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Titus Müller · Eberhard Münch

Glücklich
der Mensch

Geschichten und Bilder
aus dem Leben des Franz von Assisi

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Glücklich der Mensch,

der seinen Nächsten trägt

in seiner ganzen Gebrechlichkeit.

Wie er sich wünscht,

von jenem getragen zu werden

in seiner eigenen Schwäche.

Glücklich der Mensch,

der seinen Bruder ebenso liebt und fürchtet,

wenn er weit entfernt ist,

wie wenn er bei ihm ist.

Der nichts hinter seinem Rücken sagt,

was er vor ihm in Liebe nicht sagen könnte.

Glücklich der Mensch,

der bei Tadel freundlich und ruhig bleibt.

Glücklich der Mensch,

der sich nicht vorschnell rechtfertigt.

Der demütig Beschämung und Tadel erträgt

Für ein Vergehen, an dem er schuldlos ist.

Glücklich der Mensch,

der beim Reden nicht alles von sich gibt

im Blick auf Lohn.

Der nicht unbedacht redet,

sondern weise voraussieht,

was er sagen muss und antworten.

Glücklich der Mensch,

der so demütig lebt,

bei denen, die ihm untertan sind,

als wären sie seine Herren.

Franz von Assisi

Franziskus05_2013_295x420.tif

Originalformat 29,5 x 42 cm (Ausschnitt)

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Originalformat 29,5 x 42 cm

1

„Du wirst noch früh genug aufgespießt, François.“ So nannte Vater ihn immer, wenn er ihn an die glorreiche Zukunft der Familie erinnern wollte, die in seinen Augen nur in Frankreich liegen konnte. „Eines Tages wirst du an Turnieren teilnehmen und der Name Bernardone wird in aller Munde sein. Aber jetzt hilf mir, die Ladentür zuzunageln.“

Franziskus schob das Schwert zurück in die Scheide und hielt das Brett fest, während Vater mit dem Hammer die Nägel in den Türrahmen trieb. „Ich muss zum Amphitheater“, sagte er. „Alle anderen sind längst dort.“

Seelenruhig hob der Vater ein weiteres Brett an. „Erst kommt die Arbeit, François, dann das Vergnügen. Wir müssen unser Geschäft schützen. Das ist auch in deinem Interesse.“

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der Stier in unser Haus läuft.“

„Nicht der Stier, Junge, sondern die Meute, die vor ihm flieht. Und das bekommt den feinen Wolltuchen nicht, die gerade erst aus Flandern eingetroffen sind.“

Als die Tür endlich zu Vaters Zufriedenheit verrammelt war, hastete Franziskus los. Schon läuteten die Kirchenglocken zur Vesper: das Signal. Er hörte das aufgeregte Johlen der Menge. Wohin würde der Stier sich wenden, wenn sie die Tore des Amphitheaters öffneten?

Das Johlen ging in Kreischen über. Er bog ab, orientierte sich. Offenbar stürmte der Stier in Richtung der Piazza San Rufino. Kaum hatte Franziskus den Platz betreten, ergoss sich aus der Straße gegenüber eine panische Menschenmenge. Männer, die vor Vergnügen und Angst jauchzten, hetzten ihm entgegen. Er wich zur Seite aus und stellte sich an eine Hauswand, um nicht niedergetrampelt zu werden.

Da kam er, ein prächtiger, weißer Stier. Er trabte auf den Platz und blieb stehen. Stolz und unbezwungen sah er sich um. Ein Muskelpaket mit gewaltiger Brust. Er preschte auf einen Nachzügler los, holte ihn ein und warf ihn mit den Hörnern hoch in die Luft. Wie eine Puppe flog der Mann zu Boden. Ehe der Stier ihn aufspießen konnte, stürmte Franziskus vor, um ihn von seiner Beute abzulenken. „He, hierher!“, rief er.

Die Äuglein des Stiers funkelten zornig. Er donnerte auf Franziskus zu. Franziskus sah sich nach einer Tür um. Die Bewohner des Hauses, an dem er eben gelehnt hatte, winkten ihm, sie hielten ihm die Tür auf. Er schlüpfte hinein und sie konnten die Tür gerade noch hinter ihm schließen.

„Das war knapp“, sagten sie.

Draußen schnaubte wütend das Tier.

„Das ist doch nichts für dich, Francesco.“ Sein Retter, ein älterer Tuchfärber, mit dem sie von Zeit zu Zeit Geschäfte machten, sah ihn voller Sorge an.

Die Frau des Tuchfärbers ergänzte: „Du wirst dich noch verletzen.“

Sie konnten sich ja mit Vater zusammentun und den Stier aus dem Fenster mit faulem Gemüse bewerfen, wie es die kleinen Mädchen taten. „Verletzen? Ich werde den Stier zur Strecke bringen“, sagte er. Bevor sie ihm weiter Vorhaltungen machen konnten, trat er wieder nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Der Stier war fort. Man hörte aber entzücktes Angstgeschrei von der Piazza del Comune. Franziskus machte sich sofort auf den Weg dorthin.

Auf dem Marktplatz fand er den Stier von Menschen umgeben. Wohin das Tier sich auch wendete, wohin es mit dem gesenkten Kopf voranstieß, die Menge wich vor ihm zurück und teilte sich wie Wasser.

Ein Übermütiger blieb stehen. Erbost rannte der Stier auf ihn zu. Der Mann ließ sich zu Boden fallen und der Stier galoppierte über ihn hinweg. Der Mann stand auf und rieb sich den schmerzenden Rücken, rief dem Stier aber einen Fluch hinterher, um zu beweisen, dass er nicht eingeschüchtert war.

Franziskus entdeckte seine Freunde auf den Stufen des Minervatempels. Sie neckten den Stier, wedelten mit roten Tüchern und stießen Pfiffe aus, um sich, wenn er herandonnerte, rasch hinter die korinthischen Säulen des Tempels zu retten. Der Stier lief in seiner Wut sogar die Treppe hinauf.

Im Tempel befand sich die Kirche des Heiligen Donatus. Bestimmt gab es später Ärger, weil sie den Stier die Kirchenstufen hinaufgelockt hatten.

Das Tier trabte eine Runde auf dem Platz. Franziskus nutzte die Gelegenheit, um zu seinen Freunden zu gelangen. Luca und Samuele begrüßten ihn mit Schulterklopfen. Nur Matteo spottete: „Wollte Papi dich nicht gehen lassen? Du musstest wohl noch einen Stoffballen ausmessen.“

„Halt besser den Mund, Luca“, erwiderte er. „Abgerechnet wird nach Sonnenuntergang.“ Tatsächlich dämmerte es bereits. Nicht mehr lange, dann durften sie den Stier angreifen. Das war die Regel: Bis zum Abend ließ man das Tier durch die Stadt toben, und in der Dämmerung wurde es gestellt und getötet. Sich dem wütenden Stier entgegenzuwerfen, wagten nur die Mutigsten. Heute würde er dabei sein, und er wollte es sein, der den entscheidenden Stich führte. „Wie wäre es, wenn wir ihn in die Gasse locken, die zur Santa Maria Maggiore führt?“, schlug er vor. „Dann kann uns keiner den Braten wegschnappen.“

Die drei waren sofort Feuer und Flamme. Mit ihren Tüchern machten sie den Stier auf sich aufmerksam und rannten vom Marktplatz. Er verfolgte sie wutschäumend. Franziskus sah den Schrecken in den Augen der Leute, die vor ihm zur Seite sprangen. Er gab alles, er rannte, dass seine Füße wie hektische Hammerschläge den Boden trafen. Trotzdem holte der Stier auf. Franziskus spürte das Beben unter seinen Füßen und hörte das Schnaufen des Tiers in seinem Rücken. Jeden Moment konnten ihn die spitzen Hörner berühren. Er rettete sich mit einem Hechtsprung über einen Zaun. Als er sich umwandte, sah er mit Entsetzen, dass ihm der Stier nachkam, er sprang über den Zaun, stieß im Sprung dagegen und riss ihn um.

Seine Freunde pfiffen und wedelten mit ihren Tüchern, aber offenbar hatte der Stier sich entschieden. Er wollte Franziskus zur Strecke bringen. Franziskus riss das Schwert aus der Scheide. Er sah den breiten Schädel auf sich zurasen, das schaumtriefende Maul, wie sollte er ihn zur Strecke bringen, wenn ihm der Bulle nur die Hörner und die harte Stirn darbot und keinerlei weiche Angriffsfläche?

Mit Gebrüll stürzte sich Matteo von der Seite auf das Tier. Er versenkte sein Schwert in dessen Bauch. Der Bulle strauchelte, kurz bevor er Franziskus erreicht hatte, und bog seinen Körper zur Seite. Von der eigenen Wucht weitergedrängt, fiel er auf die Schulter, Franziskus konnte gerade noch ausweichen, da krachte der Koloss vor ihn hin. Aber das Tier stand augenblicklich wieder auf, um Jagd auf Matteo zu machen. Der hatte nun keine Waffe mehr.

Franziskus sah den Körper des Bullen wie einen Berg Muskelfleisch vor sich. Er nahm das Schwert mit beiden Händen und rammte es in den massigen Leib, dort, wo er das Herz vermutete. Der Bulle brüllte auf. Sein gewaltiger Körper spannte sich. Dann brach er zusammen.

Samuele und Luca brachen in Jubel aus. Die Stelle im Zaun, die durchbrochen war, füllte sich mit immer mehr Menschen. Matteo kam heran, nahm Franziskus’ Hand und riss sie in die Höhe. „Wir zwei, wir haben ihn getötet!“, rief er.

Vor ihnen zuckten noch die Beine des Bullen. Blut lief ihm aus den Wunden in Bauch und Brust, es befleckte das weiße Fell. Franziskus sah, dass der Bulle noch um Atem rang, und wie ihm die Augen brachen.

Da tat ihm das Tier leid. Hatte Gott nicht auch den Stier wunderbar geschaffen? Mit welchem Recht quälten sie ihn und trieben ihn durch die Stadt, nur um den Kitzel der Gefahr zu spüren? Franziskus ließ Matteo los und kauerte sich nieder zum sterbenden Stier. Er legte ihm die Hand auf die Brust. Sie war verschwitzt und warm. Du wolltest weiterleben, dachte er, und wir haben dich gereizt und zu Tode gehetzt.

Er musste daran denken, wie er als Kind Regenwürmer gerettet hatte, wenn sie nach einem Schauer auf den hart getrampelten Weg gekrochen waren und nun zu vertrocknen drohten. Wie er Schnecken in den Schatten gebracht hatte. Wie er eine Mücke, anstatt sie zu erschlagen, geduldig bei sich Blut trinken lassen hatte. Er hatte damals geglaubt, alle diese Tiere würden eines Tages zu seinem Grab kommen, wenn er gestorben war, und weinen.

„Jetzt feiern wir erst mal!“, sagte Matteo. „Ich kann’s kaum erwarten, Julia von unserer Heldentat zu erzählen. Heute küsst sie mich, darauf verwette ich mein Schwert!“

„Ich komme nach.“ Als sie noch jünger gewesen waren, hatte Matteo einmal einer Fliege die Flügel ausgerissen, und sie hatten sich daran ergötzt, wie das verkrüppelte Tier über den Tisch hüpfte. Das war ihm schon damals widernatürlich und abstoßend erschienen. Warum hatte er nicht früher erkannt, dass es mit dem Stierkampf genauso war?

Er stand auf. Dutzende Männer gratulierten ihm. Er musste sich regelrecht losreißen. Auf dem Weg nach Hause dachte er an Georg, den Drachentöter. Hatte der auch Mitleid mit dem Untier gehabt, kaum, dass er die Lanze in seinen Leib versenkt hatte?

Schon als Kind hatte ihn die Geschichte vom Drachentöter fasziniert. Das Fresko in San Giorgio war vor seinen Augen lebendig geworden, wenn der alte Priester, der ihn in Rhetorik und Grammatik unterrichtete, die Geschichte von Georg und dem Drachen erzählte. Sagte er seine Lektion fehlerfrei auf, durfte er sich die Geschichte wieder und wieder wünschen. Er konnte sich daran nicht satthören. Die Kraft des Guten, die über das Böse triumphierte – so hatte er kämpfen und Heldenmut beweisen wollen. Der Drache hatte sich aufgebäumt und Georg hatte ihm den Spieß in den beschuppten Leib gestoßen.

Aber den Stier zu töten, das war kein Heldenmut gewesen. Ein unnötiger Tod war es, mehr nicht.

Zu Hause wartete Vater bereits auf ihn. „Großartig, mein Junge! Ich habe immer gewusst, aus dir wird was! Dir stiehlt kein Räuber auf den Handelsreisen die Waren. Mutig wie ein Edelmann bist du, du hast es in dir.“ Er überreichte ihm eine prall gefüllte Geldkatze. „Feiert anständig. Heute wird nicht geknausert!“

Wie bitte? Was war nur in seinen Vater gefahren? Pietro di Bernardone ließ neben dem Tuchhandel keine Gelegenheit aus, um verarmten Adligen für einen mickrigen Betrag Felder und Gärten und Waldstücke abzuschwatzen. Er feilschte mit jedem Kunden ums Geld, er schalt sogar die Mutter, wenn sie teure Krebspastete einkaufte! Wie kam es, dass er plötzlich so großzügig war?

„Nimm mich mit“, flehte Angelo, sein kleiner Bruder.

Franziskus legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Das geht nicht. Du bist zu jung.“

„Aber nächstes Jahr!“ Angelo blickte bewundernd zu ihm hoch. Er schien tatsächlich eine Art Drachentöter in ihm zu sehen.

Franziskus wog die Geldkatze in der Hand. Das versprach, ein großartiger Abend im Wirtshaus zu werden. Er würde es sein, der den Wein in Strömen fließen ließ. Die Freunde würden ihn lieben! Zwar fühlte es sich wie Verrat am verendeten Stier an, aber lebendig wurde der auch nicht davon, wenn er Vaters Geschenk ausschlug.

Wenig später saß Franziskus an einer langen Tafel unter freiem Himmel, geröstete und gesalzene Vögel vor sich, guten Wein im Becher, und sang Lieder. Luca schlug das Tamburin im Takt dazu, Matteo spielt Flöte und Samuele zupfte die Laute. Franziskus langte nach einem weiteren Rebhuhnflügel und biss in das knusprige Fleisch.

Die schönen Mädchen Assisis tanzten um die Tische herum, sie tanzten die Farandole, immer im Kreis, der Wein hatte sie erhitzt. Vielleicht würde es zum Nachtisch nicht nur Kuchen aus Honig und Mandeln geben.

Der Stier war vergessen.

2

Wenn er vor etwas Angst hatte, dann war es Lepra. Der Aussatz unterschied nicht zwischen Arm und Reich, und wen er befallen hatte, der war verurteilt, über viele Jahre allmählich dahinzusterben. Franziskus schauderte beim Anblick des Aussätzigen, der allein in der Abenddämmerung über das Feld stakste.

„Fall nicht hin“, spottete Luca, „sonst brichst du dir ein Bein ab!“

Sie lachten. Es war kein fröhliches Lachen, sie lachten aus einer hässlichen Hilflosigkeit heraus, um die Macht zu verspotten, die dieser Aussätzige über sie hatte, die Macht, den Tod zu bringen. Der Vermummte reagierte nicht auf ihren Spott. Er blieb stehen und sah stumm zu ihnen herüber.

„Wollen wir doch mal sehen, ob er sich an die Regeln hält“, sagte Matteo und stieg vom Pferd. Er trat auf die vermummte Gestalt zu.

Erschrocken ließ diese die Ähren fallen, die sie von den Halmen gerissen hatte. Sie nestelte an ihrem Gürtel, zog eine hölzerne Klapper heraus und schlug sie, zur Warnung, wie es vorgeschrieben war.

„Kommt schon, es wird dunkel, lassen wir ihn“, sagte Franziskus. Das Feld gehörte seinem Vater, aber er konnte dem Aussätzigen nicht böse sein, dass er Ähren raufte. Welche Wahl hatte der Mann? Manchmal, wenn der Diebstahl überhandnahm, zogen Bewaffnete aus Assisi los und machten Jagd auf die Aussätzigen, dann gab es für eine Weile Ruhe. Man entschuldigte die Brutalität, indem man sagte: Früher oder später sterben sie ja sowieso.

Dieses Klappern war fürchterlich. Als könnten Wesen, die auf der Schwelle zwischen Leben und Tod standen, keine menschlichen Laute mehr von sich geben, nur ein schauerliches Scheppern.

Franziskus stellte sich die abgefaulten Glieder unter den Lumpen vor und das von Geschwüren zerfressene Gesicht. Besaß die Gestalt überhaupt noch einen linken Arm? Oder war es nur mehr ein Stumpf? Der rechte Arm und die rechte Hand waren vorhanden, mit denen schlug die Gestalt die Klapper.

„Matteo, lass ihn“, versuchte er es noch einmal.

Matteo zog sein Schwert, als wollte er den Kranken erschlagen. Der Aussätzige humpelte unter Angstgeheul davon.

„Den sehen wir hier nicht wieder“, sagte Matteo befriedigt, steckte das Schwert weg und stieg wieder auf sein Pferd.

Samuele stichelte: „Oder er kommt nachts, wenn du schläfst, mit ein paar seiner Leidensgenossen, und sie stecken dich an.“

Als sie auf dem Weg nach Hause am Siechenhaus vorbeikamen, machten sie einen weiten Bogen darum. Sie führten die Pferde einhändig und hielten sich demonstrativ die Nasen zu. „Riecht ihr das?“, fragte Matteo. „Widerwärtig! Können die sich nicht waschen!“