image
Image

Jan Erhard

ERSTER KLASSE

Das Buch

Charlotte Menzius, beruflich wie privat gescheitert, erhält von ihrem ehemaligen Chefredakteur eine zweite Chance: Sie soll das Rohmaterial recherchieren für eine neue Biografie über Dr. Richard Forster, den Bundeskanzler. Zunächst geben die Informationen das wenig überraschende Bild eines ehrgeizigen, charismatischen, zur Not rücksichtslosen Mannes. Aber dann stößt sie in ein Dickicht vor, das nur aus Lügen und Halbwahrheiten zu bestehen scheint. Charlotte stellt immer gefährlichere Fragen, bis Unbekannte sie mit dem einzigen Druckmittel erpressen, das sie in die Knie zwingen kann – dem Leben ihrer Tochter.

 

Der Autor

Jan Erhard wurde 1969 in Bochum geboren, wuchs in Rüsselsheim auf und studierte Philosophie und Geschichte in Berlin. Seit 2003 arbeitet er an historischen Abenteuerromanen über die Entstehung Angkors, des Weltwunders in Kambodscha.

2013 erschien Milchozean, 2014 Weltenschlange, weitere Bücher sind in Vorbereitung. Erster Klasse ist sein erster Thriller.

Jan Erhard lebt mit seiner Familie im brandenburgischen Teltow.

Dies ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit Personen oder Parallelen zu zeitgeschichtlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und zufälliger Natur.

 

Meiner Mutter und meiner Schwester.

Jan Erhard

ERSTER KLASSE

Thriller

© 2016 Jan Erhard
Umschlag unter Verwendung von:
›Nächtlicher Blick auf Bundeskanzleramt über die
Spree‹ (Avda/ avda-foto.de),
GER Bundesverdienstkreuz 3 BVK 1Kl.svg
aus Wikimedia Commons

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback 978-3-7345-3590-1
Hardcover 978-3-7345-3591-8
e-Book 978-3-7345-3592-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zwei Unfälle

Nach stundenlangem Warten fährt der Wagen an und beschleunigt. Die Reifen greifen knirschend in den schmutzigen Überresten der ersten Schneefälle des Jahres. Die Straße ist menschenleer und dunkel. Ohne Licht rast der schwarze BMW immer schneller auf die rote Ampel zu – und ignoriert sie. Vor der Kurve bremst er gerade so weit ab, dass die Räder auf der Fahrbahn bleiben, und biegt dann in die Lise-Meitner-Allee ein. Auf den dreihundert Metern bis zur nächsten Kreuzung treibt der heulende Motor bis auf neunzig km/h. Plötzlich blenden die Nebelscheinwerfer auf und erfassen einen weißhaarigen Passanten in braunem Lammfellmantel, der humpelnd die Straße quert. Lautes Hupen durchbricht die Stille. Vom grellen Licht geblendet schwankt der Mann dem Geräusch entgegen, ehe die Stoßstange seine Kniescheiben zerschmettert. Sekundenbruchteile später schlägt sein Kopf dumpf auf die Motorhaube. Wie eine von Fäden gezogene Puppe wird der Tote emporgerissen, segelt über das Auto und landet in den grauen Schneehügeln am Straßenrand. Der BMW bremst scharf ab, wendet und kommt zurück. Die Scheinwerfer beleuchten den grotesk verrenkten Körper und die geplatzte Schädeldecke des alten Mannes. Die Lichter erlöschen. Der Wagen gibt Vollgas und verschwindet in der Nacht, bevor die aus der Eckkneipe kommenden Menschen das Nummernschild erkennen können.

– – –

Einsatz Protokoll 472/03

3.41 Uhr: Notruf von einem Steiner, Mathias aus dem Lokal ›Eddis Destille‹ in Dienststelle eingegangen. Inhalt: Unfall mit Fahrerflucht in Lise-Meitner-Allee, lebloser Fußgänger.

3.47 Uhr: Einsatzwagen vor Ort.

Bericht: Mann, ca. 65-75 J., wahrscheinlich frontal angefahren u. geschleudert. Tod bereits eingetreten (Totenschein steht noch aus). Keine Ausweispapiere. Alkoholisiert? Schwere der Verletzung weist auf überhöhte Geschwindigkeit des Kfz hin. Laut Zeugen Mathias Steiner und Udo Eppler (Adr. erfasst) hörten sie gegen ca. 3.38 Uhr in ›Eddis Destille‹ Hupen, dumpfes Geräusch und kurzen Schrei von der Straße. Darauf verließen sie das Lokal und sahen Pkw dunkler Farbe wegfahren (Fabrikat und Kennzeichen wg. ausgeschalteter Fahrzeugbeleuchtung nicht erkennbar).

Einsatz-Protokoll 473/03

4.11 Uhr: anonymer Notruf in Dienststelle eingegangen. Inhalt: Verkehrsunfall in Schopsdorfer Str., Höhe Tankstelle. Ein Pkw, zwei bewegungslose Insassen.

4.17 Uhr: erster, um 4.24 Uhr zweiter Einsatzwagen vor Ort.

Bericht: Fahrer hat in alkoholisiertem Zustand bei zu hoher Geschwindigkeit die Kontrolle über Pkw (dunkelgrauer BMW 730i, amtl. Kennzeichen B - HC 5070) verloren. Vermutlicher Unfallhergang: Pkw schert auf Gegenfahrbahn aus, Fahrertür touchiert Laternenpfahl (Lackspuren), bevor er halbrechts-frontal gegen Wand des Hauses Schopsdorfer Str. 22 prallt (Bremsspuren).

Beide Insassen (Fahrer, m., ca. 40 J., Beifahrer, w., ca. 4 J.) bewusstlos angetroffen u. verletzt, Beifahrer schwer (medizinisches Protokoll beigefügt). Fahrer erlangt Bewusstsein wieder, bestreitet jede schuldhafte Beteiligung, Atemalkoholtest: 2,1 Promille. Beifahrer zu keiner Aussage fähig. Fahrer vorläufig festgenommen.

Dr. Motschmann, Notarzt, Johanniter Unfallhilfe, seit 4.33 Uhr vor Ort:

Mann, ca. 40J.: Alkoholgeruch, leichte Quetschungen im Brustbereich (Ursache wahrscheinlich Gurt), fortgesetztes Erbrechen, kurz andauernde Orientierungslosigkeit. Wg. Ausschluss Schädel-Hirn-Trauma Verbringung ins nächstgelegene Krankenhaus angeordnet.

Mädchen, ca. 4 J.: anhaltende Bewusstlosigkeit (Koma?) infolge Aufprall auf vorderer Konsole (Schädelbruch bzw. Trümmerfraktur im Bereich des oberen Gesichtsschädels? Einblutungen?). Keine weiteren sichtbaren Verletzungen. Wegen Lebensgefahr sofortige Verbringung ins nächstgelegene Krankenhaus angeordnet.

Der Auftrag

Sie wippte leicht auf der mit Kunstleder bespannten Kombination aus Dreh- und Ohrensessel, schwenkte nach links und nach rechts. Unablässig trommelten ihre Finger auf die Lehnen. In der nächsten Sekunde ertappte sie die eigene Rastlosigkeit und verkrampfte sich, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann nahm ein anderer Gedanke sie gefangen und wieder beherrschte Nervosität ihren Körper. Sie wollte nicht hier sein. Vielmehr sollte sie bei ihrer Tochter sein. Das war sie ihr schuldig und das schien das Mindeste, das sie für sie tun konnte. Doch sie brauchte auch Geld. Die Kleine benötigte neue Schuhe, logopädische Kurse, anspruchsvolleres Spielzeug ... Vorgestern hatte sie in einer deprimierenden halben Stunde eine Liste der Dinge aufgestellt, die sie sich einfach leisten können musste. Aber solange Robert nicht zahlte, reichten Sozialhilfe, Kindergeld und die Leistungen der Stiftung höchstens für den größeren Schutzhelm. Schuhe und Kurse blieben leider unbezahlbar. Sie brauchte also einen Job. Und die Zeit, in der sie noch wählerisch hatte sein dürfen, war schon lange vorbei. Nur deshalb saß sie in diesem ranzigen Büro eines sogenannten leitenden Redakteurs Innenpolitik. Vier Sessel, verschlierter Glasschreibtisch ohne erkennbaren Nutzen, schmutzig-gelbe Raufasertapeten und die unvermeidlichen Kandinsky-Drucke an den Wänden. Die austauschbare innenarchitektonische Grundlage deutscher Geschäftigkeit. Ob man nun einen Zahnarztstuhl, Bankschalter oder die zwanzigbändige Auslegung des Grundgesetzes mit ihnen kombinierte, diese Accessoires überlebten alles. Bloß hatten sie in diesem Fall schon eindeutig bessere Zeiten gesehen. Fahrig warf sie die Haare zurück. Meine Güte, was denke ich für schwachsinniges Zeug!

Immerhin passte ›ranzig‹ wirklich perfekt – nicht nur auf die Räumlichkeiten, sondern auch für die Art der Tätigkeit, die man von ihr hier erwarten würde: Man konnte von der Arbeit leben, sie brachte einen nicht um, aber man musste nach übermäßigem Genuss zwangsläufig würgen. Was genau er ihr zu bieten hatte, wusste sie nicht. Doch er hatte sie sicher nicht ohne triftigen Grund in seine Schmuddelkammer eingeladen. Für einen Besuch aus reiner Freundlichkeit schien ihr Verhältnis jedenfalls zu kompliziert. Oder auch zu einfach: Sie empfand für ihn nur Mitleid oder Ekel. Mitleid für seine stetige Sucht sich zu produzieren, seine Winzigkeit nur ein wenig größer erscheinen zu lassen. Und geekelt hatten sie seine zahllosen Annäherungsversuche, sexuelle Anspielungen, die häufig bis an die Grenze zur Belästigung gegangen waren. Nie hatte sie jemanden kennengelernt, auf den die Beschreibung ›armes Schwein‹ im vollen Wortsinn besser zutraf.

Überreizt beugte sie sich nach vorn, presste die Handballen gegen die Augen. Musste sie wirklich auf diesen armseligen Wicht warten, erneut ganz unten anfangen? Ja, eindeutig ja. Und dafür verabscheute sie ihn, hasste ihn für sein triumphales Lächeln. Selbstlose Motive hinter seinem Angebot, abermals für ihn zu arbeiten, konnte sie getrost ausschließen. Ihm ging es allein um die Geste des Vaters, der die widerspenstige Tochter voller Genugtuung wieder in den Kreis der Familie aufnimmt. Resigniert dachte sie an das Spiel, mit dem Elise und sie den Morgen verbracht hatten. Auch beim ›Mensch-ärgere-dich-nicht‹ sollte man einfach akzeptieren, dass es nicht alle vier Figuren geschafft haben. Man schluckt seinen Stolz hinunter, fängt noch einmal an, ganz von vorne, und wartet auf eine Sechs ...

Vor über zwölf Jahren hatte sie hier begonnen, in dem Haus, das ihr Sprungbrett geworden war: Zuvor Examen und Promotion in Politologie und VWL – was hatte sie sich auf das ›cum laude‹ eingebildet! –, dann Volontariat. Das ›Rüdesheimer Echo‹ konnte zwar sicher nicht als erste Adresse bezeichnet werden, ermöglichte es aber, nicht nur jedes Wochenende, sondern täglich mit Robert zu schlafen. Unvorstellbar, dass sie das jemals gewollt hatte. Justus, der Sportchef, hatte sie anschließend nach Berlin mitgenommen, zur ›Allgemeinen Zeitung‹, einem ehrgeizig betriebenen Projekt, in der Hauptstadt ein neues überregionales Blatt zu etablieren. Heute war davon keine Rede mehr. Anstatt einer Vollredaktion arbeiteten hier nur noch einige unterbezahlte sogenannte freie Mitarbeiter, die sich von wenigen fest angestellten Redakteuren in moderner Leibeigenschaft ausbeuten ließen. Aber damals hatte ihr der erste echte Job alle Chancen gegeben, auf dem heiß umkämpften Berliner Markt Außergewöhnliches zu produzieren. Ihr Artikel zur Verschmutzung öffentlicher Toiletten im Regierungsviertel war allerdings nicht nur aus thematischen Gründen noch verlacht worden. Mit der einigermaßen schonungslosen Skizze einer langjährigen Männerfreundschaft zwischen dem christdemokratischen Fraktionsvorsitzenden und dem postkommunistischen Bürgermeister einer brandenburgischen Hundert-Seelengemeinde, die von dreister Korruption und der Fähigkeit erzählte, politische Überzeugungen wie dreckige Unterhosen zu wechseln, hatte sie dann erste Aufmerksamkeit erregt. Und nachdem sie einen millionenschweren Skandal um den Ausbau des Flughafens ausgegraben hatte, war ihr Stern aufgegangen. So ging es weiter. Als sie den sechsten Artikel zum Bausumpf schrieb, hingen schon vier Skalpe an ihrem Gürtel. Einer stammte übrigens von eben jenem Fraktionsvorsitzenden, der auf Kosten eines Baumolochs eine Gruppe von zweiundzwanzig Parlamentariern für drei Wochen auf den Peloponnes geführt hatte. Offiziell hatte das Gremium in Griechenland Marmorsäulen bestaunt und dabei eine wesentliche Frage geklärt: Welcher Boller-Typ sollte für die Randstreifen der neuen Straße, die zum Ost-Terminal des Flughafens führte, ausgewählt werden? Nun ja. Die letzten von ihr recherchierten Artikel musste dann bereits ein Kollege fertig schreiben. Sie bezog währenddessen in Hamburg ein erheblich größeres Büro und lebte beim ersten Nachrichtenmagazin der Republik ihren Traum.

Heute saß sie wieder hier, als ob sie die letzten zwölf Jahre nie genossen oder durchlitten hätte. Und das Laufrad drehte sich. Allerdings rennt ein Hamster auch ohne vier Happy-Maker pro Tag immer weiter.

Er hieß Hans-Dieter Rothe, wurde Hadi genannt und schien kaum noch durch die Tür zu passen. Schweres Schnaufen, ähnlich dem Prusten eines Wals, der die Meeresoberfläche durchbricht, hatte ihn bereits angekündigt. Sämtliche Extremitäten waren kurz und aufgequollen, rostrote Locken klebten an der feuchten Stirn. Niemand wusste, wie Hadi aussah, wenn er nicht schwitzte. Seine unreine Haut, erinnerte sie sich, entschuldigte er mit einer ominösen Wasserallergie, der er zum Zweck der Körperpflege mit einer Emulsion begegnen müsse – was er gerne demonstrierte.

»Hi, Kleines. ´spätung tut mir leid, weißt ja, wie des is´, hoffentlich g´mütlich g´macht.«

Begrüßung, Entschuldigung, Absicherung und versuchte Aufbesserung der Großwetterlage – zusammengenuschelt in knapp drei Sekunden. Sie hatte diese Satzfürze, so hatten die alten Kollegen Hadis Kommunikationsversuche genannt, zuerst kaum verstanden und irgendwann festgestellt, dass er an keinem Sprachfehler litt. Vielmehr achtete er auf seine Aussprache genauso wenig wie auf sein äußeres Erscheinungsbild.

Mehr Zeit nahm sich Hadi für ein Seufzen, das den Plumps in seinen Sessel begleitete. Erst nachdem er den Billig-Zigarillo bedächtig ausgedrückt hatte, schaute er auf. Voller Vorfreude, denn insgeheim hatte er seine ehemals beste Rechercheurin schon lange wiedersehen wollen. Ihre Größe übertraf seine Erinnerungen. Allerdings ging ihm das – zwanzig Zentimeter kleiner als der Durchschnitt – häufig so. Dagegen erinnerte er sich sehr gut daran, wie ihre Brüste eine Bluse ausfüllten. Er ahnte, dass sie es hasste, wie eine Zuchtstute begafft zu werden. Aber sie würde nicht weglaufen. Aus der reinen Not heraus hatte sie den Weg gefunden, daher schien Eile unnötig. Natürlich wollte er ihr helfen, hatte sie immer gemocht. Nein, das war nicht wahr. Er hatte sie geliebt und doch stets gewusst, dass diese Liebe unerwidert bleiben musste. So beschränkte sich seine Verehrung auf eine Art modernen Minnedienst mit starker körperlicher Komponente. Und wenn er seine Hilfe anbot, dann durfte er sie nach der langen Zeit auch endlich einmal wieder anschauen. Also wanderte sein Blick von den Brüsten hoch zu den dunkelbraunen, nahezu schwarzen Haaren, die bis auf die Schultern hingen. Der wie ein Zebra gemusterte Haarreif passte zu einigen weißen Strähnen, die in ihre Stirn fielen und auf die letzten Jahre schließen ließen. Die Augen würden seinen Spaziergang beenden, deshalb widmete er sich zunächst den hellen, klar konturierten Zügen: Sanft geschwungene Wangen, ein entschlossenes Kinn – aber von den Nasenflügeln liefen frühe Falten bis zu den Mundwinkeln. Noch einmal ihr Busen, dem er so oft einsame Gedanken gewidmet hatte. Dann die dünnen Arme und schmalen Hände. Sie zitterten. Vielleicht aus Wut, vielleicht aus Angst, vielleicht zitterten sie auch immer. Genügend Pillen nahm sie bestimmt. Der Anflug von Mitleid wich allerdings rasch wieder anderen Gefühlen, als er die Konturen ihrer langen, von einem dunklen Wickelrock verborgenen Beine zu erahnen suchte. Ja, sie war die schönste Frau, die er persönlich kannte. Nicht so sexy und drall wie die Damen auf den verklebten Seiten seiner Magazine und dennoch erotischer als jede Nutte, die er bis zum heutigen Tage in Anspruch genommen hatte. Und sie war von ihm abhängig – allein dieser Gedanke hätte seine Erektion gerechtfertigt. Früher hätte er peinlich berührt die Beine übereinandergeschlagen, doch jetzt brauchte sie ihn! Ja, er würde ihr helfen, aber er wollte sich auch gut dabei fühlen. Und wenn die Erinnerung an diese Sekunden das Einzige blieb, was ihm seine Großzügigkeit einbrachte, dann durfte er sie genießen.

»Hadi, wärst du so freundlich, mir endlich ins Gesicht zu schauen.« Die Stimme klang unterdrückt, fast tonlos.

Giftig. Das war immer das Erste, was er dachte, sobald er ihrem Blick begegnete. Ein solches Grün irritierte zunächst, obwohl die Farbe jetzt nur noch entfernt an eine Katze erinnerte. Es schien verschleiert, nicht mehr so klar wie damals, als sie ihm stolz und aufgeregt den ersten Artikel zur Durchsicht vorgelegt hatte. Kleine Fältchen, die in zarten Mäandern nach außen liefen, rahmten die Augen ein.

»Hadi, wir wollen das hier professionell über die Bühne bringen. Also vorweg: Ich hege weiterhin kein irgendwie sexuell motiviertes Interesse an deiner Person. Falls mit deiner Einladung solche Hintergedanken verbunden waren, dann bin ich weg.« Ihre Stimme war tatsächlich noch leiser geworden, fast schon ein Flüstern. Man musste sich konzentrieren, um ihr zu folgen. Sie schluckte, wartete offensichtlich angespannt auf seine Reaktion.

Die Lüge ließ ihn lächeln. Sie würde immer wieder kommen, ganz egal, was er tat. Er war ihre einzige Chance. Sie bluffte also, hatte den dritten König aufgedeckt und hielt ihre letzten Karten in der Hand. Doch beide sahen sie sein Full House mit Assen und wussten, dass sie keinen Vierling hatte.

»Scho´ recht, Kleines. Tut nu´ gut, dich zu seh´n.« Er zwang seine Stimme, nicht gänzlich in die Undeutlichkeit abzugleiten. »Wie geht´s dir?«

»Den Umständen, die dich bestimmt nicht interessieren, entsprechend. Komm´ jetzt bitte zum Punkt. Was hast du für mich?«

Arrogante Schlampe ... Sie gab sich aufreizend abweisend. Ohne Regeln, Kollegen und vor allem Gewissen hätte er ... nichts. Er begehrte nicht nur ihren Körper, er wollte ihre Anerkennung als Mann, und falls das nicht möglich war, zumindest als guter Freund. »I´ hab´ ´nen Job.«

»Gut.«

»I´ hab´ ´nen Scheiß-Job für dich.«

»Warum hast du mich dann hergebeten?«

Mit einem breiten Grinsen fixierte er ihr linkes Auge.»Weil wi´ beide wissen, dass du jeden Job annimmst. Wenn du für ´ne Photo-Reporte alle ´dammten Klos an der Autobahn fotografieren müsstest, du würdst´es tun und au´ noch ›Danke‹ sagen.«

Sie senkte den Blick, holte Luft und stieß die Worte wie Pfeile aus. »Geil´ – dich – nur – auf, Hadi, bis du platzt. Gibst du mir etwas? Oder hast du nur Grütze?«

»Ich habe nichts zu schreiben.«

Sie hörte Mitleid in dem ausnahmsweise deutlichen Satz und sie hasste es. »Du verdammter ...« Sie schluckte wieder. »Was dann?«

Auch ihre Schultern bebten nun. Das Zittern fiel kaum auf, wenn man nicht genauer hinsah, aber es war da und verriet ihre Schwäche. Armes Mädchen ... Er wollte sie nicht resigniert, jedenfalls nicht so.

»´Ne Recherch´. Un´ zwa´ über unser aller Kanzler. Gar nich´ so furchbar schlecht, oder!?«

»Welche Art von Recherche meinst du?«

»Infomation´n für´ne Biografie ...«

»Quatsch!«, unterbrach sie ihn ungeduldig. »Es gibt doch schon mindestens fünf Biografien über ihn. Also was wird das? Eine Beschäftigungstherapie kann ich mir selbst suchen.« Ihre Augen blitzten kurz und verschleierten sich dann wieder.

Als er sich in die Höhe hievte, gaben seine überforderten Knie ein gequältes Knacken von sich. Er trat ans nikotingelbe Fenster und betrachtete eine tote Fliege, die irgendwie den Weg zwischen die Doppelglasscheiben gefunden haben musste. Aus dem Augenwinkel sah er ihr wütendes Achselzucken.

»Hadi, ich will schreiben, nicht nur recherchieren. Aber vor allem wollte ich für eine Zeitung arbeiten, sogar, wenn es deine ist. Ich dachte, das wäre dir bewusst ...«

Er zündete sich einen weiteren Zigarillo an und atmete den Qualm gegen die Scheibe. Die Straße unten war regennass. Ein Auto fuhr in eine Pfütze vor dem Zebrastreifen und ließ einen Schauer auf der Mutter niedergehen, die dort mit ihrer Tochter wartete. Zornig fuchtelte sie dem Fahrer hinterher. Hilflos, genau wie sie. Zeit für ein paar Wahrheiten.

»Charlotte ...« Auf dem verschmutzten Glas konnte er nur ahnen, wie sich ihre geschwungenen Augenbrauen leicht hoben, als er sie mit ihrem Namen ansprach. »Lotte,« sagte er wie zu einem Kind, »kennst´e irgend´nen Redakteur, der dir was anbiet´n würde außer mir?«

Sie schwieg und musterte den Teppich.

»Nein? Un´ warum wohl?«

»Du weißt verdammt gut, woran das liegt,« schnappte sie zurück.

»Ja, nur erinnerst de´ dich selbst?« Er drehte sich um, setzte den immensen Hintern auf das Fensterbord und schaute ihr direkt ins Gesicht.

Sie wich seinem Blick aus.

»Mensch, du bist tot in ´er Branch´. Ja, du warst ´mal ´ne echte Nummer. Aber jetzt bekomms´ de nur noch Mitleid von ´en Kolleg´n.«

Sie legte die zitternden Hände vor die Augen. »Sei still.« Ein deprimiertes Flüstern.

»Nee, hab´ g´rad´ erst angefang´n. Du musst endlich einseh´n, in welcher Lage ´de dich befindest. Damals hast´e plötzlich alle Aufträg´ geschmiss´n, nix mehr produziert ...«

»Die Diagnose ... es war eine Ausnahmesituation. Aber das ist Vergangenheit! Und das weißt du genau!«

Leiser Trotz, bevor sich die Schnecke in ihr Haus zurückzieht. Hier konnte nur schonungslose Härte helfen. »Schau de an! Klar, de siehst immer noch klasse aus. Leider is´ das nur die Hüll´. Inn´drin bist ´de leer wie ´ne Plastiktüt´.« Er brüllte fast, wollte sie unbedingt erreichen. »´N waidwundes Reh, vor vier Jahr´n angeschoss´n. Seitdem schleift ´s sich durch´n Wald, will vergess´n, dass es verletzt wurd´, und trägt dabei ´ne klaffende ...«

»Sei still.« Der spitze Schrei lief in verhaltenes Schluchzen aus. »Sei endlich still, einfach still ...«

Er trat hinter sie und betrachtete mitleidig die hochgezogenen, verkrampften Schultern. »Nee, i´ werd´ nie mehr still sein. Das war i´ schon viel zu lang. I´ bin de´ Einzige, zu dem de geh´n kannst. Und ich werd´ ´de ´dammt noch mal helf´n.«

Ihr Schweigen irritierte ihn. Aber was sollte sie auch sagen? Also fuhr er fort. »Du wi´st nich´ für die Zeitung arbeit´n. Das riskier´ ich nich´. Du wirst alles rausfind´n, was man üb´r ´n Forster schreib´n kann. Und damit mein´ ich das, was noch nie g´schrieb´n wurd´. I´ denk´, ´de wirst mir zustimm´n, dass die bisherig´n Biografi´n grott´nschlecht sin´. Entweder er wird beweihräuchert oder es werd´n nu´ Banalität´n serviert. Ergo: Find´ des, was noch keiner gefund´n hat!«

Als sie weiterhin schwieg, seufzte Hadi ungeduldig. »Bevor ´de fragst: Nee, ´de wirst die ´grafie nich´ schreib´n, das mach´ ich. Ich werd´ de auch selbst bezahl´n, des hat mit ´nem Verlag nix zu tun.«

Sie nahm die Hände nicht von den Augen. Aber immerhin registrierte er, wie sich ihr Rücken ein wenig entspannte.

»Wie viel?«

»Fünftausend im Voraus, fuffzehn bei Lieferung.« Als er an seinen überzogenen Dispokredit und die ungeduldigen Mahnschreiben der Bank dachte, bereute er das großzügige Angebot. Auch fragte er sich, ob er jemals eine Biografie verfassen würde. Er wollte zwar schon seit Jahren mit der Zeitung aufhören und den übrigen ehemaligen Journalisten und jetzigen Bestseller-Produzenten nacheifern, bloß klappte es nicht. Er führte es auf mangelnde Disziplin zurück, zudem mochte er nichts Überflüssiges produzieren. Nein, er würde nie ein Buch über Forster schreiben. Dennoch – und dieser Gedanke hatte etwas Beruhigendes – ließen sich möglicherweise allein die Resultate der Recherche vermarkten.

»Lächerlich. Ich werde jetzt gehen.« Aber sie stand nicht auf.

»Ach ja?« Er verzog das Gesicht zu einer höhnischen Grimasse. »I´ werf´ ´ner zerstört´n Ex-Redakteurin zwanzigtausend Kröt´n vor die Füß´, und das nennst ´de lächerlich? Dir bleibt gar keine and´re Wahl, sonst wärst´e niemals hergekomm´n zu dem klein´n, fett´n Wichser, der dich nur betatsch´n will. Sag´ einfach ›Danke‹!«

Ein kurzes Schnauben.

»Bedank oder verpiss´ dich!«, schrie er ihr direkt ins Ohr, sodass sie heftig zusammenzuckte.

Und nach einer Weile, gepresst, nahezu unhörbar: »Danke.«

Sein Kopf ruckte befriedigt zurück. »Gut, d´s hätt´n wir. ´Ne Bedingung noch: ´De schluckst von jetzt an bis zur Übergab´ der Infos keine Psychopill´n mehr.«

Sie schoss nach oben und drehte sich zu ihm um. »Leck – mich – am – Arsch!« stieß sie fast genüsslich auf seine verklebten Locken herunter. Aber sie blieb stehen, nahm nicht ihre Tasche und ging.

Die offene Abneigung schockierte ihn zuerst, dann verzog er die feisten Lippen zu einem Schmunzeln. Einen Moment lang betrachtete er einen Knopf auf ihrer weißen Bluse – eine Handlänge von seiner Nase entfernt. Gott, sie riecht so gut ...

»Des fänd´ i´ zwar auch ganz geil, doch ´de musst begreif´n, was für ´ne billige Nummer ´de hier gibst.« Seine Hand berührte den glatten Stoff, strich langsam an der Unterseite ihrer linken Brust entlang, wog ihr Gewicht, umschloss und drückte sie ein wenig. Er spürte ihren Herzschlag, flatterig und leicht. Dann blickte er ihr mitleidig in die verkniffenen Augen. »Verstehst ´de? ´De schlägst mich nich´, weil i´ der letzte bin, auf den ´de bau´n kannst. Schluck´ endlich dein´ Stolz runter un´ keine Pillen mehr. Und sei´s nur weg´n Elise.«

Er nahm die Finger von ihrem Busen, trat zurück und formte aus beiden Händen eine Schale. Sie sollte ihre Handtasche öffnen und die Happy-Maker hineinlegen. Aber sie sah bloß die unübersehbare Wölbung in seinem Schritt. Wusch sich diese feiste Drecksau dort unten auch nur mit einer Emulsion?

– – –

Es war schon wieder passiert. Ihr roter Renault stand vor dem Block, in dem sie und Elise in einer Dreizimmerwohnung lebten, und sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war. Die Fahrt – sie musste ja wohl gefahren sein? – schien vollständig aus ihrer Erinnerung getilgt. Inzwischen nannte sie so etwas Wachschlafen, und in letzter Zeit hatte Charlotte immer häufiger wach geschlafen, wenn sie von ihrer Tochter getrennt war. Sie schaute die graue Fassade der Mietskaserne hinauf und suchte das erleuchtete Fenster des Kinderzimmers. Seit Jahren schon wollte sie umziehen, weg aus diesem schmutzigen Kasten, aus diesem verdreckten Bezirk, der in Hundekot versank, und wo man in ständiger Furcht vor Alkoholikern, Bullterriern und deren Herrchen lebte. Obwohl sich Elise offenbar nicht an ihrem Wohnumfeld störte, kannte sie doch auch nichts anderes. Charlotte hingegen hätte alles dafür getan, in einen hellen, geräumigen Neubau ziehen zu können. Dass Hadi ihre Brüste betatscht hatte, war nur ein geringer Preis für eine Perspektive gewesen. Sicher noch keine Neubauwohnung, aber ein Anfang. Das sprichwörtliche kleine Licht am Horizont, das ihr eventuell den Weg aus diesen grauenhaften Jahren wies, die sie nur unter Drogen überlebt hatte. Automatisch öffnete sie das Handschuhfach, holte eine schmale, türkisfarbene Medikamentenschachtel heraus, knipste sich zwei Tabletten ab und wog sie in der Hand. Vielleicht sollte ich tatsächlich von diesem Zeug loskommen und es mal wieder mit der Realität probieren. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, wie sich das anfühlt ... Konnte sie oder irgendjemand mit solch einer Wirklichkeit leben? Ja, schon, es gab diese Typen, man las von ihnen, sah eine Doku im Fernsehen. Menschen, die in den Abgrund geschaut und sich dann irgendeinem Gott zugewandt hatten. Nur war sie nicht besonders religiös und hatte bisher noch jeden Versuch ihrer Mutter, sie mit in einen Gottesdienst zu nehmen, unter zentnerschwerem Zynismus begraben. Worauf sollte sie denn hoffen? Sicher gab es das Buch Hiob, nur es zu lesen und es zu erleben, machte einen gewaltigen Unterschied. Ihr Paradies war unwiederbringlich zerstört, daher gab es nichts zu hoffen und somit auch nichts zu glauben. Gott war etwas für Leute, die keine wirklichen Probleme kannten. Hastig schluckte sie die Psychopharmaka hinunter. Nur mit Mühe konnte sie sich daran erinnern, von welchem Ort sie losgefahren war. Sie hatte einige Stunden in der Staatsbibliothek zugebracht, war dann in die Amerika-Gedenk-Bibliothek gefahren, und ... Nein, sie hatte das Archiv der Allgemeinen Zeitung besucht. In der AGB hatte sie hingegen zum letzten Mal mit Robert ... Sie unterdrückte den Gedanken und schaltete den Motor ab. Es schneite schon wieder, und weiße Flocken legten sich auf die Scheibenwischer.

Natürlich hatte sie den Job angenommen. Hadi war ein schleimiger Kotzbrocken, doch er wollte nun einmal zwanzigtausend Mark in sie investieren. Und trotz der ganzen Gafferei, der sexistischen Sprüche und seiner Beschränktheit mochte sie ihn dafür. Aus welchen Gründen er es getan hatte, kümmerte sie wenig. Immerhin, es schienen nicht die schlechtesten Motive, sonst hätte er ihr sicher das Angebot gemacht, mit dem sie eigentlich gerechnet hatte. Wahrscheinlich hätte sie für diese Summe sogar mit ihm geschlafen. Angewidert verzog sie das Gesicht. Dass er es nicht gewollt hatte, war eindeutig ein netter Zug von ihm. Auch die Tabletten hatte sie ihm gegeben, allerdings nicht sofort. Erst hatte sie einen Druckbleistift aus ihrer Handtasche gezogen und ihn mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, zwischen seine Beine gestoßen. Mit den zitternden Händen hatte sie zwar leider nicht zielen können und die dicke Baumwollhose hatte bestimmt Einiges abgefangen, dennoch musste es ordentlich wehgetan haben. Sie hatte gegluckst vor Lachen und, nachdem sie zu Atem gekommen war, dem wehleidigen Scheißkerl noch gesagt, dass sie den Auftrag annähme. Wahrscheinlich hatte er längst eine Notiz angelegt. Hadi hielt den Inhalt aller Gespräche fest, ein Umstand, der die Kollegen schon seit vielen Jahren belustigte. Was er diesmal wohl geschrieben hatte?

Die fünftausend Mark Anzahlung steckten in der linken Innentasche ihrer Wachsjacke. Den Umschlag zu fühlen, beruhigte ungemein. Sie hatte sich für ein bisschen Grapscherei drei Monate Sicherheit gekauft und sie hatte Aussicht auf mehr Geld. Das schien in Ordnung für eine anspruchslose, langweilige Arbeit. Forsters Biografien, die irgendwelche namenlosen Auftragsschreiber bisher zusammengeschustert hatten, lasen sich tatsächlich wie seelenlose Fließbandprodukte. Dürre Informationen über Jugend und politischen Werdegang, garniert mit unbewiesenen Klatschgeschichten und Plattitüden. Kein roter Faden, keine erkennbare Richtung, noch nicht einmal der Versuch, dem Charakter des Mannes näher zu kommen. Der skizzierte Mensch verschwand hinter einem aufgetürmten Brimborium aus Halbwahrheiten. Da waren die biografischen Notizen, die sie aus dem Zeitungsarchiv gezogen hatte, schon hilfreicher gewesen, beschränkten sie sich doch auf Fakten. Allerdings auf wenige:

1947 geboren in Lübeck in der Karl-v.-Ossietsky-Straße, Vater Maurer, Mutter Kellnerin;

1953 eingeschult in die Max-Planck-Schule, Lübeck (Schulgeld aufgrund besonderer Begabung von einer staatlichen Stiftung); von 1962 - 1965 Schulsprecher und seit 1964 Vorsitzender der Landesschülerversammlung;

1963 Eintritt in die SPD; Mitarbeit in der Jugendorganisation ›Die Falken‹; ab 1964 deren Landesvorsitzender;

1965 Abitur (ein Jahr vorzeitig) am Immanuel-Kant-Gymnasium; Durchschnitt: 1,4; Drittbester des Jahrgangs;

1965 - 1967 Wehrdienst in Mainz; Vorsitzender eines Ortsvereins der Jusos ebendort;

1967 Antritt eines Jurastudiums an der Goethe-Universität in Frankfurt; Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung;

1969 Wahl zum Vorsitzenden der Jusos Rheinland-Pfalz; jüngster Abgeordneter des Landtags;

1970 SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Mainz-Finthen; Verhaftung nach Teilnahme an einer Sitzblockade der Spontis gegen den Vietnamkrieg in Bonn;

1971 erstes Staatsexamen mit Auszeichnung bestanden; Bundesvorsitzender der Jusos; Fernsehauftritt in einer Vorabendsendung des ZDF;

1973 zweites Staatsexamen mit Auszeichnung bestanden; einer der seltenen Einser-Juristen; Eröffnung einer Kanzlei in Mainz;

1975 Promotion in internationalem Recht; Prädikat: magna cum laude; Doktorvater ist Herbert Hinsch; erneutes Mandat in Rheinland-Pfalz;

1976 Heirat mit Dorothea (Doro) Veigel, 28 Jahre, Grundschullehrerin;

1978 jüngster Fraktionsvorsitzender in einem deutschen Landtag; erste Buchveröffentlichung: ›Die Zukunft in unserer Hand‹;

1981 Niederlage bei Kampfabstimmung um die Spitzenkandidatenkür für die Landtagswahl gegen Axel v. Schirach;

1982 Forster lehnt ein Ministeramt in der Landesregierung ab;

1984 Kaufhaus-Affäre Ginzburg; nach Sturz der Regierung v. Schirach Wahl zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz (der jüngste in der Geschichte der Bundesrepublik);

1986 Wiederwahl;

1987 Scheidung; zweites Buch: ›Gedanken über Deutschland‹;

1989 Wahl zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD;

1990 Forster holt die absolute Mehrheit in Rheinland-Pfalz; kritische Äußerungen zur Organisation der deutschen Einheit;

1994 Niederlage bei der Nominierung zum Spitzenkandidaten der SPD; Rückzug aus der Parteiführung; erneut absolute Mehrheit in Rheinland-Pfalz;

1996 nach verlorener Bundestagswahl wird Forster wieder zu einem der stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt;

1998 erneuter Wahlsieg in Rheinland-Pfalz; nach Rommelskirchens Verzicht wird Forster zum Spitzenkandidaten der SPD gewählt; drittes Buch: ›Innovation und Gerechtigkeit‹;

2000 SPD bei der Bundestagswahl stärkste Partei; als Bundeskanzler steht Forster der ersten rot-grünen Regierung vor; Anlaufprobleme, Kommunikationslücken und Schwierigkeiten bei der Darstellung der Regierungstätigkeit; Stabilisierung der Koalition nach plötzlichem Rücktritt des Finanzministers Rommelskirchen; Forster übernimmt auch den Parteivorsitz.

Ehrgeiz war ihre erste Assoziation zu diesen wenigen, dürren Informationen. Ehrgeiz und ein unbändiger Machtwille, vielleicht, nein, wahrscheinlich sogar -gier. Es war immer weiter nach oben gegangen. Forster hatte kein Jahr verschenkt und sich nur kurze Zwangspausen zum Verschnaufen gönnen müssen. Und sicher scharrte er dabei mit den Füßen auf den Sprossen ... Aber das war schon eine Interpretation. Sie brauchte sehr viel mehr Fakten, bevor sie auch nur ein provisorisches Urteil über diesen Menschen fällen konnte. Natürlich kannte sie ihn aus dem Fernsehen, aus unzähligen Zeitungsartikeln und Interviews. Er wirkte nicht sympathisch, doch das sagte nichts, denn wirklich einnehmend fand sie keinen einzigen Volksvertreter. Tatsächlich hatte sie sich in den letzten vier Jahren mit politischen Themen kaum auseinandergesetzt. Ihre Tage hatten nur aus Funktionieren bestanden, alles Weitere war durch den Unfall wie mit einem Skalpell aus ihrem Alltag herausgeschnitten worden. Elise das Leben erträglicher gestalten – Anderes hatte nicht interessiert. Sie konnte noch nicht einmal sagen, wer im Kabinett saß, ob der Kanzler beliebt war oder wie die Bevölkerung seinen Regierungsstil aufnahm. Sie musste wirklich von vorne anfangen. Und sie würde damit beginnen, die Lücken zu füllen, die in seinem Lebenslauf klafften.

– – –

In der Wohnung wartete eine böse Überraschung. Schon als Charlotte die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, hörte sie ein demonstrativ fröhliches »Hallo«. Der erste Stich der schwarzen Witwe und das Netz ist sorgfältig gespannt ... Erschöpft und frustriert lehnte sie sich gegen die Regalwand, die schief und vollgestopft die gesamte rechte Seite des sechs Meter langen Flurs einnahm. Mit ihrer Mutter hatte sie nicht mehr gerechnet. Es war ihr entfallen – gut gemeint von ihrem Unterbewusstsein –, dass sie angeboten hatte, die Kleine aus der Tagesstätte abzuholen. Widerwillig hatte sie zugestimmt, obwohl sie so Ingrid wieder ein Stück weit in ihr Leben lassen musste. Jetzt hockte sie bestimmt im Kinderzimmer und gab die begeisterte Oma, die nicht verstehen konnte, weshalb man ihr jemals den Kontakt zu ihrer Enkelin untersagt hatte. Wegen deiner Selbstgerechtigkeit! Du willst meine Entscheidung und Elises Behinderung einfach nicht akzeptieren. Und du bist hemmungslos illoyal ...

Schon seit Jahren empfand sie ihre Mutter nur als Bedrohung. Warum war sie auch auf ihre Hilfe angewiesen? Wieso, verdammt noch mal, brachte keiner ihrer sogenannten Freunde die Courage auf und kümmerte sich wenigstens für ein paar Stunden um Elise? Dass diese Bekannten nicht ihren hysterischen Jähzorn erdulden wollten, wenn sie bei der Betreuung ihrer überbehüteten Tochter versagten, darauf wäre sie nie gekommen.

Charlotte seufzte. Wut half ihr nicht. Rasch schluckte sie die nächste Tablette, dann schaute sie in den kleinen Raum und ignorierte zunächst geflissentlich das gesäuselte »Hallo Schatz!«, das die Kampfhandlungen eröffnete. Ein gutes Gefühl.

Elise hatte ihre Mutter nicht kommen hören und saß vor einem Puzzle-Spiel, das ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Gerade presste sie einen halbierten Holzzylinder in eine dreieckige Form, die vorgestreckte Zunge zwischen den Lippen. Charlotte wusste, dass ihr Kind es noch in einer Stunde versuchen würde, wenn sie niemand störte. Voller Zärtlichkeit berührte sie das linke Ohr ihrer Tochter, das Ohr, das der monströse lederüberzogene Schaumgummi-Schutzhelm nicht bedeckte. »Hallo Maus ...«, flüsterte sie in einer Liebe, deren Tiefe sie nie genug nachspüren konnte.

Elise blickte auf, krähte vergnügt und kuschelte sich an das Knie ihrer Mutter. Eng umschlungen setzten sich beide auf den rechteckigen Spielteppich, der eine bunte Straßenlandschaft zeigte.

»Om-ma da,« kam es aus dem kleinen Mund, und ein schmales Händchen wies auf die grauhaarige schlanke Frau, die ihnen gegenübersaß.

Charlotte sah nicht auf, sondern konzentrierte sich auf ihre Aussprache. »Na, was hast du mit Oma gespielt?«, formulierte sie laut, deutlich und langsam. »Habt ihr eine Puppe angezogen?« Ihre Mutter brachte immer eine neue Puppe mit, wohl, weil sie davon überzeugt war, dass ein achtjähriges Mädchen nicht mehr Puzzles für Zweijährige zusammensetzen sollte.

»Jaa. Pup-Puppe zogen.« Elise drehte sich um und Roberts braune Augen schauten unter wunderschönen langen Wimpern in ihre Richtung. Die dunkelblonden Haare, ebenfalls von ihrem Erzeuger überkommen und zwangsläufig kurz geschnitten, verbarg der verfluchte Helm fast vollständig.

Charlotte wusste, dass sie alles andere als objektiv war, doch bemerkten sogar ihre Bekannten regelmäßig, was für ein ausnehmend hübsches Kind Elise war.

»Mam-mama lieb hab-haben.«

»Ja, Maus, ich habe dich auch lieb,« hauchte sie und drückte die Kleine fest. Solche Momente waren das ganze Leben wert, aber es blieben eben nur Sekunden.

»Wie war dein Tag, Liebes?«

Zuckersüß – was sonst? »Gut, Mutter, ich habe einen Job.«

»Schön.«

Charlotte strich ihrem Kind sanft über die Wange.

Elises Großmutter saß ihnen gegenüber auf einem alten, heruntergekommenen Holzhocker, unter dessen grasgrünem Anstrich immer mehr gelbe Flecken hervor traten, Roberts Lieblingsfarbe.

Schweigen.

Ingrid hatte die Beine übereinandergeschlagen, anscheinend in der Betrachtung von Elises Füßen versunken. Natürlich war sie wieder überschminkt. Obwohl die Temperatur in der Wohnung nie unter 18 Grad fiel, trug sie den obligatorischen Kunst-Nerz. Bestimmt verwendet sie abends einen Eiskratzer für die Unmengen an Rouge. Und die Welt ist auch kein Dreisternekühlfach ...

Charlottes Vater war schon vor ihrer Geburt an Leukämie zugrunde gegangen. Dennoch war sie überzeugt davon, dass sie nach ihm geraten war. Zwar stellte ihre Mutter es immer so dar, als ob seine Gene keinerlei bleibende Wirkung hinterlassen hätten, doch konnte Charlotte das nicht glauben. Dafür waren sie beide einfach zu unterschiedlich. Zum einen hielt sie sich weder für so hinterlistig noch so materialistisch wie ihre Mutter, zum anderen ähnelten sie sich auch äußerlich kaum – ein Umstand, der ihre Abstammungstheorie nicht unwesentlich stützte: Entweder musste ihr Vater ein wahrer Riese gewesen sein, oder Ingrid hatte sie adoptiert. Anders ließ sich die Tatsache nicht erklären, dass sie fünfundzwanzig Zentimeter trennten.

Auf dem Spielteppich eng an ihre Tochter gekuschelt bot sich Charlotte eine der seltenen Gelegenheiten, ihre Mutter von unten zu betrachten: Klein und dünn, das war nicht neu. In der letzten Zeit hatte sie allerdings weiter abgenommen, und in Anbetracht des traurigen Zuges um die Mundwinkel konnte man sie schon verhärmt nennen. Natürlich ... In den vergangenen Jahren hatte auch sie gelitten. Dennoch war sie standhaft geblieben und würde es immer sein. Von dieser Kraft zeugten tiefe Linien, die ihr ganzes Gesicht überzogen und stets an eine dauerhafte Kriegsbemalung denken ließen. Zu Charlottes Verbitterung entsprang diese Stärke jedoch nicht festem Glauben oder integrer Lebenseinstellung, sondern ordinärer Ignoranz. Tatsächlich kannte sie keinen Menschen, der größere Scheuklappen trug, von ihnen wusste und sich so wenig ihrer schämte.

Nach einer knappen Minute holte Ingrid Luft und hielt den Atem an, die Zeit der unverbindlichen Banalitäten war vorbei. »Liebes ...« Sie schaute Charlotte in die Augen, senkte den Blick und blickte sie dann umso eindringlicher an.

Sie will etwas! Und wie immer steuert sie das Ziel auf Umwegen an. Schon jetzt spürte sie den Druck und ein leichtes Zittern durchlief ihren Rücken. Zur Verteidigung entschlossen umklammerte sie Elise und legte das Kinn auf ihre Schulter.

»Liebes, lass doch das Kind auch einmal in Ruhe. Wie soll sie in ihrer Entwicklung vorankommen, solange du sie derart verzärtelst?«

»Das tue ich nicht!«, schnappte sie automatisch. »Du weißt sehr gut, dass sie häufigen Körperkontakt braucht. Sonst bekommt sie vielleicht eine ihrer Angstattacken.«

»Ich denke eher,« entgegnete Ingrid unbeeindruckt, »dass du hier diejenige bist, die Streicheleinheiten benötigt. Oder spricht das schlechte Gewissen aus dir?« Betont langsam strich sie ihren dunkelgrün karierten Rock glatt. »Aber ich möchte mich nicht mit dir streiten.«

»Natürlich willst du das, wenn du so etwas sagst,« fuhr Charlotte auf. Als Elise zusammenzuckte, senkte sie ihre Stimme: »Weshalb sollte ich denn ein schlechtes Gewissen haben? Wegen Robert? Dieser charakterlose Bastard zahlt keinen Pfennig für seine Tochter, obwohl er – und nur er – ihr Leben zerstört hat.«

»Bitte sprich nicht so vor dem Kind,« zischte ihre Mutter. »Das ist jetzt vier Jahre her, und er hat sich oft genug entschuldigt. Du weißt genau, dass er nur deshalb nicht seinen Verpflichtungen nachkommt, weil du ihm den Kontakt mit Elise verbietest. Und ...«

»Mam-ma Milch hab-haben.«

Erleichtert über die Unterbrechung ging Charlotte mit ihrer Tochter hinaus.

Ingrid senkte den Kopf und verzog traurig den Mund, ehe sie den beiden folgte. Welche Mauern hatte dieses Kind doch um sich errichtet! Aber man musste es versuchen ...

In der kleinen, unaufgeräumten Küche saß Elise, von Charlotte gestützt, auf einem Barhocker und trank aus einer Schnabeltasse. »Om-ma auch Mil-milch?«

»Nein danke, Schätzchen.« Zaghaft legte Ingrid eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter. »Ich meine es nur gut, glaub´ mir. Warum sprichst du nicht mit ihm? Robert liebt dich noch, sagt er. Er will zurückkommen und du schaffst das hier doch nicht alleine. Komm schon, sei ...«

Ich sage das? Merkwürdig.Wie oft haben wir eigentlich schon darüber gestritten? Was füreine sinnlose Kraftverschwendung.