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1. Auflage 2016

© 2016 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Julia Jochim

Umschlaggestaltung: Verena Frensch, München

Umschlagabbildung: Foto © privat; Hintergrund: © shutterstock/focal point, shutterstock/Fat Jackey

Fotos aus dem Innenteil: © privat

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, München

ISBN Print: 978-3-86883-977-7

ISBN E-Book (PDF): 978-3-95971-328-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-329-0

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»Man kann den Soldaten aus dem Krieg nehmen,

man kann aber den Krieg nie wieder

aus dem Soldaten nehmen.«

Bernhard Drescher – Bund Deutscher Veteranen e.V.

Danke an Oberstleutnant Ralph Pfeffer vom ABC-Abwehrbataillon 7 in Höxter für die engagierte Unterstützung und die offen gewährten Einblicke in die Arbeitsweise der Bundeswehr.



Für meine Eltern

Inhalt

Impressum

Dank

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Über den Autor

Prolog

»Gib Gas, Stracki, wir müssen hier weg, sofort!« Der Kommandant unseres Transportpanzers spricht angespannt, aber ruhig und sieht nervös aus dem Fenster. »Ich habe soeben die Meldung bekommen, dass ein Fahrzeug mit IED unterwegs ist. Es soll ein weiß-gelbes Taxi sein!«

Ich atme tief durch. Es kann also ernst werden, sehr ernst. IED ist die Abkürzung für »improvised explosive device«. Man kann es auch einfach ausdrücken: Irgend jemand möchte uns in diesem Land in die Luft fliegen sehen.

Ich trete das Gaspedal des 17 Tonnen schweren Gefährts vorsichtig durch. Mein Herz rast. Ich habe Angst.

Wir sind auf dem Weg nach Kabul. Genauer nach ›Antenna Hill‹, so nennt man die Funkstation für unsere Einsatzkräfte, um dort eine Fernmeldestelle zu kontrollieren. Von unserem internationalen ›Camp Warehouse‹ sind es bis dorthin gerade mal knapp 25 Kilometer, aber wir sind schon mehr als eine Stunde unterwegs. Die Straßen sind hier in der afghanischen Hauptstadt sehr belebt, und der Verkehr ist nicht so geregelt wie bei uns. Viele Fußgänger laufen auch auf den Fahrwegen herum, dazu kommen Eselskarren, Handwagen, Fahrräder und klapprige Autos. Es herrscht ein ständiges Gedrängel und Durcheinander, begleitet von unablässigem Gehupe und den lauten Stimmen der Menschen – und all das wird im Führerhaus noch vom dumpfen Röhren des Motors überlagert.

Ich muss als Fahrer extrem konzentriert sein, damit in diesem Chaos kein Unfall passiert, und so kommen wir nur im Schritttempo voran. Die Afghanen sind geduldig. Ich normalerweise auch. Aber heute, mit dieser Nachricht im Kopf, habe ich nur noch einen Wunsch: ich will so schnell wie möglich weg hier und mich und meine Kameraden in Sicherheit bringen.

Doch das ist im Moment nicht so leicht. Ich sitze dick bepackt mit Helm und Weste am Steuer, die Waffe, eine G36, steht rechts neben mir, die Pistole, eine P8, trage ich am rechten Bein im Halfter. Mit mir im Auto sind der Kommandant an der hinteren Luke und zwei Kameraden, einer steht an der vorderen Luke, der Funker sitzt auf der Rückbank. Wir führen den Trupp aus drei Fahrzeugen an und sind über Funk mit der Einsatzleitung im Camp und den anderen Fahrzeugen hinter uns verbunden. Die Fahrt war bislang ruhig, ohne besondere Vorkommnisse. Zumindest kam es uns so vor. Das heißt aber nicht, dass man so entspannt fährt wie in Deutschland.

Wir sind auf Patrouillen im Einsatzgebiet immer hellwach, versuchen alles, was um uns herum passiert, irgendwie einzuordnen. Sieht der Marktstand normal aus? Warum steht ein Eselskarren schiefer als die anderen auf der Straße? Was bedeutet das gelbe Schild, das eine Spur zu demonstrativ an der Hauswand angebracht ist? Wir haben ein eintrainiertes Raster im Kopf, durch das alle Informationen laufen, alles, was wir sehen und hören, und bei der kleinsten Unregelmäßigkeit gehen die roten Signallampen in unseren Köpfen an und signalisieren: Achtung! Gefahr! Lebensgefahr!

Und jetzt erreicht uns diese Information.

»Verdammt«, zische ich und lenke den TPz an der nächsten Kreuzung auf eine Ausfahrtstraße. Zum Glück ist hier weniger Verkehr. Ich drücke das Gaspedal durch. Der TPz, die übliche Abkürzung für unseren Transportpanzer, kann bis zu 120 Stundenkilometer fahren. Mit etwas Glück können wir das sichere Lager schnell erreichen. Aber was nützt es, wenn uns die Taliban bis dahin einen Sprengsatz auf die Straße legen. Wir wissen genau: die richtige Menge Zündstoff knackt jeden Panzer, auch unseren. Wir haben reichlich Bilder von ausgebrannten Wracks gesehen. Und was hilft der Hinweis auf ein gelb-weißes Taxi? Wir sind in Kabul. Es wimmelt von Taxen in diesen Farben.

Was war das? Ich höre das typische Pin, Pin. Das Geräusch, wenn Kugeln auf Metall treffen, das ich nur zu gut kenne. Mein Herz stolpert jetzt, ich schnappe nach Luft und da ist wieder das flaue Gefühl im Magen, das ich immer spüre, wenn die Angst in mir aufsteigt, und meine Hände zittern.

»Bloß weg hier. So schnell wie möglich«, murmele ich und steuere das Fahrzeug jetzt in Zick-Zack-Schlangenlinien kreuz und quer über die breite Straße, um es aus der Schusslinie zu bringen. Aber ich darf dabei aufgrund der Minenlage niemals von der Straße abkommen.

Der Kommandant, meine Kameraden, wir alle sind hoch angespannt. Wir wissen nicht, was wirklich los ist. Wir haben Angst, eine gottverdammte Angst.

In meinem Kopf überschlagen sich jetzt die Bilder. Das Trainingslager in Hammelburg, die Einsatzübungen in Gerolstein. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir zu Hause einen Kampfeinsatz geprobt haben. Aber es waren eben Proben, daheim in Bayern oder in Westfalen, in der sicheren Heimat. Auch wenn man noch so akribisch alles nachstellt, weiß man, dass es nur ein Spiel ist. Wir haben Krieg gespielt. Aber jetzt ist er Wirklichkeit. Jetzt fliegen mir in Afghanistan sprichwörtlich die Kugeln der Taliban um die Ohren, und jede einzelne kann tödlich sein. Pin, Pin. Das war die Fahrertür. Pin, Pin. Und das war die Motorhaube.

»Los, noch schneller«, brüllt mein Kommandant ins Mikrofon. Seine Stimme klingt jetzt im Kopfhörer schon fast panisch verzerrt. »Stracki, mach schon« ruft er noch einmal.

»Alles okay!«, zische ich und sehe im Rückspiegel nach den beiden anderen Fahrzeugen. Gott sei Dank! Wir sind noch zusammen! Mit starrem Blick versuche ich das ratternde Fahrzeug so schnell wie möglich durch den inzwischen immer leerer wirkenden Kabuler Vorort zu lenken. Ich darf jetzt nicht den kleinsten Fehler machen. Ich habe die Verantwortung. Es sind die Augenblicke, in denen man funktioniert, weil man weiß, dass es um alles geht. Was sind das für merkwürdige Autos vor uns? Moment, die parken doch falsch herum! Sind wir in einen Hinterhalt geraten?

Die Explosion ist ohrenbetäubend, die zeitgleiche Druckwelle erfasst das ganze Fahrzeug, scheint die 17 Tonnen wie ein Gummiboot vom Boden zu drücken.

Tut sterben eigentlich weh? Der Himmel ist blau. Pin, Pin, ein Vogel sitzt im Baum und sieht zu mir herunter. Es ist eine Amsel. Susi, Mama, ich liebe euch. Mein Mund ist so trocken. Der Sand. Ich werde mich nie daran gewöhnen, ihn ständig zwischen den Zähnen zu haben. Ich schmecke Blut. Mir wird warm. Es ist vorbei, ich sterbe, hier, weit weg von zu Hause, in Afghanistan. Warum?

»Rrrrrrrrr«, »Rrrrrrr« – mein Wecker surrt. Ich schrecke auf. Wo bin ich? Im Lager? Wo sind die Taliban? Ich bin jetzt sofort hellwach, greife mit der rechten Hand nach meinem Gewehr. Aber es ist nicht da. Glas scheppert. Hilfe! Im selben Moment sitze ich aufrecht im Bett. »Wo ist die verdammte Waffe«, brülle ich meine Not heraus. »Was sind das für Kameraden, die einem das Gewehr klauen. Und ein Wasserglas hat in der Stube hier auch nichts zu suchen.«

Ich schließe die Augen, sacke erschöpft zurück nach hinten in mein Bett, versuche gleichmäßig zu atmen und langsam wieder zur Ruhe zu kommen. Die Scherben meines Wasserglases glitzern in der Morgensonne. Es war alles mal wieder nur ein Traum, genauer ein Albtraum. Aber er ist vorbei. Ich bin zu Hause in Miltenberg und in Sicherheit.

Kapitel 1

»Sieh mal, Mutti, der Strand hier sieht aus wie gemalt. Kaum zu glauben, dass es so etwas wirklich gibt!«

Es ist Juni 2001 und ich sitze mit meiner Familie in der Küche am Esstisch. Mutti hat gekocht. Es gibt Spaghetti und Tomatensauce, dazu meinen Lieblingssalat, frischen Eisberg mit viel Zitrone. Während wir es uns schmecken lassen, zeige ich Fotos der herrlichsten Karibikstrände. Ich habe sie von Esther bekommen. Sie ist aus Dresden, Ende zwanzig und arbeitet seit einiger Zeit im Restaurant meiner Tante Erika als Bedienung. Esther hat einmal auf dem echten »Traumschiff« gejobbt, also dem Kreuzfahrtschiff, auf dem die berühmte Serie gedreht wird. Tante Erika hat ihr Lokal in Bautzen. Da trifft man selten Menschen, die die Welt gesehen haben. Aber jetzt ist ja Esther da, und ich liebe es, ihr zuzuhören. Sie erzählt von dem quirligen Leben in Singapur, den Tempeln von Sri Lanka und eben von den Traumstränden in der Karibik oder auf Hawaii. Die Fotos, die ich von ihr bekommen habe und jetzt meiner Familie zeige, hat sie alle selbst gemacht.

»Das ist gar kein Sand, das ist Puderzucker«, staunt meine Mutter und gibt das Foto gleich an meinen Vater weiter, der auch ganz große Augen bekommt. »Unglaublich«, meint er und hält das Bild jetzt meinem fünf Jahre jüngeren Bruder Mario hin, der nur ungläubig den Kopf schüttelt. »Wo ist das? Können wir da nicht einmal hinfliegen?«

»Das ist in der Karibik, genauer auf Curacao«, kläre ich ihn auf und sage ihm auch gleich, dass es bis dahin ein Zehn-Stunden-Flug ist.

»Hier, sieh auch mal, Papa, das ist eine Aufnahme aus Jamaika«, sage ich und spreche den Inselnamen aus wie eine Melodie. »Schon der Name klingt wie Wellen, die an den Strand plätschern, findest du nicht?«

Mein Vater muss jetzt schmunzeln. »Komm, Junge, jetzt bleib’ mal wieder in der Heimat. Wie war es eigentlich heute im Haseneck?«

Mit der Frage holt er mich aus meinen sonnigen Fernweh-Träumen zurück in den harten Alltag. Das Restaurant »Zum Haseneck« ist mein Ausbildungsplatz. 80 Sitzplätze, Außenterrasse, traditionell-elegante Einrichtung und eine Küche vom Feinsten, und das sage ich nicht, weil ich dort arbeite. Das Essen ist wirklich gut. Ich bin im dritten Lehrjahr als Koch, und meine Spezialität ist Kaninchen in Rotweinsauce.

»Viele Stammgäste fragen vor der Bestellung erst, ob du in der Küche bist. Sie meinen, es schmeckt bei dir am besten«, hat mir mein Chef vor Kurzem gesagt, und ich bin mächtig stolz auf das Kompliment. Es gefällt mir auch gut dort. Das Arbeitsklima ist klasse. Ich lerne viel. Vermutlich werde ich mit dem Abschluss in der Tasche auch übernommen. Aber ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will. Insgesamt ist mir das alles zu langweilig. Ich habe ganz andere Pläne, und heute erzähle ich die auch.

»Wenn ich fertig bin, haue ich ab«, sage ich jetzt laut und weiß, dass ich damit meine ganze Familie aufschrecke.

»Wohin willst du denn? In den Westen?«, fragt mich meine Mutter sofort, und ich habe auf genau diese Frage gewartet. Sie glaubt nämlich, dass ich drüben leichter Arbeit finden kann, wenn ich im »Haseneck« nicht bleiben kann. Mutti hat immer Angst, dass ich arbeitslos werden könnte. Bei ihrer Geschichte ist diese Angst auch nicht überraschend. Sie ist gelernte Erzieherin und hat bis zur Wende einen guten Job in einer Kinderkrippe gehabt. Aber nach 1989 brach hier erst einmal alles zusammen. Mutti wurde arbeitslos und ist es bis heute geblieben. Sie schlägt sich mit Ein-Euro-Jobs durch. Vater hatte Glück. Er hat bei einem VEB als Kraftfahrer gearbeitet und ist nach der Wende gleich vom neuen Eigentümer übernommen worden. Er muss sich keine Sorgen machen. Gott sei Dank! Deshalb geht es uns auch recht gut. Wir haben eine schöne Plattenbauwohnung am Stadtrand von Bautzen, einen VW-Golf und fahren zweimal im Jahr in die Ferien. Vor der Wende sind wir im Sommer regelmäßig an der Ostsee gewesen und im Winter häufig im Altvatergebirge in der Tschechei.

Nach der Wende haben wir uns viel angesehen. Die Eltern waren mit uns auf Mallorca, Korfu und in der Türkei. Finanziell geht es uns gut. Aber wir haben andere Sorgen. Denn Mario, mein 14-jähriger Bruder, ist krank. Er leidet an einer schweren Form der Epilepsie, die erst festgestellt worden ist, als er sieben Jahre alt war. In seinem Gehirn ist in unregelmäßigen Abständen die Blutzufuhr unterbrochen. In schlimmen Zeiten passiert das mehrmals in der Stunde, in guten nur alle paar Tage. Gemerkt haben wir anfangs nichts. Er kam uns eher schusselig vor, und ich habe mich sogar über meinen kleinen Bruder lustig gemacht, wenn er während seiner Anfälle seinen Kakao verschüttete oder etwas auf den Boden fallen ließ. Mit der Zeit wurde es immer schlimmer, und er kippte einfach um. Die Wahrheit kam nach und nach ans Licht, und die ganze Familie war geschockt.

Zum Glück konnte die Epilepsie mit Medikamenten behandelt werden, aber Mario muss seitdem nach einem strikten Tagesrhythmus leben, mit viel Schlaf und ganz viel Regelmäßigkeit. Und damit das bei einem Kind klappt, haben meine Eltern ihn immer im Auge. Mario muss immer zur gleichen Zeit frühstücken, Mittag- und Abendessen und grundsätzlich um 19 Uhr ins Bett. Er darf sich nicht aufregen und deshalb auch nicht von mir geärgert werden, und er braucht besonderes Essen und den besten Platz vor dem Fernsehapparat. Überhaupt dreht sich bei uns seit Jahren alles um Mario und eigentlich nichts um mich, zumindest empfinde ich das so.

»Das ist doch Unsinn«, meint meine Mutter immer. »Sei doch nicht eifersüchtig auf deinen Bruder, der so krank ist. Sei doch glücklich, dass du gesund bist und dir alles leicht fällt.«

Mein Vater sieht das genauso. »Bei dir läuft es von selbst. Es ist schön, dass wir uns nicht auch noch um dich sorgen müssen.«

Natürlich bin ich froh und dankbar, gesund zu sein. Aber mir tut es trotzdem seit Jahren richtig weh, dass immer nur Mario im Mittelpunkt der Familie steht. Stundenlang wird über ihn gesprochen, und wenn ich mal etwas sage, hört überhaupt keiner zu. Wenn Mario in der Schule eine Zwei geschrieben hat, war das Tagesgespräch. Die Anerkennung prasselte auf ihn nieder wie ein Platzregen. »Wir sind so stolz auf dich« und »das ist die verdiente Belohnung, weil du dich so sehr bemüht hast« oder auch »du bist eben ein super Junge«.

Meine Zwei wurde mit einem »weiter so« kommentiert. »Du schreibst doch immer gute Noten«, sagte mir Mutti einmal ganz verdutzt, als ich mich über ihre gelassene Reaktion auf die Zwei in Mathe beklagte. Mag sein, aber ich hätte mich trotzdem gefreut, wenn ich nur einmal für eine gute Note einen ähnlichen Jubelsturm erlebt hätte wie Mario. Wenigstens ein einziges Mal.

Aber ich habe vergebens darauf gewartet, mich zu freuen. Bis ich schließlich aufgegeben habe und mir einfach keine Gedanken mehr darüber machen wollte. Ich bin eben die Nummer 2 im Hause Strack. Daran muss ich mich gewöhnen. Basta! Egal was ich auch machen werde, ich kann meinen Bruder in puncto Aufmerksamkeit nicht überholen.

»Das hat doch mit unserer Liebe zu dir nichts zu tun«, hat mir Mutti einmal gesagt, als ich mal wieder ziemlich bissig auf die ausführliche Schilderung eines seiner Schwächeanfälle reagiert habe. Ich hatte es einfach nicht mehr hören wollen, wie schlecht es ihm ging, und angefangen dazwischenzureden. Ich wollte Aufmerksamkeit. Mutti hat es gemerkt und mir eben deutlich gesagt, dass es nicht um das Maß an Liebe ginge, das sie für uns beide empfinde. Sie liebe uns beide gleich. Aber die Sorge um Mario, die sei größer als die Sorge um mich, und das müsste ich doch verstehen.

Nein, ich verstand es damals nicht und kann es auch heute nicht so sehen. Ich fühle mich einfach immer nur zweitklassig. Aber natürlich liebe ich meinen Bruder. Wenn nur diese verdammte Konkurrenz nicht wäre.

»Wohin du willst?«, höre ich meine Mutter noch einmal fragen und schrecke aus meinen Gedanken hoch.

»Entschuldige, ich war gerade abgelenkt«, sage ich lächelnd.

Und dann erzähle ich von meinen Plänen.

»Ich möchte wie Esther die Welt sehen und dabei Geld verdienen. Auf einem ›Traumschiff‹ ist das möglich. Wenn ich in drei Monaten mein Abschlusszeugnis bekomme, werde ich mich sofort bei der Reederei bewerben«, sage ich bestimmt. Mutti ist jetzt richtig neugierig. »Bei welcher denn?«, fragt sie gezielt. Und ich verrate, dass ich mich schon im Internet informiert habe und die AIDA-Reederei anschreiben möchte. Auch Papa und Mario sind plötzlich hellhörig.

»Verdient man wirklich das Doppelte an Bord. Das habe ich einmal gelesen«, will Papa wissen.

»Und kommst du mit dem Schiff auch nach Japan?«, fragt Mario dazwischen. »Ich habe einen irre spannenden Film gesehen. Das muss echt schön sein dort.«

Ich kann beides nicht beantworten.

Aber an diesem Abend geht uns der Gesprächsstoff nicht aus. Wir unterhalten uns angeregt und lebhaft. Papa holt sogar eine Weltkarte aus dem Schrank, und dann sitzen wir da bei Salzstangen und Fruchtsaft und lassen unsere Finger über die Kontinente gleiten, und vor meinen Augen tauchen die Bilder der schönsten Landschaften der Welt auf. Ich sehe Strände und Hochgebirge, riesengroße Städte und die Weite der Wüsten, in deren Leere nur der Wind pustet. »Ihr werdet sehen, irgendwann spaziere ich über die Große Mauer in China und werde euch ein Bild davon mitbringen,« träume ich mich so weit weg wie möglich.

»Ich beneide dich«, sagt Mutti später, als sie mich an der Haustür mit einem Kuss verabschiedet. »Es ist schön, dass du noch so herrlich träumen kannst. Du bist jung, hast keine Verantwortung. Du kannst alles machen. Die Welt steht dir offen.«

Ich nicke. Sie hat so recht. Ich möchte auch in die Welt ziehen, alles sehen und nicht hier, im Osten der Bundesrepublik, zwischen Mikrowelle und Plattenbau versauern.

Und dann schiebe ich mein Moped zufrieden durch die Nacht, genauer nur vier Eingänge weiter zu meiner kleinen Einraumwohnung, und kann es kaum erwarten, dass mein Leben bald richtig bunt und spannend wird. Natürlich liebe ich auch meine Heimatstadt Bautzen. Ich mag die Gegend und habe viele Freunde hier. Aber ich habe auch genug von der Enge. Nicht nur der in den Gassen, sondern auch der in den Köpfen. Hier lässt man sich nicht gern auf Neues ein.

Bautzen ist klein. Was es zu sehen gibt, habe ich bereits gesehen. Was man erleben kann, habe ich mitgemacht. Ich bin 19 Jahre alt und will hier nicht noch mehr Zeit vertrödeln. Ich will etwas sehen, nein nicht etwas, ich will alles sehen. Aber ich bin auch nicht weltfremd. Ich weiß mit meinen 19 Jahren auch, dass ohne Geld nichts geht. Im Moment verdiene ich im 3. Lehrjahr 450 Euro brutto, dazu bekomme ich noch 70 Euro Ausbildungszuschuss. Meine erste eigene Wohnung kostet 167 Euro monatlich, dazu kommen die Kosten für das Benzin für mein Moped, damit ich zu meinem Arbeitsplatz fahren kann.

Gut, ich komme mit dem Geld zurecht, aber es reicht auch wirklich nur zum Überleben. Reisen sind damit nicht möglich. Und genau das fehlt mir. Ich bin bis jetzt gerade ein paar Mal am Mittelmeer gewesen und habe wunderbare Bilder vor Augen. Die schöne Altstadt von Palma de Mallorca oder die verwinkelten Gassen von Side. Ich sehe das alles noch ganz genau vor mir. Aber diese Bilder im Kopf reichen mir nicht. Der Rest der Welt ist weiße Fläche. Das darf nicht so bleiben. Ich will meine Festplatte im Kopf mit vielen bunten und richtig spannenden Eindrücken füllen.

Später, in meinem Bett, lese ich mit meinem PC auf den Knie die Arbeitsangebote der Reedereien durch. In ein paar Wochen ist es so weit. Dann habe ich den Gesellenbrief als Koch in der Tasche. Dann kann ich meine Bewerbungen schreiben, und noch in diesem Jahr, da bin ich mir ganz sicher, steche ich in See.

***

Um neun muss ich spätestens im Lokal sein. Meine Chefin bereitet heute jede Menge Bratkartoffeln für die Pfannengerichte vor, und ich muss einen riesigen Berg an Gemüse schneiden. Ich blicke schnell auf die Uhr. Es ist schon Viertel vor Neun. Das wird verdammt knapp. Wenn viel Verkehr ist, komme ich garantiert zu spät. Aber ich bin im Moment nicht bewegungsfähig, stehe da wie angewurzelt und fühle mich fix und fertig.

Gerade habe ich in meinem Briefkasten ein Schreiben vom Kreiswehrersatzamt gefunden. Ich soll am 30.10.2001 zur Musterung. Bingo! Ich bin schockiert, denn dieser Brief wirft alle meine schönen Pläne über den Haufen.

Vor eineinhalb Jahren sollte ich schon einmal zur Musterung. Ich habe damals angerufen und gesagt, dass ich eine Ausbildung mache und unmöglich jetzt meinen Grundwehrdienst antreten kann.

Das war in Ordnung. Aber jetzt weiß man, dass ich bald fertig sein werde, und bringt sich wieder in Erinnerung. Und was soll ich jetzt tun? Ich bin ratlos. Wie geht mein Leben jetzt weiter? Wenn ich zur Musterung gehe und als einsatzfähig eingestuft werde, unterliege ich der Wehrüberwachung. Das heißt, ich muss jederzeit damit rechnen, einberufen zu werden. Wenn ich dann auf meinem »Traumschiff« bin, die Einberufung bekomme und wieder von Bord gehen muss, nehmen sie mich dort bestimmt kein zweites Mal, und ich werde die Welt vielleicht nie mehr sehen. Meine Güte, ich lebe seit meinem dritten Lebensjahr in demselben Plattenbau mit meinen Eltern und habe es jetzt gerade mal vier Hauseingänge weiter geschafft. Soll das schon alles gewesen sein?

***

»Sandro Strack? Bitte gehen Sie direkt in den San-Bereich!« Ich stehe im Auskunfts- und Beratungszentrum des Kreiswehrersatzamtes und bin aufgeregt wie vor einer Klassenarbeit. Heute muss ich hier ein strammes Programm absolvieren. In den kommenden Stunden werde ich nicht nur körperlich auf den Kopf gestellt, um zu prüfen, in welcher Truppengattung man mich später einsetzen kann, ich muss auch eine Art Intelligenz- und Reaktionstest durchlaufen. Rechnen und Schreiben wird getestet, aber auch Schnelligkeit und Abstraktionsvermögen. Es ist anstrengend, macht aber auch Spaß. Zumal ich zum Glück recht erfolgreich bin. Ich schneide sowohl körperlich als auch geistig gut ab. Sechs Stunden später erfahre ich, dass ich »wehrdiensttauglich mit Einschränkungen« bin: ich bin farbenblind. Aber anscheinend stört das nicht. Der Wehrdienstberater fragt mich jedenfalls, wo ich mich später sehe: Heer? Marine? Luftwaffe?

»Ich weiß nicht so recht!«, antworte ich verunsichert, überlege aber nicht lange. Da mir Wasser und Luft fremd sind, sage ich schnell »Heer«.

»Wenn Sie keine Vorlieben haben, plane ich Sie für die Panzerartillerie ein«, meint mein Berater, der sich mit seinem Dienstgrad Hauptfeldwebel bei mir vorgestellt hat.

Er ist höchstens Ende Zwanzig, trägt eine graue Uniformjacke, und sein Barett liegt neben einem Stapel Bewerbungsmappen. Er spricht klar und deutlich, besonnen und konzentriert. Dabei lächelt er mir immer wieder aufmerksam zu.

»Na, was meinen Sie? Gefällt Ihnen das?«, hakt er nach.

Ich denke nur: Warum nicht? Ich habe sowieso keine Vorstellung, was ich bei der Armee tun kann und soll. Panzer klingt gut. Ich bin dabei.

»Und wann?«, will ich wissen.

»Über den Zeitpunkt kann ich Ihnen jetzt noch keine konkreten Angaben machen«, meint er, nach wie froh ausgesprochen freundlich. »Wir informieren Sie schriftlich über Dienstantritt und Dienstort!«

Ich nehme es hin. Alles ist mir so fremd hier. Es ist eine eigene Welt mit eigenen Regeln. Die Abläufe sind straff durchorganisiert. Termine werden fast auf die Minute eingehalten. Alle tragen Uniform. Ich fühle mich nicht unwohl, vielleicht ein bisschen überrumpelt, weil der ganze Tag so schnell an mir vorbeizieht.

»Lassen Sie mich noch etwas ergänzen«, spricht mein freundlicher Berater weiter und legt mir jetzt ein paar Formulare hin, auf denen er mit seinem Stift Angaben markiert. »Sehen Sie, Sie können den Grundwehrdienst von neun Monaten freiwillig verlängern. Überlegen Sie doch, ob Sie nicht 12, 15, 21 oder 23 Monate bleiben wollen oder ob Sie Zeitsoldat werden möchten. Aber dann müssen Sie sich noch einmal in Berlin beim Zentrum für Nachwuchsgewinnung bewerben«, spult er mir sein Angebot herunter. Ich bin irritiert. Darüber habe ich noch nie nachgedacht.

»Ich möchte nur den Grundwehrdienst machen«, sage ich schnell. Ich muss ihm doch nicht auf die Nase binden, dass ich ganz andere Pläne habe. Ich will nach Ko Samui, da legen viele Schiffe an. Und ganz bestimmt nach Singapur. Aber ich muss akzeptieren, dass ich dorthin nur komme, wenn ich den Umweg über die Bundeswehr nehme.

Mein Kopf schwirrt. Kaserne statt Plattenbau, Neunburg statt Honolulu. Anders geht es nicht. Ich habe Angst, dass ich das Heft des Handelns für mein Leben aus der Hand gebe.

Erst als ich herausgehe, begreife ich, dass ich einen riesengroßen Fehler gemacht habe. Wenn ich den normalen Grundwehrdienst mache, muss ich warten, bis man mich einberuft. Dann bin ich zum Abwarten verdammt und kann selbst nicht mehr planen. Das passt mir alles gar nicht.

In der Nacht schlafe ich schlecht. In sechs Wochen ist meine Prüfung als Koch. Wenn ich mich verändern will, müsste ich jetzt kräftig Bewerbungen schreibe. Aber das ist alles Unsinn. Mit dem Einberufungsbescheid in der Tasche bin ich ständig in Warteposition und vergeude vermutlich wertvolle Zeit. Aber ich brauche Klarheit.

Nach einem Gespräch mit meinen Eltern setzte ich mich noch am folgenden Abend an meinen PC und schreibe einen Brief an das Kreiswehrersatzamt. Inhalt: »Planen Sie mich bitte nach meiner Gesellenprüfung unmittelbar ein! Ich bin bereit für 23 Monate.« Honolulu kann noch zwei Jahre warten!

Keine Woche später ist die Erklärung zum »Freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst« da. Als ich sie unterschreibe, lese ich sehr wohl den Passus mit dem Auslandseinsatz.

»Die BRD hat grundsätzlich ihre Bereitschaft erklärt, sich an Friedensmissionen auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen zu beteiligen. Solche mit dem Verfassungs- und Völkerrecht in Einklang stehenden Friedensmissionen im Ausland oder außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen (besondere Auslandsverwendungen) umfassen sowohl friedenserhaltende Maßnahmen als auch friedenserzwingende Kampfeinsätze.«

Deutschland hat demnach eine Friedensarmee. Ich denke an Brunnen, die wir in Afrika bauen, und an Einsätze im Katastrophenschutz. An einen Kampfeinsatz denke ich damals nicht eine Sekunde.

***

Es ist brütend heiß, hinter mir und meinen zwei Dutzend Kameraden liegt ein Sechs-Kilometer-Marsch mit 20 Kilo Gepäck. Mein Rücken schmerzt entsetzlich, meine Füße sind voller Blasen, und ich habe das Gefühl, dass es keinen Knochen mehr in meinem Körper gibt, der nicht lädiert ist.

Wir sind auf Biwak und fühlen uns alle nur noch elend. Jetzt müssen wir Äste sammeln und unser Lager tarnen, danach sollen wir ein Zelt bauen. Wie denn, wenn man zu müde ist, einen Hammer zu halten? Es ist für mich der dritte Tag im Feld, ich habe in den letzten 48 Stunden gerade mal sechs Stunden geschlafen, mein Schädel brummt und meine Augen tränen.

»Los, los«, brüllt der Feldwebel. »Ein bisschen Tempo!«

»Würde ich gern«, murmelt mein Kamerad neben mir. »Aber ich bin gleich mausetot. Dann braucht ihr für mich kein Zelt mehr.«

Erik ist wie ich in der Grundausbildung und bemüht sich gerade fast schon verzweifelt, einen großen Ast aus dem Dickicht zu ziehen.

»Ich kriege das verdammte Biest nicht hier heraus«, schnaubt er und ich packe sofort mit an, obwohl ich bestimmt keine große Hilfe mehr bin.