seit einigen Tagen Ex-Polizist war.

Ein Ex-Polizist, der nur noch eine Ex-Verlobte hatte, die bei der Polizei arbeitete.

Ein Ex-Polizist, der es selbst noch nicht glauben konnte.

Ein Ex-Polizist, der Angst vor seiner Zukunft als Ex-Polizist hatte.

Ein Ex-Polizist, der sich das Leben ohne seine Ex-Braut, die ihre Sachen noch nicht komplett aus der Wohnung geholt hatte, nicht vorstellen konnte.

Ein Ex-Polizist, den das draußen stärker werdende Raketenfeuer wahnsinnig machte.

Ein Ex-Polizist, der zwei Handfeuerwaffen in seiner Reisetasche hatte, eine Glock28, die ein Beweisstück war, das er möglichst schnell auf seiner Ex-Dienststelle abgeben musste, und eine Makarow, die ihm 1991 ein (angeblicher) Ex-Mitarbeiter der Staatssicherheit verkauft hatte.

Ein Ex-Polizist, der sich immer noch für ihre Sicherheit verantwortlich fühlte.

Es waren nur vier Männer anwesend, die über sein neues Leben Witze reißen konnten. In der Ecke hinten neben der Tür zum Klo saßen zwei Rentner und ein kleiner Hund, am Fenstertisch saß der alte Punk Armin. Auf einem der drei anderen Tische stand ein halbleeres Glas Bier.

Ein Ölgemälde: Überstürzte Flucht aus der letzten Bar vor dem Friedhof. Fünfhundert mal zwölfhundert Zentimeter, Kaufpreis auf Anfrage.

Hinter der Theke stand der Enkel des Besitzers Bertl, was die Hoffnungslosigkeit nur verstärkte. Wenn der Enkel arbeitete, gab er der Musikbox keinen Strom, quälte die Gäste mit den Gesängen deutscher Gangster, die tausend Worte pro Minute ausstießen und nicht wussten, dass es dumm war, eine Pistole vertikal zu halten, und dass es besser war, auch seine zweite Hand an die Waffe zu legen, falls man sie frei und nicht in der Bluse seiner Braut alias Bitch hatte, und außerdem hatte Bertls Enkel die miese Eigenschaft, sich zweimal bitten zu lassen, die Musikbox einzuschalten.

Jeder wusste, dass der Enkel diese Gaststube eher früher als später erben und sie dann sofort in eine futuristische Raumstation umgestalten würde.

Fallner und der Punk hatten sich eine Viertelstunde angeschwiegen, ehe sie sich von der Silvesterstimmung mitreißen ließen und sich was erzählten, und sogar vom Rentnertisch konnte man jetzt gelegentlich ein Geräusch hören, das nicht wie Husten klang.

»Er bekommt meine Faust in den Bauch, und wenn er am Boden liegt, die Mundharmonika in die Fresse. Dann sage ich zu ihm: Du hast recht behalten: Das wird der Schwanzkopf nie vergessen«, sagte Fallner.

»Aber dass sie nicht ans Telefon geht, das ist sowas von mies, das werde ich ihr nie vergessen, sie kann doch wenigstens kurz sagen, dass alles okay ist, das sind doch minimale menschliche Manieren«, sagte Armin.

»An das Gesicht von dem anderen Drecksack kann ich mich einfach nicht erinnern. Das geht mir am meisten auf die Nerven, ich glaube, der war die noch größere Ratte.«

Jetzt winkte Fallner mit zwei gespreizten Fingern zur Theke, und der Punk meinte, er würde sich von niemandem wie irgendein verblödeter Drecksack behandeln lassen, auch von seiner Liebsten nicht.

»Wobei das eigentliche Problem bei dieser Sache mein Bruder ist«, sagte Fallner.

»Hörst du mir eigentlich auch mal zu, falls der Herr Beamte die Güte hat?«, fragte Armin.

»Aber selbstverständlich«, sagte Fallner, »mein Bruder ist nicht ihre Schwester, die verhindert, dass deine Braut an ihr Telefon geht.«

»Du willst Mitgefühl und machst dich über andere lustig, damit kommst du an Silvester bei mir nicht durch.«

Fallner wurde klar, dass der Freund größere Probleme als er hatte und dass er verhindern musste, dass er in seine Wohnung flüchtete. Deshalb erzählte er ihm die Geschichte, wie letztes Jahr in der Silvesternacht einige besoffene Bullen im Dienst den Aufenthaltsraum ihres Reviers, zum Teil mit Maschinenpistolen, vollkommen zerschossen hatten. Er schlug mit der offenen Hand auf den Tisch, um den Irrsinn zu verdeutlichen, und der alte Punk meinte, dabei müsste es sich um die vernünftigsten Polizisten gehandelt haben, von denen er seit langem gehört hätte, und Fallner sollte sich ein Beispiel an diesen anständigen Beamten nehmen.

»Habe ich getan«, sagte Fallner.

Armin riss die Augen auf.

»Du hast richtig gehört«, sagte Fallner, »ich habe die Kündigung eingereicht, ich bin draußen, du redest ab jetzt mit einem Ex-Bullen, du kannst mir ab jetzt jeden Scheiß erzählen, also mehr als sonst.«

Er stand auf und hielt sich die Hand ans Herz: »Vor dir steht ein normaler deutscher Bürger, der nicht mehr Tassen im Schrank hat als die anderen.«

»Du verarschst mich doch.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Du bist total betrunken.«

»Noch nicht.«

Das Raketenfeuer draußen wurde stärker. Wenn man den deutschen Gangsterrap tatsächlich einmal brauchte, war er zu leise und säuselte vor sich hin wie eine demenzkranke Katze; was immerhin auch ein Zeichen war, dass der Enkel Respekt vor ihnen hatte.

Sie sahen beide aus dem Fenster. Es hatte heftig zu schneien angefangen und die Straßenbeleuchtung schien ein Unwetter daraus zu machen.

»Silvester in Stalingrad«, sagte Armin, »der Tag der Abrechnung ist gekommen und ich kann meine Frau nicht erreichen, und dich haben sie unehrenhaft entlassen.«

»Bist du sicher, dass du immer noch Punk bist?«

»Auch als Punk wirst du nicht jünger. Aber wenn du das kapiert hast, ist es meistens schon zu spät.« Er faltete einen Bierdeckel zusammen. »Deswegen ist es für die meisten besser, wenn sie das nie kapieren. Wenn du noch mehr Fragen zu diesem Blödsinn hast, wende dich an meinen Anwalt.«

Er stemmte sich mit seinem schweren Silvesterblues stöhnend auf und ging zur Theke. Er sagte tatsächlich einen vollständigen Satz zum Enkel, ehe er einige Münzen in die Musikbox steckte.

Fallner versuchte mit drei Zigaretten ein Mahnmal zu errichten. Das Gerüst eines Indianerzelts, das nicht stehen bleiben wollte. Training auf dem Weg zum Ex-Raucher. Fallner war ein ehemaliger Ex-Raucher.

Armin kam mit großen und kleinen Gläsern zurück, und als er sich setzte, erklangen die Clash. Mit dem toten Joe Strummer – die Toten waren also doch nicht so tot! Gelobt sei Jesus Christus! Er hielt sich den Klaren an die Nase und trank auf alle Ex-Bullen und alle Bullen, die den Mumm hatten, einen ehrbaren Beruf zu ergreifen.

»Ich glaube, deine Braut hat den Akku vergessen, das ist alles«, sagte Fallner. »Diese Sachen haben fast immer einen völlig harmlosen Hintergrund, das kannst du mir glauben.«

»Jetzt mal ernsthaft, ich glaube, du machst einen Fehler«, sagte Armin.

»Glauben heißt nicht wissen.«

Fallner hatte zwanzig Jahre Polizei hinter sich, und er hatte im ersten und im letzten Jahr seiner Karriere jemanden erschossen. Was nicht viele von sich behaupten konnten. Obwohl er bei diesen Tötungen keine andere Möglichkeit gehabt hatte, hatte ihn in den letzten Monaten das Gefühl überwältigt, nicht mehr einsteigen und weitermachen zu können. Und wenn diese Tür einmal geschlossen war, konnte man nie wieder zurück, sagten die Weisen. Wieso sollte es also ein Fehler sein, wenn er vor der verschlossenen Tür nicht stehen bleiben wollte, bis eines Tages jemand zu ihm sagte, er hätte an der falschen Tür gestanden und solle sich endlich zum Teufel scheren.

»Du solltest erstens an deine Pension denken«, sagte der Punk, »und zweitens an Leute wie mich, die gute Polizeikontakte brauchen.«

»Jetzt pass mal auf«, sagte Fallner. »Ich habe einen Job in der Security-Firma meines Bruders, und das heißt ruhigere Kugel und mehr Geld. Aber jetzt kommt’s: Ab übermorgen habe ich meinen Spezialfall, ihr Name ist Simone Thomas, sagt dir das was? Hast du in deinen jungen Jahren vor Punk vielleicht mal ein Oben-ohne-Filmchen gesehen oder war das unter deiner Würde?«

»Das glaub ich jetzt nicht«, sagte Punkarmin.

»Dann geht das auf dich«, sagte Fallner. In Raketengewittern.

Der Punk von fünfundfünfzig Jahren war perplex: »›Die Satansmädels von Titting‹, Mann, das war der Grundstock meiner nicht unerheblichen sexuellen Bildung. Simone Thomas, für eine Viertelstunde die späte deutsche Antwort auf Jayne Mansfield. Und die lebt noch?«

»Das tut sie, und sie hat einen beschissenen Stalker, der ihr das Leben schwermacht, und ich werde dafür sorgen, dass sie wieder glücklich wird, so sieht das aus mit meinem neuen Leben, mein Freund, und du willst mir erzählen, das ist ein Fehler?«

Armin nannte es trotzdem Silvesterlabern mit Extremschönreden. Das Problem war, dass ihm niemand beweisen konnte, dass er mit seiner Einschätzung auf dem falschen Dampfer lag. Im Grunde gab es überhaupt keine Einschätzung, von der man einen Punk, der dieses hohe Alter erreicht hatte, abbringen konnte.

»Und warum eigentlich deine Paranoia?«, fragte Fallner.

»Sie hat gesagt, ich würde sie nicht mehr so beachten wie am ersten Tag.«

Sie waren sich einig, dass Frauen das immer behaupteten, wenn ihnen nichts mehr einfiel, und bestellten noch mal dasselbe. Man musste die Zeit totschlagen und dabei aufpassen, dass man sich nicht selbst aufs Ohr haute. Und man musste gelassen bleiben. Zwei einsame Männer an einem Tisch mussten unbedingt gelassen bleiben. Zwei einsame Männer an einem Tisch, die bereit waren, sich über Privates zu unterhalten, mussten unter allen Umständen gelassen bleiben und immer wieder dasselbe bestellen. Besonders an so einem Abend. Wo das Raketenfeuer draußen von Minute zu Minute stärker wurde. Jaulende, zischende, explodierende Raketen. Die eine kleine, schmale, schmutzige, vernachlässigte und so gut wie vergessene Straße im Visier zu haben schienen.

»Kannst du dich nicht um diese Pest da draußen kümmern, ich dachte, ihr Bullen seid immer im Dienst?«

»Könnte ich. Ich könnte mich sogar wie Chow Yun-Fat darum kümmern, wenn er in Not ist und sehr viel zu erledigen hat, wenn du weißt, was ich meine.«

»Das kannst du mir nicht erzählen, dass ein Angeber wie du seinen Polizeiausweis freiwillig abgibt. Das kannst du deiner Oma erzählen.«

»Sie liebt dich, das kann ich dir schriftlich geben, das sieht ein blinder Krüppel, der taub und nicht …«

»Deine Oma?«

»Ich hab keine Oma mehr, ich hab ja nicht mal mehr eine Mutter, wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Nennst du das Logik?«

Die Tür schepperte, und dann ging eine Frau in einem roten Plastikmantel an ihnen vorbei.

Sie sahen ihr nach.

Die Zeit hielt den Atem an – und am anderen Ende der Galaxie ertönte ein heller Glockenschlag.

Sie ging langsam nach hinten bis zur Musikbox, blieb dort stehen und drehte sich um. Stand da, als müsste sie den Abtransport der Maschine verhindern. Zog an jedem Finger ihrer schwarzen Lederhandschuhe.

Sogar die Rentner erwachten aus ihren Albträumen. Der kleine Hund, der einem der beiden gehörte, sprang auf einen freien Stuhl und winselte die Erscheinung an, die sich die Schneeflocken aus den Haaren schüttelte.

Die große Uhr über ihr stand auf 23:23.

Der missratene Wirtsenkel war plötzlich ein anderer Mensch und stellte lächelnd ein großes Glas mit klarer Flüssigkeit für sie auf den Tresen, obwohl sie ihn nicht beachtete.

Der Ex-Polizist schwor dem Punk bei der Heiligen Jungfrau, dass er ihm keine fremde Substanz in eines seiner Gläser gegeben hatte, und verlangte von ihm dasselbe. Keiner konnte es dem anderen glauben.

Es war außerdem verwirrend, dass die unbekannte Besucherin im Stil von Armins abgetauchter Verlobten Marilyn gekleidet war und ihr auf den ersten Blick ein wenig ähnlich sah. Aber sie war sicher mehr als zwanzig Jahre jünger und hatte ein paar Kilo weniger – es sei denn, die Frau, die nicht an ihr Telefon ging und wegen ihres Aussehens Marilyn genannt wurde, hatte etwas an sich machen lassen, um ihrem Idol wieder näherzukommen.

»Man vergisst immer, dass an Silvester schon Fasching ist«, sagte Armin.

»Und dass man das Jahr noch nicht überstanden hat.«

»Ich glaube dennoch, du machst einen Fehler.«

»Ich glaube, es wäre nicht der erste.«

»Meinst du, sie wartet auf sowas wie James Bond?«

»Sie wartet auf deinen Anruf, aber ihr Handy ist kaputt.«

Fallners Vermutung bestätigte sich, dass der Punkveteran sich zwar viele Szenarien überlegt, es aber nicht geschafft hatte, die Schwester seiner Freundin anzurufen; er wollte sich eher vor einen Zug werfen, als diese dumme Kuh zu fragen, ob sie seine So-gut-wie-Ehefrau ans Telefon holen könnte. Denn sie hatte zwei Jahre lang nur intrigiert, ihn schlechtgemacht, verleumdet, diese miese Spießerkuh, die glaubte, weil er Metall im Gesicht hatte und bis zum Hals tätowiert war, dass er ihre Schwester ausnehmen und mit Punkmusik quälen und manchmal auch ein bisschen verprügeln würde. Fallner forderte die Telefonnummer der Schwester. Armin zögerte, ehe er den Zeigefinger unters Kinn legte und nach vorn zog.

Die Plastikdame hatte sich in der Zwischenzeit nicht viel bewegt, nur das Glas zum Mund geführt. Bertls Enkel bewunderte sie, ohne den Flirtversuch zu verstärken. Er war sogar zu dumm, über die Theke zu springen oder seinen Bereich auf andere Art zu verlassen, um ihr näherzukommen.

Es war ein schlechtes Zeichen, dass der alte Bertl, der das Eck seit über vierzig Jahren betrieb, sich an diesem Abend vertreten ließ. Er war vierundsiebzig. Das war für einen Wirt ein härterer Weg als für einen Staatsangestellten im Innendienst. Ein Wirt war eine Art Elitekämpfer im Innendienst. Falls er nicht durch ein Restaurant für die Oberschicht stolzierte und Konversationsschnittchen verteilte.

»Ich schließe aus deinen Ausführungen, dass du jetzt also anfängst, für deinen Bruder zu arbeiten«, sagte Armin.

»Zieh lieber andere Schlüsse, du Depp«, sagte Fallner.

»Du sitzt also im Auto und beobachtest einen Mann, den deine Ex-Sexbombe Simone loswerden will, und wenn du diesen Fall gelöst hast, beobachtest du Frauen wie meine Marilyn, bis endlich ein fremder Mann ohne Zulassungsbescheinigung sein Ding in sie reinsteckt. Hast du dafür studiert?«

»Jetzt pass mal auf, deine tolle Frau war siebenundfünfzig, als sie sich in einen Gepierct-und-Ledermann wie dich verliebt hat und in seine Wohnung …«

»Was soll das mit dem Ledermann? Lederjackenmann, von mir aus, aber Ledermann

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie dich verlassen hat. Ich weiß, dass du sie …«

»Du weißt ja nicht mal, dass du einen unfassbaren Fehler machst, wenn du jetzt für deinen Bruder arbeitest, du hast doch keine Ahnung, anscheinend hast du bei den Bullen dein Gehirn gleich mit abgegeben, neunzig Prozent beim Einstieg und die traurigen Überreste jetzt beim Ausstieg. Ich möchte behaupten, du bist ein medizinisches Wunder, wie du hier scheinbar normal herumsitzt.«

»Ich kenne Marilyn gut genug. Wenn sie dich verlassen wollte, hätte sie dir eine klare Ansage gemacht.«

»Die Ansage ist, dass du als Angestellter deines großen Bruders wieder den dummen kleinen Bruder spielen wirst. Du wirst wieder dieses Mädchen spielen, das du mal warst, ohne es bemerkt zu haben. Du warst doch jetzt monatelang bei deiner Psychotherapeutin, sie hat dir sicher einiges über Geschwisterdynamik erzählt, aber du hast natürlich nicht zugehört, weil Bullen nicht zuhören. Die Ansage ist, hör gut zu, wenn dir ältere Leute mit Erfahrung was sagen.«

Fallner winkte ab. Mit betrunkenen Seniorenpunks konnte man nicht diskutieren. Seine Therapeutin hatte ihm immer nur Fragen gestellt, und auf die meisten Fragen hatte er keine Antwort gehabt. Oder keine, die er geben wollte. Er schwieg und dachte an sie. Ob sie jetzt allein in ihrem Einfamilienhaus in der Einfamilienhausgegend saß, in das er schließlich eingebrochen war und ihr den Lauf seiner Makarow in den Mund geschoben hatte, um eine lebenswichtige Information von ihr zu bekommen, worauf sie natürlich zu Recht ihre Beziehung abgebrochen hatte, und sich fragte, was Fallner jetzt machte. Ob er seine Probleme beseitigt hatte oder immer noch in seinen Träumen von dem Jungen verfolgt wurde, den er erschossen hatte, obwohl er behauptete, er hätte der Welt einen großen Gefallen getan, als er diesen miesen Arsch auf eine andere Ebene verlagerte. Ob er neue Probleme hatte und mehr neue als alte … Mann, vielleicht sollten sie versuchen, ein Taxi zu bekommen, und zu ihr fahren, um sie an diesem emotional schwierigen Abend nicht allein zu lassen. Und um sie nach ihrer Einschätzung zum Fall Marilyn alias Maria Linder zu fragen, die den Ledermann nicht mehr anrief.

Er wusste, mit welcher Frage die Therapeutin Frau Dr. Vehring zuerst antworten würde, hm, also diese Frau Marilyn, war das ihre eigene Idee, dass sie Marilyn genannt werden möchte?

Die Tür schepperte, und dann ging eine Frau in einem roten Plastikmantel an ihnen vorbei.

Sie sahen ihr nach.

Die Zeit hielt den Atem an – und am anderen Ende der Galaxie ertönte ein heller Glockenschlag.

Sie ging langsam nach hinten bis zur Musikbox, blieb dort neben der Frau im roten Plastikmantel stehen und drehte sich um. Stand da, als hätte man sie zur Verstärkung gerufen, um den Abtransport der Maschine zu verhindern. Zog an jedem Finger ihrer schwarzen Lederhandschuhe.

Die große Uhr über den beiden stand auf 23:32, und das Raketenfeuer draußen wurde stärker.

»Ich habe damit nichts zu tun«, sagte Fallner.

»Sieht nach Gentrifizierung aus«, sagte Armin.

»Wusste ich nicht, dass Gentrifizierung so gut aussieht.«

Ein deutlicheres Symbol für feindliche Übernahme konnte es in diesem Lokal mit integrierter Sozialstation nicht geben. Allein schon das Alter der Damen musste Verdacht erregen, irgendwas zwischen Ende zwanzig und vierzig, das konnten sie auf diese Entfernung nicht genauer einschätzen, die beiden waren stark geschminkt, rote Lippen, schwarze Augen.

»Nur für Leute wie dich, die ihre Unterschicht verraten und verkauft haben, sieht das gut aus«, sagte Armin.

»Das siehst du falsch – unberechenbar bleiben ist das Leitmotiv meines Lebens.«

»Johannes der Täufer.«

»John Lydon, früher auch als Johnny Rotten bei dir und deinen Freunden ohne Zukunft bekannt.«

Die beiden Frauen in schwarzen Stiefeln und geschlossenen roten Plastikmänteln drehten sich um und fingen an, das Angebot der Musikbox zu studieren.

Die Rentner und der Hund sahen ihnen zu. Der Enkel lehnte sich über die Theke und erklärte, dass man für einen Euro vier Lieder bekam. Armin rief, dass man die Clash soeben gehört hatte, aber sie könnten natürlich tun, was sie wollten. Die Rentner bestellten zwei neue Gläser Wein. Etwas schien ihnen Hoffnung zu machen.

Die Damen ließen sich nicht stören und drückten die Taste, mit der man das CD-Angebot durchgehen konnte. Und dann kam die alte Schnulze »Wie ein Schlag ins Gesicht« über sie, und Armin fragte den Ex-Polizisten, ob er glaubte, sich mit seiner Jaqueline wieder versöhnen zu können.

»Na toll«, sagte Fallner.

»Erstens dein Bruder, zweitens deine Frau. Du kannst nicht innerhalb von wenigen Tagen zwei riesige Dummheiten begehen. Das haut den stärksten Bullen um, falls ich mir die Bemerkung erlauben darf, so kannst du Zwotausendvierzehn nicht angehen, das geht nicht gut, das kann ich dir sagen.«

»Vergiss es«, sagte Fallner, »wir waren an dem Punkt, dass du mir die Telefonnummer ihrer Schwester gibst und ich jetzt sofort anrufen werde.«

»Jetzt weiß ich, woran sie mich erinnern«, sagte Armin, »an einen Blaxploitation-Film, in dem es die bösen weißen Chicks nicht lange machen.«

Fallner sagte nichts. Er war bereit aufzugeben, seine Hilfe war unerwünscht. Und jetzt auch noch über Blaxploitation-Filme zu diskutieren, überforderte ihn.

»Und wenn’s ein neuer Film wäre, würde ich sagen, die Damen verkörpern eine neue Taktik des Islamischen Staats.« Der seine zukünftigen Ziele in Europa dort auswählen würde, wo man sie nicht vermutete, weil sie sich unterhalb des Radars befanden, das nur bedeutende gesellschaftliche Orte registrierte. Bertls Eck wäre demnach ein ideales Ziel. Eine unscheinbare Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs einer deutschen Millionenstadt, eine Kneipe, in der es noch keinen WLAN-Anschluss gab, aber eine der wenigen überlebenden Musikboxen, ein leuchtendes Symbol der Sünde … Wenn er Armin nicht stoppte, würde er auf den Tisch klettern.

»Blödsinn«, sagte Fallner, »Selbstmordattentäter sind fast immer Einzeltäter und tragen keine roten Plastikmäntel.«

»Pussy Riot waren drei«, sagte Armin.

Fallner hob die Hand, aber Bertls Enkel beachtete sie nicht mehr. Ihre Zeit war vorbei, und am Ende des Jahres würde man sie über die Klippen werfen.

»Du hast doch deine Süße bei einem Nashville-Pussy-Konzert kennengelernt, Fallner. Du kannst doch so eine Frau nicht einfach so gehen lassen.«

»Ich kann nicht, aber du kannst.«

Armin weigerte sich, den Vergleich anzuerkennen. Fallner weigerte sich, die Nashville-Pussy-Geschichte zu wiederholen. Der Punk weigerte sich weiterhin, die Telefonnummer herauszugeben. Fallner weigerte sich, die Andeutung zu bestätigen, er hätte zwei Schusswaffen (wie Chow Yun-Fat in den frühen John Woo-Filmen) in seiner Reisetasche. Beide weigerten sich, die Plastikmantelfrauen an ihren Tisch zu bitten. Beide weigerten sich, die Probleme mit ihren Frauen noch länger zu diskutieren. Beide weigerten sich, diese Probleme mit sich selbst zu verbinden.

Die Uhr stand auf 23:44, als die Tür schepperte und vier Frauen in schwarzen Stiefeln, roten Plastikmänteln und schwarzen Lederhandschuhen an ihnen vorbeigingen und ihre Schwestern an der Musikbox mit großem Hallo begrüßten.

»Wie ich gesagt habe«, sagte Fallner.