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Über das Buch

Elias Canettis seit 1942 geführte Aufzeichnungen – stets präzise, oft quer gedachte Gedanken in scharf geschliffener Sprache – sind sein intellektuelles Tagebuch und galten ihm selbst als das Wichtigste in seinem Werk. Als Seitenstücke seines Haupt-Buches Masse und Macht bündeln sie die großen Themen seines Lebens. Hier sind alle von ihm selber publizierten Aufzeichnungen versammelt, darunter auch die der Bände Die Provinz des Menschen, Das Geheimherz der Uhr, Die Fliegenpein und Nachträge aus Hampstead.

 

 

 

 

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Hanser E-Book

Elias Canetti

Aufzeichnungen

1942–1985

Die Provinz des Menschen

Das Geheimherz der Uhr

 

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

Vorbemerkung

Dieser Band enthält, in zwei Teilen, Aufzeichnungen der Jahre 1942–1985. Vierundvierzig Jahre eines bewußten Lebens sind eine lange Zeit. Es lag mir daran, eine Auswahl aus dieser ganzen Periode zu treffen und vorzulegen. Wie immer diese Jahre waren – und ich habe ihre Schrecken, die ich als meine eigenen empfand, nie verschwiegen –, ich habe dankbar dafür zu sein, daß ich sie wach erlebt habe. Wenn eine solche Rechenschaft vielleicht etwas erratisch erscheint, so ist sie in jedem Satz ihrem Augenblick nah und enthält die Wahrheit immerhin eines Menschen.

Wie es zu diesen Aufzeichnungen kam, möchte ich in wenigen Worten sagen. Die Konzentration auf ein einziges Werk, ›Masse und Macht‹, von dem ich wußte, daß es mich vielleicht noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde, und eine Art Verbot, mit dem ich jede andere und besonders jede rein literarische Arbeit belegt hatte, erzeugten einen Druck, der mit der Zeit gefährliche Ausmaße annahm. Es war unerläßlich, ein Ventil dagegen zu schaffen, und ich fand es, Anfang 1942, in den Aufzeichnungen. Ihre Freiheit und Spontaneität, die Überzeugung, daß sie nur für sich bestanden und keinem Zwecke dienten, die Verantwortungslosigkeit, mit der ich sie nie wieder las und nichts an ihnen änderte, retteten mich vor einer fatalen Erstarrung.

Allmählich wurden sie zu einer unentbehrlichen täglichen Übung. Ich spürte, daß ein besonderer Teil meines Lebens in sie ging. Es entstanden viele Bände davon, und was hier vorliegt, ist eine schmale Auswahl.

Erst im Jahr 1959 brachte ich es über mich, das Manuskript jenes Buches, das ich als mein Lebenswerk betrachtete, abzuschließen. Es ist nicht zu verwundern, daß in die Aufzeichnungen auch späterer Jahre viel eingeflossen ist, was sich darauf bezieht.

Doch den Charakter eines Ventils hatten sie nun längst verloren. Sie entstanden nicht mehr unter dem Druck einer Aufgabe, die schwer auf mir gelastet hatte. Wenn mir früher oft war, als müsse ich ohne die Aufzeichnungen ersticken, hatten sie jetzt ihr eigenes unantastbares Recht.

Viele haben versucht, ihr Leben in seinem geistigen Zusammenhang zu fassen, und die, denen es gelungen ist, werden schwerlich veralten. Ich würde mir wünschen, daß manche es auch in seinen Sprüngen verzeichnen. Es scheint, daß die Sprünge eher allen zugehören, jeder kann sich ohne Umstände holen, was ihn trifft. Der Verlust einer vordergründigen Einheitlichkeit, bei einem solchen Unternehmen unvermeidbar, ist kaum zu bedauern, denn die eigentliche Einheit eines Lebens ist eine geheime, und sie ist dort am wirksamsten, wo sie sich unabsichtlich verbirgt.

Die Provinz des Menschen

 

 

 

 

 

Für Veza Canetti