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Schreiben heißt, sich selber lesen (Erich Fromm)

Rüdiger Koch

Spätlese

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© 2016 Rüdiger Koch

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7345-6679-0
Hardcover: 978-3-7345-6680-6
e-Book: 978-3-7345-6681-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Inhalt

Ausgepackt

Winterliche Waldesruh

Alte Freunde

Liberalitas Bavarica

Alkohol und Musenkuss

Grapefruit Juice auf Helgoland

Leuchtturm Roter Sand

Das erste und das letzte Ma(h)l

Icke begegnet sich

Nase oder Blase

La Mer: Galapagos. Achtlos.

Sonntags auf dem Emder Wall

Allerlei Rauch

Aufbruch im Abschied

Im Dschungel

Fallobst

Vom Hühnerstall nach Hollywood

Über`n Deister

Eine Leiche im Keller

Parkinsonaden

Der Schelm

Ausgepackt

(Die nebenstehende Zeichnung erstellte Inge Steineke, Bremen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.)

Wenn man doch schon vorher wüsste,

was wohl verbirgt uns diese Kiste.

„Vorsicht“ steht da, auch: „Zerbrechlich“.

Wir nähern uns dem an - gemächlich.

Der Gaukler mit dem Vogelkleid

lässt uns ein ganzes Jahr der Zeit!

Gezaubert wird dann aus dem Hut!

Für Überraschungen stets gut

sind in Paketen bunt gemischte Gaben,

die Freud´ und Leid als Eltern haben,

versetzt mit allerhand Gedanken,

die oft Geheimnisse umranken.

All das Gepäck will auf die Reise,

krachend im Abgang, manchmal leise.

Ein kleiner, roter Faltkarton

hat es geschafft und fliegt davon.

Der Gaukler lässt ihn gerne zieh`n.

Sein Finger zeigt: Wer weiß, wohin?

 

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Winterliche Waldesruh

Grüße aus Absurdistan

Trari, trara schallt es im Wald,

den Blechblasgruppen wird es kalt.

Tubisten von der Feuerwehr,

Trompeter sind sogar vom Heer.

Da draußen friert es Stein und Bein,

man richtet schnell ein Biwak ein.

Ein Hauptmann rät zu Dauerlauf.

Das THW stellt Zelte auf.

Ein Kornettist verfällt in Trab

und friert sich fast die Ohren ab.

Es bibbert der Posaunenchor,

ihr Notenwart ganz furchtbar fror.

Vor Kälte ist er ganz benommen,

´ne warme Suppe wär’ willkommen.

Schalmeien stellt der Spielmannszug,

es friert auch jener, der die Lyra trug.

Der kalte Nordwind bläst erbittert,

derweil der Schellenbaum erzittert.

Ein Schützenbruder geht nach vorn

und bläst gewaltig in sein Horn.

Vom Bläserwerk ein Diakon

greift rasch zu seinem Bariton,

noch ehe dessen Ton verklingt,

hört man am Sound, dass etwas swingt.

Vom Timing her kommt wenig später

völlig verfror‘n ein Jazztrompeter.

Er spielt die Changes rauf und runter

und macht die andren Bläser munter.

Blechbläser aller Bläser-Stile,

von denen gibt es reichlich viele.

Sie kommen um dem Spiel zu frönen

und auch um sich zu übertönen.

Nur eines bleibt dabei stets stumm:

Das ist im Wald das Publikum.

Vor Rehen, Dachsen und auch Hasen

wird heute hier der Marsch geblasen.

Den meisten Eichen, Buchen, Schlehen

vergeht beim Lärm Hören und Sehen.

Ameisen, Asseln, Käfer, Spinnen

werden dem Lärm auch nicht entrinnen.

Die Waldbewohner über Nacht

hat Marketing zu Fans gemacht.

Folglich sind Oberkrain und Egerland

den meisten Waldbewohnern jetzt bekannt.

Allein bei Bebob, Blues und Swing

ist das Interesse noch gering.

Doch richt´ge Fans auch hier ausharren.

Sie wollen ihre Stars anstarren.

Weit mehr noch möchten sie mal hören,

wie Bläser Waldesruhe stören

mit Marschmusik und Tralala

und „Alle Vögel sind schon da“.

Den Vögeln aber war’s zu kalt,

deshalb verließen sie den Wald

und überließen, richtig frech,

die Waldbeschallung ganz dem Blech.

Alte Freunde

Was gleich beginnt, kann unterschiedlich enden

(Der kursiv gesetzte Anfang der Kurzgeschichte wurde von Christel Daesler-Lohmüller, Berlin, verfasst. Ihre Geschichte fand zwei unterschiedliche Fortsetzungen, die erste vom Autor dieses Buches, die zweite von Liana v. Fromberg-Koch, Hinte. Ich bedanke mich bei beiden Autorinnen für die freundliche Genehmigung zum Abdruck ihrer Texte.)

Die kleine bunt zusammengewürfelte Wandergruppe, der sie sich angeschlossen hatte, seit ihr Mann verstorben war, hatte versucht das Beste aus diesem verregneten Wandertag zu machen. Nachdem sie eine Weile dem Wetter getrotzt hatten, fanden sie ein Café und kehrten dort ein. Eine von ihnen bestellte einen Fliederbeersaft. Holunderblüten waren in letzter Zeit ja wieder in Mode gekommen.

Der einzige Mann in der Runde erzählte, auf dem Hinterhof, wo er großgeworden sei, habe ein Holunderbaum gestanden. In der Stadt war das etwas Besonderes!

Sie stutzte. „Ach, tatsächlich?“ Sie erinnerte sich, dass auch bei ihnen im Hof ein Holunderbaum gestanden hatte.

Nach einigen weiteren Sätzen war klar, dass es sich um denselben Holunderbaum handelte.

Sie sagte: „Dann müssen Sie Frank Wegner sein.“ „Richtig!“ Er hatte im rechten Seitenflügel im 1. Stock gewohnt. Er war einige Jahre älter als sie, klein und drahtig wie früher. Sie hätte ihn nicht wiedererkannt. Als Kinder hatten sie immer zusammen in dem Waschzuber gebadet, wenn die Mütter in der Waschküche große Wäsche hatten.

Natürlich gab es viel Gesprächsstoff. An welche Plätze konnte man sich noch erinnern. Wer kannte wen, wer hatte zu wem noch Kontakt? Wie ist das Leben bei allen weitergegangen?

Beide hatten keine Partner und keine Kinder.

Sie war eine wohlsituierte Witwe. Er erwähnte mehrere Partnerschaften, die durch „unglückliche Umstände“ wieder auseinandergegangen waren. Beruflich hielt er sich etwas bedeckt. „War wohl keine Erfolgsstory“, dachte sie nur. In den letzten drei Jahren hatte er seine Mutter gepflegt und mit dem Pflegegeld war er so über die Runden gekommen, ohne große Ansprüche zu haben.

Sie hatte ihn zu sich eingeladen, um ihm alte Fotos zu zeigen. Sie hatte sich schick gemacht wie schon lange nicht mehr. Er gefiel ihr, und er erschien ihr schnell wieder vertraut, obwohl 60 Jahre dazwischenlagen. Und endlich hatte sie jemanden, mit dem sie ihre Erinnerungen austauschen konnte. Sie reiste gerne in die Vergangenheit. Er brachte ihr Blumen mit, nicht wissend, dass sie solche Mitbringsel vor allem als Arbeit verursachend betrachtete.

Sie verabredeten ein weiteres Treffen, sozusagen einen „Ortstermin“. Sie wollten sich zusammen das Haus, den Hof und den Dachboden noch einmal ansehen.

Beide hatten nicht bedacht, dass der Eingang verschlossen sein würde und so warteten sie ziemlich lange, bis jemand aus dem Haus kam und sie einließ. Ihre Erklärung wurde mit einem Stirnrunzeln bedacht.

Der Durchgang zum Hof schien beiden düster und schäbig, der Hof klein, eng und dunkel, ohne Sonne. Die Fronten der Hinterhäuser runtergekommen. Sie konnten sich nicht einigen, wo der Holunder gestanden hatte. Im hinteren, etwas helleren Teil des Hofes fanden sie einen Birnbaum wieder und eine Klopfstange, die die Kinder früher nutzten, um aus alten Decken ein Zelt zu bauen.

Natürlich war auch der Seitenflügel verschlossen. Keine Chance, auch den Dachboden anzusehen. Früher waren die Kinder beim Spielen (Räuber und Gendarm) über die Dachböden entschwunden und einige Häuser weiter wieder runtergekommen.

Weitere Anekdoten wurden ausgetauscht. So lachte man wieder über Elvira aus dem Nebenhaus, eine junge Frau mit barocken Formen, die immer sehr leicht bekleidet auf den Balkon trat und mit den Bauarbeitern auf dem Gerüst nebenan oder Männern auf der Straße flirtete.

Von da an trafen sie sich regelmäßig und natürlich blieb es nicht aus, auch ausführlicher darüber zu sprechen, wie die 60 Jahre verlaufen waren, was jeder von ihnen aus seinem Leben gemacht hatte.

Sie hatte einen sehr gradlinigen Lebenslauf, kaum Brüche oder fundamentale Veränderungen, keine Ortswechsel. Sie war nach der Lehre bei zwei Firmen und dann bis zur Rente im öffentlichen Dienst beschäftigt gewesen, hatte früh geheiratet und war immer mit demselben Mann verheiratet gewesen.

Bei ihm gab es viele Veränderungen, Neuanfänge, Wechsel, sowohl privat als auch beruflich, einige Änderungen, die sie gar nicht nachvollziehen konnte, unerklärliche Sprünge, und so erzählte er ihr schließlich, dass er vor 20 Jahren wegen Raubes mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Sie war schockiert, das passte nicht in ihr Weltbild. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

An diesem Abend verabschiedete sie sich unter einem Vorwand sehr schnell.

Er hatte noch mehrmals angerufen, sie war froh, dass sie gerade unterwegs gewesen war. Doch nun wollte sie sich nicht verleugnen lassen.

Nach einer Weile legte sie den Telefonhörer auf und seufzte. Nachdenklich guckte sie aus dem Fenster. Was sollte sie davon halten? Dabei hatte alles so gut angefangen, geradezu schicksalshaft.

Fortsetzung 1: Rüdiger Koch

In den nächsten Tagen ging es ihr nicht gut, offenbar hatte sie sich bei dem spätherbstlichen Schmuddelwetter eine starke Erkältung zugezogen. Sie war ja so empfindlich! Vorsorglich hatte sich Hulda, so hieß die alte Frau, eine große Kanne Fliederbeertee gekocht, abgeseiht und dann in kleinen Schlucken getrunken.

Sie erinnerte sich dabei an ihre Kindheit, wie sie von ihrer Mutter, einer durch und durch resoluten Frau, bei dem geringsten Anzeichen einer Erkältung sofort ins Bett gesteckt wurde.

Dort bekam Hulda, unter großen Federbetten begraben, mit einer Schnabeltasse heißen Fliederbeertee eingeflößt, um ins Schwitzen gebracht zu werden. Zumeist waren nach einer solchen Schwitzkur am nächsten Morgen die Erkältungssymptome wie weggeblasen.

Es war schön, so umsorgt zu werden!

Schmerzlich wurde Hulda bewusst, dass sie seit dem Tod ihres Mannes niemanden mehr hatte, der sie umsorgen würde und dass auch niemand auf sie wartete, den sie hätte umsorgen können.

Mit schrecklicher Gewissheit wurde ihr klar, dass sie allein auf dieser Welt war, alt und einsam, ohne Kinder, ohne Mann und auch ohne einen Freundeskreis, denn ihre „Freunde“ waren nach dem Tod ihres Mannes nach und nach weggeblieben, einige bereits auch schon verstorben.

Nein, sie machte sich nichts vor: Es gab keinen Menschen, der an sie dachte, dem sie etwas bedeutete. Auch die Mitglieder jener „Wandergruppe“, der sie sich für eine Wanderung über die Schwäbische Alb angeschlossen hatte, waren nach Erreichen ihres Zielortes Münsingen in alle Himmelrichtungen verschwunden.

Hulda war sich sicher, sie würde sie nie wiedersehen, auch wenn man sich doch genau dies am gemeinsamen Abschiedsabend beim Trollinger noch feierlich gegenseitig zugesichert hatte.

Lediglich mit Frank Wegner war sie nach Beendigung ihrer Reise noch in Kontakt geblieben. Sie hatte seine Anwesenheit zu schätzen gewusst und auch seine Aufmerksamkeit genossen. Dass sie keine Blumen mochte, konnte er ja nicht ahnen. Wie auch? Sie hatte ihm ja nie eine Gelegenheit gegeben, außer belanglosen Details etwas wirklich Interessantes über sie zu erfahren.

Sie hatte ihrem Namen Hulda, der im Nordischen so viel wie „verborgen“ und „Geheimnis“ bedeutet, alle Ehre gemacht.