Cover

Mo und Sue Twin

Lupus –
Ankunft der Wölfe

Thriller

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Mo und Sue Twin

Mo Twin ist Hauptstadtpendlerin (Frankfurt, Berlin) und arbeitet als Redakteurin. Zusammen mit Sue Twin teilt sie die Leidenschaft für das Schreiben. Die Zwillingsschwestern sind in einem kleinen, norddeutschen Heidedorf aufgewachsen, doch beide zog es schon immer in die Großstadt und ferne Länder.

Über dieses Buch

Berlin 2025: Sonderermittler Alexander Cube jagt einen brutalen Serienmörder. Der Fall führt ihn fünf Jahre zurück in seine eigene Vergangenheit. Damals starb seine Freundin in der Mesa Verde durch die Tat eines Wahnsinnigen. Doch was hat der Schamane Yago in seinen Visionen, die dem Attentat vorausgingen, wirklich gesehen? Warum hat er merkwürdige Figuren geschnitzt? Und was hat das mit der mordenden Bestie aus Berlin zu tun? Zusammen mit der Rechtsmedizinerin Eva Palmer stößt Cube auf die Folgen eines skrupellosen medizinischen Experiments. Und plötzlich scheint sich das Schicksal zu wiederholen. Muss er erneut um die Frau an seiner Seite bangen?

Impressum

© 2013 Knaur eBook.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG München.

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München

Covermotiv: © FinePic®, München

 

www.neobooks.com

 

ISBN 978-3-426-43076-7

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Alles,
was denkbar ist,
ist machbar.

Sokrates

Prolog

1

Mesa Verde, Colorado

Manches Unheil kündigt sich mit Schmerzen an. So war es auch in jener Nacht.

Über den Canyons stieg der blasse Vollmond auf, tünchte die schroffen Felsen und Höhlen in fahles Licht. Auf dem Hochplateau ächzten und knarrten die Kiefern im Wind. Frost fraß sich von den höheren Hängen bis in die Täler hinab, ließ das spärliche Büffelgras erstarren.

In einem Dorf am Rande der Mesa Verde stand eine junge Frau hinter der Mauer eines Steinhauses, krallte die Fingernägel in die wunden Handflächen und lauschte auf die sich entfernenden Schritte der Wachen.

Sie nannte sich Yas, was auf Navajo Schnee bedeutete, denn eine weiße Strähne zog sich durch ihr schwarzes Haar.

Yas wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte zitternd zum Himmel. Im Osten stand der Sternhaufen der Plejaden. Demnach musste es nach Mitternacht sein. Zeit zu gehen. Ein letztes Mal presste sie die Hände auf den schmerzenden Leib. Sie wusste, etwas Furchtbares würde geschehen. Die bösen Mächte hatten sich angekündet: in Träumen, in denen blutgetränkter Schnee schwarze Canyon-Landschaften unter sich begrub, und in Visionen, in denen Furcht einflößende Wölfe mit blutigen Zähnen und Klauen nach ihr schlugen. Kein Zweifel, das Böse war viel stärker als der Traumfänger aus Weidenrute über ihrem Bett. Es war stärker als jede Medizin. Daran konnten auch die Ärzte mit ihren Stethoskopen und den sterilen Bestecken nichts ändern.

Mit angehaltenem Atem lauschte Yas auf verdächtige Geräusche. Doch im Camp war jetzt nur noch das monotone Brummen der Generatoren zu hören, hin und wieder unterbrochen vom leisen Winseln eines Hundes.

Wie ein Schatten schlich die Navajo über die Pinienholzplanken der Veranda. Der Schrei einer Eule hallte plötzlich durch die Nacht. Die junge Frau erzitterte unter der im indianischen Muster gewebten Decke, die sie um ihre schmalen Schultern geschlungen hatte. Das Herz schlug ihr wild in der Brust. Der Hals war wie zugeschnürt. Vorsichtig setzte sie die nackten Zehen auf den staubigen Weg.

Die Ohren der Security und der Wachhunde waren überall. Doch konnten sie das Fallen einer Feder hören? So leise müsste sie sich fortbewegen, wollte sie unentdeckt bleiben. Sie musste es einfach riskieren.

Noch einmal hielt sie den Atem an und schlich weiter zum nächsten Gebäude, vorbei an den Müllcontainern und schließlich in die undurchdringliche Finsternis der Nacht, die hinter dem Camp die Geistwesen, Wölfe und Coyoten bei ihren rastlosen Beutezügen umarmte.

Mehrmals musste sie auf dem Weg zu den Canyons stehen bleiben und die Ahnen um Kraft bitten, so plötzlich und schmerzhaft krampfte ihr Leib. Dabei war ihr Bauch kaum gewölbt. Der Zustand währte erst seit fünf Monden. Viel zu früh für Wehen. Doch die Träume und die rasenden Schmerzen waren eindeutig. Und Yas zweifelte nicht an den überdeutlichen Zeichen, auch wenn die Ärzte bei ihren Untersuchungen nie eine Andeutung gemacht hatten, etwas könne nicht in Ordnung sein.

Auf dem Geröllweg zwischen Dorf und Canyon sprang ein Stein mit dumpfem Klacken dahin. Wie versteinert hielt sie den Atem an, wartete auf das wilde Anschlagen der Hunde und die Rufe der Wachen. Doch es blieb still. Erleichtert schlich sie weiter und gönnte sich erst wieder auf dem gewundenen Pfad, der zu den höher gelegenen Hängen führte, eine kurze Rast.

Eine halbe Stunde später erreichte sie die Frostgrenze. Sie konnte es deutlich fühlen. Die spärlichen Büffelgräser kräuselten sich knisternd unter ihren Fußsohlen und hallten in die Stille des Canyons wie das Rattern vorbeifahrender Pick-ups, wenn die Mädchen auf die Männer gewartet hatten. Bei dieser Erinnerung biss sie sich vor Schmerz und Kummer auf die Lippen und krümmte sich.

Mexikanische Steinkiefern, Koniferen und Utah-Wacholder rauschten eindringlich auf den Höhen und schienen ihren Namen zu raunen. Sie wickelte die Decke enger um ihren brennenden Körper und stolperte weiter, immer höher hinauf, bis sie endlich die Sandsteinhöhle erreichte, die sie vor einigen Tagen entdeckt hatte.

Die Höhle lag, zur Hälfte eingestürzt und verwittert, hinter magerem Büffelgras und Sträuchern. Nur selten verirrte sich jemand hierher in die Wildnis. Die Besucher des Naturparks zog es zu den historischen Anasazi-Siedlungen in den Felsen, und auch die Ranger kamen nur sehr selten in die abseits gelegenen Canyons.

Der Mond war über dem Kiefernwald aufgestiegen, tauchte Pinyons und Felsen in bizarre Schatten. Yas hatte ihr Ziel erreicht. Gänsehaut zog sich über ihren Rücken. Sie beugte sich tiefer, suchte den Höhleneingang und kroch durch den engen Zugang.

Trotz der lähmenden Kälte nahm sie die Fransendecke von ihren Schultern und befestigte sie an einem spitzen Stein über dem Eingang. Dann erst schaltete sie die mitgeführte Taschenlampe ein und blickte sich ängstlich um.

Feiner Staub rieselte von den Wänden und bildete im schmalen Lichtkegel eine Fahne aus tanzenden Sprenkeln. Ockerfarbener Sand und Geröll bedeckten den Boden. Die Höhle war eng, bot höchstens für zwei Menschen Platz. Der größte Teil der Decke war eingestürzt, der Rest neigte sich so tief, dass Yas sich nicht einmal aufrichten konnte.

In ihrem Leib brannten inzwischen die Schmerzen so scharf und schneidend wie das Feuer von vergifteten Pfeilen. Mit äußerster Kraftanstrengung kauerte sie sich auf den Boden, legte die Taschenlampe neben sich, schob Geröll fort und schabte mit einem flachen Stein eine Mulde in den harten Ocker. Halb ohnmächtig vor Angst knotete sie das Nachthemd über ihrem Bauch zusammen, hockte sich über die Kuhle und begann zu pressen. Dabei wiegte sie ihren Körper hin und her und weinte. Ein letztes, tiefes Reißen zog sich durch ihr Inneres, und das winzige Kind rutschte mit einem Schwall Blut heraus.

Yas blickte unter sich und sprang schreiend auf. Ihr Kopf stieß gegen die Decke. Geröll rieselte herab. Zitternd lehnte sie sich gegen die Wand und sackte in die Knie. Während noch immer Tränen über ihr Gesicht rannen, blickte sie ungläubig auf das nasse, blutige Fellbündel zu ihren Füßen. Im schwachen Lichtschein der Taschenlampe wirkte das Frischgeborene, als würde es sich bewegen. Schon glaubte Yas, ein Fiepen zu hören, doch es war nur das Summen in ihren Ohren, das die Ohnmacht ankündete.

Als sie endlich wieder zu sich kam, war es totenstill in der Höhle. Die Schatten an den Wänden flackerten, als wären sie lebendig, und schienen nach ihr zu greifen. Voller Panik tastete sie nach einem Stein und ließ ihn wieder fallen. Niemand könnte gegen böse Geister ankämpfen. Auch sie nicht.

Im Flüsterton murmelte sie eine Beschwörung und sang die Verse, die sie schon als Kind gelernt hatte, um eine Seele ins Jenseits zu begleiten. Was auch immer in den glücklichen oder ewigen Jagdgründen auf das verlorene Wesen wartete, mochte es dort in einer heilen Welt wandeln, begleitet von einer Unzahl von Jagdtieren. Glücklich und in Frieden. Das hoffte Yas aus vollem Herzen.

Nachdem sie zu Ende gesungen hatte, kauerte sie sich erneut vor die Mulde, schob Sand über das namenlose Geschöpf und errichtete einen Hügel aus Steinen und Geröll über dem frischen Grab.

Die weiße Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Sie achtete nicht darauf und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Dann löste sie den Knoten in ihrem Nachthemd und zerrte den dünnen Stoff über ihren zitternden Körper. Als Letztes löschte sie die Taschenlampe und riss die Webdecke vom Eingang. Mit vor Schmerzen und Kälte steifen Gliedern zwängte sie sich aus der Höhle und hüllte sich in die kratzige Wolle.

Das Heulen der Wölfe und Coyoten in den Canyons klang jetzt ganz nah. Eine schwarze Wolke schob sich vor den tief stehenden Mond und verdunkelte den Weg. Felsen und Büsche schienen plötzlich lebendig zu sein. Yas taumelte zitternd weiter.

Sie musste vor Morgengrauen zurück im Camp sein. Hoffentlich hatte niemand ihr Verschwinden bemerkt. Und hoffentlich war der ewig lamentierende und unheimliche Yago noch nicht auf den Beinen. Ausgerechnet der Schamane hatte mal wieder recht gehabt. Die Medizin der Weißen taugt nichts, hatte er gesagt. Sie schaffen Monster. Menschen mit Fell und Krallen …

2

Morgens

Mesa Verde, die Grüne Tafel, lag weich gezeichnet im Licht der aufgehenden Sonne. Alexander Cube stand am Rande des Naturparks und sog den Geruch der Nadelhölzer ein. Kolkraben flogen unter Krächzen auf die Felsspitzen, um Ausschau nach Mäusen und überfahrenen Klapperschlangen zu halten. Er blickte ihnen hinterher und genoss die wärmende Sonne im Gesicht.

In der Ferne senkte eine Gruppe Maultierhirsche die Köpfe und begann zu äsen. Plötzlich donnerte der Knall mächtiger Hörner hinab ins Tal. Zwei Dickhornschafe standen auf einem Felsvorsprung und versuchten, sich gegenseitig in die Tiefe zu stoßen. Die Widder schlugen die Hörner gegeneinander, bis einer aufgab und sich mit einem geschickten Sprung entzog. Der Sieger thronte mit erhobenem Haupt auf dem Felsen.

Alexander nahm zwei Finger an den Mund und pfiff nach seinen Hunden Bella und Gull. »Hey, ihr zwei, wir müssen zurück«, rief er.

Bella, die Schäferhündin, trabte gehorsam näher und hechelte erwartungsvoll. Er klopfte ihr liebevoll den Rücken, richtete sich wieder auf und blickte suchend zum Nadelwald.

»Gull«, rief er. »Gull, wo steckst du?«

Der Hund jaulte irgendwo in den Tiefen des Canyons.

Eigenwilliger Dickschädel, dachte er ärgerlich, der Hund war wie immer zu weit gelaufen. »Seagull«, rief er lauter und energischer.

Nach einer gefühlten Ewigkeit und weiteren, vom Echo gefolgten Rufen raschelte es endlich im Gebüsch. Gull schoss hechelnd hervor. In seinem Fell hingen kleine Äste, Dornen und ockerfarbener Sand. Der Border Collie warf sich schwanzwedelnd auf den Boden, wälzte sich mit freudigem Gejaule und sah ihn aus eisblauen Möwenaugen an. Alexander klopfte ihm den Rücken und zupfte ein paar Kletten aus dem Fell.

»So, ihr zwei, bleibt schön an meiner Seite«, befahl er. »Ich will nicht, dass sich der verrückte Yago wieder über euch beschwert. Auf geht‘s, zurück zum Dorf!«

Die Morgensonne fiel schräg in den Canyon. Eine Eidechse sonnte sich auf einem roten Felsen. Der Weg führte vorbei an Apfelbeerbüschen, Beifuß und Hasenpinsel. Gull schnappte sich den armdicken, trockenen Ast einer mexikanischen Steinkiefer, warf ihn vor Alexanders Füße und bettelte fröhlich mit seiner schwarz-weiß getupften Rute.

»Hast du dich noch nicht genug ausgetobt?«, fragte Alexander lachend, nahm den Ast und warf ihn ein paar Meter vor sich auf den Weg. Die Hunde schossen vorwärts, sodass der rote Sand aufstob. Sie verbissen sich an beiden Enden des Holzes, zerrten, knurrten und zogen, bis er sie weiterscheuchte und den Ast erneut warf.

Am Dorfeingang stoppte er das Spiel, indem er mit einem Fuß auf den Stock trat. »Jetzt ist es genug. Gull, Bella, hier geblieben!« Er klopfte sich zur Bekräftigung auf den Oberschenkel, um zu zeigen, dass die Hunde ganz nah bei ihm laufen sollten.

Bella stupste ihn freundlich mit der Schnauze an, doch Gull folgte nur langsam und widerstrebend. Alexander schaute nach rechts und links und wieder nach rechts, doch von dem verrückten Yago war nichts zu sehen. Am Dorfeingang fand er jedoch eine Holzkiste. Darin lagen ockerfarbene Tierkeramiken und Steine mit geritzten Bildern, die wie alte Petroglyphen aussahen. Yago musste also doch schon heute Morgen hier gewesen sein.

Die Navajos fuhren für gewöhnlich ihre Ware zum Parkplatz des Naturparks und boten sie dort den Touristen feil. Nur Yago lungerte meist am Dorfeingang herum. Die Sozialarbeiter hatten erzählt, der wettergegerbte, spindeldürre Mexikaner sei irgendwann aufgetaucht und geblieben. Aus dem Dorf sei er nicht.

Neugierig beugte Alexander sich über die Kiste, nahm einzelne Figuren und Steine in die Hand und musterte sie. Die Holzpüppchen waren den indianischen Totems nachempfunden. Er betrachtete eine zum Pfahl geschnitzte menschliche Figur mit einem Wolfskopf, eine weitere mit den Schwingen und Krallen eines Adlers sowie eine schwangere Ureinwohnerin, in deren Bauchhöhle zwei Coyoten lagen. Kopfschüttelnd legte er die Figuren zurück.

Plötzlich tauchte Yago vor ihm wie aus dem Nichts auf, gestikulierte wild mit den Armen und rief etwas in seiner Landessprache. Alexander zog fragend die Schultern hoch, denn er verstand kein Spanisch.

»Monstruo«, rief Yago immer wieder und trat gegen die Kiste.

Alexander hatte nicht die Absicht zu streiten und ermahnte die Hunde zum Weitergehen. Doch Yago zog schreiend die Figur mit dem Wolfskopf aus der Kiste und streckte sie ihm entgegen. Mit der freien, vernarbten Hand packte Yago ihn schließlich am Ärmel, bleckte seine gelben Zähne und spuckte durch eine Zahnlücke klebrigen schwarzen Kautabak-Sud auf den staubigen Boden.

Erneut schüttelte Alexander den Kopf und zeigte seine leeren Hosentaschen.

Yago bekreuzigte sich, schmiss die Figur zurück. Dann tanzte er mit ungelenken, zuckenden Bewegungen und wirbelte Staub auf. Doch plötzlich stoppte er, klemmte die Kiste unter den Arm und rannte mit den Figuren fort, ohne sich noch einmal umzusehen.

Erleichtert ging Alexander zu dem langen, zweistöckigen Holzhaus, in dem die Sozialarbeiter und Ärzte untergebracht waren. Was auch immer Yago von ihm gewollt hatte, der Mann war merkwürdig und er froh, wenn er ihm heute nicht ein weiteres Mal über den Weg lief. Er fragte sich, wohin der verrückte Alte so schnell verschwunden war, und stieg mit ungutem Gefühl die Stufen zur Veranda der Unterkunft hinauf. Plötzlich sträubte Gull erneut das Fell und knurrte. Alexander beugte sich zum Lederhalsband hinunter und hielt den Collie fest. Bella wartete wie immer direkt neben ihm, so wie er es befohlen hatte.

»Leise, Gull«, ermahnte er den Collie im Flüsterton. »Yago tut dir nichts.«

Doch statt des Mexikaners erschienen zwei Männer. Sie trugen die Khaki-Hemden und Canvashosen mit den Emblemen des Wachpersonals und hoben im Vorbeigehen die Hände zum Gruß. Alexander nickte ihnen zu. Er wusste, sie hatten soeben die Nachtwache beendet und begaben sich nun zum Speiseraum im Haupthaus.

Wie so oft dachte er an den harten, teilweise traurigen Ausdruck in den Gesichtern der Jugendlichen im Camp. Die minderjährigen Navajo-Frauen waren in den Straßen von Pahrump aufgegriffen worden. Die Polizei hatte sie aus der Zwangsprostitution befreit. Die meisten der jungen Männer hatten ebenfalls auf der Straße gelebt. Meist waren sie wegen Messerstechereien oder Schlägereien bereits mehrfach in Jugendarrest gelandet. Fast alle Jugendlichen hatten harte Drogen genommen oder zu viel Alkohol getrunken, um die Armut und das Leben auf der Straße zu ertragen.

Die Sicherheitsleute trugen Waffen und patrouillierten damit auch am Tag durchs Camp. Sie betonten unermüdlich, dass sie die Gewehre nur wegen wildernder Hunde und Wölfe dabei hatten. In der gesamten Zeit, in der Alexander jedoch hier war, hatte er nie einen der menschenscheuen Wölfe oder der kleineren Coyoten so nah am Camp gesehen.

Im Hauptgebäude stieg Rauch durch den roten Backstein-Schornstein auf. Vom Speisesaal wehte der Duft von frischem Kaffee und Maisbrot herüber. Eine Tür zu den Schlafräumen eines Seitengebäudes öffnete sich. Drei junge Frauen traten heraus. Die Schultern hängend, schlurften sie über den Platz. Die mittlere mit der auffällig weißen Haarsträhne stolperte. Die beiden anderen griffen ihr unter die Arme und stützten sie. Die Frauen bogen nicht zum Frühstücksraum ab, sondern in Richtung Krankenstation.

Das langgezogene Kreischen eines Raubvogels hallte in den Canyon. Alexander blickte zum Himmel. Ein Golden Eagle zog seine Kreise enger und enger. Kein Wölkchen war zu sehen. Es würde ein schöner Herbsttag. Typisch Indian Summer, dachte er zufrieden, öffnete die Tür und ließ die Hunde vorpreschen.

Mit einem Lächeln im Gesicht betrat er das Halbdunkel des Schlafraums und betrachtete das von schwarzen Locken umrahmte Gesicht seiner Freundin, die sich schlaftrunken im Bett rekelte.

Seit vier Monaten waren er und Buenvenida ein Paar. Heute Mittag würde er nach Durango fahren, die Ringe holen und sie fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Er konnte es selbst kaum glauben: Erst vor einem halben Jahr hatte er die Ärztin aus dem Hilfsprojekt kennengelernt, doch sie war ihm inzwischen so vertraut, als hätten sie sich schon ein Leben lang gekannt.

Alexander beugte sich über die Schlafende, küsste ihre nackte Schulter und drückte sein Gesicht in das nach Wildblumen duftende Haar. »Guten Morgen, Bonny«, flüsterte er.

Buenvenida schlug die Augen auf. »Buenos dias, Ari. Wie spät ist es denn?«, fragte sie überrascht und setzte sich auf die Bettkante. »Habe ich verschlafen? Du weißt doch, ich darf nicht zu spät kommen. Ausgerechnet heute unternehmen wir mit den Mädchen einen Ausflug in den Mesa-Verde-Park. Wir schauen uns die Felsensiedlungen der Anasazi an. Die Mädchen freuen sich schon so darauf.«

Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. »Ich wäre so gerne bei dem Ausflug dabei, aber in eurer Gruppe sind ja nur weibliche Projektmitglieder und der Fahrer zugelassen.« Zärtlich strich er eine Locke aus ihrem Gesicht. »Ich kann es kaum erwarten, bis ihr zurück seid.«

Sie schlang die Arme um seinen Hals. »Kann Gull heute bei dir bleiben? Du weißt doch, er darf nicht mit in den Park.«

»Das ist kein Problem. Ich nehme beide Hunde mit nach Durango. Wir kaufen Proviant ein. Dabei stören sie nicht.«

Buenvenida stand auf. »Danke. Ich muss mich beeilen, sonst bekomme ich heute kein Frühstück.«

Alexander erhob sich ebenfalls und zog sie noch einmal an sich. »Ich habe verstanden, Frau Doktor«, neckte er sie und küsste ihre geschwungenen, vollen Lippen.

Mit einem Seufzer nahm sie seine Hände von ihrer Taille. »Tut mir leid. Das muss warten. Ich darf beim Frühstück nicht fehlen.«

Sie drehte sich um, zog das Nachthemd über den Kopf und tänzelte ins Bad. Wenig später hörte er die Dusche rauschen und Buenvenida ein spanisches Lied singen.

Er öffnete die Terrassentür und band die Hunde draußen am Geländer an. »Ihr müsst leider hier warten. Hunde sind im Haupthaus nicht erlaubt.«

Bella legte den Kopf auf die Vorderpfoten, doch Gull blieb stehen, stellte die Ohren auf und winselte in den höchsten Tönen.

»Okay, ich bringe euch ein paar Knochen aus der Küche mit«, sagte Alexander gedehnt und hob grinsend den Zeigefinger. »Doch bis dahin will ich keinen Mucks von euch hören.«

Er beugte sich zu Gull hinunter und klopfte auf den Boden. »Komm, Gull, zeig, wie gut du dich benehmen kannst! Sei endlich still!«

Der Border Collie schüttelte sich und blieb steif stehen.

Hinter seinem Rücken hörte Alexander ein Geräusch und drehte sich um. Buenvenida stand mit einem Handtuchturban um den Kopf neben dem Bett, knöpfte sich das Kleid zu und lachte. »Hört er mal wieder nicht? Gull, leg dich hin!«

Der Hund gehorchte jaulend.

Alexander ging zu ihr ins Zimmer zurück. »Vorhin, als ich mit den Hunden ins Dorf kam, habe ich drei der Mädchen gesehen. Sie gingen in Richtung Krankenstation. Die mit der weißen Strähne im Haar mussten sie stützen. Ich denke, sie ist krank.«

Mit einem Schlag erstarrte das Lächeln in Buenvenidas Gesicht. »Yas. Oh nein. Ich schaue gleich bei ihr vorbei. Geh bitte schon ohne mich frühstücken! Ich muss sowieso noch mit ein paar Ärzten etwas bereden.«

Sie nahm das Handtuch vom Kopf, warf es über einen Stuhl, schüttelte die feuchten Locken aus, griff sich das rote Haarband von der Kommode und band die Haare zu einem Zopf zusammen, während sie rasch zur Tür ging. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um.

»Das verstehst du doch, Ari? Die Arbeit geht vor.«

»Natürlich«, beeilte er sich zu sagen. »Das habe ich von Anfang an gewusst. Darum liebe ich dich ja so sehr, Bonny!«

Sie warf ihm einen Kuss zu und verschwand.

*

Kurz darauf saß Alexander im Frühstücksraum bei der Jungengruppe und frühstückte Pancakes mit Cranberrys. Buenvenida war eine Viertelstunde nach ihm gekommen, zusammen mit den Ärzten. Doch sie hatten sich abseits an einen anderen Tisch gesetzt und redeten mit ernstem Gesichtsausdruck. Es fiel ihm schwer, nicht zu ihr hinüberzuschauen. Schweigsam nippte er an seinem heißen Kaffee, während die jungen Männer an seinem Tisch vom Indiaca-Spiel redeten und scherzten.

Nachdenklich sah er über die vollen Tischreihen und dann in Richtung Küchentresen. Der Koch winkte ihm zu und zeigte auf einen Beutel, den er auf den Tresen gelegt hatte. Der Küchenchef hatte wie jeden Tag ein paar Knochen und Fleischreste für die Hunde zusammengepackt. Als Zeichen hob Alexander die Hand, denn er wollte den Beutel nach dem Frühstück mitnehmen.

Einer der Betreuer aus der Jungengruppe setzte sich ihm gegenüber an den langen Esstisch, bestrich ein Maisbrot mit Erdnusscreme, biss hinein und kaute, während er redete: »Sag mal, gestern die Keilerei beim Indiaca, hast du gesehen, wer angefangen hat?«

Alexander schüttelte den Kopf: »Ich habe nichts gesehen.«

Der Betreuer verzog das Gesicht. »Aber du standst doch direkt daneben?«

»Also gut, sagen wir mal so, es war eine harmlose kleine Rauferei. Nichts Ernstes. Ihr solltet allerdings noch einmal die Spielregeln bereden. Da gab es ein paar Unstimmigkeiten. Wenn niemand die Regeln kennt, dann ist Streit vorprogrammiert.«

»Bist du heute bei dem Ausflug der Jungs dabei?« Der Betreuer gähnte. »Vielleicht kannst du ja positiv auf sie einwirken.«

»Spuren lesen und den Geheimnissen der Wüste auf den Grund gehen? Ich wäre ja zu gerne dabei, aber leider habe ich etwas anderes vor. Ich fahre nach Durango, um ein paar längst fällige Einkäufe zu erledigen.«

Bonny und die Ärzte an dem anderen Tisch schienen noch immer in ein ernstes Gespräch vertieft zu sein. Ihre Gesichter wirkten angespannt, und er fragte sich, welche Aufgabe wohl der Wissenschaftler hatte, der jetzt auf Bonny einredete.

Er ist ebenfalls Mediziner und macht die statistischen Auswertungen, hatte sie ihm vor Tagen erklärt. Doch irgendetwas an dem Mann behagte ihm nicht. Und leider machte Bonny um die wissenschaftlichen Details ein großes Geheimnis. Sie war schon viel länger in dem Hilfsprojekt als er. Und eigentlich war er nur wegen ihr hier. Bei einem Ausflug am Grand Canyon hatte er sie kennengelernt und sich in sie verliebt. Kurzerhand hatte er seinen Kripodienst in Deutschland unterbrochen und war ihr nachgereist. Das Team im Camp war zu diesem Zeitpunkt bereits vollzählig gewesen. Alexander hatte jedoch durch Bonnys Beziehungen einen Job als Sportlehrer bekommen. Er wäre auch ohne diesen Job geblieben. Seine finanziellen Verhältnisse waren gesichert. Er nannte eine Burg am Rhein, ein Gestüt und einen Weinberg sein Eigen. Mit diesem Erbe musste er nicht arbeiten, um Geld zu verdienen, und schon jetzt war ihm klar, er würde nicht ohne Bonny nach Berlin zurückkehren.

Noch immer verweilte sein Blick auf ihr, suchte er ihre geheimnisvollen schwarzen Augen. Doch sie war zu sehr in das Gespräch vertieft, um ihn zu bemerken. Aus der Ferne wirkte sie viel strenger, als sie in Wirklichkeit war. Die vergangenen Wochen hatten sie wohl beide mehr gefordert und erschöpft, als sie voreinander zugeben mochten, dachte er mit einem tiefen Seufzer. Nicht einen freien Tag hatten sie gehabt. Nur die Nächte.

»Was hast du gesagt?«, fragte er den Sozialarbeiter und legte das Besteck auf den Teller.

»Ich würde heute viel lieber mit nach Durango fahren, anstatt Wüstenstaub zu schlucken. Trotzdem, viel Spaß!«

»Danke«, murmelte Alexander, nahm das Tablett vom Tisch, ging zum Geschirrwagen und stellte es ins Regalfach. Plötzlich stand Buenvenida hinter ihm und flüsterte ihm ins Ohr. »Ich habe deine Blicke bemerkt. Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe.«

Überrascht über ihren Liebesschwur drehte er sich heftig um und hätte sie am liebsten in seine Arme gezogen. Aber hier im Speiseraum, vor all den anderen, war das nicht angemessen. Sie mussten sich wie gewöhnliche Kollegen verhalten, auch wenn jeder wusste, dass sie ein Paar waren. »Ich werde dich jede Sekunde an diesem unglaublich langen Tag vermissen«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Buenvenida drehte eine Locke um den Zeigefinger. »Ich denke ernsthaft darüber nach, mit dir nach Berlin zu gehen.«

»Du würdest das alles hier für mich aufgeben? Was ist passiert?«

Sie legte zwei Finger an seine Lippen und brachte ihn zum Schweigen. Ihre braunen Augen wirkten noch dunkler als sonst. »Ich möchte deine Heimat kennenlernen. Als Ärztin finde ich überall Arbeit, auch in Berlin. Ich glaube, ich habe mich eben entschieden.«

Mit ernstem Gesichtsausdruck blickte sie zur Tür. »Die anderen warten auf mich. Ich muss los. Wir reden später weiter.«

Er berührte sie sanft am Arm, doch sie senkte ihre langen schwarzen Wimpern wie einen Schatten. »Also, bis heute Abend.«

Nachdenklich schaute er ihr hinterher, während sie zu den Kollegen ging, die am Eingang warteten. Das figurnahe Khaki-Kleid betonte ihre Taille. Sie wiegte die Hüften bei jedem Schritt. Trotzdem hatte er das intensive Gefühl, dass etwas Einschneidendes passiert war.

Einer der Jugendlichen riss ihn aus den Gedanken und zischte im Vorbeigehen. »Ein Rasseweib.«

Alexander schätzte den Jungen auf höchstens sechzehn. »Lass das nicht deine Freundin hören«, gab er zur Antwort und schmunzelte innerlich.

»Ach, die ist in letzter Zeit so komisch drauf. Hat meist schlechte Laune und kotzt morgens.«

»Könnte deine Freundin schwanger sein?«

»Kann schon sein. Mir doch egal.«

Der Jugendliche setzte sich an den Tisch und riss tollpatschig einen halb vollen Milchkrug um. Die anderen lachten.

Alexander blickte aus dem Fenster auf den staubigen Platz. Einige der Mädchen waren tatsächlich schwanger. Sie würden ihre Babys hier bekommen und zur Adoption freigeben. Das hatten sie unterschrieben. Es war gut möglich, dass die Freundin des Jungen dazugehörte, das Kind aber nicht von ihm war.

Draußen vor dem Kleinbus des Hilfsprojekts sammelte sich eine Gruppe von sieben jungen Frauen. Bei einigen zeigte sich eine kleine Wölbung unter den Kleidern. Buenvenida hatte ihm erzählt, dass die Schwangerschaften das Ergebnis von Vergewaltigungen oder ungeschütztem Verkehr auf dem Straßenstrich waren, zu dem man die Frauen gezwungen hatte. In keinem Fall waren die Kinder gewollt.

Er sah, wie sich seine Freundin mit schnellen Schritten von der Gruppe der Ärzte entfernte, zu den jungen Frauen ging und ein Gespräch mit ihnen begann. Die übrigen Ärzte und Camp-Mitarbeiter nahmen keine Notiz von der kleinen Gruppe vor dem Bus und redeten ebenfalls weiter.

Plötzlich tauchte Yago auf dem staubigen Platz auf. Er war so plötzlich da, dass Alexander nicht einmal gesehen hatte, aus welcher Richtung der merkwürdige Alte gekommen war.

Yago schrie, spuckte auf den Boden und riss den rechten Arm hoch. Metall reflektierte das Sonnenlicht und blendete wie ein Blitz. Dann peitschte ein Schuss durch die Luft.

Buenvenida drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Yago um. Eine der Frauen fasste sich an den Bauch. Ihr weißes Kleid färbte sich rot. Sie sackte in die Knie und fiel in den Staub.

Alexander rannte in Richtung Ausgang. Im Laufen blickte er durch die Scheiben, die an der Längsseite der Kantine angebracht waren. Yago schoss in rasender Wut weiter auf die Frauen. Sein irres Brüllen mischte sich mit den panischen Schreien der Getroffenen.

»Bonny!«, rief er, riss einen Stuhl um und hastete vorwärts, während er den Blick nicht von dem Unfassbaren draußen abwenden konnte. Mit einem Ruck stieß er die Tür auf, atemlos und panisch vor Angst um seine Freundin.

Buenvenida lag auf dem lehmharten Boden. Ihr rotes Haarband hatte sich gelöst. Die schwarzen Locken glänzten nass vom Blut. Eine der getroffenen Frauen hockte auf den Knien und drückte sich die Hände gegen den blutenden Bauch. Dann fiel auch sie in den Staub.

»Monstruo«, schrie Yago, hielt sich die Pistole an den Kopf und blickte zum Himmel.

Alexander hatte in seiner Verzweiflung automatisch mitgezählt. Sechs Schuss – sechs tote oder schwerverletzte Frauen.

Mit der siebten und letzten Patrone in der Trommel beendete Yago sein eigenes Leben.

*

Im darauffolgenden Moment der Stille schien für Alexander die Welt stehen zu bleiben.

»B-o-n-n-y!«

Ein erneuter Schrei hallte in seinen Ohren, doch er war sich nicht bewusst, dass es seine eigene Stimme war. Wie in Zeitlupe fühlte es sich an, als er über den Platz rannte, hin zu den sterbenden Frauen, die im Dreck lagen. Blut quoll unter ihren Körpern hervor. Die Lachen vergrößerten sich zu riesigen Pfützen, die in den Staub sickerten.

Er drehte seine Freundin auf den Rücken, riss sich das T-Shirt vom Leib und presste es auf die blutende Wunde an ihrer Schläfe. Dann schrie er nach einem Arzt und rief erneut ihren Namen.

Buenvenida bewegte lautlos die Lippen. Er neigte den Kopf ganz nah an ihr Gesicht, roch ihr zartblumiges Parfüm, das sich mit dem ekelerregenden Gestank von Eisen durch das viele Blut vermischte. Sie flüsterte: »Zu spät. Kümmere dich um Gull!«

Dann atmete sie noch einmal aus, ihr Blick erstarrte, sie sackte zusammen, die Arme lagen erschlafft auf dem blutgetränkten Boden.

Alexander hielt sie in seinen Armen, während er das T-Shirt noch immer auf die Wunde an ihrem Kopf presste. Wieder und wieder rief er ihren Namen, doch sie reagierte nicht mehr.

Jemand mit kräftigen Händen riss ihn energisch von der Toten weg. Wie durch einen Nebelschleier erkannte er einen der Ärzte, der im Staub kniete und Buenvenidas Brustkorb mehrmals drückte, laut zählte und sie dann beatmete.

Von der Krankenstation kamen Pfleger mit einer Trage herbeigerannt. Ein weiterer Arzt drängte sich über Buenvenida, setzte eine Kanüle in ihren Arm.

Der Wissenschaftler, mit dem sie noch wenige Minuten zuvor am Tisch gesessen und geredet hatte, zerrte ihn vom Platz weg. Er ließ es wie betäubt geschehen.

»Die Ärzte werden alles versuchen. Sie können hier jetzt nichts tun. Kommen Sie!«, sagte der Mann.

Im selben Moment sah Alexander, wie der Arzt bei Buenvenida die Wiederbelebungsversuche stoppte und den Kopf senkte.

Eine quälende Erkenntnis fraß sich in seine Gedanken: Er hätte es verdammt noch mal verhindern können. Hätte er am Morgen Yago verstanden. Hätte er doch bloß verstanden, was der Alte ihm sagen wollte …

Die Welt um ihn versank in Dunkelheit.

3

Krankenstation

Der wissenschaftliche Leiter des Projekts zog die kaktusgrünen Vorhänge zu, um nicht länger auf den roten Staub und den lehmigen Sandweg blicken zu müssen. Mit einem unwilligen Seufzer griff er zum Telefon und tippte die lange Nummer.

Er räusperte sich. »Sie hat es nicht geschafft. Keine Gehirnfunktionen mehr. Aber wir könnten ihre Organe für die Forschung verwenden.«

Für einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung. Doch dann drang die scharfe Stimme seines Auftraggebers an sein Ohr. »Baker, sorgen Sie dafür, dass ihr Freund, dieser Cube, sie nicht mehr an den Apparaten sieht! Haben Sie verstanden?« Die letzten Worte klangen bedrohlich und eiskalt.

Der Professor unterdrückte ein Zittern. »Sie können sich auf mich verlassen.«

»Was weiß er?«, erscholl erneut die Stimme so laut an seinem Ohr, dass er das Smartphone auf Abstand hielt.

»Nichts. Frau Doktor Mendez war immer sehr vorsichtig. Sie hat mit ihm nicht über unsere Experimente geredet.«

»Das reicht mir nicht. Ich will absolute Sicherheit. Befragen Sie den Mann, setzen Sie ihn von mir aus unter Drogen, aber finden Sie heraus, was er weiß. Wenn Sie irgendeine Kleinigkeit übersehen, reiße ich Ihnen höchstpersönlich den Arsch auf. Haben Sie mich verstanden, Baker?«

»Ich kümmere mich darum.« Der Professor schluckte hart.

»Was wusste der Attentäter?«, brüllte der Mann am anderen Ende der Leitung weiter in den Telefonhörer.

»Ach, das war nur ein Verrückter. Alle im Camp wussten das. Er hat irgendwelche Geister beschworen. Hielt sich für einen Schamanen, durch den die Ahnen sprechen. Niemand hat den ernst genommen«, versuchte er seinen Boss zu beschwichtigen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Yago tot war. Der konnte nicht mehr reden, selbst wenn er was gewusst hatte. Seinen Nachlass hatten sie bereits durchsucht. Außer ein paar Schnitzereien und die Bilder mit den Totem-Mischwesen hatten sie nichts bei ihm gefunden. Eine Kiste mit Figuren hatte Yago mit rotem Sand zugeschüttet und ein Kreuz daraufgestellt. Der Professor hatte die Kiste rechtzeitig gefunden, den Sand eigenhändig durchwühlt und die verdächtigen Figuren eingesteckt, bevor sie jemand sehen konnte. Noch heute wollte er sie in den Kamin werfen. Damit wäre das Thema Yago endgültig erledigt. Nur dieser Cube bereitete ihm Kopfschmerzen, einfach weil der Kerl eine verdammte Spürnase war. Hoffentlich hatte Buenvenida sich nicht verraten. Er müsste dafür sorgen, dass der Kerl jetzt erst recht keinen Verdacht schöpfte.

»Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, Mister Diamond, dann kümmere ich mich um den Freund von Doktor Mendez.« Der Professor brach vor Anspannung den Bleistift entzwei, den er in der linken Hand hielt.

»Erstatten Sie mir stündlich Bericht«, hörte er erneut die schneidende Stimme seines Auftraggebers.

»Jawohl, Sir.«

Dann war plötzlich Stille in der Leitung.

Baker wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm den ärztlichen Notfallkoffer aus dem Schrank, verließ das Büro, schloss die Tür sorgfältig ab und schritt den langen Gang entlang, vorbei an den indianischen Bildern. Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür zum Untersuchungszimmer und trat ein. Sein Patient kauerte apathisch in einem Sessel und stand noch immer schwer unter Schock und Beruhigungsmitteln. Tiefe Schatten lagen auf seinem fahlen Gesicht. Alles Leben schien aus ihm gewichen zu sein.

»Wie geht es Ihnen, Herr Cube? Können Sie mich hören?« Baker legte einen sanften, aber energischen Tonfall in seine Worte. »Herr Cube? Bitte schauen Sie mich an!«

Der Angesprochene drehte langsam den Kopf und blickte zu ihm auf, ohne zu zeigen, dass er ihn überhaupt wahrnahm. Seine braunen Augen wirkten trüb, fast grau.

Baker leuchtete mit einer winzigen Taschenlampe in die Pupillen und beobachtete ihr verlangsamtes Zusammenziehen.

»Ich gebe Ihnen noch etwas Stärkeres.«

Er drehte den Arm des Patienten zu sich, legte die Manschette an, setzte eine Kanüle in die Armbeuge und löste die Manschette. »Gleich fühlen Sie sich besser. Am besten legen Sie sich dort aufs Bett. Kommen Sie.«

Beinahe willenlos ließ sich der Zwei-Meter-Mann zum Krankenbett führen und legte sich darauf.

»Können Sie mich hören?«

»Mhm.«

»Gut. Das freut mich. Schließen Sie die Augen, und beantworten Sie meine Fragen! Danach wird es Ihnen besser gehen. Das verspreche ich Ihnen.«

»Mir wird es niemals wieder besser gehen«, bekam er eine heiser gesprochene Antwort.

Baker atmete erleichtert aus. Die Droge begann bereits zu wirken. Der Patient hatte seine Sprache zurückgewonnen. Er verkniff sich ein Grinsen. Nun hatte er Zugang zu Cubes intimsten Gedanken. Kein Geheimnis wäre jetzt noch vor ihm sicher. Das hätten sie schon längst mit diesem Mann machen sollen.

»Was hat Ihnen Buenvenida Mendez bedeutet?«, begann er zum Einstieg mit einer harmlosen Frage …

4

Berlin, ein paar Tage später

Wir begeben uns jetzt in den Sinkflug und werden in einer halben Stunde landen. Bitte bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position!«, riss der Kapitän Alexander aus seinen trüben Gedanken. Den gesamten Flug über hatte er auf die beschlagene Scheibe gestarrt und zu den Wolken, die unter den Tragflächen wie Schneewehen aussahen. Einen Tag nach Bonnys Tod in der Mesa Verde hatte er erwogen, sich dem Schmerz hinzugeben und sich von einem Felsen zu stürzen. Wie die Dickhornschafe. Doch das wäre letztendlich Verrat an der guten Sache gewesen, an die sie gemeinsam geglaubt hatten. Also war er zur Vernunft gekommen. Er musste weiterarbeiten. Für Bonny und für die Menschen, die ihn brauchten. Er würde seine Pflichten erfüllen. Er würde für Gesetz und Ordnung sorgen. Nicht in Colorado, das konnte er als Deutscher nicht, aber in Berlin, ging es ihm durch den Kopf, während seine Hand nach dem Riegel am Sitz tastete, um der Aufforderung des Kapitäns zu folgen. Er setzte sich aufrecht hin, doch innerlich war er gebeugt und gebrochen.

Die Stunden nach dem Überfall hatte er wie im Nebel erlebt. Er hatte keinen Hunger gespürt, hatte nicht schlafen können und war nicht in der Lage gewesen, irgendetwas zu entscheiden. Professor Baker, der wissenschaftliche Leiter aus dem Projekt, hatte sich seiner angenommen. Er hatte ihm eine Beruhigungsspritze gegeben, und kurz darauf war die Welt um ihn wie in Watte gehüllt gewesen. Nur noch aus weiter Ferne hatte er die Stimme von Baker wahrgenommen. Der Professor hatte ihm Fragen gestellt, und Cube hatte darüber geredet, wie er Bonny kennengelernt hatte, wie sie sich verliebt hatten und was ihre gemeinsamen Träume waren. Auch, dass er sie heiraten wollte und dass die Ringe in Durango beim Juwelier lagen. Nur eine Frage konnte er bis jetzt nicht beantworten: warum Yago geschossen hatte! Der alte Mann hatte sein Wissen mit ins Grab genommen. Zweifelsfrei war er wahnsinnig gewesen.

Irgendwann hatte der Professor das Zimmer verlassen und war mit seinen Sachen zurückgekehrt. Er hatte ihm die Papiere hingelegt und seine Hand sanft geführt, für die Unterschrift, die ihn aus dem Projekt entließ. »Ich hoffe, Sie vergessen das alles hier ganz schnell und leben sich in Berlin gut wieder ein.«

Wie sollte er das jemals vergessen? Cube hatte trotzdem genickt, und dann waren ihm die Hunde eingefallen. »Ich will meine Hunde mitnehmen. Sie müssen noch durch die Quarantäne!«

»Gull und Bella? Sie haben die Hunde aus Deutschland mitgebracht?«

»Ja, das sind meine Hunde«, hatte er gelogen und war froh, dass er für diesen Moment ein wenig klarer im Kopf gewesen war. Natürlich konnte er sie beide als seine Hunde angeben. Buenvenida hatte ihn schließlich ausdrücklich darum gebeten, sich um Gull zu kümmern. Diesen letzten Wunsch konnte er ihr nicht abschlagen.

Der Professor hatte die Papiere durchgesehen, etwas notiert und dann auf die Uhr geschaut. Mit einem Mal schien er nur noch wenig Zeit zu haben.

»Ich habe das in den Unterlagen vermerkt. Selbstverständlich können Sie Ihre Tiere mitnehmen. Ich beauftrage jemanden, der sich darum kümmert. Wir sind dann hier fertig.«

Der Professor war aufgesprungen und hatte ihm die Hand geschüttelt. »Wir werden uns nicht wiedersehen. Machen Sie es gut, Herr Cube.«

Die Hand des Professors war eiskalt gewesen, und sein Handy hatte die ganze Zeit gepiept. Die Nachricht schien dringend gewesen zu sein, denn der Professor hatte mehrfach auf das Display gestarrt.

»Danke«, hatte Cube gemurmelt und war zu den beiden Wachleuten getaumelt, die ihn mit ernstem Gesichtsausdruck hinausbegleiteten. Sein Kopf hatte sich noch immer wie im Drogenrausch angefühlt. Aber plötzlich hatte er das dringende Bedürfnis, diesen Ort zu verlassen. Ohne Bonny war alles Licht der Mesa Verde erloschen. Nichts hielt ihn noch an diesem traurigen Ort.

*

Zwei Wochen später stand er in einem Fabrikloft in Berlin und unterzeichnete den Kaufvertrag. Eine einmalig günstige Gelegenheit, wie ihm der Makler mit breitem Grinsen versicherte. Ein Fitnessstudio war pleitegegangen. Das riesige Loft hatte keine Zwischenwände, dafür bodentiefe Fenster und Fußbodenheizung. Einige Kletter- und Sportgeräte standen verwaist in einer Ecke. Die Wände hatten die unglaubliche Höhe von fünf Metern.

Nach den Weiten der Mesa Verde, den einsamen Canyons und Wüsten schien ihm die Wohnung wie ein Wink des Schicksals. Vor allem Gull brauchte viel Platz und Bewegung. Wenn Cube in zwei Wochen seinen Dienst bei der Kripo wieder aufnehmen wollte, dann musste er dafür sorgen, dass die Hunde gut versorgt waren.

Er ließ sich die Schlüssel geben, fuhr noch am selben Tag in einen Baumarkt, lieh sich ein Gerüst, kaufte eine Leiter, weiße Farbe, Rollen und Pinsel. Zwei Tage und Nächte benötigte er, um die hohen Wände und die Decke zu streichen. Dann schlief er erschöpft in seinem Schlafsack auf dem grauen Beton ein. Am nächsten Tag ließ er die antiken Möbel, die er für seinen Aufenthalt in den USA hatte zwischenlagern lassen, anliefern.

Seine Schäferhündin Bella legte sich auf einen alten Pullover von ihm und steckte den Kopf schläfrig zwischen die Pfoten, doch Gull lief hechelnd durch die Wohnung, knurrte die Möbelpacker an und nahm die Kartons auseinander.

Er gönnte den Hunden einen zweistündigen Auslauf, doch Gull war nicht zu beruhigen. Sobald der Border Collie in der Wohnung war, lief er hektisch auf und ab, begann Schuhe zu zerkauen, nagte an Stuhlbeinen und biss die Sofakissen in Fetzen.

»Du bist einfach nicht für die Stadt geboren«, sagte Cube traurig und strich dem Hund über den Rücken. »Was mache ich bloß mit dir? Ich habe Bonny versprochen, dass ich mich um dich kümmere. Aber wie kann ich das hier in Berlin?«

Gull legte wie auf Kommando die Ohren an und begann zu jaulen, als er ihren Namen hörte. Cube biss die Zähne vor Kummer fest aufeinander, bis es knirschte. Merkwürdigerweise schien Gull sich etwas zu beruhigen und legte ihm die Pfote auf den Arm, doch am nächsten Tag erlebte er erneut, wie Gull unruhig auf- und ablief und versuchte, die Bücher, die gestapelt auf dem Boden lagen, wie eine Schafherde zusammenzutreiben, während er ihm die Lederbände entriss und in den Sekretär stellte.

Er musste den Hund irgendwie beschäftigen. Also warf er zwei Schuhe ans andere Ende des Lofts. »Gull, hol den rechten!«, forderte er ihn auf.

Normalerweise konnten die klugen Hütehunde nicht nur rechts und links unterscheiden, sondern auch einzelne Schafe aus einer Herde herausholen. Doch hier in der Berliner Stadtwohnung war der Hund gnadenlos unterfordert und trottete mit hängendem Kopf zu den Schuhen.

»Den rechten Schuh«, rief Cube erneut.

Gull schlich achtlos daran vorbei und brachte ihm den linken.

Da wusste er, wenn er den Charakter des Tieres nicht zerstören und ein psychopathisches Monster erschaffen wollte, dann musste er sich für ihn etwas anderes einfallen lassen. Schon bald wäre der Hund nicht mehr zu bändigen.

Schweren Herzens griff er zum Telefon.

»Hallo Tante Tatjana, wie geht es dir? Kannst du ein wenig Unterstützung auf der Burg gebrauchen?«

*

Nachdem er das Telefonat beendet und aufgelegt hatte, schaute er in Gulls eisblaue Augen und grübelte. Warum hatte der Collie zwei blaue Augen und nicht ein blaues und ein braunes? Normalerweise hatten doch nur Huskys zwei blaue Augen. Er schaute zu seinen Bücherstapeln. Leider kein Lexikon. Er müsste im Internet recherchieren, aber der Anschluss funktionierte noch nicht. Dann klingelte es an der Tür, und er vergaß das Thema.

Der Paketdienst brachte ein braunes Päckchen. Absender war der Juwelierladen in Durango. Mit zitternder Hand unterschrieb er auf dem Display und schloss die Tür hinter sich. Den Rücken an die Wand gelehnt, sackte er auf den Boden, fühlte den wattierten Umschlag und riss ihn mit einem Ruck auf.

Mit brennenden Augen las er den Brief des Juweliers: »… mit Bedauern haben wir erfahren … schicken wir Ihnen die Ringe nach … Ihr Arbeitgeber hat die Rechnung für Sie beglichen …«

Er hatte nicht die Kraft, das Päckchen mit den Ringen zu öffnen. Unendlich traurig starrte er die Wände in seinem halb bezogenen Loft an, bis vor seinen Augen das frisch getünchte Weiß zu einem Blizzard explodierte und Tränen über sein Gesicht rannen.

5

Mesa Verde, drei Wochen nach dem Attentat

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