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Für Linda

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Hans Freundl und Sigrid Schmid

ISBN 978-3-492-97335-9

November 2016

© Jonathan R. Krakauer, 2015

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Missoula. Rape and the Justice System in a College Town« bei Doubleday, einem Imprint von The Knopf Doubleday Group, Penguin Random House LLC. Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Covermotiv: Joel W. Rogers/Corbis

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Vergewaltigung ist etwas Einzigartiges. Kein anderes Gewaltverbrechen wird so kontrovers diskutiert, ist so tief verstrickt in die Auseinandersetzungen über Geschlechterpolitik und Sexualität … Und die hitzigsten Debatten auf diesem Gebiet ruft das Thema der Falschbeschuldigungen hervor. Jahrhunderte hindurch behauptete man und ging davon aus, dass Frauen leichtfertig »Vergewaltigung« riefen, dass ein großer Teil der Vergewaltigungsbeschuldigungen erfunden sei, getrieben von dem Verlangen nach Rache oder anderen Beweggründen.

David Lisak, Lori Gardinier,

Sarah C. Nicksa und Ashley M. Cote

»False Allegations of Sexual Assault«

Violence Against Women, Dezember 2010

Vorbemerkung

Vergewaltigungen kommen häufiger vor, als den meisten Menschen bewusst ist, und junge Frauen im Collegealter sind die häufigsten Opfer. In einem Bericht des US-Justizministeriums vom Dezember 2014 wurde festgestellt: »Im Zeitraum von 1995 bis 2013 verzeichneten Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren die höchste Rate an Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen im Vergleich zu Frauen aller anderen Altersgruppen.« In dem Bericht wurde geschätzt, dass in den USA 0,7 Prozent dieser Hochrisikogruppe jedes Jahr zumindest einmal sexuelle Gewalt erleben – das sind ungefähr 110 000 junge Frauen. In dem Bericht ging es in erster Linie um die Dokumentation der Häufigkeit von Delikten, und ihm lag eine relativ enge Definition von sexueller Gewalt zugrunde. Insbesondere wurden die Personen, die an der Erhebung teilnahmen, nicht nach Vorfällen befragt, bei denen sie ihr Einverständnis nicht hatten geben können, weil sie unter Drogen- oder Alkoholeinfluss gesetzt worden waren.

Eine andere Bundesbehörde, die Centers of Disease Control and Prevention (CDC), veröffentlichte im September 2014 einen Bericht, in dem das Problem sexueller Gewalt in gesundheitspolitischer Hinsicht und nicht aus strafrechtlicher Perspektive untersucht wurde und in dem Übergriffen, bei denen Drogen oder Alkohol im Spiel gewesen waren, größere Beachtung geschenkt wurde. Diese Untersuchung ergab ganz andere Zahlen. Auf der Grundlage ihrer 2011 erhobenen Daten schätzte diese Behörde, dass quer durch alle Altersgruppen 19,3 Prozent aller amerikanischen Frauen »einmal in ihrem Leben eine Vergewaltigung erlitten haben«, und stellte fest, dass 1,6 Prozent der amerikanischen Frauen – fast zweieinhalb Millionen – »davon berichteten, dass sie in den zwölf Monaten vor der Erhebung vergewaltigt worden« seien.

Wie die unterschiedlichen Ergebnisse dieser beiden staatlichen Untersuchungen zeigen, ist es unmöglich, mit Sicherheit anzugeben, wie viele Frauen jedes Jahr vergewaltigt werden. Das Ausmaß sexueller Gewalt in Zahlen auszudrücken ist ein in hohem Maße spekulatives Unterfangen, denn mindestens 80 Prozent der Opfer melden das Verbrechen nicht den Behörden. Dieses Buch soll dazu beitragen, zu verstehen, was so viele Vergewaltigungsopfer davon abhält, zur Polizei zu gehen, und die Aus- und Nachwirkungen sexueller Gewalt aus der Sicht der Opfer zu begreifen.

Zu diesem Zweck habe ich in diesem Buch eine Serie von sexuellen Übergriffen in einer bestimmten amerikanischen Stadt – der Stadt Missoula in Montana – im Zeitraum von 2010 bis 2012 dargestellt. Die Opfer dieser Übergriffe waren Collegestudentinnen, allerdings sind junge Frauen, die nicht an einer Hochschule studieren, wahrscheinlich einem noch größeren Risiko ausgesetzt. Doch nicht nur junge Frauen – oder überhaupt nur Frauen – müssen befürchten, Opfer einer Vergewaltigung zu werden. In dem genannten CDC-Bericht wird vermutet, dass auch ungefähr zweieinhalb Millionen amerikanische Männer, das sind 1,7 Prozent der männlichen Bevölkerung, im Lauf ihres Lebens einmal Opfer einer Vergewaltigung werden.

Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich Interviews mit Opfern geführt, mit deren Familien und Bekannten und, wenn möglich, auch mit den Männern, denen diese sexuellen Übergriffe zur Last gelegt wurden, aber ich habe nicht mit allen Opfern gesprochen und auch nicht mit allen mutmaßlichen Tätern. Um möglichst viele Informationen zu sammeln und die Auskünfte meiner Quellen zu überprüfen und zu untermauern, habe ich mich auch ausführlich mit bekannten Psychologen und Rechtsanwälten unterhalten. Ich habe Gerichtsverhandlungen besucht, Tausende Seiten von Gerichtsprotokollen, E-Mails, Briefen, Polizeiberichten und Dokumenten über Disziplinarverfahren an Universitäten gelesen. Ich habe mir Aufzeichnungen von Polizeiverhören und Befragungen vor Disziplinarausschüssen angehört. Ich habe Zeitungsartikel und Berichte von staatlichen Untersuchungskommissionen sowie wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften ausgewertet.

Sämtliche Dialoge, die in diesem Buch zwischen An- und Abführungszeichen erscheinen, sind wörtliche Zitate der betreffenden Personen, wörtliche Zitate einer Person, die berichtet, was er oder sie persönlich gehört hat, wörtliche Zitate aus der Aufzeichnung eines Verhörs oder einer Verhandlung oder wörtliche Zitate aus dem Protokoll eines amtlichen Verfahrens.

Das Buch mag teilweise schwierig zu lesen sein. Einige der Ereignisse, die ich schildere, sind in hohem Maße erschreckend. Zudem treten sehr viele Personen auf, von einigen wurden die Namen geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen. Um den Lesern zu helfen, die Personen auseinanderzuhalten, werden die Namen jener Personen, die mehr als einmal auftauchen, in einem alphabetischen Personenverzeichnis am Ende des Buchs aufgeführt.

Jon Krakauer, im Februar 2015

TEIL EINS

Allison

Sollen wir Frauen als eigenständige Akteure behandeln, die selbst für sich verantwortlich sind? Natürlich. Doch selbst für sich verantwortlich zu sein hat nichts damit zu tun, dass man vergewaltigt wird. Frauen werden nicht vergewaltigt, weil sie zu viel getrunken oder Drogen genommen haben. Frauen werden auch nicht vergewaltigt, weil sie nicht vorsichtig genug waren. Frauen werden vergewaltigt, weil eben jemand sie vergewaltigt.

Jessica Valenti

The Purity Myth

Kapitel 1

Die Firma Office Solutions & Services in Missoula, ein Hersteller von Büromaterial, veranstaltete an 6. Januar 2012 ihre nachträgliche Weihnachtsfeier für das Jahr 2011. Gewissermaßen als kleinen Kontrast zu dem kalten, frostigen Wetter in Montana schmückte die Belegschaft die Räumlichkeiten mit bunten Hawaii-Elementen. Gegen 21 Uhr hatten sich 30 bis 40 Personen eingefunden – überwiegend Firmenmitarbeiter und deren Angehörige –, die sich unterhielten, Gesellschaftsspiele spielten und aus roten Plastikbechern Getränke zu sich nahmen, als eine glänzende Chrysler-Limousine auf den Parkplatz fuhr, der vom Partyraum aus zu überblicken war, und vor den großen, raumhohen Fenstern zum Stehen kam und die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zog. Zwei gut gekleidete Männer mit ernsten Gesichtern stiegen aus und blieben eine Weile neben dem Wagen stehen. »Es war ein sehr schönes schwarzes Auto«, erinnert sich Kevin Huguet, der Inhaber von Office Solutions.

Während er den Wagen bewunderte, fragte einer von Huguets Verkäufern ihn: »Wer sind diese Männer?«

Huguet hatte keine Ahnung. Also ging er nach draußen und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir sind von der Polizei von Missoula«, antwortete der Mann, der den Wagen gefahren hatte. »Ich muss mit Allison sprechen.«

»Allison ist meine Tochter«, erwiderte Huguet, den ein ungutes Gefühl beschlich. »Sie müssen mir schon ein bisschen mehr sagen.«

»Ist schon in Ordnung, Dad«, mischte sich die 20-jährige Allison Huguet ein, die ihrem Vater auf den Parkplatz gefolgt war.

Detective Guy Baker, ein 1,95 Meter großer und 113 Kilogramm schwerer Mann, blickte hinunter auf Allison, eine zierliche junge Frau mit hellen Augen und einem Pferdeschwanz. »Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Wir müssen das nicht hier vor Ihrem Vater erledigen. Wo können wir reden?« Er und Allison gingen ein paar Meter vom Auto weg, um sich ungestört unterhalten zu können, während Detective Mark Blood bei Kevin Huguet blieb.

»Hallo«, sagte Baker zu Allison in einem wärmeren Ton, nachdem sie sich ein Stück weit von den anderen entfernt hatten. Die beiden hatten bereits vor vier Jahren während ihres letzten Jahrs auf der Highschool häufig miteinander zu tun gehabt, als Allison ihn gebeten hatte, bei einem schulischen Projekt als ihr Mentor zu fungieren. Es war für beide eine schöne Erfahrung gewesen. Detective Baker erklärte Allison, warum er sie während der Weihnachtsfeier der Firma aufsuche. »Ich hielt es für wichtig, es Ihnen so schnell wie möglich persönlich mitzuteilen. Vor ungefähr einer Stunde habe ich Beau Donaldson verhaftet. Er hat ein volles Geständnis abgelegt und befindet sich jetzt im Gefängnis.«

Allison traten Tränen der Erleichterung in die Augen.

Drüben beim Auto wurde Kevin Huguet allmählich ungeduldig, als er beobachtete, wie sich Allison und Baker unterhielten. »Also ich will jetzt wissen, was da vor sich geht«, sagte er nach einigen Minuten zu Detective Blood. »Das ist meine Tochter, und ich will wissen, was hier los ist.« Kevin setzte sich in Bewegung und ging hinüber zu Baker.

»Ihre Tochter hat nichts verbrochen«, sagte Baker. »Es handelt sich um nichts dergleichen.« Dann wandte sich der Polizist wieder zu Allison und sagte: »Ich glaube, Sie sollten jetzt wirklich mit Ihrem Vater reden und es ihm sagen.«

Allison schaute ihren Vater an und erklärte mit zitternder Stimme: »Beau hat mich vergewaltigt.«

Kevin stand wie benommen auf dem kalten Gehweg. Er versuchte, zu begreifen, was seine Tochter gerade gesagt hatte, und legte die Arme um sie. Als er sie in den Armen hielt und allmählich zu verarbeiten begann, was Beau Donaldson ihr angetan hatte, verwandelte sich Kevins Schock in blinde Wut.

»Ich dachte, er würde zu Beau laufen und ihn umbringen oder ihm sonst etwas antun«, erzählte mir Allison, als sie sich an die Ereignisse dieses Abends erinnerte.

Beau Donaldson, der zum Zeitpunkt des Vorfalls in seinem dritten Jahr an der University of Montana war, spielte im Footballteam der Hochschule. Allison Huguet hatte ein Stipendium für die Eastern Oregon University. Sie waren beide in Missoula aufgewachsen und seit der ersten Klasse unzertrennlich gewesen, doch aus ihrer Freundschaft war nie mehr geworden.

Donaldson nannte Allison Huguet oft seine »kleine Schwester«, und dieses Gefühl wurde von ihr auch erwidert. In ihrer Kindheit und Jugend war Beau Donaldson für Allison gewissermaßen der Bruder gewesen, den sie nie gehabt hatte. In den vergangenen 16 Jahren hatten Allisons Eltern Beau Donaldson wie ein Familienmitglied behandelt. »Das ganze Leben lang ist man damit beschäftigt, seine Kinder zu beschützen, wenn man welche hat«, erklärte mir Kevin Huguet. »Aber wer rechnet damit, dass der Freund der eigenen Tochter in Wirklichkeit ein Monster ist, das in der Nacht über sie herfällt?«

Allison war ebenso wütend wie ihr Vater, doch ihre Wut war mittlerweile überlagert worden von einer Mischung aus verschiedenen anderen Gefühlen. Donaldson hatte sie am 25. September 2010 vergewaltigt. Sie hatte 15 Monate gewartet und still gelitten, bis sie zur Polizei gegangen war. Während dieser Zeit hatte sie außer ihrer Mutter und zwei oder drei engen Freundinnen niemandem erzählt, dass sie vergewaltigt worden war – nicht einmal ihr Vater und ihre Schwestern wussten davon. Eine solche Zurückhaltung zeigt sich häufig bei Opfern sexueller Gewalt. Nur rund 20 Prozent der Vergewaltigungen werden bei der Polizei angezeigt, was schwer verständlich erscheint, solange man sich nicht näher damit befasst, wie in den USA in rechtlicher Hinsicht mit Fällen sexueller Gewalt umgegangen wird.

Montana ist ein großer, aber relativ dünn besiedelter Bundesstaat. Obwohl Missoula die zweitgrößte Stadt dieses Bundesstaats ist, hat sie nur rund 70 000 Einwohner. Das sympathische und beschauliche Städtchen nimmt auswärtige Besucher sofort für sich ein und bringt nicht wenige dazu, sich schon kurz nach ihrer Ankunft für den Kauf einer Immobilie zu entscheiden. Ungefähr 42 Prozent der Einwohner haben einen Bachelor oder einen höheren Studienabschluss im Vergleich zu 28 Prozent im Rest der USA. Es gibt viele gute Restaurants und lebendige Kneipen. Ein berühmter Forellenfluss, der Clark Fork, rauscht schnell und klar durch die Innenstadt, gesäumt von einer aufgegebenen Bahnlinie, die in einen idyllischen Spazier- und Radweg umgewandelt wurde, der gern von Fußgängern, Radfahrern und Joggern genutzt wird. Südlich des Flusses erstrecken sich die unprätentiösen Wohnviertel der Stadt über ein ausgedehntes Tal, das von fünf Bergketten eingerahmt wird.

Von ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lebte die Stadt hauptsächlich von der Holzwirtschaft im umgebenden Hochland. Vor ungefähr 35 Jahren jedoch geriet die Forstwirtschaft in eine schwere Krise. Die meisten Sägewerke wurden geschlossen, und Holzfäller in schweren Stiefeln und Schutzhosen sah man in der Stadt immer seltener. Eine riesige Papierfabrik pumpte jährlich 45 Millionen Dollar in die lokale Wirtschaft (und erzeugte bisweilen einen giftigen Smog, der sich so dicht über die Stadt legte, dass die Autofahrer tagsüber das Licht einschalten mussten), bis auch sie schließlich 2009 stillgelegt und abgebaut wurde.

Heute ist die University of Montana mit Abstand der größte Arbeitgeber der Stadt. Mit ihren 15 000 Studenten und mehr als 800 Lehrkräften hat die UM, wie sie auch genannt wird, der Stadt mittlerweile ihren Stempel aufgedrückt. In Missoula gibt es auch wesentlich mehr Anhänger der Demokraten als im Bundesstaat insgesamt. Einheimische bemerken gern scherzhaft, in Missoula lasse es sich vor allem deswegen so gut leben, weil es nur 20 Minuten von Montana entfernt liege.

Doch trotz seiner liberalen Grundeinstellung ähnelt Missoula in vielerlei anderer Hinsicht vergleichbaren Städten in den Rocky Mountains. Die Einwohnerschaft besteht zu 92 Prozent aus Weißen, zwei Prozent sind amerikanische Ureinwohner, zwei Prozent Hispanoamerikaner und weniger als ein Prozent Afroamerikaner. Das durchschnittliche Familieneinkommen beträgt 42 000 Dollar. 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die meisten Einwohner Missoulas unterstützen das Recht, Waffen zu tragen, sowie die Forderung, die Bundesregierung solle sich weitgehend aus lokalen Angelegenheiten heraushalten.

Aufgrund der Verbindung des draufgängerischen »Frontier«-Geistes mit den vielfältigen Auswirkungen des Universitätsbetriebs hat sich jedoch in Missoula eine ganz eigene Kultur entwickelt. Die UM, die sich durch ihre Lehrangebote auf den Gebieten der Biologie und der Ökologie bundesweit hervorgetan hat, ist wahrscheinlich aber noch bekannter wegen ihrer Literaturkurse. Für das Creative Writing Program der Universität, das bereits 1920 eingerichtet wurde, waren auch spätere einflussreiche Schriftsteller wie Richard Hugo, James Crumley und William Kittredge eingeschrieben. In einem seiner unvergleichlichen Essays erinnerte sich Kittredge daran, was ihn ursprünglich nach Missoula gezogen hatte:

Ich suchte nach einer echten Welt, in der ich Fuß fassen konnte. Ich wollte jemand sein, den ich verstehen und aushalten konnte – eine romantische Idee, die heute im Westen anscheinend weitverbreitet ist … Die nördlichen Rockies erschienen mir wie ein unentdecktes Land, ein Land voller Geheimnisse, die niemand für sich behalten konnte.

Während eines feuchtfröhlichen Aufenthalts in Missoula im Jahr 1972, als er mit Kittredge zum Angeln ging, verliebte sich Raymond Carver, der bedeutendste Repräsentant des literarischen Minimalismus, Hals über Kopf sowohl in die Stadt als auch in Diane Cecily, die Leiterin des Universitätsverlags. Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Romancier Richard Ford verbrachte in den 80er-Jahren drei oder vier sehr produktive Jahre in Missoula, woran sich die Bürger der Stadt noch immer mit Stolz erinnern. Der am engsten mit der Stadt verbundene Literat ist jedoch Norman Maclean, der Autor von Aus der Mitte entspringt ein Fluss, einer semibiografischen Erzählung, die in Missoula und am nahe gelegenen Big Blackfoot River angesiedelt ist; ihre Verfilmung mit Brad Pitt aus dem Jahr 1992 wurde mit einem Oscar ausgezeichnet.

Doch von Kittredge, Ford oder Big Blackfoot einmal abgesehen, ist Missoulas größter Stolz die Footballmannschaft der University of Montana, die beliebten Grizzlies der Big Sky Conference, die 1995 und 2001 die nationale Meisterschaft der Football Championship Subdivision gewannen. Ihre zwölf aufeinanderfolgenden Titelgewinne bis 2010 waren die zweitlängste Siegesserie in der Geschichte der NCAA Division I. Im Jahr 1995 spendete der milliardenschwere Bauunternehmer Dennis Washington aus Missoula eine Million Dollar für den Bau des Washington-Grizzly Stadium, einer wunderschönen Arena, die 25 000 Besuchern Platz bietet und fast bei jedem Heimspiel ausverkauft ist. Die Bilanz der Grizzlies seit der Eröffnung des Stadions bis 2011 umfasst 174 Siege und nur 24 Niederlagen.

Die Grizzlies spielen nicht auf demselben Niveau wie die großen College-Footballmannschaften wie etwa Florida State, Ohio State oder Alabama. Man muss gerechterweise darauf hinweisen, dass ihre Bilanz wohl weit weniger eindrucksvoll wäre, wenn sie unter den hohen Anforderungen der Big Ten oder der Southeastern Conference spielen müssten anstatt in einer Provinzliga wie der Big Sky. Dennoch rufen die Grizzlies in Missoula dieselbe Art von fanatischer Begeisterung hervor wie die Seminoles in Tallahassee und die Crimson Tide in Tuscaloosa. Die UM-Fans bezeichnen sich selbst als »Griz Nation«. Missoula ist »Grizzlyville«. Die Bedeutung, die die Bewohner des westlichen Montana dem Football der Grizzlies beimessen, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Doch verschiedene Ereignisse der jüngeren Zeit haben zumindest einige Bewohner von Missoula dazu veranlasst, ihre Bewunderung für die Grizzlies zu hinterfragen. Im Dezember 2010 vergewaltigten vier Teamkollegen von Beau Donaldson aus der UM-Footballmannschaft eine Studentin, die zu betrunken war, um sich zu wehren, und weil die Sportler behaupteten, der Sex sei einvernehmlich erfolgt, wurden sie nicht angeklagt. Ein Jahr später, im Dezember 2011, vergingen sich drei Grizzly-Spieler an zwei Studentinnen, nachdem sie diese vermutlich unter Drogen gesetzt hatten. Doch auch von ihnen wurde keiner strafrechtlich belangt.

Als der zweite Vorfall von der Lokalzeitung aufgedeckt wurde, beauftragte UM-Präsident Royce Engstrom die Richterin Diane Barz, die 1989 als erste Frau an den Obersten Gerichtshof von Montana berufen worden war, mit einer Untersuchung. In einem vorläufigen Bericht, der am 31. Dezember 2011 veröffentlicht wurde, schrieb Barz:

Die Untersuchung hat Belege für mehrere Fälle nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs erbracht, die universitätsintern nicht gemeldet wurden. Die Universität ist aufgefordert, umgehend entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

In ihrem abschließenden Bericht, der am 31. Januar 2012 vorgelegt wurde, benannte die Richterin neun Fälle von sexuellen Übergriffen, die von UM-Studenten begangen worden waren (von denen allerdings nicht alle Footballspieler waren). Ganz oben auf der Liste stand die Vergewaltigung von Allison durch Beau Donaldson. Barz warnte:

Die Berichte über sexuelle Gewalt auf dem UM-Campus erfordern unverzügliches Handeln und die rasche Umsetzung der in Title IX vorgesehenen Maßnahmen. … Eine Hochschule, an der Vergewaltigungen toleriert werden, Opfer sexueller Gewalt nur unzulängliche Unterstützung erfahren und Disziplinarverfahren sich als ungerecht erweisen, stellt eine Gefährdung für alle Studenten dar. … Fälle von sexueller Gewalt werden an den Hochschulen vielfach verschwiegen, und viele Opfer sexueller Übergriffe leiden später an Depressionen oder posttraumatischen Störungen, sie neigen zu Drogenmissbrauch oder haben mit schulischen Problemen zu kämpfen.

Der Bericht von Diane Barz erschütterte Missoula. Ein Vierteljahr später gab das US-Justizministerium bekannt, dass es eine Untersuchung über eine Welle sexueller Gewalt im Westen von Montana in die Wege geleitet habe. Die Behörde teilte mit, dass in Missoula in den vergangenen drei Jahren mindestens 80 mutmaßliche Vergewaltigungsfälle angezeigt worden seien und das Justizministerium »sämtliche Übergriffe auf Frauen in Missoula, nicht nur auf Studentinnen«, untersuche.

US-Justizminister Eric Holder erklärte: »Die Anschuldigung, dass die University of Montana, die örtliche Polizei und die Bezirksstaatsanwaltschaft nicht in angemessener Weise gegen sexuelle Gewalt vorgegangen seien, ist sehr bestürzend.«

Die Welle von Vergewaltigungen in Grizzlyville führte zu besorgten Artikeln in vielen großen Zeitungen wie der New York Times oder dem Wall Street Journal. Doch am schädlichsten für das Ansehen Missoulas war ein 3800 Wörter umfassender Artikel auf der Internetseite Jezebel, der neun Tage nach der Erklärung des Justizministeriums erschien. Dieser Artikel von Katie J. M. Baker trug die Überschrift »Mein Wochenende in Amerikas ›Vergewaltigungshauptstadt‹«, und diese abwertende Bezeichnung sorgte für großen Wirbel und für einen Aufschrei der Empörung unter den Einwohnern Missoulas, die sich ungerecht behandelt fühlten.

Aus Bakers bissigem und zugleich einfühlsamem Text ging allerdings auch hervor, dass sie sich nicht sicher war, ob diese Bezeichnung für die Stadt tatsächlich gerechtfertigt war. Die Überschrift des Artikels stammte aus dem zweiten Absatz, in dem sie einen 20-jährigen Drogenhändler aus Missoula zu Wort kommen ließ, der darüber klagte, dass »die Leute meinen, wir wären jetzt die ›Vergewaltigungshauptstadt‹ Amerikas«, aber gleich hinzufügte: »Doch das sind wir nicht. Missoula ist eine ganz gewöhnliche Universitätsstadt.«

Tatsächlich entsprächen 80 Vergewaltigungsfälle in drei Jahren »durchaus dem nationalen Durchschnitt für Universitätsstädte von der Größe Missoulas«, wie Baker in ihrem Text feststellte. Nach aktuellen Statistiken des FBI wurden im Jahr 2012 im Durchschnitt 26,8 Fälle von »erzwungenem Geschlechtsverkehr« in Städten der Größenordnung Missoulas gemeldet, woraus sich für drei Jahre 80,4 Vergewaltigungsfälle ergeben. Mit anderen Worten, die Zahl der Vergewaltigungen in Missoula mag beunruhigend erscheinen, aber wenn die Angaben des FBI stimmen, fällt dies nicht aus dem normalen Rahmen. Das bedeutet, dass Vergewaltigungen in den USA in erschreckend hohem Maß verbreitet sind.

Kapitel 2

Als Allison Huguet fünf Jahre alt war, zog ihre Familie von Kalispell in der Nähe des Glacier-Nationalparks nach Missoula, wo sie sich in dem ruhigen Wohnviertel Target Range ein Haus kaufte, unweit der Stelle, wo der Bitterroot River und der Clark Fork zusammenfließen. Allison besuchte die Grundschule in Target Range und freundete sich rasch mit Beau Donaldson an. In den folgenden zwölf Jahren blieben die beiden eng verbunden.

Im Juni 2008 schlossen Huguet und Donaldson die Big Sky High School ab, wo sich beide als ehrgeizige Schüler und als gute Sportler hervorgetan hatten. Allison Huguet war Mitglied der Leichtathletikmannschaft und wurde in ihrem letzten Highschooljahr auch Stabhochsprungmeisterin von Montana. Beau Donaldson stellte auf dem Footballplatz zehn Schulrekorde auf und wurde als wertvollster Spieler des Teams ausgezeichnet. Als Donaldson ein Stipendium annahm, um an der UM Football spielen zu können, war dies der Lokalzeitung Missoulian einen Artikel wert. »Ich wollte schon immer für die Griz spielen«, erzählte Donaldson der Zeitung. Auch andere Hochschulen hatten Interesse an ihm bekundet, auch die Montana State University in Bozeman, der Erzrivale der University of Montana. Es war eine große Sache für Missoula, dass er sich für die UM entschied.

Huguet war stolz auf Donaldson. »Ich war schon immer der Meinung, dass er sehr intelligent ist«, erzählte sie mir. »Ich freute mich für ihn, als er das Stipendium erhielt. Er stammt aus einer Familie, in der niemand das College besucht hat. Die meisten haben nicht einmal einen Highschoolabschluss.« Allison Huguet verließ Montana nach der Highschool und schrieb sich an der Eastern Oregon University (EOU) ein, wo ihr ein Sportstipendium angeboten wurde. Nach ihrem Wegzug sah sie Beau Donaldson nur noch ein- oder zweimal.

Am 24. September 2010 hielt sich Huguet im Haus ihrer Mutter auf und bereitete sich auf ihre Rückkehr nach La Grande in Oregon vor, wo sie ihr drittes Jahr an der EOU beginnen sollte. An diesem Abend erhielt sie einen Anruf von ihrer Freundin Keely Williams, die ihr vorschlug, zu einer Party zu gehen, die Beau Donaldson in seinem Haus, das er im Universitätsviertel von Missoula gemietet hatte, veranstaltete. Williams war ebenfalls in Target Range aufgewachsen und kannte Allison Huguet, seit diese mit ihrer Familie nach Missoula gekommen war. Nachdem sie die Big Sky High School gemeinsam mit Huguet und Donaldson abgeschlossen hatte, hatte Williams die Stadt verlassen, um an der Portland State University zu studieren. Nun besuchte sie gerade für eine Woche ihre Eltern in Missoula. Als Williams Allison Huguet erzählte, dass auch die meisten Leute aus der Clique, mit der sie schon als Kinder um die Häuser gezogen waren, auf Donaldsons Party sein würden, erklärte sich Huguet begeistert dazu bereit, ebenfalls hinzugehen.

Keely Williams fuhr. Als sie gegen 22 Uhr an Donaldsons Haus ankamen, freuten sie sich, so viele Freunde aus Kindertagen wiederzusehen. »Als wir nach oben geführt wurden, kam mir sofort Beau entgegen, und ich umarmte ihn«, erinnerte sich Huguet. »Es war ein schöner Abend. Alle waren locker und entspannt und amüsierten sich.« Einige Gäste spielten Beer Pong im Keller und veranstalteten »Teerennen«, bei denen es darum ging, wer am schnellsten eine Flasche Twisted Tea austrinken konnte (einen sirupartigen Malzlikör, der von den UM-Studenten besonders geschätzt wurde).

Es war ein Freitagabend, und das Griz-Footballteam sollte am Samstagnachmittag gegen die Sacramento State University spielen, aber Donaldson hatte sich im vergangenen Sommer eine schwere Sprunggelenksverletzung zugezogen und war noch nicht wieder einsatzfähig. Er schüttete genüsslich alkoholische Getränke in sich hinein. In der Gesellschaft der alten Freunde, die sie so selten sahen, tranken auch Huguet und Williams mehr als gewöhnlich.

Gegen 1 Uhr 30 löste sich die Party allmählich auf, und die wenigen Leute, die noch anwesend waren, gingen nach oben ins Wohnzimmer. Donaldson und Huguet saßen nebeneinander auf einem Sofa. Huguet, die allmählich müde wurde, legte ein Kissen auf Donaldsons Oberschenkel, bettete ihren Kopf darauf und streckte sich auf dem Sofa aus. Diese Geste habe jedoch nicht im Entferntesten eine sexuelle Komponente gehabt, beteuerten Huguet und Williams später. »Allison hatte niemals Interesse an einer solchen Beziehung mit Beau«, beharrte Williams. »Wirklich niemals.«

Ein anderer Schulkamerad aus Target Range, Sam Erschler*, der ebenfalls in Donaldsons Haus wohnte, drängte Keely Williams und Allison Huguet, nicht nach Hause zu fahren, weil sie zu viel getrunken hätten. »Das war sehr fürsorglich von ihm«, räumte Huguet ein. »So ist Sam eben. Er sorgt sich immer um andere. Er sagte: ›Ihr könnt doch hier übernachten und auf dem Sofa schlafen.‹ Schließlich haben wir Ja gesagt.«

Kurze Zeit später stand Donaldson vom Sofa auf, ging nach unten, und Allison Huguet schlief voll angezogen auf der Couch ein. Huguet schlief gerne auf Sofas. Auch zu Hause verbrachte sie die Nacht oft lieber auf der Couch als in ihrem Bett. Keely Williams machte sich unterdessen auf die Suche nach einem leeren Bett und wurde auch bald fündig. »Es war sogar schon bezogen«, erzählte sie. »Ich dachte mir, wenn wir hier übernachten müssen, dann will ich in diesem Bett schlafen.«

Nachdem sie das leere Schlafzimmer entdeckt hatte, kehrte Williams ins Wohnzimmer zurück, um Huguet zu holen. Sie rüttelte sie wach und sagte zu ihr: »Ali, willst du dich nicht in ein richtiges Bett legen? Ich werde oben in diesem Zimmer schlafen, dort ist ein Bett.«

»Nein, ist schon gut hier«, erwiderte Huguet schlaftrunken. »Ich bleibe hier.« Williams brachte eine Decke und breitete sie über ihre Freundin, dann kehrte sie in das Schlafzimmer zurück. Als sie ging, war Allison Huguet die einzige Person, die sich im Wohnzimmer aufhielt. Alle übrigen Anwesenden schliefen anscheinend bereits in anderen Räumen.

Ungefähr zwei Stunden später wurde Allison Huguet aus dem Schlaf gerissen. Es war noch dunkel. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa, ihre Jeans und ihre Unterwäsche waren herabgezogen worden. »Ich erinnere mich, dass ich aufwachte, weil ich Beau stöhnen hörte und einen heftigen Druck und starke Schmerzen spürte«, sagte sie später aus. Beau Donaldson lag auf ihr und drang von hinten mit seinem Glied in ihre Scheide ein. »Ich öffnete die Augen, aber nur ein wenig«, erinnerte sie sich. »Schon allein von seinem Stöhnen wusste ich, dass er es war.«

Obwohl sie Angst hatte, zwang sie sich, die Augen geschlossen zu halten, und wartete darauf, dass er zum Ende kam. Allison Huguet ist Leistungssportlerin, und sie hatte auch schon einige Selbstverteidigungskurse absolviert. Sie ist 1,65 Meter groß und wog damals 59 Kilo. Beau Donaldson brachte 104 Kilo auf die Waage und spielte in der NCAA Division I sowohl als Verteidiger als auch als Linebacker. Sie dachte sich, wenn er sie vergewaltigen wollte, während sie schlief, dann würde er auch nicht davor zurückschrecken, ihr ernsthaft wehzutun, um ihren Widerstand zu ersticken oder sie daran zu hindern, um Hilfe zu rufen. »Er hätte mir ohne Weiteres den Hals wie ein Ästchen zerbrechen können«, erklärte mir Huguet. »Deshalb lag ich nur da und tat so, als würde ich schlafen.« Donaldson verging sich weitere fünf Minuten an ihr, bis er schließlich in ihr kam. Er hatte sich kein Kondom übergezogen.

Als er fertig war, zog er ihre Jeans ein Stück weit hoch, warf die Decke über sie und ging wortlos hinaus. Wie gelähmt blieb Allison Huguet eine Weile regungslos liegen, bis sie sicher war, dass Donaldson den Raum verlassen hatte. Dann griff sie sich ihre Schuhe und ihr Handy, schlich auf Zehenspitzen durch die Küche, verließ durch eine Hintertür das Haus und lief den Kiesweg hinab, um jemanden zu finden, der ihr helfen konnte. Als Donaldson Huguet die Hose herabgezogen hatte, hatte er den Knopf abgerissen und den Reißverschluss beschädigt, daher versuchte sie im Laufen, mit der Hand, in der sie die Schuhe trug, auch ihre Hose oben zu halten, während sie mit der anderen Hand die Nummer ihres Freundes wählte.

»Ich wusste nicht, warum ich ihn anrief«, erzählte Allison. »Er war nach Colorado gezogen. Er hätte mir überhaupt nicht helfen können. Ich glaube, ich konnte in diesem Augenblick nicht klar denken. Ich rief ihn zweimal an, aber er meldete sich nicht.«

Während sie weiterlief, wählte Allison als Nächstes die Nummer ihrer Mutter. »Als das Telefon läutete«, erzählte mir Beth Huguet, »schaute ich auf die Uhr. Es war 4 Uhr 11 am Morgen. Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein heiseres Krächzen. Es klang nach Panik, aber es kam sonst nichts. Ich wusste, es war Allison, auch wenn sie nichts sagte. Das werde ich nie vergessen. Das wird mich den Rest meines Lebens verfolgen.«

»Mom!«, brachte Allison schließlich heraus. »Er ist hinter mir her! Hilf mir! Rette mich, Mom!« Donaldson hatte irgendwie mitbekommen, dass Allison aus dem Haus geflüchtet war, und lief ihr nach.

»Ich hatte erst ein paar Sekunden mit meiner Mutter telefoniert, als ich plötzlich jemanden hinter mir hörte und sah, dass Beau mich verfolgte«, erzählte Allison. Wenige Augenblicke später streifte seine Hand ihren Rücken, und er fasste sie von hinten. »Ich schrie ins Telefon: ›Er hat mich vergewaltigt!‹, gerade in dem Moment, als er mich packte. Meine Mutter rief: ›Lauf weiter!‹« Allison wusste, dass Donaldson mehrere Schusswaffen besaß. Sie habe versucht, sich seinem Griff zu entwinden, erzählte sie: »Ich dachte, er würde mich töten. Ich rechnete damit, dass ich sterben würde.«

Sie rannte noch schneller die Allee hinunter und versuchte verzweifelt, Donaldson wegzustoßen, der an ihr zerrte. Allison achtete nicht darauf, dass ihre nackten Füße sich an den Kieselsteinen verletzten. »Ich versetzte ihm beim Laufen einen Stoß«, berichtete sie. »Ich weiß nicht, ob ich irgendetwas zu ihm gesagt habe. Ich habe nur mit meiner Mutter gesprochen. Und ich machte mir große Sorgen, denn der Akku in meinem Handy war schon schwach, und ich wusste, es würde bald ausgehen.«

Zwischen dem Schluchzen und Keuchen von Allison konnte Beth hören, wie Donaldson sagte: »Nein, Allison! Bleib stehen! Komm zurück! Sag nichts! Ich werde alles wiedergutmachen. Komm mit mir ins Haus zurück!«

»Seine Stimme klang so ruhig«, sagte Beth, die Lehrerin an einer Highschool ist. »Das war das Bestürzendste an dem Ganzen: Wie ruhig er war. Wie aufgelöst sie war und wie ruhig und gefasst er war. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.« Während sie mit Allison sprach, zog sich Beth Huguet rasch etwas an, stieg in ihren Wagen und raste mit 100 Stundenkilometern die South Avenue hinab zum Universitätsviertel, während sie ständig in ihr Mobiltelefon rief: »Lauf, Allison, lauf!«

Dann hörte Beth, wie Allison sagte: »Jetzt ist er nicht mehr hinter mir! O mein Gott, er läuft mir nicht mehr nach!« Aus irgendeinem Grund hatte Donaldson die Verfolgung aufgegeben und war umgekehrt. »Ich konnte es nicht fassen, dass Beau von mir abgelassen hatte«, erinnerte sich Allison. »Ich hatte ernsthaft geglaubt, er hätte eine Waffe und würde mich erschießen.« Obwohl er nicht mehr hinter ihr her war, rannte Allison weiter.

Beth erinnerte sich, dass Donaldson irgendwo im Universitätsviertel wohnte, aber dieses Gebiet ist ziemlich groß, und Allison wusste die Hausnummer nicht und auch nicht, in welcher Straße das Haus lag. Schließlich aber konnte Allison durchgeben, dass sie sich in der Nähe des Fußballplatzes befand, der an der South Avenue liegt, und Beth fuhr so schnell wie möglich in diese Richtung.

»Ich war barfuß und musste immer noch meine Hose festhalten, als ich die Allee hinter mir ließ und auf die South Avenue kam«, erzählte Allison. »Und da war meine Mutter.« Mittlerweile war der Akku in Allisons Handy leer, daher lief sie in die Mitte der Straße und brachte Beth durch Winken zum Anhalten.

»Sobald ich sie sah, wusste ich, dass etwas Schreckliches geschehen war«, sagte Beth. »Als sie herkam, humpelte und stolperte sie. Als sie in den Wagen stieg, begann sie, vor und zurück zu wippen, und schluchzte erbärmlich. Ich wendete und fuhr auf schnellstem Weg zum Community Hospital. Ich wusste, dass sie angegriffen worden war, aber ich wusste nicht, was genau passiert war.«

Einige Minuten nachdem sie gewendet hatten und auf dem Weg zum Krankenhaus waren, fiel Allison ein, dass sich Keely Williams noch immer in Donaldsons Haus befand und schlief und nichts von der Gefahr ahnte, in der sie schwebte. »Keely!«, schrie Allison. »Wir müssen umkehren und Keely holen!« Während Beth wendete und den Van wieder in Richtung von Donaldsons Haus steuerte, wählte Allison Keelys Nummer. »Beau hat mich gerade vergewaltigt!«, schrie sie ins Telefon, nachdem sich Williams gemeldet hatte. »Du musst sofort weg! Du musst sofort aus dem Haus verschwinden! Meine Mutter und ich warten draußen auf dich!«

Keely Williams griff nach ihrer Handtasche, schlüpfte in ihre Schuhe und flüchtete. Sie beeilte sich so sehr, dass sie sich im Dunkeln mit dem Kopf an der Türkante stieß und sich ein blaues Auge holte. »Ich rannte aus der Garage, und da waren sie auch schon«, berichtete sie mir. »Ich sprang auf den Rücksitz des Wagens. Allison saß vorn, zusammengekauert, und weinte. Sie wollte sich nicht umdrehen. Als ich sie so sah, fing auch ich zu weinen an und sagte, wie leid mir das alles tue.«

Als Keely Williams mehr als zwei Jahre später von diesen Ereignissen berichtete, begann sie zu schluchzen. »Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich diejenige war, die darauf gedrängt hatte, diese Party zu besuchen, um unsere alten Freunde wiederzusehen«, erzählte sie mir, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Ich bin gefahren, und dann habe ich zu viel getrunken, um uns wieder heimzubringen. Und ich habe Allison auf dem Sofa allein gelassen, weil ich in einem richtigen Bett schlafen wollte. Wenn wir einfach gegangen wären oder ich zusammen mit ihr in dem Schlafzimmer oder auf der Couch geschlafen hätte, dann wäre das alles nicht passiert. Ich weiß, ich muss mich nicht schuldig fühlen, aber ich tue es. Wie konnte ich sie dort nur allein lassen?«

»Du hast mich allein gelassen«, erwiderte Allison, »weil keine von uns einen Grund hatte, anzunehmen, dass uns in diesem Haus und in der Gesellschaft unserer Freunde Gefahr drohen würde. Wir haben ihnen völlig vertraut.«

* Name geändert.