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Eine glückliche Beziehung, ein fester Job, ein gemütliches Sofa … Alles ist perfekt in Mariekes Leben – bis sie sich an Silvester ohne Freund, dafür mit siebzehn Umzugskisten in einer fremden Hinterhauswohnung wiederfindet.

 Zurück auf Start? So hatte sich Marieke ihr Leben mit Mitte vierzig nicht vorgestellt. Ihre Schwester, eine bekannte Paartherapeutin, ist fürs Reparieren der Beziehung; ihre beste Freundin für Neusortieren.

 Marieke selbst weiß nicht, was sie will. Auf dem Weg, das herauszufinden, bekommt sie Unterstützung von ihren neuen Nachbarinnen: von Susann, der Schneiderin aus dem Seitenflügel, deren Freundin Nada, die den Hinterhof in ein blühendes Paradies verwandelt, und von der alten Frau Schröder von gegenüber, die auf die Liebe wettet.

 Während Zucchini das Haus überschwemmen, Kornblumeninseln im Straßenmeer auftauchen und ein namenloser Hund ihr Herz erobert, schlägt Marieke Wurzeln. Und je blühender und bunter ihr Leben ist, desto interessanter wird sie wieder für ihren Ex. Und nicht nur für den …

 

Ilke S. Prick ist Psychologin und freie Autorin. Sie schreibt satirische Kolumnen, veröffentlichte mehrere Jugendbücher und ist Dozentin für Kreatives Schreiben im Bereich Lese- und Literaturpädagogik. www.daswortlabor.de

 

Im insel taschenbuch ist erschienen: Essen mit Freunden (it 4246).

 

 

Ilke S. Prick

VERGISSMEINNICHT WAR
GESTERN

Roman

Insel Verlag

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4488.

© Insel Verlag Berlin 2016

© Ilke S. Prick. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Michael Gaeb

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Umschlag: ZERO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Julia Hoersch, Picture Press, Hamburg

 

eISBN 978-3-458-74937-0

www.insel-verlag.de

VERGISSMEINNICHT WAR GESTERN

 





Für meine Mutter





Lola fühlte sich von Leerstellen erfüllt. Leerstellen und Abwesenheiten konnten einen Menschen auf erstaunliche Weise ausfüllen. Sie schienen viel Raum einzunehmen. Lola fragte sich oft, wie eine Abwesenheit – etwas, das gar nicht da war – so stark präsent sein konnte. Die Abwesenheit von Menschen zum Beispiel.

Lily Brett: Lola Bensky

Eisblumen

Raketen und Knaller seit nachmittags um zwei. Funkenregen über den Dächern in Rot und eisigem Weiß. Ein kaltes Gleißen, das den Himmel in zwei Teile schnitt. Anfangs war sie zusammengezuckt, wenn sich der Widerhall in der beinahe leeren Wohnung verfing. Jetzt schloss sie nur noch für Momente die Augen. Bald wäre es vorbei. Eine oder zwei Stunden, dann würde wieder Ruhe einkehren, zumindest in der Stadt. Der Lärm in ihr jedoch, dessen war sie sicher, würde lange nicht verklingen.

Vorhin, als sie die Tür hinter den beiden geschlossen hatte und die Schritte im Treppenhaus verhallten, war es in der Wohnung so kalt gewesen, dass sich an dem dünnen Glas des Küchenfensters zarte Eisblumen gebildet hatten, und obwohl sie wirkliche Wärme auch jetzt vermisste, öffnete Marieke die Balkontür und trat hinaus. Frierend, auf Socken, die Strickjacke eng um sich geschlungen, sah sie über den Hof zum Vorderhaus. Die hell erleuchteten Fenster wirkten wie ein Fotoalbum. Ein Setzkasten voll fremder Leben. Die Wohnung unten links schimmerte Fernsehblau. In der Etage darüber eine Familie, die Kinder tobend auf der Wohnzimmercouch. Rechts im zweiten Stock ein Paar. Sie, nur ein Schatten, mehr zu ahnen, als klar zu erkennen hinter der Milchglasscheibe des geschlossenen Badezimmerfensters. Er, gestikulierend mit ausholenden Bewegungen in der Küche. Mantel, Schal. Kurz vor Mitternacht. Sicher müssten sie sich beeilen. Trotzdem noch schnell einen Lidstrich ziehen, die passenden Schuhe suchen. Dinge, die regelmäßig mehr Zeit kosteten, als eingeplant war. Marieke brauchte die Worte im zweiten Stock nicht zu hören, nicht auf den Mund des Mannes zu schauen. Sie kannte all die Sätze, die er vermutlich sagte. Hatte sie selbst oft genug gehört in den letzten Jahren. Jedes Mal, wenn sie zu einer Feier gehen wollten und Marieke nicht fertig war. Die Wohnung über dem Paar blieb dunkel, in den Fenstern in der dritten Etage links blinkte ein Weihnachtsbaum in offensichtlich menschenleeren Zimmern.

Im Dachgeschoss hingegen strahlten alle Zimmer hell. Diese Wohnung thronte dort oben wie ein festlich illuminierter Atlantikdampfer, der durch das Häusermeer pflügte. Menschen tanzten durch die Räume, stießen ihre Gläser aneinander, fielen sich um den Hals, schritten hinaus auf die Dachterrasse. Zwischen dem Grün dort oben ein heimliches Wunderkerzenfunkeln unter den himmelhohen Feuerwerksfontänen. Lachen wehte herüber und Fetzen von Musik. Marieke wendete sich ab, schloss die Balkontür und zog den Vorhang zu. Sollte das neue Jahr doch ohne sie beginnen.

Glücksklee

Kinderlachen, laut und hell. Das Gefühl von Freiheit und Unendlichkeit. Der Wind in den Haaren, in den Ohren. Die alte Schaukel quietscht unter dem Baum mit den Schattenmorellen in der lauen Luft eines Sommernachmittags. Nackte Füße mit Gänseblümchen zwischen den Zehen, die hoch in einen blauen Himmel schwingen. Hände an den Schulterblättern, warm und sicher, geben Anschwung, höher und höher. Schenken dem kleinen Mädchen Momente sorglosen Schwebens, lassen es zum Engel werden. Im Augenwinkel ein Sommerkleid, bauscht sich im Wind, leuchtender Klatschmohn auf wehendem Georgette. Ein Lachen verschmilzt mit dem Juchzen des Mädchens. Kirschen regnen plötzlich und zerplatzen rot. Ein Rufen, ein Schreien. Oben und unten verschwimmen in einem Meer der Gefühle, bis nur noch das haltlose Schweben bleibt und zum Schwindel wird.

Marieke vermied es so lange wie möglich, die Augen zu öffnen, und versuchte stattdessen, sich innerlich und im Stillen zu sortieren. Das Schwingen, das Schaukeln, nur eine Illusion. Das Lachen, das nicht ihres war und doch so vertraut. Das ihr wie immer wegrutschte, wenn sie erwachte, und das nie ein Gesicht bekam. Die letzten Fetzen des Traums entglitten ihr, und sie spürte nicht mehr die warme Sommerluft in ihrem Haar, sondern nur die Matratze, auf der sie lag. Sicherer Grund. Tief atmete sie durch, um der aufsteigenden Übelkeit nicht nachzugeben. Sie müsste sich konzentrieren, um gänzlich anzukommen in sich, in ihrem Leben. Aber im Grunde wollte sie das gar nicht. Denn wenn sie jetzt die Augen öffnete und mitten in der Realität landete, müsste sie sich außer mit ihrem verkaterten Körper auch mit dem auseinandersetzen, was sie hierher, auf diese Matratze geführt hatte. Und sich damit zu beschäftigen war ihr eindeutig zu viel.

 

»Lass mal, Mädel, das ist unsere Sache«, hatte der Große mit dem Stiernacken gestern Nachmittag gesagt und sich mit Schwung den ersten Karton auf die Schultern geladen. Sein überraschend mitfühlender Blick hatte die Vermutung nahegelegt, dass er sich mit Situationen wie dieser auszukennen schien. Also hatte Marieke mitten im Schlafzimmer, das sie bis zu diesem Zeitpunkt in Gedanken immer noch als unser gemeinsames bezeichnet hatte, widerspruchslos die Hände sinken lassen und ab da einfach nur danebengestanden – neben der Tür, durch die der Stiernacken und sein Kompagnon Kiste für Kiste über die Freischwingertreppe aus dem ersten Stock in den Pritschenwagen in der Auffahrt jonglierten, als wären es kleine, bunte Bälle. Neben den gepackten Kartons, siebzehn an der Zahl. Neben der alten Anrichte und ihrem Grafikschrank, die seit Jahren im Schuppen eingelagert waren und fast vergessen, nun aber auf jeden Fall mit sollten. Am meisten jedoch stand sie neben sich selbst. ›Vertrau mir‹, hatte Babette vor drei Tagen gesagt, als sie das letzte Mal geskypt hatten, ›wenn du schon einen großen Abgang willst, sollte er zumindest stilvoll sein. Also schlepp den Kram bitte nicht selbst. Außerdem liebt es doch jede Frau, muskulösen Männern bei der Arbeit zuzuschauen.‹ Zwei Stunden später hatte Marieke eine Internet-Adresse mit dazugehöriger Telefonnummer und eine Uhrzeit im Mail-Postkasten, so dass sie den Auftrag nur zu bestätigen brauchte. Wie Babette es geschafft hatte, über tausende Kilometer hinweg eine Umzugsfirma aufzutreiben, die an Silvester nach vierzehn Uhr arbeitete, war Marieke ein Rätsel geblieben. Sie hatte kurz gezögert, doch dann den Termin bestätigt, auch wenn muskulöse Männer das Letzte waren, wonach ihr zurzeit der Sinn stand. Dann hatte sie ihre alten Kartons aus der hintersten Ecke des Dachbodens hervorgeholt und sich beim Packen gewundert, auf wie wenig Raum sich sechsundvierzig Lebensjahre zusammenfassen ließen. Ihre sechsundvierzig Jahre. Bücher, Kleidung, Bettwäsche. Bücher, Bilder, Schuhe. Noch mehr Bilder und Erinnerungsstücke. Hiervon aber nur ein paar. Sie war nicht sentimental.

Doch obwohl nun wider Erwarten unzählige Erinnerungen hochschwappten, nutzten sie ihr nichts und führten nirgendwo hin. Kein Grund also, sich damit zu beschäftigen. Nur eins zählte im Moment: Wenn sie sich nicht bald entschloss, die Augen aufzuschlagen und den Tag zu beginnen, müsste sie sich ungewaschen und ohne Frühstück mit ganz anderen Dingen als ihrer Übelkeit auseinandersetzen. Und bevor ihr diese anderen Dinge ins Haus stünden, bräuchte sie unbedingt einen Kaffee.

 

Ein vehementes Klopfen an der Tür. Sie blickte zur Uhr: zwei Minuten vor drei. Zumindest war sie mittlerweile geduscht und angezogen. Die Matratze war so hergerichtet, dass sie mit etwas Phantasie als ordentlich gemachtes Bett durchging. Das Geschirr stand gewaschen im Spülbecken, und die leeren Flaschen von gestern Abend waren in der Speisekammer versteckt. Ansonsten lag nichts herum, was sie hätte wegräumen müssen, denn außer ihrer Kulturtasche und ihrem Lieblingspyjama hatte Marieke nichts ausgepackt. Etwas zu essen hatte sie allerdings nicht hinunterbekommen. Zu groß war das schwankende Gefühl, das seit dem Wachwerden in ihrem Körper schaukelte. Also gut – Luft holen jetzt und Schultern straffen. Auf das eingeübte Lächeln verzichtete sie. Erneutes Klopfen. Marieke wappnete sich für das, was unüberhörbar und voller Elan ihre Tristesse entern wollte und vermutlich wild entschlossen war, aus dem Handbuch für seelische Notfälle die passende Lösung für das herauszusuchen, was Marieke momentan eigentlich noch gar nicht lösen konnte. Lösen wollte.

»Hätte ich mir ja denken können, dass in so einem Haus die Klingel das Letzte ist, was funktioniert«, tönte es ihr entgegen, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte.

»Danke! Dir ebenfalls ein schönes neues Jahr.« Sie fühlte sich unendlich müde.

»Oh, tut mir leid, ich bin schon seit heute Morgen um neun auf Betriebsmodus. Also: alles Liebe auch für dich, Rieke. Ach Mensch, komm her, lass dich drücken«, sagte Alexandra und zog Marieke auf der Türschwelle in eine Umarmung, die sich weich und warm anfühlte und nach irgendwas mit Vanille roch. Die so vertraut war und zum Versinken einlud, dass in Marieke eine große Welle Traurigkeit nach oben flutete. Nur nicht heulen, nicht jetzt!

»Komm rein«, sagte sie darum schnell und wand sich aus den Armen ihrer großen Schwester. Noch wollte sie die Fassung nicht verlieren, noch keine Ratschläge hören. Auch wenn beides im weiteren Verlauf dieses Nachmittags wohl nicht zu vermeiden wäre.

Alexandra und Marieke waren ein eingespieltes Team und hatten seit ihrer Kindheit viel Zeit darauf verwandt, ihre Rollen zu finden und zu festigen. So viele Kämpfe, so viele Vorwürfe und so viel Verzeihen lagen hinter ihnen, dass sie diese Rollen nun nicht mehr aufgeben wollten, sondern sie beherzt und mit großem Enthusiasmus verteidigten. Schwestern wie aus dem Bilderbuch, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Niemand würde bei Alexandra der Großen vermuten, dass sie in einer Kurzschlussreaktion ihr wunderbar geregeltes Leben über den Haufen werfen könnte. Eher würde sie ein Dutzend fundierter Erklärungen finden, um einen eventuellen Missstand als etwas Normales zu definieren, und einfach neue Regeln aufstellen, die das Konstrukt ihres bisherigen Lebens und ihres familiären Miteinanders weiter zusammenhielten. Genau dies Deuten und Umdeuten betrieb sie professionell und erfolgreich: als Paartherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis mit ihrem Mann. Manche sagten, sie seien die besten in der ganzen Stadt. Ein Team seit vielen Jahren. Beruflich, privat, die Grenzen waren fließend. Bei Marieke hingegen ging niemand davon aus, dass es in ihrem Leben überhaupt klare Regeln gäbe, auch wenn sie in den letzten Jahren eine gewisse Kontinuität an den Tag gelegt hatte. Im Stillen wurde, so schien es, von allen Außenstehenden eine Situation wie diese früher oder später erwartet. Die Schwestern waren wie Feuer und Wasser, Schneeweißchen und Rosenrot, Klarheit und glühendes Chaos. Und darin hatten sie sich eingerichtet.

»Erzähl mir jetzt bitte nicht, du hättest tatsächlich deine gesamten Sachen mitgenommen«, sagte Alexandra, als sie das Zimmer betrat, in dem die siebzehn Kisten standen. Genau an der Stelle, an der die Möbelpacker sie gestern abgesetzt hatten. Der Grafikschrank war an die Wand gerückt, gleich neben einer alten Tür, die auf zwei farbbeklecksten Holzböcken lag. Babettes Arbeitsplatte. Alexandra bohrte nach: »Ruht darin auch euer Tafelsilber und dein furchtbarer Kronleuchter aus dem Flur?« Sie deutete auf eine der Kisten, auf der mit dickem rotem Filzstift geschrieben stand:

Bücher

Bettwäsche

Akten und Unterlagen -> Arbeitszimmer

Geschirr! Vorsicht zerbrechlich!!!

Marieke seufzte. Musste sie wirklich antworten? Insgeheim fragte sie sich, warum sie Alexandra überhaupt in die Wohnung gelassen hatte. »Der Kronleuchter hat leider nicht mehr reingepasst«, sagte sie schließlich. »Und das Besteck war nicht aus Silber, sondern aus Cromargan.«

»Ist!«, stellte Alexandra klar. »Das Besteck gibt es ja noch. Nur eure Beziehung … nun ja … macht gerade, sagen wir mal: Pause.«

»Pause. Mhm, so siehst du das also. Wenn ich mich richtig erinnere, hieß Pause früher eigentlich immer: Schatz, ich will jetzt nicht sagen, dass ich mich trenne, aber irgendwie solltest du dich langsam doch mal nach was Neuem umschauen, denn das habe ich auch schon gemacht, will es dir aber nicht so knallhart sagen.«

»Distanz kann manchmal sehr anregend sein«, behauptete Alexandra und strich mit der Fingerspitze durch den Staub auf der Fensterbank.

»Für wen? Für Jochen? Oder für mich?«, fragte Marieke zickig. Sie merkte, wie Wut in ihr hochstieg. Und im Grunde war sie dankbar dafür, da sich das gar nicht schlecht anfühlte. Jedenfalls besser als all diese ekelhaften Gefühle, mit denen sie seit dem Wachwerden kämpfte.

»Natürlich für Jochen und dich«, sagte Alexandra. »Trennung hieß vielleicht Pause, als wir fünfzehn waren und es nicht besser wussten. Jochen ist einundfünfzig. Vielleicht braucht er nur ein bisschen Zeit für sich.«

»Hört sich an, als hättest du mit ihm geredet«, hakte Marieke nach.

»Habe ich nicht. Aber ich kenne die Fachliteratur.«

»Na prima, und sagt deine Fachliteratur auch was über Pausen, die Jessica heißen? Die beiden sind jedenfalls über den Jahreswechsel zusammen an die Nordsee gefahren. Das also zum Thema: Zeit für sich haben.« Sie lachte bitter.

»Jessica ist nur eine Phase, mehr nicht. Jochen braucht etwas Bestätigung, ein bisschen Angehimmeltwerden. Hat er das denn die letzten Jahre von dir bekommen? Genug Wertschätzung? Bewunderung? Er will noch einmal der große, starke Mann sein, mehr nicht.«

»Und woher weißt du das?« Marieke wurde ungeduldig.

»Aus Studien«, antwortete Alexandra. »Auch Männer haben Wechseljahre. Sind verunsichert. Müssen sich neu orientieren und mit dem Alter klarkommen. Du wirst ihn nicht verlieren, du wirst ihn zurückgewinnen. Ihr habt schließlich eine gemeinsame Geschichte. Das verbindet und hält Paare zusammen. Jedenfalls wenn die Euphorie über den grandiosen ersten Sex mit der Außenbeziehung abgeklungen ist. Meistens. Du musst nur bereit dazu sein, dich zu bewegen.«

»Wie du siehst, liebe Schwester, habe ich mich bereits bewegt. Quer durch die halbe Stadt. Mit dem ganzen Kram, den ich mitgebracht hatte, als ich bei ihm eingezogen bin. Das dürfte doch eigentlich Bewegung genug sein, oder?«

»Genau das ist der Punkt«, sagte Alexandra und seufzte. »Im Grunde machst du nur dieselbe Bewegung wie immer.«

»Wie immer? Was willst du damit sagen?«

»Nicht viel, nur dass es so aussieht, als wären das genau die Kisten, mit denen du vor acht Jahren bei Jochen eingezogen bist, oder?«

Dieser Satz klang eher nach einer Feststellung als nach einer Frage, weshalb Marieke keine Antwort, sondern nur ein genervtes Schnaufen von sich gab. Und sie erwähnte auch nicht, dass es fast zehn Jahre waren, die sie zusammengewohnt hatten. »Ist das mit den Kisten irgendwie wichtig?«, fragte sie stattdessen retour.

»Wenn man es vom psycho-hygienischen Standpunkt aus betrachtet: Ja! Man sollte sich von Altlasten trennen, sobald man sich in neue Zusammenhänge begibt. Jedenfalls wenn man es ernst meint.«

»Und das bedeutet?« Marieke ärgerte sich, dass sie nach dem Aufstehen nicht doch etwas gegessen, sondern auf nüchternen Magen zu schnell zu viel Kaffee getrunken hatte, denn ihr Herz verfiel in Galopp, und ihre Magensäure schwang dabei die Gerte.

»Es bedeutet: Du hast mit diesen Kisten schon mindestens fünf Umzüge gemacht, bevor du zu Jochen ins Haus gezogen bist. Es könnte etwas Richtiges werden mit dir und ihm, hast du damals gesagt. Etwas Dauerhaftes. Die Kisten aber hast du in den Keller gestellt, für den Fall der Fälle. Als wolltest du sie nur zwischenlagern. Als sollten sie dort auf den nächsten Umzug warten. Wenn du Jochen und dir aber von Anfang an ernsthaft und aus vollem Herzen eine Perspektive hättest geben wollen, wäre das sicherste Zeichen gewesen, sie gleich nach deinem Einzug zu entsorgen. Ein klares Signal setzen, dass du bleiben willst und nicht nur auf einen Sprung bei ihm vorbeigekommen bist, verstehst du?«

»Auf den Dachboden«, sagte Marieke so ruhig wie möglich.

»Wie: auf den Dachboden?«, fragte Alexandra irritiert.

»Ich habe sie auf den Dachboden gestellt, nicht in den Keller. Im Keller liegen nämlich schon die Leichen, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen will. Das hast du mir zumindest vor einer Weile vorgeworfen, als ich vergessen hatte, Papa zum Geburtstag zu gratulieren.«

Ein triumphierendes Lächeln zog über Mariekes Gesicht, woraufhin Alexandra mit den Augen rollte, wie es nur große Schwestern können.

»Kannst du eigentlich ein einziges Mal ernsthaft auf das eingehen, was ich dir sage, und nicht immer aus allem ein Theaterstück machen?«

»Ich nehme dich ernst, das weißt du doch. Sonst hätte ich mir das gar nicht gemerkt.« Mariekes Stimme war wie Saccharin, künstlich und viel zu süß, nur konnte das die Kaffeebitterkeit in ihrem Inneren nicht überdecken.

»Wenn du mit Jochen genauso umgehst wie mit mir, wundert es mich gar nicht, dass er sich zur Erholung mal etwas gesucht hat, das nicht sofort mit jedem Satz die Messer wetzt, sobald die leiseste Kritik kommt.«

»Super gekontert, danke schön! Sag mal, bist du so zu deinen Klienten? Haust du da auch gleich auf die Stelle, wo es am meisten weh tut? Ist das die Methode, mit der ihr so erfolgreich seid? Es wäre nett, wenn du ein wenig einfühlsamer wärst. Ich bin frisch getrennt. Hast du das vergessen? Oder muss ich erst damit drohen, mich aus dem Fenster zu stürzen, damit du Mitleid mit mir hast?«

»Mitleid hilft dir jetzt nicht weiter. Und natürlich bin ich mit meinen Klienten sanfter. Aber du bist nun mal nicht meine Klientin. Du bist meine Schwester.«

»Ja, verstehe. Und für Schwestern gibt es keine Verlängerung bei der Krankenkasse. Schwestern hat man ganz ohne Überweisung am Hals.«

»Genau, und darum bin ich jetzt auch hier. Außerhalb der Praxiszeiten und mit ein paar Dingen, die du vielleicht nicht in deinen Kisten hast und trotzdem gut gebrauchen kannst.« Ohne einen weiteren Kommentar abzuwarten, zauberte Alexandra etliche kleine Frischhaltedosen aus ihrer beeindruckend großen Umhängetasche, mit Schildchen auf den bunten Deckeln: Lachsröllchen, Bulgursalat, gefüllte Weinblätter, Auberginenmus, Hummus, Knusperschnitzelchen, Datteln im Speckmantel, Fleischklößchen mit Erbsen. »Du wolltest gestern ja nicht zu uns kommen und mitfeiern. Da musste sich das Büfett wohl auf den Weg zu dir machen.«

Mitten auf Babettes Arbeitsplatte baute Alexandra kleine Türme aus den Boxen und beförderte schließlich auch Milch, Obst, Cherrytomaten, Brot, Käse, Margarine und zwei kleine Flaschen mit grünen Smoothies ans Tageslicht. Marieke hatte den Eindruck, als wäre sie in einem Märchen gelandet. Nicht unbedingt in dem vom Schlaraffenland, sondern in einem, in dem Riesen kleiner wurden, wenn sie näher kamen und Zimmer drinnen größer waren, als die Häuser von außen vermuten ließen. Ähnlich war es anscheinend mit Alexandras Umhängetasche. Sie war eine wahre Wundertüte und enthielt das, was andere Menschen nicht einmal in der Kühltruhe einer vierköpfigen Familie unterbringen könnten. Zu guter Letzt folgten dem Rest des Silvesterbüfetts und dem gesunden Allerlei drei Tafeln Bioschokolade.

»Mit fünfundachtzig Prozent Kakaoanteil«, sagte Alexandra, »denn wenn du schon einen Frustfressanfall bekommst, dann landet es wenigstens nicht gleich auf den Hüften. Ist jedenfalls besser als eine Packung Riesenschokoküsse in Kombination mit Chips und Cola.«

»Cola-Rum«, korrigierte Marieke sie, und ein schiefes Lächeln wehte über ihr Gesicht. »Seit ich volljährig bin, darf es zu solch besonderen Anlässen wie Trennungen und Auszügen gern auch mal etwas Alkohol sein.« Wobei sie vorsichtshalber die anderthalb Flaschen Wein, die sie sich gestern Abend zur Jahreswende Eins nach dem Beziehungsaus gegönnt hatte, mit keiner Silbe erwähnte.

»Klar, Alkohol. Das hatte ich beinahe vergessen.« Alexandra zwinkerte ihr zu. »Und weil dein neues Jahr besser anfangen soll, als dein altes zu Ende gegangen ist, habe ich dir das hier mitgebracht.« Aus einer Außentasche ihrer tragbaren Vorratskammer zog sie einen Blumentopf mit Glücksklee und einem goldenen Hufeisen – und eine kleine Flasche Champagner. »Ich vermute mal, dass du mit niemandem auf das neue Jahr angestoßen hast.«

»Stimmt«, sagte Marieke, denn beim Mit-sich-selber-Trinken ist es etwas schwierig anzustoßen. Es sei denn, man nimmt zwei Gläser. Doch das tut man nur, um sich entweder über seine Einsamkeit hinwegzutäuschen oder um doppelt so schnell betrunken zu werden. Und weder das eine noch das andere hatte Marieke gestern vorgehabt. Auch wenn sie Letzteres dann nicht ganz hatte vermeiden können.

»Gläser?«, fragte Alexandra.

Marieke zögerte, ob sie Babettes alte Senfgläser aus dem Küchenschrank holen sollte, doch dann atmete sie durch, öffnete die oberste Kiste – Geschirr! Vorsicht zerbrechlich!!! – und wickelte zwei der Sektkelche aus Muranoglas aus. Die Gedanken an die erste gemeinsame Reise mit Jochen schob sie zur Seite. Venedig im Herbst, kurz bevor die Stadt im Nebel versank und es unangenehm feucht wurde. Es war ein Traum gewesen. Nicht daran denken! Und auch nicht daran, dass sie die Kisten eigentlich gar nicht hatte öffnen wollen, weil sie heimlich hoffte, dass Jochen sie bereits vor dem Auspacken wieder zurück nach Hause holen würde, wenn er mitbekam, dass sie wirklich gegangen war. Aber sich darauf zu verlassen, schien ihr nicht sehr vernünftig. Eine SMS mit halbherzigen Wünschen am Neujahrsmorgen um halb elf ließ leider nicht vermuten, dass er sie sonderlich vermisste.

»Jetzt also noch mal offiziell: Auf dich, auf das neue Jahr, auf das Glück und auf die Liebe.« Alexandra hielt ihr das gefüllte Glas entgegen, bereit zum Anstoßen. Doch bevor Marieke den Toast erwidern konnte, liefen ihre Tränen.