Das Hügelgrab auf der Landzunge

»Dies ist der Cairn, den Sie suchen«, sagte ich und legte die Hand behutsam auf einen der rauen Steine, aus denen sich der seltsam symmetrische Haufen zusammensetzte.

In Ortalis dunklen Augen brannte reges Interesse. Sein Blick wanderte über die Landschaft, kam dann zurück und blieb auf dem großen Haufen verwitterter Steinbrocken haften.

»Was für ein wilder, merkwürdiger, öder Ort«, sagte er. »Wer hätte gedacht, hier so etwas zu finden? Abgesehen von dem Rauch, der dort hinten aufsteigt, käme man doch im Traum nicht auf den Gedanken, dass hinter dieser Landzunge eine große Stadt liegt! Hier ist ja kaum eine Fischerhütte zu sehen.«

»Die Leute meiden den Cairn, meiden ihn seit Jahrhunderten«, sagte ich.

»Warum?«

»Das haben Sie mich schon einmal gefragt«, erwiderte ich ungeduldig. »Ich kann dazu nur sagen, dass sie heute aus Gewohnheit einen Bogen um etwas machen, um das ihre Vorfahren aus Wissen einen Bogen geschlagen haben.«

»Wissen!« Er lachte spöttisch. »Aberglaube!«

Ich sah ihn ernst und mit unverhohlenem Hass an. Größere Gegensätze als zwischen uns beiden konnte es zwischen zwei Männern kaum geben. Er war schlank, selbstsicher, mit seinen dunklen Augen und seinem kultivierten Wesen unübersehbar ein südländischer Typ. Ich bin kräftig gebaut, schwerfällig, habe kalte, blaue Augen, stets zerzaustes rotes Haar und wirke wie ein Bär. Landsleute waren wir insoweit, als dass wir im selben Land zur Welt gekommen sind, aber die Heimat unserer Ahnen war so weit voneinander entfernt wie der Süden vom Norden.

»Nordischer Aberglaube«, wiederholte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Südländer ein solches Geheimnis über all die Jahre unerforscht lassen würden. Dazu sind sie zu praktisch, zu prosaisch, wenn Sie so wollen. Wissen Sie sicher, aus welchem Jahr dieser Haufen stammt?«

»Ich habe in keinem Manuskript vor 1014 n. Chr. Hinweise darauf gefunden«, knurrte ich, »und ich habe all die existierenden Manuskripte im Original gelesen. MacLiag, der Poet des Königs Brian Boru, erwähnt, dass der Cairn unmittelbar nach der Schlacht errichtet worden ist, und es kann kaum Zweifel daran geben, dass er damit diesen Steinhaufen meint. Dann wird er in den späteren Chroniken der Vier Meister kurz erwähnt, ebenfalls im Book of Leinster, das um 1150 zusammengestellt wurde, und dann wieder im Book of Lecan, das die MacFirbis um 1416 erstellt haben. Und alle bringen den Cairn mit der Schlacht von Clontarf in Verbindung, ohne dabei zu erwähnen, weshalb er gebaut wurde.«

»Na und, was ist daran Geheimnisvolles?«, wollte er wissen. »Was wäre natürlicher, als dass die besiegten Wikinger über dem Leichnam eines großen Häuptlings, der in der Schlacht gefallen war, einen Cairn errichten?«

»Zunächst einmal ist die Existenz des Cairns von Geheimnissen umwoben«, erwiderte ich. »Über den Toten Cairns zu errichten, war Brauch der Wikinger, nicht der Iren. Aber den Chroniken nach haben diesen Haufen nicht die Wikinger errichtet. Wie hätten sie ihn unmittelbar nach der Schlacht errichten können, in der man sie doch niedergemetzelt und in wilder Flucht durch die Tore von Dublin getrieben hat? Ihre Häuptlinge lagen dort, wo sie gefallen waren, und die Raben haben ihre Knochen abgenagt. Nein, diese Steine haben irische Hände aufgetürmt.«

»Na und, war das so ungewöhnlich?«, bohrte Ortali. »In alten Zeiten haben die Iren Steine aufgehäuft, ehe sie in die Schlacht gingen. Jeder Mann hat einen Stein hingelegt, und nach der Schlacht haben die Lebenden ihre Steine wieder weggenommen, und auf die Weise konnte jeder, der die verbliebenen Steine zählen wollte, feststellen, wie viele erschlagen worden waren.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das war in einer viel ferneren Vergangenheit, nicht in der Schlacht von Clontarf. Zunächst einmal waren an dieser Schlacht mehr als zwanzigtausend Krieger beteiligt, und hier sind viertausend gefallen; dieser Cairn ist nicht groß genug, dass er sozusagen als Zählliste der Getöteten gedient haben könnte. Und er ist viel zu symmetrisch gebaut. Kaum ein Stein ist in all den Jahrhunderten heruntergefallen. Nein, man hat den Cairn errichtet, um etwas darunter zu verstecken.«

»Nordischer Aberglaube«, spottete Ortali erneut.

»Na, meinetwegen. Aberglaube!« Sein Spott hatte mich so wütend gemacht, dass ich es zornig aus mir herausstieß und er unwillkürlich einen Schritt rückwärts machte und mit der Hand unter seinen Mantel fuhr. »Wir in Nordeuropa hatten Götter und Dämonen, mit denen verglichen die blassen Mythologien des Südens geradezu kindisch wirken. Zu einer Zeit, wo Ihre Vorfahren sich zwischen den zerbröckelnden Marmorsäulen einer im Zerfall begriffenen Zivilisation auf seidenen Kissen räkelten, haben meine Vorfahren unter großen Mühen und in gigantischen Schlachten ihre eigene Zivilisation gegen menschliche und nicht-menschliche Feinde aufgebaut.

Hier, auf genau dieser Ebene, ging das Dunkle Zeitalter zu Ende, und das Licht einer neuen Ära dämmerte schwach über einer Welt voll Hass und Anarchie. Hier, und das wissen selbst Sie, brachen im Jahr 1014 Brian Boru und seine dalcassianischen Axtkämpfer für alle Zeit die Macht der heidnischen Wikinger – jener finsteren, anarchistischen Plünderer, die jahrhundertelang den Fortschritt der Zivilisation aufgehalten haben.

Es war mehr als nur ein Machtkampf zwischen Gälen und Dänen um die Krone Irlands. Es war ein Krieg zwischen dem weißen Christus und Odin, zwischen Christen und Heiden. Es war der letzte Kampf der Heiden – der Menschen einer alten, düsteren Zeit. Dreihundert Jahre lang hatte sich die Welt unter dem Joch der Wikinger gewunden, und hier, auf Clontarf, wurde dieses Joch für alle Zeit zerschlagen.«

»Damals wie heute wurde die Wichtigkeit jener Schlacht von höflichen lateinischen und latinisierten Schriftstellern und Historikern unterschätzt. Die verweichlichten, glatten Denker der zivilisierten Städte im Süden interessierten sich nicht für die Schlachten von Barbaren in einem fernen nordwestlichen Winkel der Welt – von einem Ort und von Menschen, deren Namen ihnen kaum etwas sagten. Sie wussten nur, dass die schrecklichen Überfälle der Meereskönige an ihren Küsten plötzlich aufhörten, und nach einem weiteren Jahrhundert war das wilde Zeitalter des Plünderns und Schlachtens fast vergessen – alles nur, weil sich ein ungehobeltes, halb zivilisiertes Volk, das kaum seine Blöße mit Wolfsfellen bedeckte, gegen die Eroberer erhoben hatte.

Es war Ragnarok, der Fall der Götter! In Wahrheit ist Odin genau an diesem Ort gestürzt, weil seiner Religion der Todesstoß versetzt wurde. Er war der letzte von all den Heidengöttern, die sich gegen das Christentum gestellt hatten, und eine Weile sah es so aus, als könnten seine Kinder die Oberhand erlangen und die Welt wieder in Dunkelheit und Blutrausch stürzen. Vor Clontarf, so berichten es die Legenden, erschien er seinen Anhängern häufig auf der Erde. Sie erblickten ihn undeutlich im Rauch der Opfer, wo nackte Menschenopfer schreiend starben. Oder er ritt auf den vom Wind zerfetzten Wolken und seine wilden Locken flogen im Sturmwind. Oder man konnte ihn ganz vorne im Getümmel namenloser Schlachten sehen, wo er, gekleidet wie ein Wikingerkrieger, donnernde Schläge verteilte. Aber nach Clontarf wurde er nie wieder gesehen; seine Anhänger riefen ihn vergebens mit wilden Liedern und düsteren Opfern an. Sie verloren den Glauben an ihn, weil er sie in ihrer schlimmsten Stunde verlassen hatte; seine Altäre zerfielen, seine Priester wurden grau, starben, und die Menschen wandten sich dem zu, der ihn besiegt hatte, dem weißen Christus. Die Herrschaft von Blut und Eisen war vergessen, das Zeitalter der Meereskönige mit den blutigen Händen war vorbei. Die aufgehende Sonne sandte schwach ihr Licht in die Nacht des Dunklen Zeitalters, und die Menschen vergaßen Odin, der nicht mehr auf die Erde kam.

Ja, lachen Sie nur, wenn Ihnen danach ist! Aber wer weiß schon, welche Schreckensgestalten in der Dunkelheit, der kalten Düsternis und den unwirtlichen schwarzen Abgründen des Nordens geboren wurden? In den südlichen Ländern scheint die Sonne, Blumen blühen, und unter dem sanften Himmel lachen die Menschen über die Dämonen. Aber wer kann schon sagen, welche elementaren Geister des Bösen in den wilden Stürmen und der Dunkelheit des Nordens lauern? Es mag sehr wohl sein, dass sich der Kult des Grauens, der Kult von Odin und Thor und ihrer schrecklichen Verwandtschaft aus solchen Unholden der Nacht entwickelt hat.«

Ortali blieb eine Weile stumm, als hätte meine Heftigkeit ihn verblüfft, dann lachte er. »Gut gesprochen, mein Philosoph aus dem Norden! Über diese Fragen werden wir ein andermal diskutieren. Wie konnte ich auch erwarten, dass ein Abkömmling nordischer Barbaren nicht wenigstens eine Spur der Träume und der Mystik seiner Rasse in sich tragen würde? Aber Sie können nicht erwarten, dass Ihre Fantasie mich bewegt. Ich glaube immer noch, dass dieser Cairn kein grausigeres Geheimnis birgt als einen in der Schlacht gefallenen Wikingerhäuptling – und Ihre Schwärmerei bezüglich nordischer Teufel hat wirklich mit dieser Sache nichts zu tun. Werden Sie mir helfen, diesen Cairn aufzubrechen?«

»Nein«, antwortete ich knapp.

»Ein paar Stunden Arbeit sollten ausreichen, um freizulegen, was er vielleicht verbirgt«, fuhr er fort, als hätte er mich nicht gehört. »Übrigens, weil wir schon einmal von Aberglaube reden, gibt es da nicht ein paar seltsame Geschichten, wonach zwischen diesem Haufen hier und Stechpalmen eine Verbindung bestehen soll?«

»Nach einer alten Legende soll man aus irgendeinem geheimnisvollen Grund im Umkreis von einer Meile alle Bäume, die Stechpalmen waren, gefällt haben«, antwortete ich mürrisch. »Das ist auch so eine seltsame Sache. Die Stechpalme spielte in der Zauberei der Wikinger eine wichtige Rolle. Die Vier Meister berichten von einem Wikinger – einem weißbärtigen Alten von wildem Aussehen, offenbar einem Priester Odins – der von den Eingeborenen erschlagen wurde, als er ein Jahr nach der Schlacht versuchte, einen Stechpalmenzweig auf den Cairn zu legen.«

»Nun«, Ortali lachte, »ich habe einen Stechpalmenzweig besorgt – sehen Sie? – und werde ihn an meinem Rockaufschlag tragen, vielleicht schützt er mich vor Ihren nordischen Teufeln. Ich bin überzeugter denn je, dass unter dem Cairn ein Wikingerfürst liegt – und man hat Häuptlinge immer mit all ihren Reichtümern bestattet: mit goldenen Bechern und mit Juwelen besetzten Schwertgriffen und silbernen Korseletts. Ich habe das Gefühl, dieser Cairn enthält Reichtümer, Reichtümer, über die jahrhundertelang irische Bauern mit ihren schwerfälligen Füßen gestolpert sind und dabei in Not gelebt haben und an Hunger gestorben sind. Bah! Wir werden gegen Mitternacht hierher zurückkehren, zu einem Zeitpunkt, an dem wir einigermaßen sicher sein können, dass man uns nicht stört – und Sie werden mir bei den Ausgrabungen behilflich sein.«

Den letzten Satz stieß er in einem Ton heraus, der eine rote Aufwallung von Blutgier durch mein Gehirn jagte. Ortali wandte sich ab und begann den Cairn zu untersuchen, während er weiterredete. Meine Hand tastete fast unwillkürlich verstohlen nach einem kantigen Steinbrocken, der sich von einem der Felsen gelöst hatte, und schloss sich um ihn. In diesem Augenblick war ich ein potenzieller Mörder, wenn je ein solcher seinen Fuß auf die Erde gesetzt hat. Ein Schlag, schnell, lautlos und wild, und ich würde für alle Zeit aus einer Knechtschaft befreit sein, die ebenso bitter war, wie meine keltischen Vorfahren sie unter dem Joch der Wikinger erlebt hatten.

Als würde er meine Gedanken ahnen, fuhr Ortali herum und sah mich an. Ich schob den Stein schnell in meine Tasche und wusste nicht, ob er etwas bemerkt hatte. Aber er musste in meinen Augen den blutroten Instinkt des Tötens entdeckt haben, denn er zuckte wieder zurück, und seine Hand suchte den versteckten Revolver.

Aber er sagte nur: »Ich habe es mir anders überlegt. Wir werden heute Nacht den Cairn nicht aufbrechen. Morgen Nacht, vielleicht. Vielleicht beobachtet man uns. Ich werde jetzt zum Hotel zurückkehren.«

Ich gab keine Antwort, wandte ihm aber den Rücken zu und ging übel gelaunt mit langen Schritten in Richtung Küste. Er schritt den Abhang der Landzunge hinauf, hinter der die Stadt lag, und als ich mich umdrehte, um nach ihm zu sehen, überquerte er gerade deren Kamm und zeichnete sich dabei deutlich vor dem dunstigen Himmel ab. Wenn Hass töten könnte, hätte er tot umfallen müssen. Ich sah ihn in rot getöntem Dunst, und in meinen Schläfen hämmerte dröhnend der Puls.

Ich wandte mich wieder der Küste zu und blieb plötzlich stehen. Ganz im Bann meiner düsteren Gedanken hatte ich mich, ohne sie zu bemerken, bis auf wenige Schritte einer Frau genähert. Sie war groß und kräftig gebaut, mit einem streng wirkenden, vom Leben in den Bergen verwitterten Gesicht mit tief eingegrabenen Zügen. Ihre Kleidung war mir fremd, aber daran dachte ich kaum, weil mir wohl bewusst war, was für seltsame Kleider rückständige Leute manchmal tragen.

»Was macht Ihr bei dem Cairn?«, fragte sie mit tiefer, kräftig klingender Stimme. Ich sah sie überrascht an; sie sprach Gälisch, was an sich nicht ungewöhnlich war, aber das Gälisch, das sie gebrauchte, hatte ich für eine ausgestorbene Sprache gehalten: Es war das Gälisch der Gelehrten, rein und mit ausgeprägt archaischem Klang. Eine Frau aus dem abgeschiedenen Bergland, dachte ich, wo die Leute immer noch die unverfälschte Sprache ihrer Vorfahren sprachen.

»Wir haben Spekulationen über das Geheimnis angestellt, das den Cairn umgibt«, antwortete ich in derselben Sprache, aber zögernd, denn obwohl ich die modernere Form dieser Sprache, die in den Schulen gelehrt wird, beherrsche, war es anstrengend, mich der Sprechweise der Frau anzupassen. Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Der dunkle Mann, der bei Euch war, gefällt mir nicht«, sagte sie ernst. »Wer seid Ihr?«

»Ich bin Amerikaner, aber hier geboren und aufgewachsen«, antwortete ich. »Mein Name ist James O’Brian.«

Ein seltsames Leuchten trat in ihre kalten Augen.

»O’Brian? Ihr gehört zu meinem Clan. Ich bin als eine O’Brian geboren. Ich habe einen Mann von den MacDonnals geheiratet, aber mein Herz war immer bei den Menschen meines Blutes.«

»Lebt Ihr hier in der Gegend?«, erkundigte ich mich und wunderte mich immer noch über ihren ungewöhnlichen Akzent.

»Ja, ich habe einmal hier gelebt«, antwortete sie, »aber ich war lange Zeit weit weg. Alles hat sich verändert – sehr verändert. Ich wäre nicht zurückgekehrt, aber ein Ruf hat mich hierhergeholt, den Ihr nicht verstehen würdet. Sagt mir, wollt Ihr den Cairn öffnen?«

Ich musterte sie mit starrem Blick und kam zu der Überzeugung, dass sie irgendwie unser Gespräch gehört hatte.

»Das habe nicht ich zu entscheiden«, antwortete ich bitter. »Ortali – mein Begleiter –, er wird den Cairn zweifellos öffnen, und ich bin gezwungen, ihm zu helfen. Wenn es nach meinem Wunsch ginge, würde ich seine Ruhe nicht stören.«

Ihre kalten Augen bohrten sich in meine Seele.

»Narren rennen blindlings in ihr Unheil«, sagte sie düster. »Was weiß dieser Mann schon von den Geheimnissen dieses alten Landes? Hier sind Taten verrichtet worden, deren Echo um die Welt ging. Dort hinten, in ferner Vergangenheit, als der Wald von Tomar sich düster und raschelnd über die Ebene von Clontarf erhob und die dänischen Mauern von Dublin im Süden des Liffey-Flusses hochragten, stillten die Raben ihren Hunger an den Erschlagenen, und die untergehende Sonne leuchtete auf rote Seen herab. Dort haben König Brian, Euer Vorfahr und meiner, die Speere des Nordens gebrochen. Aus allen Landen kamen sie und von den Inseln im Meer, in schimmernder Wehr kamen sie, und ihre gehörnten Helme warfen lange Schatten über das Land. Die Drachen am Bug ihrer Schiffe drängten sich in den Wellen, und der Klang ihrer Ruder dröhnte einem Sturm gleich.

Auf jener Ebene fielen die Helden wie der reife Weizen unter der Sense. Jarl Sigurd von den Orkneys fiel dort, und Brodir von Man, der letzte der Meeresfürsten, und all ihre Häuptlinge. Auch Prinz Murrogh und sein Sohn Turlogh fanden dort den Tod und viele Häuptlinge der Gälen, und König Brian Boru selbst, der mächtigste Herrscher von Erin.«

»Richtig!« Die epischen Geschichten des Landes meiner Vorfahren befeuerten stets meine Fantasie. »Blut der Meinen ist hier vergossen worden, und wenn ich auch die meisten Jahre meines Lebens in einem fernen Land verbracht habe, gibt es doch Bande des Blutes, die meine Seele mit dieser Küste verbinden.«

Sie nickte langsam und zog dann unter ihren Gewändern etwas hervor, das im Licht der untergehenden Sonne stumpf funkelte.

»Nehmt dies«, sagte sie. »Als Zeichen der Blutsbande gebe ich es Euch. Ich spüre, dass Seltsames und Ungeheures geschieht, aber dies wird Euch vor dem Bösen und dem Volk der Nacht beschützen. Es ist heilig, weit über die Belange der Menschen hinaus.«

Ich nahm den Gegenstand staunend entgegen. Es war ein Kruzifix aus eigenartig bearbeitetem Gold, mit winzigen Edelsteinen besetzt. Die Arbeit war höchst archaisch und unverkennbar keltisch. In mir regte sich vage die Erinnerung an eine lang verschollene Reliquie, die vergessene Mönche in verblassten Manuskripten beschrieben hatten.

»Herr im Himmel!«, rief ich aus. »Das ist – das muss – das kann nichts anderes als das verlorene Kruzifix des Heiligen Brandon dem Gesegneten sein!«

»Aye.« Sie senkte ihren düsteren Kopf. »Das Kreuz des Heiligen Brandon, vor langer Zeit von den Händen des Heiligen gefertigt, ehe die Wikingerbarbaren Erin zu einer roten Hölle gemacht haben – in den Tagen, in denen goldener Friede und Heiligkeit das Land regierten.«

»Aber Weib!«, rief ich wild, »Ich kann das nicht als Geschenk von Euch annehmen. Ihr könnt nicht wissen, wie wertvoll es ist! Allein sein materieller Wert entspricht einem Vermögen, und als Reliquie ist es unbezahlbar …«

»Genug!« Ihre tiefe Stimme zwang mich zum Schweigen. »Genug solch ketzerischer Reden. Das Kreuz des Heiligen Brandon ist unschätzbar. Es ist nie mit Gold besudelt worden; es hat den Besitzer immer nur als Geschenk gewechselt. Ich gebe es Euch, um Euch gegen die Mächte des Bösen zu schützen. Sagt nichts mehr.«

»Aber es war dreihundert Jahre lang verschwunden!«, rief ich aus. »Wie – wo …?«

»Ein heiliger Mann hat es mir vor langer Zeit gegeben«, erwiderte sie. »Ich habe es an meinem Busen versteckt – dort lag es lange Zeit. Aber jetzt gebe ich es Euch; ich bin aus einem fernen Land gekommen, um es Euch zu geben, denn im Wind vollziehen sich unheimliche Geschehnisse, und dieses Kreuz ist Schwert und Schild gegen das Volk der Nacht. Uraltes Böses regt sich in seinem Gefängnis, das blinde Hände der Torheit aufbrechen könnten, aber stärker als alles Böse ist das Kreuz des Heiligen Brandon, das in der langen, langen Zeit, seit jenes vergessene Böse auf die Erde fiel, Kraft und Macht gesammelt hat.«

»Aber wer seid Ihr?«, rief ich aus.

»Ich bin Meve MacDonnal«, antwortete sie.

Dann drehte sie sich wortlos um und schritt im dunkler werdenden Zwielicht davon, während ich verwirrt dastand und ihr dabei zusah, wie sie die Landzunge überquerte. Schließlich entschwand sie meinen Blicken, als sie sich landeinwärts wandte und den Kamm hinter sich ließ. Dann setzte auch ich mich in Bewegung, schüttelte mich wie aus einem Traum erwacht, ging langsam den Abhang hinauf und über die Landzunge. Als ich den Kamm überquerte, war mir, als wäre ich aus der einen Welt in eine andere gegangen. Hinter mir lagen die Wildnis und die Trostlosigkeit eines bizarren Mittelalters, vor mir pulsierten die Lichter und der Verkehrslärm des modernen Dublin. Nur einen leicht altertümlichen Anklang hatte das Bild, das vor mir lag: Ein Stück landeinwärts tauchten – überwuchert von Unkraut und im Dämmerschein kaum wahrnehmbar – die zerfallenen Grenzlinien eines alten, lang verlassenen Friedhofs auf. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich eine hochgewachsene Gestalt, die sich gespensterhaft zwischen den zerbröckelnden Grabmälern bewegte, und ich schüttelte verwirrt den Kopf. Meve MacDonnal musste geistesgestört sein und in der Vergangenheit leben, wie jemand, der aus der Asche des toten Gestern die Flamme zu neuem Leben erwecken will. Ich setzte mich in Bewegung, dorthin, wo nicht weit entfernt immer mehr Lichter aufflammten und zum Lichtermeer von Dublin wurden.

In dem Hotel in der Vorstadt angelangt, wo Ortali und ich unsere Zimmer hatten, erzählte ich ihm nichts von dem Kreuz, das die Frau mir gegeben hatte. Daran zumindest sollte er keinen Anteil haben. Ich hatte die Absicht, das Kreuz zu behalten, bis Meve MacDonnal es von mir zurückforderte. Und dass sie das tun würde, stand für mich fest. Als ich mich jetzt an ihr Auftauchen erinnerte, fiel mir auch wieder das seltsame Aussehen ihrer Kleidung ein – und ganz besonders ein Gegenstand, dessen Anblick sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hatte, der mir aber nicht bewusst geworden war. Meve MacDonnal hatte Sandalen von einer Art getragen, wie man sie in Irland seit Jahrhunderten nicht mehr benutzte. Nun, vielleicht war es ganz natürlich, dass sie mit ihrem rückwärts gewandten Wesen die Kleidung der Vergangenheit imitierte, die ihr ganzes Denken prägte.

Ich drehte das Kreuz andächtig in meiner Hand. Es bestand kein Zweifel, dass es genau das Kreuz war, nach dem Antiquare so lange vergebens gesucht und dessen Existenz sie zuletzt in ihrer Verzweiflung geleugnet hatten. Der gelehrte Priester Michael O’Rourke beschrieb die Reliquie in einer um 1690 geschriebenen Abhandlung ausführlich, berichtete erschöpfend über ihre Geschichte und behauptete, man habe zuletzt von ihr gehört, als sie sich im Besitz von Bischof Liam O’Brien befunden hatte, der sie bei seinem Tod 1595 der Obhut einer Verwandten übergab; aber wer diese Frau war, wurde nie bekannt, und O’Rourke behauptete, dass sie den Besitz des Kreuzes geheim gehalten und es schließlich mit ins Grab genommen hatte.

Zu einer anderen Zeit wäre meine Freude darüber, dass ich dieses Heiligtum entdeckt hatte, äußerst groß gewesen, aber im Augenblick erfüllten zu sehr Hass und lodernde Wut mein Bewusstsein. Ich steckte das Kreuz in die Tasche zurück und ging bedrückt daran, über meine Beziehung zu Ortali nachzudenken, eine Verbindung, die meinen Freunden ein Rätsel, aber die doch so einfach war.

Einige Jahre zuvor war ich auf bescheidene Weise mit einer gewissen großen Universität verbunden gewesen. Einer der Professoren, mit dem ich zusammenarbeitete – ein Mann namens Reynolds –, war gegenüber Leuten, die er als minderwertig betrachtete, von unerträglich anmaßendem Wesen. Ich war ein von Armut geplagter Student, der sich Mühe gab, seinen Lebensunterhalt in einem System zu verdienen, das die Existenz als Studierender sehr unsicher machte. Ich ertrug die Demütigungen von Professor Reynolds so lange ich konnte, aber eines Tages kam es zum Zusammenstoß zwischen uns. Der Anlass dafür ist ohne Belang; an und für sich war er recht trivialer Natur. Weil ich es wagte, auf seine Beleidigungen zu antworten, wurde Reynolds mir gegenüber tätlich und ich schlug ihn daraufhin bewusstlos.

Am selben Tag veranlasste er, dass ich von der Universität verwiesen wurde. Ich stand nicht nur vor der abrupten Beendigung meiner Arbeit und meiner Studien, sondern buchstäblich vor dem Verhungern und war daher verzweifelt. So begab ich mich spät in jener Nacht zu Reynolds Arbeitszimmer, in der Absicht, ihm eine gewaltige Abreibung zu verpassen. Ich fand ihn allein in seinem Studierzimmer, aber kaum, dass ich es betreten hatte, sprang er auf und ging wie ein wildes Tier mit einem Dolch, den er als Brieföffner benutzte, auf mich los. Ich schlug ihn nicht; berührte ihn nicht einmal. Aber als ich zur Seite trat, um seinem Angriff auszuweichen, rutschte ein kleiner Läufer unter ihm weg. Er fiel kopfüber nach vorn und zu meinem Schrecken bohrte sich der Dolch in seiner Hand in sein Herz, während er stürzte. Er starb auf der Stelle. Meine Lage war mir sofort klar. Es war bekannt, dass ich mit dem Mann gestritten, ja mich sogar mit ihm geschlagen hatte. Ich hatte allen Anlass, ihn zu hassen. Falls man mich mit dem Toten in dessen Arbeitszimmer fand, würde mir kein Geschworenengericht auf der ganzen Welt glauben, dass ich ihn nicht ermordet hatte. Ich verließ den Raum in aller Eile auf demselben Weg, auf dem ich gekommen war, und glaubte, ich sei unbeobachtet geblieben. Aber Ortali, der Sekretär des Toten, hatte mich gesehen. Er war von einer Tanzveranstaltung zurückgekehrt und hatte beobachtet, wie ich das Gebäude betrat, war mir gefolgt und hatte durchs Fenster das ganze Geschehen gesehen. Aber das wusste ich erst viel später.

Die Leiche wurde von der Haushälterin des Professors gefunden, und es gab natürlich große Aufregung. Der Verdacht richtete sich gegen mich, aber das Fehlen von Beweisen verhinderte, dass ich unter Anklage gestellt wurde, und eben dieses Fehlen von Beweisen führte auch dazu, dass man den Tod des Professors als Selbstmord einstufte. Ortali hatte sich die ganze Zeit ruhig gehalten, aber jetzt kam er zu mir und enthüllte mir sein Wissen. Natürlich wusste er, dass ich Reynolds nicht getötet hatte, aber er konnte beweisen, dass ich mich in dem Arbeitszimmer befunden hatte, als der Professor den Tod erlitten hatte. Und ich wusste, dass Ortali fähig dazu war, seine Drohung wahr zu machen und zu beschwören, dass er mich dabei beobachtet habe, wie ich Reynolds kaltblütig ermordet hatte. Und damit begann eine systematische Erpressung.

Ich maße mir an zu behaupten, dass es nie eine seltsamere Erpressung gegeben hat. Ich hatte damals kein Geld – Ortali setzte auf meine Zukunft, weil er sich meiner Fähigkeiten sicher war. Er schoss mir Geld vor und sorgte dafür, indem er geschickt Drähte zog, dass ich zu einem größeren Kolleg zugelassen wurde. Dann wartete er ab, um die Früchte seiner Machenschaften einzuheimsen und erntete die Saat, die er ausgebracht hatte, in vollem Umfang. Ich wurde in meinem Beruf äußerst erfolgreich, bezog bald für meine reguläre Arbeit ein enormes Gehalt und empfing üppige Preise und Zuwendungen für verschiedenste aufwendige Forschungsarbeiten. Und davon nahm Ortali den Löwenanteil für sich – zumindest in Geld. Ich schien die Gabe des Midas zu besitzen, aber vom Wein meines Erfolgs kostete ich nur den Bodensatz.

Ich hatte kaum einen Cent, der mir gehörte. Das Geld, das durch meine Hände floss, hatte meinen Sklaventreiber reich gemacht, ohne dass die Welt das wusste. Ortali war ein bemerkenswert begabter Mann und hätte es sicherlich in jedem Beruf zu etwas gebracht, aber eine seltsame Ader in ihm machte ihn im Verein mit seinem ungewöhnlichen, habgierigen Wesen zu einem Parasiten, einem Blutegel.

Diese Reise nach Dublin sollte für mich so etwas wie eine Urlaubsreise sein. Meine Studien und meine Arbeit hatten mich erschöpft. Aber Ortali hatte irgendwie von Grimmins Cairn, wie es sich nannte, gehört und wie ein Geier, der Aas riecht, bildete er sich ein, er befände sich auf der Spur eines versteckten Goldschatzes. Ein goldener Weinkelch wäre für ihn hinreichender Lohn für die Mühe gewesen, den Steinhaufen aufzureißen, und Anlass genug, das alte Wahrzeichen zu entweihen oder gar zu zerstören. Er war ein Schwein, und Gold war sein einziger Gott.

Nun, dachte ich bitter, als ich mich für die Nacht auskleidete, alles hat einmal ein Ende, ob gut oder schlecht. Ein Leben, wie ich es gelebt hatte, war unerträglich. Ortali hatte mir so lange mit dem Galgen gedroht, dass die Drohung schließlich ihren Schrecken verloren hatte. Wegen der Liebe, die ich für meine Arbeit empfand, war ich unter der Last, die ich tragen musste, beinahe zusammengebrochen. Aber das menschliche Leidensvermögen hat seine Grenzen. Meine Hände wurden zu Eisen, als ich mir Ortali vorstellte, wie er neben mir um Mitternacht an dem einsamen Cairn arbeitete. Ein Schlag mit einem Stein, wie ich ihn heute aufgehoben hatte, und meine Qualen würden ein Ende haben. Dass damit auch mein Leben, meine Hoffnung, meine Karriere und mein Ehrgeiz enden würden, ließ sich nicht vermeiden. Ah, was für ein trauriges Ende all meiner hochfliegenden Träume! Wenn ein Strick und der lange Fall durch die schwarze Klappe im Boden eine ehrenvolle Laufbahn und ein nützliches Leben allzu früh beenden würden! Und all das wegen eines menschlichen Vampirs, dessen widerwärtige Gier an meiner Seele fraß und mich zu Mord und Verderben trieb.

Aber ich wusste, dass mein Schicksal in den ehernen Büchern der Apokalypse geschrieben stand. Über kurz oder lang würde ich Ortali töten, gleichgültig, welche Folgen das auch haben mochte. Und ich war am Ende meines Weges angekommen. Die ständige Folter hatte mich, wie ich glaube, um einen Teil meines Verstandes gebracht. Ich wusste, wenn wir um Mitternacht am Grimmins Cairn arbeiteten, würde Ortalis Leben unter meinen Händen enden und ich würde damit mein eigenes Leben wegwerfen.

Etwas fiel mir aus der Tasche, und ich nahm es auf. Es war der scharfe Steinbrocken, den ich an dem Cairn aufgehoben hatte. Ich musterte ihn gedankenverloren und fragte mich, welch fremde Hände ihn in alten Zeiten berührt hatten und welch düsteres Geheimnis dieser Stein auf der öden Landzunge von Grimmins zu verbergen geholfen hatte. Ich schaltete das Licht aus und lag im Dunkeln da, hielt immer noch den Stein in der Hand, verloren, ganz im Bann meines düsteren Grübelns. Und allmählich sank ich in tiefen Schlummer.

Ich war mir im Klaren darüber, dass ich träumte, wie das Menschen oft tun. Alles war unbestimmt, düster und, wie mir bewusst wurde, auf seltsame Weise mit dem Stück Stein verbunden, das meine schlafende Hand immer noch hielt. Gigantische, chaotische Szenen, Landschaften und Ereignisse wogten vor mir wie Wolken, die der Sturmwind treibt und durcheinanderwälzt. Langsam verfestigten sich die Bilder zu einer deutlich erkennbaren Landschaft, die vertraut und doch so fremd war. Ich sah eine weite, kahle Ebene, auf einer Seite von der grauen See begrenzt, auf der anderen von einem dunklen, raschelnden Wald; ein sich dahinschlängelnder Fluss durchschnitt die Ebene, und hinter diesem Fluss sah ich eine Stadt – eine Stadt, wie sie mein waches Auge noch nie gesehen hatte: kahl, schroff, massiv, mit der düsteren Architektur einer früheren, ungebärdigeren Zeit. Und auf der Ebene wütete wie im Nebel eine gewaltige Schlacht. Dicht gedrängte Reihen von Kriegern wogten vor und zurück, Stahl blitzte wie die See im Sonnenlicht, und Männer fielen wie reifer Weizen unter der Sense des Schnitters. Ich sah Männer in Wolfsfellen, wild, das Haar zerzaust, bluttriefende Äxte schwingen, sah hoch gewachsene Männer mit von Hörnern geschmückten Helmen, in glitzernden Kettenpanzern – ihre Augen kalt und blau wie die See. Und ich sah mich.

Ja, in meinem Traum sah und erkannte ich, halb losgelöst, mich selbst. Ich war groß und muskulös; ich hatte dichtes, wirres Haar und war nackt, bloß ein Wolfsfell gürtete meine Lenden. Ich rannte brüllend zwischen den Reihen der Kämpfer, schlug mit einer roten Axt um mich, und aus Wunden, die ich kaum spürte, rann mir das Blut über die Flanken. Meine Augen waren von kaltem Blau, mein zottiges Haar und mein ebensolcher Bart waren rot.

Einen Augenblick lang war ich mir meiner gespaltenen Persönlichkeit bewusst, erkannte, dass ich zugleich jener wilde Mann war, der mit der blutigen Axt um sich schlagend auf dem Schlachtfeld rannte, und der schlummernde und träumende Mann viele Jahrhunderte später. Aber dieses Gefühl verblasste schnell. Ich war mir nicht länger einer anderen Persönlichkeit bewusst als jener des Barbaren, der da rannte und zuschlug. James O’Brian existierte nicht; ich war Red Cumal, Fußsoldat des Brian Boru, und von meiner Axt triefte das Blut meiner Feinde.

Das Brüllen der Schlacht wurde leiser, wenn auch noch hier und dort auf der Ebene einzelne Grüppchen von Kriegern kämpften. Unten am Fluss schlugen sich halbnackte Stammesbrüder, bis zu den Hüften im sich rötenden Wasser stehend, mit behelmten Kriegern, deren Kettenpanzer sie nicht vor den Schlägen der dalcassianischen Axt schützen konnten. Und auf der anderen Seite des Flusses taumelte eine blutige, ungeordnete Horde durch die Tore von Dublin.

Die Sonne sank tief am Horizont. Den ganzen Tag über hatte ich neben den Häuptlingen gekämpft. Ich hatte gesehen, wie Jarl Sigurd unter dem Schwert von Prinz Murrogh fiel. Ich hatte Murrogh selbst im Augenblick seines Sieges sterben sehen – von der Hand eines finster blickenden gepanzerten Riesen, dessen Name keiner kannte. Ich hatte gesehen, wie Brodir und König Brian zusammen an der Tür zum Zelt des großen Königs fielen.

Aye, es war ein Festmahl für die Raben gewesen, eine rote Flut des Schlachtens, und ich wusste, dass die Flotten mit den Drachen am Bug künftig nicht mehr mit Brandfackeln und Verwüstung aus dem blauen Norden kommen würden. Soweit das Auge reichte, lagen die Wikinger in ihren schimmernden Panzern wie der reife Weizen nach der Mahd. Und zwischen ihnen lagen Tausende Leichen in den Wolfsfellen der Stämme, doch die Zahl der Toten aus dem Norden übertraf um vieles die der Toten von Erin. Ich war müde, und der Gestank von Blut erzeugte Übelkeit in mir. Ich hatte meine Seele mit dem Gemetzel übersättigt, und jetzt stand mir der Sinn nach Plünderung. Und ich fand Beute – fand sie an der Leiche eines üppig gekleideten Wikingerhäuptlings, der dicht am Ufer lag. Ich riss ihm den silbernen Schuppenpanzer herunter, nahm seinen Helm mit den Hörnern. Sie passten, als wären sie für mich gemacht, und ich stolzierte zwischen den Toten umher, rief meinen wilden Kameraden zu, dass sie mich bewundern sollten, obwohl der Harnisch sich fremd anfühlte, denn die Gälen verabscheuten Kettenpanzer und kämpften halbnackt.

Auf meiner Suche nach Beute war ich weit aus der Ebene herausgewandert, weg vom Fluss, aber da lagen immer noch verstreut gepanzerte Leichen, denn als die Schlachtreihen aufrissen, hatten sich Flüchtlinge wie auch Verfolger über den ganzen Landstrich verstreut, vom dunkel wippenden Wald von Tomar bis hin zum Fluss und dem Ufer des Meeres. Und auf dem zur See geneigten Hang der Landzunge von Drumna, außer Sichtweite der Stadt und der Ebene von Clontarf, stieß ich plötzlich auf einen sterbenden Krieger. Er war hoch gewachsen und breit gebaut und trug einen grauen Kettenpanzer. Er lag halb verhüllt von einem dunklen Umhang da, sein Schwert lag zerbrochen neben seiner mächtigen rechten Hand. Der Helm mit den Hörnern war ihm vom Kopf gefallen, und seine Elfenlocken wehten im Westwind.

Wo ein Auge hätte sein sollen, war eine leere Höhle, das andere Auge schimmerte kalt und finster wie das Nordmeer, obwohl der nahende Tod es schon trübte. Blut quoll aus einem Riss in seinem Panzer. Ich näherte mich ihm vorsichtig, und eine seltsame kalte Furcht, die ich nicht begreifen konnte, erfasste mich. Die Axt bereit zum Schlag beugte ich mich über ihn und erkannte ihn als den Häuptling, der Prinz Murrogh erschlagen und die Krieger der Gälen wie ein Schnitter bei der Ernte niedergemäht hatte. Wo immer er gekämpft hatte, hatten die Nordmänner sich durchgesetzt, aber überall sonst auf dem Schlachtfeld waren die Gälen unaufhaltsam gewesen.

Und jetzt sprach er in der Sprache der Wikinger zu mir, und ich verstand ihn, hatte ich doch lange bittere Jahre als Sklave unter den Leuten vom Meer geschuftet!

»Die Christen haben gesiegt«, keuchte er mit einer Stimme, deren Klang, auch wenn sie leise war, mir einen seltsamen Schauder der Furcht über den Rücken jagte. Sie klang wie die eisigen Wellen, die sich an den Ufern im Norden brechen, wie der Frosthauch der Winde aus dem Norden, wenn sie zwischen den Fichten flüstern. »Schatten und Verderben beschleichen Asgard, und hier ist Ragnarok gefallen. Ich konnte nicht gleichzeitig überall auf dem Schlachtfeld sein, und jetzt bin ich tödlich verwundet. Ein Speer – ein Speer mit einem in die Schneide eingravierten Kreuz, keine andere Waffe konnte mich verwunden.«

Mir wurde bewusst, dass mich der Häuptling, der im Zwielicht meinen roten Bart und den Wikingerpanzer an mir sah, für jemanden seiner eigenen Rasse hielt. Aber in den Tiefen meiner Seele wallte Entsetzen auf.

»Weißer Christus, du hast noch nicht gesiegt«, murmelte er wie im Delirium. »Hilf mir auf, Mann, und lass mich zu dir sprechen.«

Ich weiß nicht, was mich dazu trieb, aber ich gehorchte, und als ich ihn in eine sitzende Haltung hob, erschauderte ich und ein Frösteln überlief mich, als ich ihn spürte, denn sein Fleisch war wie Elfenbein – glatter und härter als menschliches Fleisch und kälter als selbst ein Toter sein sollte.

»Ich sterbe, wie Menschen sterben«, murmelte er. »Narr, der ich menschliche Eigenschaften annahm, auch wenn es geschah, um den Leuten zu helfen, die mich zum Gott machten. Die Götter sind unsterblich, aber Fleisch kann vergehen, selbst wenn es einen Gott umhüllt. Beeile dich und bring mir einen Zweig der Zauberpflanze – der Stechpalme – und lege ihn mir auf meine Brust. Aye, selbst wenn es nicht größer als eine Dolchspitze ist, wird es mich aus diesem Gefängnis aus Fleisch befreien, das ich anlegte, als ich mit Menschen und mit deren eigenen Waffen in die Schlacht zog. Dann werde ich dieses Fleisch abschütteln und erneut zwischen den donnernden Wolken einherschreiten. Wehe dann allen Menschen, die nicht vor mir ihr Knie beugen! Beeile dich! Ich werde auf dein Kommen warten.«

Sein Löwenkopf fiel zurück, und als ich zitternd unter seinen Panzer griff, konnte ich keinen Herzschlag wahrnehmen. Er war tot, wie Menschen sterben, aber ich wusste, dass eingeschlossen in jenem Erscheinungsbild eines menschlichen Körpers der Geist eines Feindes aus dem Frost und der Dunkelheit schlummerte.

Aye, ich kannte ihn: Odin, den Grauen Mann, den Einäugigen, den Gott des Nordens, der die Gestalt eines Kriegers angenommen hatte, um für sein Volk zu kämpfen. Indem er die Gestalt eines Mannes angenommen hatte, unterlag er vielen Beschränkungen des Menschlichen. Alle Menschen wussten dies von den Göttern, die häufig in dieser Verkleidung über die Erde schritten. Odin in Menschengestalt konnte von bestimmten Waffen verwundet, ja sogar getötet werden, aber eine Berührung mit der geheimnisvollen Stechpalme würde ihn auf grässliche Weise wiedererwecken. Und diese Aufgabe hatte er mir gestellt, nicht wissend, dass ich ein Feind war; in Menschengestalt konnte er nur menschliche Fähigkeiten nutzen, und der herannahende Tod hatte diese beeinträchtigt.

Die Haare standen mir zu Berge, und eisige Schauer überliefen mich. Ich riss mir den Wikingerpanzer herunter und kämpfte gegen wilde Panik an, die mich drängte, blind und vor Entsetzen schreiend über die Ebene zu rennen. Krank vor Angst sammelte ich Steine und Felsbrocken, türmte sie zu einer groben Sitzgelegenheit und hob, vor Grausen zitternd, dann die Leiche des nordischen Gottes darauf. Und als die Sonne unterging und am Himmel lautlos die Sterne hervorkamen, arbeitete ich immer noch mit wilder Energie und türmte riesige Steine über der Leiche auf. Andere Stammesangehörige kamen heran, und ich sagte ihnen, was ich da unter Steinen begrub – wie ich hoffte für alle Zeit. Und sie, zitternd vor Erschütterung, machten sich daran, mir zu helfen. Kein Zweig der magischen Stechpalme sollte je auf den schrecklichen Busen Odins gelegt werden. Unter diesen rohen Steinen sollte der Dämon aus dem Norden bis zum Donner des Jüngsten Gerichts schlummern, vergessen von der Welt, die einst unter seinem eisernen Absatz aufgeschrien hatte. Doch nicht ganz vergessen, denn während wir noch arbeiteten, sagte einer meiner Kameraden: »Das soll nicht länger Drumnas Landzunge sein, sondern die Landzunge des Grauen Mannes.«

Jener Satz stellte eine Verbindung zwischen meinem Traum-Ich und meinem schlafenden Ich her. Aus dem Schlaf gerissen, fuhr ich hoch und rief: »Landzunge des Grauen Mannes!«

Ich sah mich benommen um, die schwach vom einfallenden Sternenlicht beleuchteten Möbel kamen mir fremd und seltsam vor, bis ich mich langsam wieder in Raum und Zeit orientierte.

»Landzunge des Grauen Mannes«, wiederholte ich. »Grauer Mann – Graymin – Grimmin – Grimmins Landzunge! Großer Gott, das Ding unter dem Cairn!«