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Robert Vorholt
Flucht in der Bibel

topos premium
Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

Robert Vorholt

Flucht
in der Bibel

Zwölf Geschichten von
Not und Gastfreundschaft

topos premium

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8367-0018-4

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5062-2

E-Pub: ISBN 987-3-8367-6062-1

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der

Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer.

Die Bibelzitate sind entnommen aus: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,

© 1980, Katholische Bibelanstalt, Stuttgart

Umschlagabbildung: © ad Rain / photocase.de

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Vorwort

I. „Weil du das getan hast …“ (Gen 3,14)

Vertreibung aus dem Paradies

Gottes Garten

Warnende Worte

Macht der Sünde

Vertreibung

II. „Aber Noach …“ (Gen 6,8)

Flutkatastrophe und Neubeginn

Die Vorgeschichte

Aber Noach!

Verdorbene Welt

Die Arche

Die Katastrophe Ein neuer Beginn

Perspektiven im Heute

III. „Zieh weg aus deinem Land“ (Gen 12,1)

Abrahams Flucht und Segen

Der Lebensstrom Abrahams und sein Aufbruch ins Land der Verheißung

Die Gefährdung Sarais

Abram trennt sich von Lot

Erneute Verheißung an Abram

Sarai und Hagar

Gottes Bund mit Abraham

Hoher Besuch bei Abraham

Isaaks Geburt – Hagars und Ismaels Vertreibung

Die Versuchung Abrahams

IV. „Mach dich auf den Weg und flieh“ (Gen 27,43)

Jakobs Flucht nach Haran

Vorgeschichte

Gipfel der Unverschämtheit

Flucht

V. „Hunger lastete schwer auf dem Land“ (Gen 43,1)

Josef und seine Brüder

Der verhasste Bruder Verraten und verkauft

Erste Gehversuche auf fremdem Gelände

Wendende Hungersnot

Happy End in Ägypten

VI. „Eine Nacht des Wachens für den Herrn“ (Ex 12,42)

Ein flüchtendes Volk

Die Vorgeschichte

Die Selbstoffenbarung Adonais

Rückkehr nach Ägypten

Der Auszug aus Ägypten

Der Zug durchs Meer

Auf Adlers Schwingen

VII. „Kehrt doch um, meine Töchter“ (Rut 1,11)

Notwendende Liebe

Aufbruch und Zusammenbruch

Hoffnungsschimmer und Lichtblicke

List und Liebe

Rettung und Lösung

VIII. „Bringst du dich nicht in Sicherheit, wirst du umgebracht“ (1 Sam 19,11)

Die Not Davids

Bei Hofe

Gegen Goliat

Ungnade

Des Todes

Freundschaftsdienste

Flüchtling

IX. „Nimm das Kind und seine Mutter, und flieh“ (Mt 2,13)

Die Flucht des Messias

Die Wurzeln des Messias

Die Flucht des Messias

Flüchtlingsliteratur

X. „An jenem Tag brach schwere Verfolgung herein“ (Apg 8,1)

Verfolgter Glaube

Ringen um Positionen

Radikalisierungen

Zeugnis und Martyrium

Verfolgter Glaube

XI. „Petrus aber klopfte immer noch“ (Apg 12,16)

Der Flüchtling vor der Tür

Verfolgte Glaubenszeugen

Die Flucht des Apostels

Das Ende des Tyrannen

XII. „Es schwand schließlich die Hoffnung, dass wir gerettet würden“ (Apg 27,20)

Der Bootsflüchtling Paulus

Jerusalemer Tumult

Unfairer Prozess in Cäsarea

Bootsflüchtling

Feuer der Gastfreundschaft

Ausblick:
„Vergesst die Gastfreundschaft nicht“ (Hebr 13,2)

Perspektiven der Menschlichkeit

Anmerkungen

Literatur

Abkürzungen

Vorwort

Die Bilder sprechen ihre eigene Sprache: ertrunkene Menschen, deren Leichen das Mittelmeer an die Strände seiner Urlaubsparadiese spülte; Flüchtlinge, eingepfercht in Kleintransporter; Frauen und Männer, die an den Bahnhöfen der europäischen Metropolen stranden; Kinder, die zu Fuß an der Hand ihrer Mütter und Väter über Autobahnen ziehen; Soldaten und Grenzpolizisten, die Stacheldrähte errichten und Grenzzäune sichern. Mit zum Teil entsetzlichen Nachrichten kehrt ein Problem zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, das lange Zeit weithin unbeachtet blieb: Die ungezählte Not von Menschen, die vor Gewalt fliehen oder sich durch den Verlust ihrer Existenzgrundlagen gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen.

Migration ist ein Menschheitsthema seit Anbeginn. Durch alle Epochen hindurch kam es zu Fluchtbewegungen, ausgelöst durch Krieg, Klimaveränderung, Hunger und andere Katastrophen. Zu Beginn des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung hat sich daran nichts Wesentliches geändert. Es zeichnet sich jedoch deutlicher denn je ab, wie sehr Migrationsbewegungen zu einem globalen strukturellen Problem geworden sind. Gemessen an jüngsten statistischen Erhebungen gibt es auf der Welt zwischen 200 und 300 Millionen Migranten; das entspricht gut 4 % der Weltbevölkerung. Die Zahlen haben sich in den zurückliegenden Jahren fast verdoppelt. Ungefähr die Hälfte der Flüchtenden sind Frauen und Kinder.

Die vielbeschworene Globalisierung ließ die Welt fraglos näher zusammenrücken. Das Bild, das sie gegenwärtig bietet, ist aber fragiler und zersplitterter denn je. Den wohlhabenden und einflussreichen Nationen des globalen Nordens stehen die Länder des globalen Südens entgegen, die nicht selten im wirtschaftlichen Elend zu versinken drohen. Für die einen sind weltweite Vernetzung und Mobilität Grundbedingungen für ihr hochflexibel gewordenes Leben. Für die anderen bleibt es ein Traum, wenigstens ein sicheres Zuhause zu haben. Ihr Los sind Flucht oder Vertreibung. Auf die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt (1906–1976) geht der Gedanke zurück, dass Flüchtlinge immer auch symbolisieren, wie nahe Zivilisation und Barbarei beieinander liegen können. Menschen, die fliehen, haben oft nichts außer das blanke Leben. Ihre Existenz ist zurückgeworfen auf das, was die Staatstheorie als „Naturzustand“ beschreibt: Ein rechtloser Raum, ohne Schutz und ohne Sicherheit. Solchen Menschen ist das Recht genommen, Rechte zu haben, wie Hannah Arendt es nennt.

Allen, die Hilfe brauchen und Schutz suchen, mit Respekt, Anstand und Solidarität zu begegnen, ist ein ethischer Grundsatz. Er ist viel älter als das Christentum – und wird doch gerade von Christinnen und Christen eingefordert und gesellschaftlich wachgehalten. Die jüngeren und jüngsten Initiativen Papst Franziskus’ belegen das auf eindrucksvolle Weise. Die meisten Weltreligionen unterstützen ihn dabei, ebenso wie verschiedene humanistisch orientierte Gruppen. In seiner Antrittsenzyklika Redemptor hominis, die 1979 weltweite Beachtung fand, formuliert Papst Johannes Paul II. eine programmatische Rückbesinnung und zugleich einen Marschbefehl auf das dritte Jahrtausend zu, indem er einladend und ermutigend festhält: „Der Weg der Kirche ist der Mensch.“ Der päpstliche Leitsatz bewegt sich auf biblisch vorgeprägten Bahnen. Die Heilige Schrift erzählt „die Geschichte Gottes mit den Menschen in Geschichten von Menschen mit Gott“ (Heinz Zahrnt). Die Bibel erzählt diese Story nicht als Unheils-, sondern als Heilsgeschichte – und so als eine Hoffnungsgeschichte, deren letzter Grund das Geheimnis der Liebe Gottes ist, das insbesondere den notleidenden, flüchtenden, recht- und heimat losen Menschen zugesprochen ist. Zwölf Beispielgeschichten des Alten und Neuen Testaments rund um Flucht und Vertreibung, Rettung und Gastfreundschaft wollen den Zusammenhängen nachspüren und gerade so ein Zeichen der Ermutigung und der Solidarität setzen: „Wir schaffen das“ (Angela Merkel) – vor allem dann, wenn dieses Wir in der Tiefe auch die Gemeinschaft von Gott und Mensch umfasst.

Der Idee zur Entstehung dieses Buches verdanke ich meinem verehrten Lehrer Prof. Dr. Thomas Söding. Nicht nur, aber auch bei der technischen Umsetzung unterstützte mich einmal mehr mein wissenschaftlicher Assistent Dipl. theol. Carsten Mumbauer, dem ich für vieles zu danken habe. Herzlicher Dank gilt auch Herrn Dr. Berthold Weckmann für die freundliche Betreuung des Buchprojektes vonseiten der Verlagsgemeinschaft topos plus. Gewidmet jedoch ist diese biblische Geschichtensammlung den Flüchtlingen auf der ganzen Welt und ihren Helferinnen und Helfern.

Luzern, Pfingsten 2016
Robert Vorholt

I.

„Weil du das getan
hast …“
(Gen 3,14)

Vertreibung aus dem Paradies

Der biblische „Garten Eden“ wird in griechischer Übersetzung „Parádeisos“ – zu Deutsch „Paradies“ – genannt. Ursprünglich stammt dieser Begriff aus der persischen Sprache und diente zur Bezeichnung eines umfriedeten Gartens. In dieser praktischen Bedeutung gelangte der Ausdruck auch in die griechische Sprachwelt. Xenophon (430–355 v. Chr.) benutzt ihn zum Beispiel zur Beschreibung von Parkanlagen persischer Großkönige. Gestaltete Gärten haben für die Menschen aller Zeiten eine besondere Bedeutung gehabt. Sie bringen Natur und Kultur zusammen. Es wundert daher kaum, dass sie leichthin zum Realsymbol kosmologischer Weltbilder wurden. Zahlreiche Mythen sprechen von einem urzeitlichen Garten und verbinden mit solch einem Paradies vollkommene Glückseligkeit. Dort leben die Götter; Helden und andere ausgezeichnete Sterbliche werden dorthin entrückt. Kronos, der Herr des Goldenen Zeitalters, wohnt nach der Vorstellung griechischer Mythologie auf den rosenumrankten Feldern Elysions, einer Traumlandschaft fortwährenden Frühlings.

Gottes Garten

Von einem Gottesgarten spricht auch das Alte Testament. Das zweite Kapitel der Genesis erzählt seine Geschichte:

4b Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, 5 gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen, und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte; 6 aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens. 7 Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus der Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. 8 Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. 9 Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. 10 Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. 11 Der eine heißt Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. 12 Das Gold jenes Landes ist gut, dort gibt es auch Bdelliumharz und Karneolsteine. 13 Der zweite Strom heißt Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. 14 Der dritte Strom heißt Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat. (Gen 2,4b–14)

Ausgehend von einer Art Urzustand, berichtet der biblische Text von der Erschaffung des Menschen. Das Ganze wird in das Licht einer kunstvollen Handlung getaucht. Der Ausdruck „formen“ ist in der hebräischen Bibel – ähnlich wie „erschaffen“ – allein Gott vorbehalten. Er ist der Künstler, der Mensch ist Gottes Kunstwerk. Es ist bezeichnend, wie groß hier vom Menschen gedacht wird. Der Mensch ist mit unermesslicher Würde ausgestattet seit Anbeginn. Er ist viel mehr als eine nur zufällig ins Dasein geworfene Kreatur – er ist von Gott gewollt, ein wahres Meisterstück.

Kurz zuvor fiel noch der Hinweis, es habe niemanden gegeben, der den vorhandenen Ackerboden hätte bestellen können – der Mensch sei schließlich noch nicht geschaffen worden (Gen 2,5). Jetzt ist er da – doch überraschenderweise stellt Gott die Krone seiner Schöpfung nicht gleich hinter den Pflug, wie folgerichtig zu erwarten stünde, sondern setzt ihn in einen Garten. Eden mag früher einmal tatsächlich der Name eines Landstrichs gewesen sein.1 Für die biblische Erzählung ist Eden ein Programmwort. Im Hebräischen erinnert das Wort an Freude und Wonne.2 Darum geht es. Die grundlegende Schöpfungswirklichkeit des Menschen ist sein Geschaffensein aus Gott. Diese Ursprünglichkeit in unermesslicher und ewiger Liebe ist Grund lebendiger Fröhlichkeit und tiefer Freude.

Dass die Bäume des Gottesgartens schön und seine Früchte köstlich sind, weist ihn als etwas Besonderes aus. Zwei Bäume werden eigens erwähnt: der „Baum des Lebens“ und der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“. Sie markieren nicht nur die geografische Mitte des Gartens. Im „Baum des Lebens“ scheint ein Motiv auf, das sich in vielen altorientalischen Mythen findet. Immer geht es um Sorglosigkeit und Unsterblichkeit. Die Genesis erwähnt den Baum zunächst nur ganz kurz. Seine besondere Rolle in der Dramaturgie der Erzählung erklärt sich erst vom Ende der biblischen Paradiesgeschichte her. Ähnlich verhält es sich mit dem „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“. Für ihn sind keine außerbiblischen Vorbilder bekannt. Aber es ist klar, dass Erkenntnis im Vorstellungsraum der Heiligen Schrift weit mehr bedeutet als menschliche Fassungsgabe und Intelligenz. Vielmehr geht es um das auch spirituelle Erfassen dessen, was diese Welt im Innersten zusammen hält.

Jeder Garten braucht eine ausreichende Bewässerung. Im Garten Eden entspringt ein breiter Strom, der zugleich als Ursprung der lebenspendenden Wasserläufe der Erde vorgestellt wird. Die Vierzahl dieser Flüsse entspricht den vier Himmelsrichtungen und steht für die ganze Schöpfung. Auf der Symbolebene wird so eine Verbindungslinie gezogen zwischen den unzählbar vielen vitalisierenden Rinnsalen dieser Welt und ihrem einen und einzigen mystischen Ursprung, aus dem sie hervorgegangen sind. Wasser ist die Quelle des Lebens. Und dieses Leben überströmt die Erde. Man kann sicher fragen, ob dem biblischen Autor konkrete Flüsse vor Augen gestanden haben. Das ist durchaus möglich, aber durch moderne Bibelwissenschaft kaum rekonstruierbar. Eufrat und Tigris sind bis in die Gegenwart hinein bekannt. Die restlichen Angaben verlieren sich im Nebulösen. Das Land Hawil könnte Arabien sein, der Pischon vielleicht der Indus. Wenn das Land Kusch Äthiopien sein sollte, wäre der Gihon möglicherweise der Nil, dem die antike Welt einen geheimnisvollen Ursprung zusprach. Entscheidend ist, dass der zweite Schöpfungsbericht dem Wasser eine hohe Bedeutung beimisst. Nicht sein lebensbedrohliches Potenzial steht im Vordergrund, sondern seine Leben schaffende und ermöglichende Kraft. Die aber ist auf das Engste mit Eden verbunden.

In diesen Garten hinein platziert Gott den Menschen:

15 Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte. 16 Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, 17 doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben. 18 Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. 19 Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. 20 Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht. 21 Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. 22 Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. 23 Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. 24 Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch. 25 Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander. (Gen 2,15–25)

Es lohnt sich, einen Blick auf die genaue Formulierung zu werfen. Die Bibel sagt, dass Gott den Menschen „nahm“ und ihn dann „in den Garten von Eden setzte“ (Gen 2,15). Diese Wendung hat Gewicht. Im Kontext des ganzen Alten Testaments zeigt sie eine besondere göttliche Erwählung an (vgl. Gen 24,7 im Blick auf Abraham; Ps 78,70 im Blick auf David und Am 7,15 im Blick auf Amos). Die Tatsache, dass der Schöpfer dieser Welt sein vornehmstes Geschöpf, den Menschen, vom Ackerboden weg hinein in den Paradiesgarten verlegt, ist erneut Ausdruck seiner einzigartigen Würde. Dem widerspricht nicht, dass es von nun an Aufgabe des Menschen sein sollte, den Paradiesgarten zu hegen und zu pflegen (vgl. Gen 2,15). Der kultivierte Garten ist offenkundig Gottes anvisiertes Ziel. Das ist nicht nur eine Aussage über die Schöpfung, es ist auch eine über den Menschen. Es obliegt ihm von seinen Ursprüngen her, sich nach dem je Höheren, Schöneren, Größeren auszustrecken. Der Mensch kommt zu sich selbst, wo er die Kultivierung seiner Welt betreibt.

Warnende Worte

Gott ist großzügig. Er erlaubt dem Menschen, von allen Bäumen seines Gartens zu essen – offenkundig auch vom „Baum des Lebens“. Eine Einschränkung gibt es allein beim „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“. Von seinen Früchten darf der Mensch nicht essen. Zum ersten Mal fallen warnende Worte: „Am Tag, an dem du davon isst, musst du sterben.“ (Gen 2,17) Dass das Verbot nicht einfach im Blick auf irgendeinen Baum, sondern auf den der Erkenntnis von Gut und Böse ausgesprochen wird, ist wichtig.3 Sonst ginge es vielleicht nur um ein nicht näher begründetes Verbot Gottes, dessen Zweck in der Warnung läge und dessen Absicht es wäre, den Menschen vor dem Tod zu bewahren. So aber wird ein größeres Kapitel aufgeschlagen: Die Warnung vor dem Sterbenmüssen hängt auf das Engste mit dem Wissen um Gut und Böse zusammen. Was aber ist mit dem Wissen um Gut und Böse gemeint? Nach Martin Buber ist damit ein Wissen angesprochen, das die Gegensätzlichkeit in allem betrifft.4 Der Mensch soll davor bewahrt werden, sich ein Wissen von den Kräften anzueignen, die in der Schöpfung Gottes gebändigt sind, da er sonst an diesem Wissen zugrunde gehen müsste. Ein überlegen-vertrautes Umfangen der Gegensätze ist laut Buber dem nur am Geschöpfsein, nicht an der Schöpfung beteiligten Menschen versagt. Er kann zeugen und gebären, aber nicht erschaffen. Diese Deutung hat das Potenzial zu erklären, warum Gott dem Menschen die göttliche Erkenntnis von Gut und Böse nicht zubilligt. Gott wollte den Menschen ursprünglich in einer Sphäre der Geborgenheit bewahren, die zerstört würde, wenn der Mensch gottgleich an den Kräften der Schöpfung rührte, ohne Schöpfermacht zu haben, und das Böse so entfesselte. Die Warnung Gottes ist dann keine überzogene Strafandrohung, sondern zielt darauf, den Menschen vor dem unweigerlichen Tod zu bewahren. Auf gleicher Linie, aber dichter und zugespitzter formuliert Eugen Drewermann: Es soll aufscheinen, „wie das Leben des Menschen in der Nähe Gottes und wie es in der Trennung von Gott beschaffen ist. Das, was der Mensch ist, ist für ihn gut, solange er mit Gott verbunden ist, es ist für ihn schlecht, sobald er von Gott getrennt ist. Dies zu wissen ist die Erkenntnis von Gut und Böse, vor der Gott den Menschen bewahren wollte, weil sie nur durch den Abfall von Gott zu erwerben ist. Sobald dieser Abfall eintritt, zeigt sich, dass die wesentlichen Bestimmungen des Menschen unter dem Vorzeichen der Schuld eine entgegengesetzte Qualität bekommen. Der Mensch bleibt, was er ist; aber das, was er ist, erhält eine besondere Bedeutung und Wertung; es wandelt sich von Segen in Strafe. Insofern hat die Sünde ihre Strafe in sich; indem sie erreicht, was sie will, verwandelt sie das, was ist, in sein Gegenteil. In dieser Art wird die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Bösen weitergehen: Der Mensch wird von sich aus immer wieder in einen endlosen Kreislauf im Kampf mit dem Bösen hineingezogen werden, das er zu besiegen meint, während er in Gefahr gerät, davon besiegt zu werden.“5

Es war wie der Blitz einer Verkehrskontrolle. Kein Wort von dem Unheil, das noch kommen wird. Stattdessen kehrt die Bibel zur Beschreibung des Gartens von Eden zurück. Zur geschaffenen Welt des zweiten Schöpfungsberichts gehören nicht nur Bäume und Pflanzen, sondern auch die Vögel des Himmels und die Tiere des Feldes. Gott schafft sie und übergibt sie dem Verantwortungsbereich des Menschen, was das zweite Kapitel der Genesis in bildhafter Sprache zum Ausdruck bringt, indem es festhält, dass der Mensch alle Lebewesen mit Namen versah. Natürlich geht es hier um einen Akt aneignenden Ordnens6, aber nicht weniger um die erzählerische Darstellung der Erschaffung von Sprache. Denn Schöpfung ist Sprachgeschehen. In ihr spricht Gott sich aus, in ihr teilt Er sich der Schöpfung in seinem Schöpfersein mit. Das Benennen von etwas oder jemandem bedeutet vor dem Vorstellungshorizont des Alten Orients immer auch die Ausübung eines Hoheitsrechtes. Auch das wird hier im Blick auf den Menschen festgehalten, allerdings so, dass deutlich wird, was Psalm 8 später im Blick auf Schöpfer und Geschöpf geradezu jubilierend zur Sprache bringt: „Was ist der Mensch, dass du, Gott, an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast den Menschen nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt.“ (Ps 8,5ff.)

Nach der Beschreibung des Gartens, die mit der Erwähnung des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse die Dramatik der fortschreitenden Erzählung nur anklingen lässt, wird der Faden von der Erschaffung des Menschen wieder aufgenommen. Der auf sich selbst bezogene Mensch ist nicht der, den Gott für gut befindet. Er soll auf ein Gegenüber bezogen sein und in Einheit mit ihm leben. Der Mann wird vollgültig zum Menschen in der Begegnung mit der Frau, die ihm entspricht. Damit wird der Frau eine für den Orient erstaunlich hohe Stellung in der ursprünglichen Schöpfungsordnung zugewiesen. Die Unheilsmacht der Sünde wird das Gleichgewicht zerstören: Dann wird der Mensch über den Menschen, der Mann über die Männin herrschen (Gen 3,16). Doch vorerst herrschen Freude und Jubel. Beides wird durch Gen 2,23 hervorgehoben. Jubilierend vor Glück bricht aus Adam hervor, was Martin Buber durch seine pointierte Übersetzung auf den Punkt bringt: „Diesmal ist sie’s!“7

Die Erzählung von der Erschaffung des Menschen klingt aus mit einem nur scheinbar unscheinbaren Hinweis: „Die beiden waren nackt, der Mann und seine Frau, aber sie schämten sich nicht voreinander.“ (Gen 2,25) Die Harmonie ist umfänglich. Nichts, dessen sie sich schämen müssten. Denn die Geschöpflichkeit des Menschen ist in den Augen Gottes nicht erniedrigend. Adam und Eva können in vollkommener Offenheit zu- und füreinander leben, ohne sich verbergen zu müssen. Zugleich ist jedoch der Kontrast aufgestellt, der das Dunkel des dritten Kapitels fühlbar macht. War bislang Gott der Handelnde (Gen 2), ist es jetzt der Mensch (Gen 3). Sehr schnell wird sich zeigen, dass die ursprüngliche Ordnung, die im Sinne Gottes war, durch das Tun des Menschen in ihr Gegenteil verkehrt wird. Die Schöpfung bleibt dieselbe. Die ganze Tragik liegt darin, dass das, was in ihr zum Segen geraten sollte, nunmehr zum Fluch wird.8

Das zweite Kapitel der Genesis steht dem dritten aber nicht einfach dualistisch wie Weiß und Schwarz, Licht und Finsternis gegenüber. Dies zu sehen ist immens wichtig; es konditioniert den gesamten Sinnhorizont des Zweiten Schöpfungsberichtes. Gen 2 beschreibt, was durch menschliche Schuld unwiederbringlich verloren ging, gleichwohl es doch im Ursprünglichen aus Gottes Schöpferwillen heraus gültig gesetzt und grundgelegt war. Hätte das in Gen 3 Geschilderte nicht diese strahlende Vorgeschichte und wäre also der Sündenfall des Menschen das Erste, was es im Blick auf seine innere Verfasstheit zu erzählen gäbe, so könnte er von nichts und niemandem für sein Tun und Lassen zur Verantwortung gezogen werden. Erblickte nämlich der Mensch im Zustand des dritten Kapitels der Genesis das Licht der Welt, wäre er kein ursprünglich reines und unschuldiges Wesen; in seinen Adern flösse mit Sünde und Tod belastetes Blut. Gen 2 wirft ein bleibendes Licht der Hoffnung auf die urmythologische Szenerie, indem davon die Rede ist, wozu der Mensch als Mensch ureigentlich berufen ist. Vor diesem Hintergrund ist es eben nicht die unabwendbare Schuld des Schicksals, die den Menschen zu dem macht, der er ist, sondern es ist seine freie und durchaus abwendbare Einlassung auf die Verlockungen des Bösen. Der Mensch ist verantwortlich, und darum ist er schuldig. Doch gerade so kann er gerettet werden.

Die biblische Erzählung fährt fort:

1 Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? 2 Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; 3 nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben. 4 Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. 5 Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. 6 Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. (Gen 3,1–6)

Von der Schlange heißt es, dass sie schlauer war als die anderen Tiere des Feldes. Genauer müsste man sagen, dass sie listig (arum) ist. Der einleitende Hinweis taucht alles Folgende in ein bestimmtes Licht. Es ist das trübe Licht von Hinterlist und Lüge, von Missgunst und Intrige. Am Ende der Geschichte spricht Eva das aus: „Die Schlange hat mich getäuscht!“ (Gen 3,13)

Macht der Sünde

Das sprechende Tier verleiht der Erzählung einen märchenhaften Zug. Vielleicht hat die Schlange die Funktion einer inneren Stimme. Vielleicht soll sie auf die Wirklichkeit des Bösen inmitten der Schöpfung hinweisen. Vielleicht bedarf der Mensch ihres zwielichtigen Impulses, um die Gebotsübertretung allererst zu erwägen. Die Kommentatoren denken hier in verschiedene Richtungen.9 Wie auch immer man diese Frage entscheidet, eines ist klar: Das märchenhafte Bild der listenreichen Schlange stellt keinen erzähltheoretischen Lapsus dar. Es dürfte – im Gegenteil – sehr bewusst gesetzt sein. Wenn ein märchenhaftes Symbolbild zur Ätiologie des Bösen in der Welt herangezogen wird, dann vielleicht gerade deshalb, um das Mysteriöse und Numinose des Phänomens zu betonen. Die Bibel trifft in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige Feststellung, die man leicht übersehen kann, weil sie nur en passant begegnet. In einem unscheinbaren Nebensatz wird von der Schlange gesagt, dass sie eines von den Tieren ist, die Gott, der Herr, gemacht hatte (Gen 3,1). Es handelt sich also nicht um eine ursprungslose eigenständige Größe. Damit schaltet die Genesis beinahe lautlos eine Lesehilfe vor die dann folgende Unheilsgeschichte und entwickelt Essentials einer Theologie des Bösen. Denn angesichts des großen Unheils, das die Schlange in ihrer List über die Menschen bringt, wird hier gleich zu Beginn daran festgehalten, dass alles, was sich ereignet, so furchtbar es auch sein mag, niemals der Schöpferliebe Gottes entzogen ist. Natürlich öffnet die Bibel damit geradezu dramatisch eine Flanke, indem sie Möglichkeiten schafft, nach Gottes Verantwortung zu fragen und sogar der Selbstrechtfertigung des Geschöpfes einen Ansatzpunkt zu bieten. Aber das Größere bleibt, dass einem Menschen, der je in den Strudel des Bösen gerät, für alle Zeit die Hoffnung gegeben ist, nicht einmal im Äußersten seiner Abgründigkeit aus dem Machtbereich des zur Umkehr rufenden Gottes herauszufallen. Das ist das große Pluszeichen, das vor der Klammer der Sündenfallerzählung wie ein Festhaltebalken zu stehen kommt.

Danach geht die Geschichte los. Der Satz, der dem Menschen das Gift des Bösen einflößt, wird gesprochen: „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ Die Szenerie erscheint harmlos. Die Schlange holt eine Erkundigung ein und gibt vor, an Gottes Wort interessiert zu sein. Tatsächlich verkehrt und verfälscht sie alles. Gott hatte gesagt: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen; nur vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.“ (Gen 2,16f.) Auf diese Weisung Adonais bezieht sich die Schlange. Aber sie verdreht sie so, dass sie Angebot und Verbot vermischt und die Grenzen zwischen Chance und Gefahr verwässert. So erreicht die Schlange, dass Gott selbst ins Zwielicht gerät, weil der Mensch nicht mehr weiß, ob Gott ihm Möglichkeiten gibt oder nimmt. „‚Nur von einem Baum dürft ihr nicht essen‘, daraus macht sie: ‚Ihr dürft ja wohl von keinem Baum des Gartens essen.‘ Aus ‚Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen‘, macht sie ‚Nicht von allen Bäumen des Gartens darfst du essen.‘ D. h., sie gestaltet es mit ihrer Frage so, als ob es eine Freigabe des Gartens gar nicht gegeben habe, als wenn alles überschattet würde von dem einen Verbot und dieses alles Erlaubte wegwischen würde. Ihre Frage suggeriert eine Ungeheuerlichkeit: dass Gott vielleicht ein so grausamer Despot ist, dass er einen prächtigen Garten schafft und den Menschen dort hineinsetzt und dass er ihm dann Tantalusqualen zumutet, indem er ihm verbietet, zuzulangen und die Dinge zu genießen, die er vor sich sieht.“10 Aus Halbwahrheiten macht die Schlange Vollwahrheiten, und aus Anscheinendem macht sie Scheinbares. Das ist der Takt der Demagogie.

In ihrer Antwort fühlt sich die Frau verpflichtet, Gott beizupflichten, denn ihn infrage zu stellen hieße ja für sie, das Leben selbst infrage zu stellen. Sie muss auf das zu sprechen kommen, was Gott wirklich gesagt hat. Hier, in Gottes Wort, war schließlich der Einfallsort des Bösen; hier nur können die Korrektur und die Aufarbeitung beginnen. Es fragt sich nur, ob das noch möglich ist. Denn seit Einlassung der Schlange kann Gott nicht mehr als der erscheinen, der den Menschen alles zum Guten hin eröffnet. Metastasen des Misstrauens bilden sich ab. Nicht aus sich heraus, sondern erst durch den Bedeutungshorizont, den Gottes Worte im Spiegel der Frage der Schlange annehmen, wird aus der Warnung Gottes ein Verbot. Deswegen psychologisiert die Frau das Wort zu Gottes Ungunsten, man dürfe nicht an dieser Weisung rühren, andernfalls müsse man sterben. Zerbrochen ist das ursprünglichste Vertrauen zum Gott des Lebens. Stattdessen wandelt sich hier die Vorstellung vom Höchsten zu der eines kleinlich strengen und strafenden Gottes der Vergeltung. Der Mensch will zwar auf Gottes Seite stehen, weil das Geschöpf im Schöpfer ruht, doch von nun an herrscht die Angst. So lässt sich kein Vertrauen mehr begründen. Die Weisung Gottes kann nur noch aus Furcht verzerrt und verkrampft wahrgenommen werden, anstatt in ihr ein Wort zum Leben zu erkennen. Die Schlange greift die Replik der Frau dankbar auf und setzt darin zum eigentlichen Dolchstoß an: „Nein, ihr werdet nicht sterben! Gott weiß vielmehr: Sobald ihr esst, gehen euch die Augen auf, und ihr werdet wie Gott.“ (vgl. Gen 3,4f.) Die Schlange tritt an die Stelle Gottes und lässt den Mensehen glauben, dass sie sagt, was gut für ihn ist. Und sie trennt ihn von Gott und lässt die Option für das Böse nicht länger als das, was es ist, sondern als einen vernünftigen Weg nach vorn, als einen Ausweg erscheinen. Der ursprünglichste Glaube, den die Genesis als reinen Vertrauensglauben beschreibt, ist zerstört: Das Gottsein Gottes wird verneint, das Menschsein des Menschen überhöht.

Ab jetzt ist nichts mehr aufzuhalten. Die Frau denkt, dass es köstlich wäre, von diesem Baum zu essen. Sie nimmt von den Früchten und isst, und gibt auch ihrem Mann, und auch er isst. Die Angst ist verflogen. Die Verführte wird zur Verführerin. Eine rasche Handbewegung – und die Sünde ist getan. Das Katastrophale wird geschildert, als handle es sich um etwas Selbstverständliches und Folgerichtiges.11 Doch gerade so holt der biblische Text die Logik der Sünde ein. Sie dient sich dem Menschen an, vernebelt den Horizont seiner Werte und weckt die vitale Lust an der Selbstzerstörung.

Den Menschen gehen tatsächlich die Augen auf. Doch welche Enttäuschung! Nicht die Göttlichkeit ihres Wesens erkennen sie, sondern die schlichte Nacktheit ihres kreatürlichen Daseins. In ihrem Gelöstsein vom Schöpfer werden die Geschöpfe auf das zurückgeworfen, was sie in Wahrheit sind, und dessen beginnen sie sich zu schämen. Indem sie wie Gott um Gut und Böse wissen, sehen sie die Unendlichkeit des Abstandes von Mensch und Gott. Mit einem Wortspiel deckt die Bibel die ganze Tragik des Geschehens auf: Die Menschen erkennen, dass sie nackt (arom) sind, die Schlange aber ist listig (arum). Bis in den Wortlaut hinein hat die Schlange recht behalten, aber der Sinn dessen, was sie versprochen hatte, ist das Gegenteil von dem, was der Mensch erhofft hatte. Hier schon nimmt seinen Lauf, was Gen 11 später über die Verwirrung der Sprache als letztes Stadium in der Entwicklung der Sünde erzählen wird. Gen 2 hebt zwei Wahrheiten voneinander ab: Der ursprünglichen lebensfördernden Gemeinschaft von Gott und Mensch wird der fatale Bruch des Geschöpfes mit seinem Schöpfer entgegengestellt.

Gen 3,8–24 lässt die Strafe auf dem Fuße folgen, aber nicht ohne Anklage und erst Recht nicht ohne Verteidigung:

8 Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens. 9 Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du? 10 Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. 11 Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem nicht zu essen ich dir gebot? 12 Adam antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und so habe ich gegessen. 13 Gott, der Herr, sprach zu der Frau: Was hast du da getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt, und so habe ich gegessen. 14 Da sprach Gott, der Herr, zur Schlange: Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. 15 Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse. 16 Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen. 17 Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem nicht zu essen ich dir gebot: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. 18 Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück. 20 Adam nannte seine Frau Eva (Leben), denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen. 21 Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit. 22 Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt! 23 Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. 24 Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten. (Gen 3,8–24)

Von nun an ist alles anders. Doch auf der Seite Gottes hat sich anscheinend nichts verändert. Er schreitet im Garten gegen den Tagwind umher. Spitz und fein ist hier die Erzählkunst der Genesis: Gerade jetzt, wo das ursprüngliche Verhältnis von Gott und Menschen so grundlegend zerstört ist, legt sich wie eine Folie das Bild jener Harmonie über die Dinge, wie sie von Gott her eigentlich gewollt ist. Dort, wo die Menschen wohnen, ist sein bevorzugter Ort. Er verkehrt mit dem Menschen auf Augenhöhe.12 Doch das ist vorbei. Was zuvor Schutz und Geborgenheit versicherte, dass Adonai den Menschen sieht, verkehrt sich hier ins Gegenteil. Die Angst des Menschen, nackt zu sein vor Gott, verrät, dass etwas nicht stimmt. Dabei ist die Naivität des Bildes eines Gottes, der im Paradiesgarten flaniert, gerade notwendig, um die Illusion zu begründen, dass es ein solches Versteckspiel des Menschen mit Gott geben könnte. Die Menschen denken sich die Nähe Gottes in rührender Weise noch immer wie Kinder, während sie doch zugleich längst wissen, dass die Voraussetzungen dieses kindlichen Verhältnisses zu Gott zerbrochen sind. Wie Kinder möchten sie sich vor ihrem Schöpfergott verstecken, dessen unveränderte Nähe ihnen aber nicht länger als Kinder begegnen kann, sondern als Schuldbeladene.13 Nach wörtlicher Übersetzung verstecken sich Adam und Eva „vor Gottes Angesicht“. Damit fällt ein Begriff, der im gesamtbiblischen Verstehenshorizont das beidseitige, lebendig-personale Verhältnis zweier Menschen, und auch die ebenso dichte Relation von Gott und Mensch bezeichnen kann. Gottes Frage „Wo bist du?“ (Gen 3,9) kann nicht einfach im geografischen Sinn mit „Wo steckst du?“ wiedergegeben werden. Hinter der Formulierung steckt vielmehr ein Akt der Zuwendung und nicht weniger ein Wort begründeter Ahnung: „Aus welcher Höhe bist du gefallen?“ Martin Buber ergänzt: „Wenn Gott so fragt, will er vom Menschen nicht etwas erfahren, was er noch nicht weiß; er will im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche Frage bewirkt wird.“14 Die Menschen sollen die Situation verstehen und ihre Lage bedenken vor Gott. Doch genau das ist unmöglich. Die Antwort des Menschen ist halb Wahrheit, halb Lüge. Dieses innere Gespaltensein aber verhindert, dass der Mensch sich ganz und gar, so wie er ist, Gott überlässt.

Die Fragen, die Jahwe noch stellen will, sind rein rhetorischer Art. Sie dienen dazu, dem Menschen eine Brücke zu bauen, um über das Bekenntnis zur eigenen Schuld zurückzufinden zu sich selbst und so hinein in die Ursprungsgemeinschaft mit Gott. „Hast du vom Baum, von dem nicht zu essen ich dir gebot, gegessen?“ – Adam brauchte eigentlich nur Ja zu sagen. Aber gerade die Erinnerung an Gottes Weisung würde, so glaubt er wohl, die eingestandene Schuld zu einem selbstgefällten Todesurteil machen. Der Mensch wagt nicht zu lügen, er wagt aber auch nicht, die Wahrheit auszusprechen. Eben darin liegt die ganze Tragik seiner Angst, die nicht nur Schuld hervorbringt, sondern auch Umkehr verhindert.15 Wieder sieht man den Menschen hilflos in die falsche Richtung wanken. Er verspielt seine Chance zur Umkehr. Stattdessen versucht er, Zweideutigkeit zu säen. Nun gibt es kein Zurück mehr.

In gleicher Reihenfolge, in der sie bei der Gebotsübertretung beteiligt waren, wird nun über die der Schuld Überführten das Urteil gesprochen. Die Urteilssprüche beschreiben das Dasein, das die Schlange, die Frau und der Mann fortan fristen werden. Es ist eine Umkehrung der Darstellung des Lebens, das ihnen im Licht von Gen 2 ureigentlich zugedacht war. Es ist die Vertreibung aus dem Paradies.