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Tessa Korber (Hrsg.)

 

Bocksbeutelmorde

 

12 Kurzkrimis aus Weinfranken

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage September 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg, Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Karl-Josef Hildenbrand/dpa

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-749-0

 

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Inhalt

CASTELL

Tessa Korber – Bocksbeutel-Barden

 

DETTELBACH

Blanka Stipeti´c – Angie

 

ESCHERNDORF

Johannes Wilkes – Escherndorfer Lumpen

 

IPHOFEN

Killen McNeill – Die letzte Fuhre

 

RANDERSACKER

Kilian Bartsch – Trinker, wollt ihr »Ewig Leben«?

 

RÖDELSEE

Christian Klier – Der heißt Ed Feynes

 

SOMMERACH

Theobald Fuchs – Des Apothekers letzter Schoppen

 

SOMMERHAUSEN

Anja Mäderer – Unter Schweinen

 

UNTEREISENHEIM

Ursula Schmid-Spreer – Wie schmeckt »Untereisenheimer Höll«?

 

WÜRZBURG

Thomas Kastura– Sieben Tote sind nicht genug

 

WÜRZBURG

Kerstin Waas – Theatrum Anatomicum

 

ZEIL AM MAIN

Friederike Schmöe – Der Zeiler Mitverschwörer

 

 

Die Autorinnen und Autoren

 

67435.jpg CASTELL

Tessa Korber – Bocksbeutel-Barden

Der Greifer hieß Greif und war Polizist, da wird ein Name schnell mal zum Schicksal, vor allem, wenn man aus so einem kleinen Dorf kommt wie Castell. Da gibt es den Fürsten, die Landrätin, den Pfarrer, den Bürgermeister, die Wirte. Und den Greifer, obwohl der seiner Arbeit in Würzburg nachging, bis er Rentner wurde. Er war eben jemand, der Greifer, nicht nur, weil er im Gemeinderat saß und regelmäßig beim Stammtisch des Musikvereins und einer von den Siebenern war, denen die Überwachung der Flurgrenzen und Grundbesitzverhältnisse oblag. Der Greif war der Greifer, jeder kannte seine Adlernase und die leuchtend blauen Augen, erschreckend hell in dem immer faltiger werdenden, von der Sonne verbrannten Gesicht. Man fragte ihn um Rat, wenn man einen brauchte.

»Habt ihr einen Korkenzieher?« Die Gruppe von Wanderern kam aus dem nahe gelegenen Rüdenhausen zum Weinfest. Sie hatte die drei Kilometer des Weges genutzt, um mit ein paar Flaschen vorzuglühen. Offenbar hatte eine davon keinen Drehverschluss.

Der Greifer schüttelte den Kopf und schaute zu, wie die angeheiterte Meute auf die Straße strömte, um die Autos aufzuhalten, die aus Schweinfurt und Würzburg kamen. »Habt ihr einen Korkenzieher?«, hörte er sie durch zögerlich heruntergekurbelte Autofenster rufen.

Seine Kollegin Annerose nahm ihren Trompetenkoffer wieder auf. »Dabei gibt’s im Schlosspark mehr als genug Wein, sollte man meinen.« Sie wandte sich in die entsprechende Richtung. »Kommst du, wir sind bald dran.«

Der Greifer klopfte auf seinen Posaunenkoffer. Noch waren vom Podium, das auf dem Festplatz mitten in der barocken Parkanlage aufgebaut war, ganz andere Töne zu hören, Jazz, südamerikanisch angehaucht, leicht und locker gespielt, ging runter wie ein guter Rotling im gekühlten Glas. Apropos, es war sauheiß. Er suchte in den Taschen seines Trachtenjankers nach einem Taschentuch. Eine Gruppe wohlgebräunter Städter ging an ihnen vorbei. »Komm, Schatz«, sagte eine 60-jährige Blondine zu ihrem Mann, »damit wir noch was von der guten Musik mitbekommen.« Sie hakte sich bei ihm ein, Leinenhose und teure Uhr. »Nicht nur diese Bocksbeutel-Barden.« Ihre Bekannten lachten.

»Bocksbeutel-Barden«, sagte eine grimmige Stimme. Es war der ehemalige Arzt des Dorfes, Dr. Däubler, Trompeter in ihrer Kapelle, wie Annerose, die im Übrigen bei der Mainpost arbeitete und mit 37 Jahren das Küken in ihrer Bläser-Combo war. Dazu gehörten noch der Heinz, seines Zeichens Schreiner, seine Schwester, die Gitta, deren Mann Kaminkehrermeister war, und der Lehrer Arno Finke. Dazu der Anderl, der war Frührentner und bediente die Pauke, wenn er nicht gerade wieder zu viel getrunken hatte. Manchmal spielte auch der Graf Gernot mit, ein leidenschaftlicher Saxofonist und im bürgerlichen Beruf Manager bei der Castell-Bank. Sie spielten jedes Jahr am ersten Festwochenende auf. Das war ja das Schöne am Casteller Weinfest, dass es die Stile mixte, Jazz und Blasmusik, Bands aus den Städten, die moderne Musik verschiedener Couleur spielten, und dörfliche Traditionskapellen, so wie sie eine waren. »Bocksbeutel-Barden« hatte sie noch keiner genannt.

»So eine Bläksau.« Der Heinz war sauer.

»Kommt, kommt!« Der Greif hob demonstrativ seinen Instrumentenkoffer. In die Linke nahm er das Täschchen mit den Noten, unter dem Arm hatte er den Notenständer. Die anderen waren ähnlich bepackt, in frisch gebügelter Tracht, rot im Gesicht und bis eben noch vorfreudig. »Von denen lassen wir uns den Spaß nicht verderben. Geht’s, Anderl?«

Der Angesprochene, der mit seiner Pauke am meisten Mühe hatte, wirkte abwesend. So wirkte er häufig: wie nicht von dieser Welt, wie in tiefem Schlaf, der aber unerholsam und von Albträumen durchzogen war. Zum Glück hatte er Zeit zwischen den Schlägen, die er setzen musste. Er schien sie zu brauchen und jeden einzelnen einem langen, qualvollen Nachdenken abzuringen.

»Hast du die blöde Kuh nicht gehört?«, fragte Annerose. »Dabei kann die gut von schlecht doch gar nicht unterscheiden.«

»Doch, am Preis.« Der Lehrer Arno Finke lachte. »Wir sollten einfach mehr verlangen.«

»Unbedingt mehr Freigetränke?« Der alte Arzt konnte wieder lachen. »Wir sollten nachverhandeln.«

»Genau, ich will auch eine Rücklieferungsquote, wie du, Arno.« Gitta knuffte ihn.

Er grinste. »Da brauchst du einen ererbten Weinberg, von dem du Trauben an die fürstliche Kellerei lieferst, dann kriegst du das. Kostenlosen Wein für den Hausgebrauch. Aber nur, wenn sie Überschüsse ernten.«

»Überschüsse, Überschüsse«, regte Annerose sich auf. »Habt ihr nicht gehört, dass der Schönborner Kellermeister in Wiesentheid drüben Trauben aus ganz Deutschland gekauft und heimlich der eigenen fränkischen Ernte beigemischt hat? Da sind Überschüsse ja wohl relativ. Die sollen sich nicht so haben und ihren Rücklieferungswein rausrücken.«

»Hört, hört«, suchte der Greifer die Wogen zu glätten. »Aber so was passiert bei uns in Castell nicht.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.« Der Arzt bekreuzigte sich. »Oder in dem des Kellermeisters.«

»Das ist doch seit diesem Jahr der junge Schuck, oder?«

Spätestens jetzt verstummte das Gespräch. Der Greifer hatte es kommen sehen. Es gab schließlich einen Grund dafür, dass der Anderl trank. Das hatte mit Rücklieferungswein zu tun, mit dem jungen Schuck und vor allem mit dieser dummen Sache damals, mit seinem Sohn.

 

Alina wandte sich um und nickte ihrer Band zu. Eine Nummer noch, eine letzte. Sie hatten schon drei Zugaben gegeben. Dann wollte sie endlich runter von dieser Bühne, hinaus zwischen die Bäume, um deren Stämme das gefilterte Sonnenlicht flirrte. Sie wollte auch etwas von dem leuch­tenden Rotling oder von dem Silvaner. Oder gleich eine Flasche von dem Fraenzi, wie sie hier ihren Secco nannten. Sie wollte tanzen und das Gesicht in die Sonne halten. Und vielleicht würde auch dieser Typ vorbeikommen, der immer zu ihr herüberschaute. Er schien den Ausschank zu beaufsichtigen. Manchmal langte er auch selber mit zu, die Ärmel des Leinenhemdes hochgekrempelt, das ihm gut stand. Er lachte viel und war freundlich zu den Leuten, das konnte sie sehen, wenn sie auch kein Wort verstand von dem, was dort draußen gesprochen wurde in der Welt. Sie wollte auch in die Welt und mit dem Fremden lachen, der sie so anschaute, wenn er mal nichts zu tun hatte. Wie der schauen konnte. Ja, sie war sicher, er würde vorbeikommen. Gut so, sie konnte ein wenig Leichtigkeit vertragen.

»Danke schön. Wir sind Blue Moon.« Sie hauchte die letzten Worte in das Mikro, dann schaltete sie es ab. Blue Moon, Jazz, Swing, Easy Listening. Es klang so locker. Aber seit sie Felix, dem Bassisten, gesagt hatte, dass sie Abstand von ihrer Beziehung brauchte, war es kein Spaß mehr. Die Vibes waren schlecht in der Band. Und sie hatte Mühe, ihre Ausstrahlung beim Singen nicht darunter leiden zu lassen. Wäre der Typ am Ausschank nicht gewesen, es wäre ihr heute nicht gelungen.

Der Applaus vertropfte. Ungefiltert drang das Gesumm der Menge in die Nachmittagsluft.

»Willst du nicht beim Abbau helfen?« Da, Felix, Vorwurf in der Stimme.

»Ich brauch was zu trinken.« Sie sagte es, ohne sich nach ihm umzuwenden, und war schon von dem gezimmerten Podium herunter, war schon auf dem Weg zum Schanktisch.

»Bitch«, murmelte ihr Exfreund und schaute ihr hinterher. Alina konnte seine Blicke in ihrem Rücken fühlen. Er würde es sie spüren lassen, auf der Heimfahrt im Bandbus, beim Ausladen, morgen, wenn sie beide wieder in Würzburg im Seminar säßen. Sie würde noch mal mit ihm reden müssen, so ging das nicht. Aber nicht heute. Für heute war erst einmal Schluss damit. Sie hatte ein Recht darauf, sich zu amüsieren, verdammt.

»Was darf es sein?« Seine Stimme klang so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Weich, warm, mit einem Augenzwinkern in der Betonung.

»Ich weiß nicht.« Sie zwinkerte zurück, gab sich kokett.

Er hob die Hand. »Moment, ich hab eine Idee. Für eine Frau wie dich muss es schon etwas Besonderes sein.«

Sie neigte beifällig den Kopf. »Wenn du was Besonderes zu bieten hast.« Das Du ging ihr genauso leicht über die Lippen wie ihm. Es schien hier eh allgemein üblich.

Er lachte. »Ich bin der Kellermeister hier, ich bin der Hüter von Schätzen.«

Kellermeister, das Wort sagte ihr nichts. Es ließ sie an billige Drucke denken, die fette Mönche zeigten mit einem dicken Schlüsselbund am Gürtel, wie sie die Säufernasen in Weinrömer steckten. So sah er nicht aus, und sie musste ihrerseits lachen. »Am liebsten mag ich es, wenn es prickelt«, sagte sie.

Eine junge Frau stellte eine Flasche Fraenzi zwischen sie. »Fang damit an, Lorenz«, sagte sie zu dem Typ. »Den Weinkeller kannst du ihr später zeigen.«

Er schien kurz verärgert, dann hob er die Hände in gespielter Hilflosigkeit. »Also dann«, sagte er.

Sie zeigte an, dass sie einverstanden wäre. Er schnappte sich zwei Gläser und die Flasche, bot ihr den Arm. Sie hängte sich bei ihm ein, und die beiden machten sie sich auf den Weg, am Rand des Gewühls einen freien Platz an einem der aufgestellten Biertische zu finden. Er war offenbar bekannt hier, stellte Alina fest, grüßte rechts und links und flüsterte ihr manchmal einen Namen zu. Ein Graf hier, eine Baronin dort, ein Vorsitzender von einem Winzerverband und so weiter und so fort. Es war eine exotische Welt für Alina. Sie brauchte dringend einen Schluck von dem Wein. Mehr als einen.

»Kunstgeschichte?«, wiederholte er ihre Antwort auf seine Frage, was sie so treibe. »Du siehst gar nicht wie eine Studentin aus, ehrlich.«

»Wie seh ich denn aus?«, fragte sie, kurz irritiert.

»Na, nicht wie eine graue Büchermaus, meine ich. Eher wie ein echter Star.«

Die Antwort versöhnte sie.

»Da ist der Timo, setzen wir uns zu dem.« Er hatte einen Freund entdeckt und winkte ihm. Alina war beruhigt: Es war ein Tisch mit jungen Leuten, alle in Feierlaune, in den unterschiedlichsten Hautfarben.

»Das ist der Idris, der Achmed und der Tarik«, stellte Timo seine Begleiter vor. »Sie können schon ›Silvaner‹ sagen.«

»Sie können ihn auch trinken«, stellte Alina fest und war schnell in eine englischsprachige Unterhaltung mit einem syrischen Architekturstudenten verwickelt, der sich fragte, wie seine Zukunft aussehen sollte. Sie diskutierten, sie tranken, sie sangen. Der Typ, der Lorenz hieß, ihr Typ, blieb an ihrer Seite, schenkte ihr ein und brachte sie zum Lachen. Als Idris ihnen einen syrischen Tanz vorführte, sprang Lorenz mit auf. Er stellte sich gar nicht dumm an, schnippte mit den Fingern, bewegte die Hüften und schaute ihr tief in die Augen. Sie sprang auf und schmiegte sich zu den Rhythmen an ihn, die aus einem laut gestellten Handy drangen. An den Nachbartischen applaudierte man. Sie schloss die Augen. Warum konnte das Leben nicht immer so sein?

 

Der Anderl trank. Er trank um sein Leben. Die anderen waren alle Arschlöcher, sogar die eigenen Leute. Sie taten, als gäbe es ihn nicht, als hätte er keine Ohren und würde es nicht merken, wenn sie in seinen Wunden herumstocherten. Wie roh konnte man sein? Rücklieferungswein, ja verreck. Als ob sie nicht wüssten, dass er an nichts anderes denken konnte. Nicht, seit sie damals die Flasche mit dem Rücklieferungs-Etikett und der laufenden Nummer gefunden hatten, droben, auf der steilen Höhe über dem Dorf, bei der Gerichtseiche, gleich neben dem verlassenen Lagerfeuer. Keine fünfhundert Meter von seinem toten Jungen entfernt. Mithilfe der Unterlagen des fürstlichen Weingutes hatte man genau feststellen können, an wen die Flasche gegangen war und wer also dort am Lagerfeuer gefeiert hatte. Den Schucks hatte der Wein gehört. Also war der Lorenz dabei gewesen. Wo der war, konnte auch der Timo nicht weit sein. Und dann, einmal festgenagelt, nannten sie noch zwei andere.

Sein Einsatz kam, und Anderl schlug auf die Pauke.

Ein Unfall sei es gewesen, das hatten alle vier beteuert. Ein blöder Unfall. Dort oben ging es steil über die Weinberge abwärts, mehr als steil. Und weil der Boden zwischen den Reben zum Teil mit schwarzen Kunststoffplanen abgedeckt war, waren sie auf die dumme Idee gekommen, dort hinunterzurutschen. Eine Art Sommerrodeln. Sie seien besoffen gewesen, und es sei ihnen wie eine coole Idee vorgekommen, ein großer Spaß. Der Lorenz sei als Erster gerutscht, und es sei ihm ja auch nichts passiert. Bis auf die aufgeschlagenen Knie und die Kratzer im Gesicht. Dann sei sein Sohn dran gewesen.

Anderl schlug die Pauke, ein wenig zu spät. Er spürte mehr, als er sah, wie der Greifer zusammenzuckte beim Luftholen. Es war ihm egal.

Sein Sohn hatte sich das Genick gebrochen. Und alle waren geflüchtet. Hatten nicht den Arzt gerufen, nicht die Polizei. Aber ein Unfall, mehr war es nicht, eine blöde Idee, ein Missgeschick. Der Lorenz hatte es ja auch überlebt. Sein Sohn war also selbst schuld gewesen, hatte sich zu dumm angestellt. Oder Pech gehabt. Es war einfach Pech. So ein Pech!

Der Anderl hieb auf die Pauke und ließ das Becken zischen. Der Greifer schickte ihm einen sehr blauen Blick. Anderl streckte die Hand aus und hielt das vibrierende Beckenblech fest. Es wurde still. Aber nicht in seinem Kopf.

Wenn es bloß ein Unfall war, wieso waren sie dann alle abgehauen? Wieso hatten sie, als die Polizei zum ersten Mal bei ihnen geklingelt hatte, weil sie die Freunde des Toten waren und die Dorfjugend nun mal gerne dort oben auf dem Berg traf, allesamt behauptet, nö, auf dem Hügel hätten nicht sie gefeiert? Es war ein magischer Ort, nicht weit von der alten Burgruine, und der schönste Aussichtspunkt weit und breit. Wieso hatten sie alle geleugnet, überhaupt dort gewesen zu sein? Erst als die Flasche gefunden und bestimmt worden war, die vermaledeite Flasche, da waren sie gesprächig geworden. So was von gesprächig.

Sein Einsatz. Der Anderl folgte.

Da hockte er jetzt mit den Gedanken in seinem Kopf, die er nicht anhalten konnte, und die sie ausgelöst hatten mit ihrem Gerede vom Rücklieferungswein und vom Schuck, die standen da, mit glücklichen Gesichtern, so rot wie ein Säugling an der Mutterbrust, und dachten sich nichts dabei. Und da unten hockte er, der Schuck. Kellermeister! War der jetzt schon so alt? Der Bengel. Und sein eigener, toter Sohn, der war sechzehn gewesen und war immer noch sechzehn, würde ewig und drei Tage sechzehn bleiben und keine Frau am Arm haben und mit ihr tanzen und nicht mehr mit den Freunden saufen. Und seine Trompete, die stand daheim und verstaubte irgendwo auf dem Dachboden, wo die Frau sie hingeräumt hatte, ehe sie ihn verließ, weil sie es nicht mehr aushielt. Er hielt es ja auch nicht aus, aber wie sollte er sich selbst verlassen?

Der Anderl hieb auf die Pauke, dann bückte er sich und griff nach dem Halbliterglas mit seinem Schoppen. Schorle, pflegte er zu sagen, wie die anderen es tranken. Aber es war keine Schorle, und Schnaps hatte er auch dabei. Wie sollte man sich selbst schon verlassen, außer durch Saufen? Da war auch der Timo mit seinen Scheißsyrern, während sein Sohn niemanden mehr kennenlernen, nicht mehr helfen und feiern und auch nicht mehr Trompete spielen konnte, bei seinem Vater nicht und nirgends. Wieso hatten sie zuerst so gelogen? Wenn es in Wahrheit doch nur ein Unfall gewesen war. Wieso? Es wollte ihm nicht in den Kopf.

Der Anderl brauchte einen neuen Schluck und verpasste seinen Einsatz. Er hatte die Frage oft gestellt, so oft, dass sie schon ganz ausgefranst war, ganz unansehnlich, niemand wollte sie mehr. Der alte Schuck nicht und seine Frau nicht, die ihn am Ende vom Hof gejagt hat. Er würde ihren Sohn närrisch machen, und der müsse sich auf sein Abitur konzentrieren. Der Vater vom Timo hatte es nicht hören wollen, genauso wenig wie die anderen im Dorf. Er war einer der ihren. Aber das waren die Schucks und die Eltern der übrigen Jungen auch. Und die waren mehr, und Ruhe wollten sie alle. Nicht mal der Greifer hörte ihm mehr zu, am Ende. Damals war er noch im Dienst gewesen. Und er hatte sicher alles getan, was er konnte, der Greifer, das war ein Guter. Aber auch er hatte dem Anderl seine Frage nicht beantworten können. Was war da oben passiert? Warum hatten sie gelogen?

Der Anderl hieb taktgerecht auf die Pauke, wieder und wieder. Seine Gedanken waren anderswo, und sein Blick wanderte hinüber zu seinem Notenkoffer, in dem keine Noten drin waren, oder keine, die er jemals mehr angeschaut hätte. Ein Foto war drin, eine alte Urkunde von den Bundesjugendspielen. Und die Flasche. Die alles in Gang gebracht hatte, was dann wieder ins Stocken geraten war. Er hatte sie haben wollen, er wusste selber nicht, wieso.

Einsatz, Schlag. Schluck. Blick.

Der Greifer hatte sie ihm mitgebracht, sie wurde nicht mehr gebraucht von wegen Asservate und so. Der Fall war abgeschlossen und war keiner. Sein Sohn war tot und war kein Fall. Was der Fall war, war einzig und allein sein ­Kummer, den er trank und der ihn fraß. So war es gerecht, fand der Anderl. Sie passten zusammen wie Essen und Trinken, sein Kummer und er. Dass die Flasche nicht leer wurde, dafür sorgte er schon. Ob von ihm was übrig blieb, das war nicht sein Problem. Jetzt tanzten sie wieder, die Hunde. Er konnte sie sehen. So widerlich am Leben, wie sie waren. Sie tanzten, aber nicht mehr lange.

Ende des Liedes, fünf Schläge. Becken. Schluss. Aus.

 

»Komm schon«, sagte der Timo. Oder besser, er lallte es. Es waren schon eine Menge Schoppen gewesen, die er getrunken hatte. Und obwohl er seinen Freund Lorenz noch in leidlicher Haltung und mit festem Griff beiseitegenommen hatte, pendelte sein Körper jetzt doch stark über dem festen Punkt seiner Füße. Er setzte sie breiter. »Ssss ist mein gutes Recht. Wir haben auch die Trauben geliefert.«

»Du weißt genau, dass die Rücklieferungsquote sich nach der Ernte richtet, nach dem Überschuss.«

»Sssscheißüberschuss. Ich brauch vier Kisten. Für die Feier.«

Lorenz Schuck schüttelte den Kopf. Über die Schulter seines Freundes hinweg lächelte er der Frau zu. Timo sah es genau. Statt sich mit ihm auseinanderzusetzen, flirtete er mit dieser Sängerin. Zugegeben, sie hatte Stil. Und Figur. Er war nicht der Einzige gewesen, der sie angestarrt hatte, als sie da auf der Bühne stand, was heißt »stand«. Die hatte sich bewegt wie … Er konnte den Gedanken nicht in Worte fassen, spürte seine Auswirkungen jedoch im ganzen Körper. Aber sie hatte ja nur Augen für den Lorenz. Wieder einmal der Lorenz, immer und immer.

Dem gehörte sie heute, der hatte sie sicher, das sah man doch. Nachher würde er sie noch in den Weinkeller führen, wie er es immer machte, wenn er eine Touristin beeindrucken wollte. Dort würde er ihr die alten Fässer zeigen, in die der Fürst die Gesichter seiner Kinder hatte schnitzen lassen. Und dann, wenn sie alleine waren, würde er ihr noch so einiges andere zeigen. Während er selbst hier als Gutmensch mit seinen Flüchtlingen hockte und höchstens eine von den Tussis abbekam, die sich sozial engagierten. Oder kirchlich. Da, jetzt lächelte er ihr zu, über Timos Schulter hinweg.

»Spar dir das Grinsen«, sagte der Timo. Es langte ihm irgendwie. Lag es am Wein, an der Sängerin oder an etwas anderem, er wusste es nicht. Er wusste nur eines. Er würde nicht wanken. »Gib mir den Wein, oder ich sag’s den anderen.«

»Was denn?«, fragte Lorenz und zwinkerte der Sängerin zu.

»Na, das mit damals. Allen sag ich es. Deinen Eltern, dem Anderl, der Polizei. Dass du ihn gestoßen hast, weil …« Er konnte nicht weiterreden, denn der Lorenz hatte ihn hart an den Schultern gepackt. »Au.«

Lorenz’ Griff rutschte ab. Er fasste nach und packte Stoff. Es langte, um den Timo dicht an sich heranzuziehen. »Es war ein Unfall«, zischte er. »Streit hin oder her. Ich hab doch nie …« Er hielt inne. Dann starrte er den Timo an. »Und du willst wegen Beihilfe dran sein, du dumme Sau?«

Der Timo war nicht mehr nüchtern genug, um den Gedanken zu würdigen. Schmollend verzog er das Gesicht. »Glaubst, du bist was Besseres, weil du Kellermeister bist? Mit Fürsten verkehrst und ihnen nach dem Mund redest? Alten Freunden einen Schoppen verweigern, das ist nicht in Ordnung.«

Lorenz ließ ihn los und klopfte ihm die Brust ab, als wolle er dort Staub fortwischen. Für die Freunde am Tisch, für die Leute, sollte es wohl nach dem Ende einer ohnehin nur freund­schaftlichen Auseinandersetzung aussehen. Doch dem Timo war nicht danach. Er schlug die Hand weg.

»Lass gut sein«, hörte er den Lorenz sagen. »Wir sitzen im selben Boot, du und ich.« Wenn das nicht Hohn war.

»Du und ich. Im selben Boot.« Jetzt wurde der Timo erst richtig sauer. »Du und ich, das ist … Das ist …« Er kam nicht drauf, was das war. Ihm fehlten die Worte. Aber die Gefühle, die ihn überfluteten, waren wütend und gemein. Zu lange schon trug er das mit sich rum. Alles, und nur wegen dem Lorenz. Und was hatte er eigentlich davon gehabt, fragte er sich. Sicher, sie waren alle gerannt, danach. Sie hatten alle gelogen, und keiner von ihnen hätte mehr eine gute Figur gemacht, wenn sie geredet hätten. Aber verdammt, er hatte doch mit dem Sohn vom Anderl damals keinen Streit angefangen. Und von ihm stammte auch die Lüge mit dem Spiel nicht, diese saublöde Idee, von wegen, sie hätten den Weinberghang hinunterrutschen wollen. Wer dachte sich denn so was aus! Tatsächlich konnte der Timo an keinem Hang mehr stehen, ohne sich diese Frage zu stellen. Ohne an den toten Freund zu denken. Sogar an Schlittenhängen mitten im Winter. Sein ganzes Leben verbrachte er mit einer beschissenen, zweitklassigen Lüge. Und jetzt sollte er dafür nicht mal seinen Wein bekommen? »Ist mir scheißegal«, stieß er hervor. »Hörst du?« Er schubste den Lorenz und schubste ihn noch einmal. »Ich sag es jedem. Allen. Die jagen dich aus dem Ort wie einen Hund.«

»Du spinnst doch.« Der Lorenz hatte ihn losgelassen und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er atmete schwer, immerhin. Aber schon hatte er sich wieder im Griff. Gleich würde er wieder lächeln. Dann zu seiner Tussi gehen und weiterfeiern und ihn vergessen.

Timo kam bitterer Saft die Kehle hoch. Er unterdrückte den Brechreiz. »Den Rücklieferungs…« Er verhedderte sich, brachte das Wort nicht zu Ende. Zutiefst gedemütigt verstummte er und versuchte nur, allen Nachdruck in seinen Blick zu legen.

Es schien nicht zu funktionieren, denn der Lorenz lachte. »So blöd bist nicht mal du.« Hatte er das wirklich gesagt? So blöd war nicht mal er? Wer? Er, der Timo? Armer Timo, dachte der Timo. Armer, beschissener Timo. Ich werd’s euch zeigen. Ich werd euch alle. Wundern werdet ihr euch. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Es funktionierte, mehr schlecht als recht. Ignorierte die besorgten Blicke seiner Schützlinge, die mitleidigen der anderen Besucher, die amüsierten. Er würde es ihnen allen zeigen. Würde er. Würde alles sagen. Alles. Die Bombe. Sie fertigmachen. Jawoll. Nächster Fuß, noch ein Schritt. Wie ein Geist am helllichten Tag wankte der Timo unter den Bäumen herum, schwamm im gedämpften Lärm des Festes und im Nachmittagslicht, auf der Suche nach einem Menschen, dem er seine Geschichte erzählen könnte. Einem, der Zunder war für den Funken, den er werfen würde. Und dann die Bombe. Bumm. Seinen Wein, den würde man ihm nicht verweigern, und wenn er alle mit sich reißen müsste. Einmal würde er der Timo sein. Dann stand jemand vor ihm.

Timo rülpste und riss die Augen auf.

 

Der Greifer fragte sich, ob es Zufall oder Schicksal war, dass auf dem Heimweg dieselbe Gruppe Rüdenhäuser vor ihm herwankte. Es war dunkel, stockfinster sogar zwischen den Straßenlaternen, hier abseits der Festbeleuchtung. Manche hatten Maglites für den Heimweg, ein paar Witzbolde sogar Kopfleuchten. Die meisten marschierten einfach frohgemut in die Dunkelheit, unterstützt von ein paar Flaschen zum Nachglühen. Die Sportwagen der Würzburger und Schweinfurter fuhren langsam, ihre roten Rücklichter leuchteten.

»Na, habt ihr euren Korkenzieher gekriegt?«, rief der Greifer seinen Bekannten zu, bekam aber nur unzusammenhängende, gleichwohl fröhliche Antworten.

»Also dann«, sagte der Doktor Däubler. Die Annerose hob die Hand und winkte. Gitta und Heinz waren längst mit ihren Familien abgezogen.

Der Lehrer Finke stand neben ihm. »Wir sollten über eine Umbenennung nachdenken«, meinte er. »Bocksbeutel-Barden. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr hat es für sich. Und dazu ein etwas jüngeres Musikprogramm. Etwas Flottes.«

»Wenn ich dich ›flott‹ sagen höre, kriege ich eine Gänsehaut.« Der Greifer lachte. »Wir sollten bei unseren alten Liedern bleiben. Ist der Anderl schon heim?«, fragte er zum Abschied.

»Hab ihn seit unserem Auftritt nicht gesehen«, antwortete der Lehrer. »Gute Nacht.«

Hinter ihnen hupte es. Der Tourbus von Blue Moon, ein kleiner Transporter mit dem Namenszug der Band, bahnte sich seinen Weg durch die heimwärts strömende Menge am Ausgang des Parkplatzes. Der Greifer sah vier Männer auf den Sitzen, der am Steuer zog ein ernstes, fast wütendes Gesicht. Neben ihnen hielt der Wagen. Der Beifahrer öffnete die Tür, sprang heraus und lief zu einer jungen Frau mit langen Haaren, die ihm den Rücken zugewandt hatte. Nicht gerade sanft packte er sie am Arm. »Alina«, hörte der Greifer ihn rufen. »Wo warst du?«

»Heh!« Die junge Frau wandte sich um und protestierte. Es war nicht die Sängerin.

Der Musiker entschuldigte sich für seinen Irrtum, blieb stehen und blickte sich um, fand aber offenbar nicht, wonach er suchte. Der Fahrer des Busses neigte sich über den leeren Beifahrersitz zur offenen Tür. »Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Wir fahren.« Die beiden auf der Rückbank diskutierten noch. Der in der Menge stand, schaute ratlos drein, aber am Ende fügten sich alle. Blue Moon fuhr ohne seine Sängerin ab.

Glücklicher Schuck, dachte der Greifer. Er wäre nicht der Greifer gewesen, wenn er nicht gewusst hätte von den Touristinnen und den geschnitzten Fässern und allem, was nächtens so in Castell passierte.

Da hörte er die Schreie. Es war die Rüdenhäuser Gruppe, die sich bereits ins Dunkel des Rad- und Fußweges neben der Straße zu ihrem Dorf gewagt hatte. Sie waren hoch und spitz, aber nicht trunken. Und niemand würde mit einem Lachen darauf antworten. Der Greifer kannte solche Schreie von Berufs wegen. »Pass drauf auf«, rief er dem Lehrer Finke zu, als er seinen Posaunenkoffer abstellte. Mit langen Schritten lief er den Schreien entgegen.

»Eine Taschenlampe! Hat niemand eine Taschenlampe?« Der Greifer wusste nicht, wer da fragte, aber als das erste schüchterne Licht aufleuchtete, nahm er es dem Besitzer aus der Hand und richtete es dorthin, woher die Rufe gekommen waren.

»Da liegt einer!« Das war noch keine Seltenheit. Schnapsleichen, Weinleichen, Festleichen. So mancher schlief im Straßengraben seinen Rausch aus. Das war gute alte Tradition. Obwohl es natürlich besser war, man sammelte sie ein und versorgte sie ärztlich. So weit war der Greifer Modernist. Man würde die Malteser rufen müssen.

Im nächsten Moment sah er das lange, dunkle Haar. Dann fiel ihm der Tourbus ein. Er trat näher. Packte die Frau, die da lag, an der Schulter. Über ihr Gesicht lief Blut, als er sie herumdrehte. Trotzdem erkannte er die Sängerin von Blue Moon. Er war nicht der Einzige.

»Dass die so getankt hat«, wunderte sich jemand von weiter hinten in der wachsenden Zuschauermenge.

Die Frauen, die über die Liegende gestolpert waren, wussten es besser. »Sie ist so still.« – »Sie ist so schwer.« Sie wussten es und wussten es nicht. Sie hatten geschrien und schwiegen jetzt. Die Frau war tot. Der Greifer war derjenige, der es als Erster in vollem Umfang begriff. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, nein, gar kein gutes. Und sein Gefühl war etwas, worauf er sich nach all den Jahren verlassen konnte. Trotzdem reagierte er routiniert und hielt die Reihenfolge ein.

»Sie muss mit dem Kopf wo aufgeschlagen sein. Wir brauchen einen Arzt«, sagte er laut. »Wer hat ein Handy?« Er pickte sich einen der Männer heraus und instruierte ihn für den Anruf. Als Nächstes drängte er die Zuschauer zurück, angeblich, um Platz für die Rettungskräfte zu schaffen, tatsächlich aber, um dafür zu sorgen, dass sie nicht alle Spuren zertrampelten, die sich vielleicht finden mochten. Denn was er im Licht der Taschenlampe gesehen und mit ein paar schlichten Handgriffen überprüft hatte, genügte dem Greifer. Die Wunde am Kopf der schönen, noch immer schönen Sängerin lag oberhalb der Hutlinie. Hieß: Sie war nicht mit dem Kopf irgendwo dagegengestoßen. Etwas war gegen ihren Kopf gestoßen worden. Der Greifer, bald verhältnismäßig alleine im Dunkeln mit der Toten, alle Zeugen auf die Straße verdrängt, wo sie sich instinktiv um das Licht einer Peitschenlampe scharten, fand auch schon bald das, was gegen den schönen Kopf geschlagen worden war und ihn zerschmettert hatte. Er hob es auf, betrachtete es im schwächer werdenden Licht der Kindertaschenlampe, die er sich geborgt hatte – und wurde traurig.

Die Taschenlampe hatte die Form eines kleinen Drachens. Sie wurde funzeliger und funzeliger und ging aus. Der Greifer stand im Dunkeln. Wenig später war der Notarzt da. Danach die Kollegen aus Kitzingen. Der Greifer trat still beiseite. Wurde erkannt, gegrüßt, schüttelte Hände, beantwortete Fragen. Schließlich ging er zurück zu seinem Posaunenkoffer. Klappte ihn auf, legte etwas hinein, klappte ihn zu, hatte keine Lust mehr, ihn je wieder zu öffnen.

 

Das Casteller Weinfest dauerte über eine Woche. Es gab ein erstes und ein zweites Festwochenende, von Freitag bis Montag, dazu noch einen Tag dazwischen, der mit Behinderten gefeiert wurde. So oder so, man saß, man trank, die Musik spielte. Der Greifer fand den Anderl an einem der langen Biertische. Er setzte sich ihm gegenüber und stellte die Flasche auf den Tisch. Das Blut war abgewischt, das Innere ausgewaschen, das Ganze neu befüllt mit Silvaner, der mild im Sonnenlicht leuchtete. Der Anderl griff nach der Flasche, ließ die Hand aber um den Hals liegen. Er schenkte sich nicht ein.

Der Greifer fragte nicht. Er wartete.

»Hast sie gleich erkannt, was?«, fragte der Anderl, ehe er sie doch nahm und sich einen Schluck eingoss. Er probierte. »Guter Stoff.«

»Du weißt, man kann sie anhand des Etiketts zurückverfolgen. War schon mal so.« Der Greifer machte nicht viele Worte.

Der Anderl zuckte mit den Schultern. »Es schien mir passend.« Mehr sagte er nicht. Er war müde. Man sah es ihm an.

Jetzt wurde der Greifer doch ungeduldig. »Ja, aber die Frau, Anderl, was konnte denn die Frau dafür, Herrgott noch mal!« Er schaute seinen alten, leidgeprüften Freund an, als kennte er ihn nicht mehr. »Sie war gerade mal vierundzwanzig.«

»Acht Jahre älter als mein Sohn.« Als der Anderl es im Gesicht des Greifers zucken sah, senkte er den Blick, aber nur für eine Weile. Seine Hände zitterten, er nahm den nächsten Schluck. »Der Timo hat es mir verraten«, sagte er schließlich. »Wie das war damals.«

Angespannt setzte der Greifer sich auf.

»Dass nämlich der Lorenz mit meinem Sohn gestritten hat. Dass sie aneinandergeraten sind. Er hat ihn gestoßen, Greifer. Hat ihn über die Kante gestoßen.«

»Und seine eigenen Verletzungen?«

Der Anderl zuckte mit den Schultern. »Ist selber ein Stück gestürzt. Sie waren ja ineinander verkeilt.«

»Dann war es trotzdem ein Unfall?« Der Greifer stellte die Frage mehr sich selbst als dem Anderl.

»Alle haben gelogen.« Der Anderl wünschte, er hätte seine Pauke in der Nähe. Da hätte er draufschlagen können. »Mir ins Gesicht gelogen haben sie. Und mein Sohn …« Er konnte nicht weitersprechen. Nicht einmal trinken konnte er. Saure Krämpfe schnürten ihm die Kehle zu. Aber er musste doch trinken. Er musste doch. So war es nicht auszuhalten. Mit beiden Händen packte er sein Glas und schluckte. Es tat weh.

»Ja, aber das Mädchen? Anderl!« Der Greifer langte nach seinen Händen, versuchte, sie zu packen. Der Anderl wollte sie wegstoßen, so wie damals der Timo die vom Lorenz, trotzig, hilflos. Er verschüttete den Rest des Weines.

»Ich wollte doch nicht …«, brachte er heraus. Er stieß einen Schrei aus. Die anderen drehten sich zu ihnen um, drehten sich wieder weg. Zwei Betrunkene.

Der Greifer behielt seine Hände auf denen vom Anderl, hielt sie fest, streichelte sie dann, langsam, ganz langsam. Endlich ließ er los.

Der Anderl weinte. Wie lange hatte kein Mensch ihn mehr angefasst? Er schenkte sich ein. »Sie war nur da«, sagte er. »Ich hab ausgeholt. Ich wollte den Lorenz.« Er schaute auf, trotzig. »Da hätte ich nicht mit der Wimper gezuckt.«

Der Greifer nickte, ungeduldig, unwirsch. »Das Mädchen«, forderte er.

Der Anderl hob die Schultern. »Sie hat sich bewegt. Hat sich dazwischengeschoben, irgendwie. Ich hatte schon ausgeholt. Ich …«, seine Stimme wurde lauter. »Ich wollte doch nicht …« Hastig griff er zur Flasche.

Der Greifer schaute sich um. »Scht«, murmelte er unwillkürlich. »Ist ja gut. Ist ja gut.« Er dachte an den Freund dieser Alina, den Musiker, den die Polizei gerade verhörte. Weil er als eifersüchtig galt. Man hatte sie streiten hören. Aber es gab keine Spuren, keine Tatwaffe. Sie würden ihn bald wieder laufen lassen. Der Greifer überlegte. »Und der Lorenz?«, fragte er endlich. Man hatte ihn als Zeugen verhört, weil er mit der Toten gesehen worden war. Er hatte angegeben, mit ihr geflirtet, sie dann aber im Festtrubel aus den Augen verloren zu haben.

»Wieso der Lorenz?«, murmelte der Anderl.

Der Greifer schaute ihn an. Die Jahre der Sauferei schienen an seinem Freund nicht spurlos vorübergegangen zu sein. »Na, der war doch dabei, der hat gesehen, wie du sie getötet hast, richtig?«

Der Anderl war bei dem Wort »töten« zusammengezuckt.

»Ist doch so«, insistierte der Greifer. Er hielt inne. Dachte nach. Dann lachte er bitter. »Er gibt dir ein Alibi.«

»Was?« Der Anderl war zu sehr in seinem Kummer versunken gewesen, um das anfangs zu überreißen. Es sickerte nur langsam in sein Bewusstsein.

»Der Mörder deines Sohnes, Anderl. Er gibt jetzt dir, dem Mörder von Alina, ein Alibi.«

Den Anderl riss es. Mit großen Augen schaute er den Greifer an. »Was?«, hauchte er.

Der Greifer wiederholte seine Worte nicht. Er schaute nur. Mit seinen immer noch so blauen, harten Augen in dem zerfurchten Gesicht. Es lag Kummer darin, Mitleid, aber auch ein wenig Verachtung. Ob für den Anderl, der jetzt wieder zu seinem Glas griff, für den Lorenz Schuck, oder für sich selbst – zum ersten Mal in seinem Leben konnte der Greifer es nicht sicher sagen.

 

67438.jpg DETTELBACH

Blanka Stipeti´c – Angie

Mein Vater war Fährmann, und ich besuchte ihn regelmäßig. Manchmal setzte ich mich für ein oder zwei Fahrten mit auf die Fähre und sah zu, wie er über das Wasser starrte und seine Fahrgäste geflissentlich ignorierte. An jenem Tag hatte ich das auch vorgehabt. Ich wollte ihm eine halbe Stunde Gesellschaft leisten und ihn dann überreden, auf dem Weinfest noch einen Schoppen mit mir zu trinken. Keine leichte Aufgabe, denn mein Vater war ein Einzelgänger, ein Misanthrop, wenn ich ehrlich bin.

Als ich ankam, legte er gerade von der Mainsondheimer Seite ab. Der Motor dröhnte, die Fähre setzte sich in Bewegung. Und dann, ziemlich genau auf der Hälfte der Strecke, erstarb der Motor, und die Fähre blieb mitten auf dem Main stehen.

 

Vielleicht wirst du es verstehen, vielleicht auch nicht. Dieser Tag beginnt wie jeder andere Tag seit fast fünfzig Jahren. Ich zähle die Fahrten. Wenn meine Gedanken mir zu schaffen machen und ich sie nicht in Zaum halten kann. Dann zwinge ich mich, so lange an die Eins zu denken, bis ich auf der anderen Seite das Knirschen höre, wenn ich anlege. Dann eine kurze Pause und dann die Zwei, bis ich wieder auf der anderen Seite bin. Ich halte mich an der einen Zahl fest und widersetze mich dem Drang weiterzuzählen. An schlimmen Tagen muss ich bis über zwanzig zählen, damit mein Kopf Ruhe gibt. Ich starre aufs Wasser, erledige die nötigen Handgriffe wie ein Automat, nehme Geld entgegen oder nicke nur, gebe Wechselgeld zurück oder auch nicht. Jeden Tag verbinde ich das eine Ufer mit dem anderen und hinterlasse keine bleibende Spur in dem stetig dahinfließenden Wasser. Im Herbst ist es am leichtesten, dann muss ich meistens nur bis zur Drei zählen. Wenn Nebel aus dem Main steigt und alles in undurchdringliche Watte packt. Dann kann ich manchmal gerade noch das andere Ufer erkennen, weiter schafft es mein Blick nicht. Nichts, was meine Gedanken zurück in die Zeit saugen und mich zwingen würde, mich dem Sog entgegenzustemmen, mich ihm zu entziehen. Doch wenn der Himmel blau und die Luft klar ist, dann versinke ich in den Tiefen der Zeit. Fast ein halbes Jahrhundert schon frisst der Hass an mir, hat mich inzwischen ausgehöhlt, ein eigenes Tunnelsystem in meinem Kopf geschaffen, durch das die Gedanken unkontrolliert rasen und toben. Nur wenn ich zähle, kann ich die Ein- und Ausgänge stopfen, die Gedanken einfangen und zähmen.

Heute bin ich bis zur Dreizehn gekommen, als ich auf der Dettelbacher Seite anlege.

 

Ich erhob mich und versuchte zu erkennen, was los war. Auf der Fähre befanden sich ein Wagen, einige Fahrräder und ungefähr zehn Menschen. Ich sah, wie mein Vater das Fährhaus verließ, die Stufen zum Deck hinunterstieg und zu einem der Fahrgäste an der Reling trat.

Es dauerte nur zehn Minuten, bis das erste Polizeiauto mit Blaulicht von der B22 abbog und an der Anlegestelle hielt, dicht gefolgt von der Feuerwehr. Ich ging auf die Polizisten zu, die aus dem Wagen stiegen. In der Hand hielt ich noch immer mein Handy.