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Frederik Hetmann (Hg.)

MÄRCHEN
VON DER
ANDERSWELT

Zum Erzählen und Vorlesen

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Neu zusammengestellte und gekürzte Sonderausgabe des Titels

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

E-Book-Ausgabe

© Frederik Hetmann c/o Montasser Media

Lektorat: Claudia Lazar, Kiel

Umschlaggestaltung: Jessica Quistorff, Seedorf, unter Verwendung eines Motives von Fotolia.com: »abstract landscape with old castle« @ diavolessa

ISBN 978-3-86826-338-1

Überblick

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über alle 45 Geschichten, womit sich die eine finden läßt, auf die der Leser gerade Lust verspürt

Einladung

zu einer Reise in die Anderswelt

I. Kapitel,

in welchem von den verschiedenen Feenwesen die Rede ist, welche die weitläufigen Provinzen der Anderswelt bevölkern

Der arme Junge aus Castlerea (Lepracaun)

Billy Mac Daniel und der Cluricane

Far Darrig und der Tinker, der keine Geschichte wußte

Der Geschichtenerzähler in Verlegenheit

Das gebückte Mütterchen (Pooka)

Die Seelenkäfige (Merrow)

Ethna die Braut

O’Donoghue zahlt eine Pacht

Die Vision des Mac Conn Glinne

II. Kapitel,

in welchem man vernimmt, was die Feen in der Anderswelt, aber auch unter den Sterblichen tun und treiben

Von der Vielzahl des Hügelvolkes

Die Hebamme wird zu einer Geburt in den Crag gerufen

Die Hebamme, die ein Auge verlor

Die Frau, die aus der Luft fiel

Der Gruagach von Malinmore

Der Große Markus und seine Feenfrau

Der Mann aus Inver und die Feenfrau

Die Feenkuh und ihre Nachkommen

Die Feen schenken Zauberkräfte

Eine Münze täglich, bis das Geheimnis verraten wird

Eine freundliche Frau erhält das Geld wieder, das ihr Mann verloren hat

Der Feenbrotlaib

Eisen und Salz meiden die Feen

Gesalzenes Zusammengekochtes und der Feenmann

Der erste Anruf am Morgen

Die Bochtóg der Mac Ginleys

Die Feeninsel vor Rathlin O’Birne

Das Mädchen aus der See und Eoin Óg

Mit dem Boot entführt

Der Schmied von Bedlam und der Feenzug

Du wirst zahlen

Steine von einem Feenort

Der Fremde, der den Mann vom Zoll täuschte

Das Spinnrad und das kleine Volk

»Mit etwas Hilfe von meinen Freunden«

Die unerschöpfliche Vorratskiste

III. Kapitel,

das vom Kalender der Anderswelt handelt, in dem erzählt wird, was einem dort an bestimmten Tagen zustoßen kann und wie es sich mit der Anderszeit verhält

Der Tod der Hündin Bran

Der Ruf an Oisin

Die Vision des Heiligen Patrick

Oisins Wiederkehr

Daniels Brautfahrt

John Connors und der Feenkönig

IV. Kapitel,

worin Geschichten von Liebe und Tod versammelt sind, deren verborgener Sinn erforscht wird

Wie Dermot zu seinem Liebesfleck kam

Die Tochter des Königs über das Reich hinter den Wellen

Der Tod des Königs Muirchertach

Wie Trystan Esyllt gewann

Anmerkungen und Quellenangaben

worin nachgelesen werden kann, woher die in diesem Band versammelten Texte stammen, und wo noch allerlei Wissenswertes ausgebreitet wird

Midhirs Lied von der Anderswelt

Ach, schöne Frau, willst du mir folgen in ein wunderbares Land, wo immer Musik erklingt? Das Haar derer, die dort wohnen, gleicht den Blütenblättern von Pfingstrosen, und ihre Leiber haben die Farbe von Schnee.

Es gibt dort weder ›mein‹ noch ›dein‹, weiß sind die Zähne dort und schwarz die Augbrauen, ein Fest für das Auge ist die Zahl unserer Gäste, ihre Wangen haben die Farbe der Fuchsien. Und der Kamm jedes Moors ist purpurn; eine Freude fürs Auge sind auch die zahlreichen Drosseleier. Mögen die Ebenen Irlands schön dich dünken, so kommen sie dir vor wie eine Wüste, kennst du die Ebene der Anderswelt.

Gut mundet das Bier in Irland, aber das Bier des Großen Landes schmeckt viel köstlicher, ein Wunderland ist das Land, von dem ich rede. Es sterben dort nicht wie hier die Jungen vor den Alten. Niemand dort stirbt.

Bäche mit weichem, wohlriechendem Wasser fließen durch dieses Land und du hast Met oder Wein, ganz nach Belieben, zahllos sind die Leute, deren Schönheit ohne Makel. Empfangen sind sie ohne Sünde und leben ohne Schuld.

Wir sehen nach allen Seiten hin, aber niemand sieht uns. Es ist die Dunkelheit, der sich Adam entzog, die uns davor verbirgt, gezählt zu werden.

Weib, wenn du mir folgst zu meinem mächtigen Volk, will ich dich mit einer Krone aus Gold schmücken, Honig, Wein, Bier, frische schäumende Milch – alles ist dort in Hülle und Fülle, du meine Schöne!

Unbekannter irischer Autor des 9. Jahrhunderts

»Eine Frage an dich, sagte Columcille zu seinem seltsamen Besucher aus der anderen Welt. Was war dieser See, auf den wir jetzt schauen, in alter Zeit? Ich weiß es, antwortete der junge Mann. Er war gelb. Er war blühend. Er war grün. Er war hüglig. Er war ein Ort, an dem man trank. Es hatte Silber darin. Dort standen Streitwagen. Ich lief hindurch, als ich ein Rehbock war, als ich ein Lachs war, als ich ein wilder Hund war. Als ich ein Mensch war, badete ich darin. Ich führte ein gelbes Segel und ein grünes Segel. Ich kenne nicht Vater noch Mutter. Ich spreche mit den Lebenden und den Toten.«

Legenden des Columcille

»Die Grenzen unseres Bewußtseins sind fließend. Viele Vorstellungen können sich in ihm miteinander verweben, und eine einzelne Vorstellung kann sich so herstellen, eine bestimmte Energie.«

William Butler Yeats

Einladung

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zu einer Reise in die Anderswelt

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Es gibt in der Folklore Irlands* eine erstaunliche Vielzahl von Mythen, Märchen und Sagen, die alle auf ein Reich verweisen, das man vergeblich auf einer Landkarte sucht.

Es heißt englisch »Otherworld«, übersetzt: »Anderswelt«*. In den verschiedenen Texten taucht es unter der Bezeichnung »Land der Ewigen Jugend«, »Land hinter den Wellen«, »Insel der Seligen«, »Land der Frauen«, »Welt der Hoffnung«, »Reich des Versprechens« auf.

Bewohnt wird die Anderswelt von den Feen: dem Lepracaun, dem Pooka, dem Cluricaune, der Banshee, den Merrows, Brownies, Hobgoblins, dem Nicht Nocht Naethin, der Nenam, dem Nuckelavee und wie die verschiedenen Geschöpfe unter dem »kleinen Volk« noch alle heißen. Es gibt Bäume in dieser anderen Welt, die Zauberbäume sind und an deren Namen geheimes Wissen geknüpft ist: Eiche und Esche, Apfelbaum und Haselnußstrauch, Stechpalme und Weide, Erle und Buche. Tiere trifft man dort, die es nirgendwo anders gibt: den Cu Sith, ein fürchterliches Geschöpf, der gern als Wachhund gehalten wird, Wasserpferde, Elfenkälber; den Afanc, der einem riesigen Biber gleicht, den Boobrie, einen übergroßen Wasservogel, schneeweiße Hunde mit roten Ohren, Forellen mit silbernen Schuppen, Lachse, mit deren Genuß man die Weisheit der Anderswelt in sich aufnimmt.

Es ist keine Welt des Müßiggangs und der Tagträume. Sterbliche, die einen Feenhügel betraten und nach Jahr und Tag den Weg zurück in unsere Welt fanden, wußten zu berichten, daß sich die Feen mit ganz ähnlichen Beschäftigungen abgeben wie die Menschen. Die Frauen spinnen und weben, backen und kochen, die Männer schlafen, tanzen, reißen Witze, fiedeln und spielen den Dudelsack. Feen gelten als geschickte Bootsbauer, manche wissen um verborgene Schätze, von anderen ist nicht mehr und nicht weniger zu erwarten, als daß sie die Küche putzen und den Herd scheuern.

Zwischen den Sterblichen und den Feen, zwischen der realen und der Anderswelt bestanden und bestehen enge Beziehungen.

Nicht nur der des Büffelns und Lernens überdrüssige Mönchsschüler Elidor gelangte hinüber in die Anderswelt und, mit einem goldenen Ball, auch wieder zurück.

Da ist Thomas Rymour von Erceldoune, der an einem Maitag sich im Wald im Gras ausstreckte und in die Wipfel der Bäume und auf die drüber hinziehenden Wolken blickte.

Einer schönen Frau begegnet er. Sie reitet auf einer milchweißen Stute. Am Zaumzeug hängen kleine Glöckchen. Erst hält er die Dame für die Himmelskönigin. Aber sie weist ihn zurecht. Dieser Name komme ihr nicht zu. Die Königin des »fair elfland«, des Feenlandes, sei sie. Bewundernd starrt Thomas sie an. Sie läßt sich von ihm küssen. Sie verführt ihn dazu, mit ihr zu schlafen. Er wird in grünes Tuch gekleidet. Er bekommt ein Paar Schuhe aus grünem Samt. Er steigt hinter ihr aufs Pferd. Fort geht’s in die Anderswelt. »And till seven years were past and gone« (und bis auf Erden nicht sieben Jahre vergangen), heißt es in einer Ballade aus dem 14. Jahrhundert, »true Thomas on earth was never seen« (ward der wahre Thomas auf Erden nicht mehr gesehen).

Ein irischer Spielmann, ein Dudelsackpfeifer, folgt den Feen in einen ihrer Hügel und spielt ihnen auf. Als Dank befreien sie ihn von seinem scheußlichen Buckel. Aber ein anderer Buckliger, der ebenfalls sein Glück in der Anderswelt und bei den Feen versuchen will, kommt mit gleich zwei Höckern auf dem Rücken wieder zurück.

Der Wanderarbeiter Rhys, der sich mit seinem Freund Llewellyn auf dem Heimweg befindet und am Rand eines Feenringes vorbeikommt, hört Musik und Tanzschritte. Es zuckt und juckt ihn unter den Fußsohlen. Er ist sich der Gefahr durchaus bewußt. Er kann nicht widerstehen. Er muß hin, mittanzen. Für seinen Freund und Kameraden löst er sich in Dunst auf. Llewellyn gerät in der Welt der Menschen in den Verdacht, Rhys ermordet zu haben. Nach einem Jahr und einem Tag schleicht er sich in den Feenring. Mit allerlei Bannzauber und Gewalt holt er den Freund zurück … und der vermeint, nicht länger als fünf Minuten bei den Feen getanzt zu haben.

Doch für die meisten Sterblichen, sie mögen kurz oder lang im Feenreich gewesen sein, enden solche Aufenthalte in der Anderswelt tödlich. Wenn sie zurückkommen, legt sich das Gewicht all der Zeit, die im Diesseits verstrichen ist, auf ihre Schultern, und sie zerfallen zu Staub oder Asche.

Feen sind klein, winzig. Deswegen heißen sie in manchen Gegenden auch »das kleine Volk«.

Feen sind riesig, übermächtig, größer als Menschen. So gehen die Meinungen auseinander. Feen sind gefallene Engel. Feen sind Tote. Feen sind Hausgeister.

Feen sind Quellgeister. All diese Erklärungen kann man hören. Aber sind damit die Feen und ihr Land, die Anderswelt, wirklich erklärt?

Feen jagen, reiten, festen, halten Hof, treiben Sport. Glanz ist um sie, aber auch Schrecken und Chaos. Unter den Feen gibt es Individualisten, wie unter den Menschen, weibliche und männliche Feenwesen, die stets allein auftauchen. Einzelgänger. Feen fürchten sich vor Eisen, sind andererseits aber manchmal auch recht geschickte Schmiede. Feen umgibt die Aura des Todes, der Modergeruch eines Totenreiches. Aber Feen sind es auch, die Fischer vor der Westküste Irlands vor Sturmfluten warnen und so diesen Männern das Leben retten.

Die Aussagen zum Wesen und zur Eigenart der Feen sind voller Widersprüche.

Gegen Feen kann man sich schützen. Mit Eberesche und Weißdorn. Aber warum gerade damit?

Feen kann man sehen. O gewiß doch. Aber wann und wo, das sind Fragen, zu denen es viele Antworten und noch mehr Geschichten gibt.

Als relativ sicheres Mittel gilt der Besitz eines vierblättrigen Kleeblattes. Oder man muß sich Feenbalsam auf die Auglider träufeln. Wer sich mit Feen befaßt, steht am Ende immer wieder vor einem neuen Geheimnis.

Immer stehen die Feen gerade im Begriff, sich zu entziehen. Schon zu Chaucers Zeiten klagt die gute Frau aus Bath darüber, die Feen hätten sich bereits zu König Arthurs Tagen entschlossen, der Welt für immer den Rücken zu kehren.

Im 17. Jahrhundert dichtet ein englischer Bischof:

But since of late Elizabeth

And later James came in,

They never danced on any heath

As when the time have been.

Aber im 20. Jahrhundert, noch vor zehn Jahren, kommen aus einer bestimmten Gegend des Nordwestens der Irischen Republik, nämlich aus Donegal, Nachrichten, die einen an das Verschwinden, das nun schon fast so lange währt wie unsere Zeitrechnung, doch nicht recht glauben lassen will.

Und einmal so gefragt: Was ist verloren, wenn die Feen endgültig verschwunden sind?

Seit dem 18. und 19. Jahrhundert bevölkern die Feen vor allem die Literatur.

Bei William Blake, bei Scott und freilich bei Robert Burns wimmelt es nur so von Feen! Ist dies alles noch Echo auf die berühmteste Feengeschichte der englischen Literatur, auf William Shakespeares »Ein Sommernachtstraum«?

Folkloristen sammelten Feengeschichten und Feengestalten wie die Species von Schmetterlingen. Manche kamen dazu wie Jeremiah Curtin aus der Neuen Welt nach Irland, das wohl immer schon der Feenort par excellence war, Mittelpunkt aller Reiche der Anderswelt.

Mit Rudyard Kipling nähern wir uns schon der Moderne. Dieser Autor, dem europäischen Realismus verbunden, aber doch auch von indischer Mystik beeindruckt, der Verfasser des »Kim« und der von Brecht teilweise adaptierten »Balladen aus dem Biwak«, schrieb eine Feengeschichte »Puck von Buchsberg«.

»›Außerdem, was du ›sie‹ nennst, ist lauter ausgedachtes Zeug, von dem das Volk in den Hügeln nichts weiß … kleine artige Summfliegen mit Schmetterlingsflügeln, Unterröcken aus Tüll, blitzende Sterne im Haar und einen Zauberstab, der große Ähnlichkeit mit jenem Rohrstock hat, mit dem ein Schulmeister die unartigen Jungen versohlt und die Guten belohnt. Das kenne ich!‹

›Wir meinen nicht diese Sorte‹, sagte Dan, ›die hassen wir auch.‹

›Genau‹, sagte Puck, ›wen wundert es, daß das kleine Volk aus dem Hügel nicht mit diesen kitschigen Nachahmungen verwechselt werden will! Ich habe Sir Huon und einen Trupp seiner Leute gesehen, wie sie von Tintagel Castle nach Hy. Brasil aufbrachen, den Südwestwind zwischen den Zähnen. Schaum flog über das ganze Schloß, und die Pferde vom Hügel scheuten.

Herauskamen sie bei einer Flaute, kreischend wie Seemöwen und mußten zurück, fünf Meilen landeinwärts, ehe sie ankonnten gegen den Wind. Schmetterlingsflügel! Daß ich nicht lache. Das war Magie. Magie so schwarz wie nur Merlin sie machen konnte, und die ganze See war ein grünes Feuer und weiß von Schaum, mit singenden Nixen darin. Die Pferde vom Hügel suchten in Sprüngen von Welle zu Welle ihren Weg. Das war wie Blitzzucken. So ging’s zu in den alten Tagen.‹«

Aber mit Kipling ist nun schon eine Zeit angebrochen, in der es gilt, zwischen dem wahren Feenvolk und jenen Verniedlichungen zu unterscheiden, die zu dem von den viktorianischen Moralisten zu einer Idylle stilisierten Bild von Kindheit gehören.

Endgültig vollstreckt hat die Rache an den Viktorianern T. H. White in seinem herrlichen Kinder-Nichtkinderbuch »Schloß Malplaquet«, das nun wiederum ohne Jonathan Swifts »Andersland«, auf das es zitierend und paraphrasierend verweist, nicht denkbar wäre.

Plötzlich kommt bei der Anderswelt die Relevanz gesellschaftlichpolitischer Probleme ins Blickfeld. Also nicht Eskapismus? Wäre es möglich, daß die Anderswelt uns auch wegen dererlei beschäftigt? Oder: Feengeschichten als Spiegelung unsrer Neurosen? Moderner Neurosen. Auch davon wird noch zu reden sein.

Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts scheinen mehr Menschen denn je dazu bereit, sich mit imaginären Welten, ja mit ganzen »Anders-Kosmologien« die Zeit vertreiben zu lassen.

Oder geht es vielleicht in Büchern wie denen von Tolkien, Lem, T. H. White, H. P. Lovecraft, Alan Garner, Evangelin Walton und George MacDonald, die ja alle, wenn auch auf verschiedene Weise, eine Art von Anderswelt voraussetzen, noch um mehr und anderes als nur um phantasievollen Zeitvertreib? Fragen über Fragen. Fragen an die Anderswelt!

Das vorliegende Buch lädt ein zu einer Reise durch die Anderswelt. Der Autor setzt sich dabei über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg, wofür er nur die Erklärung anzubieten vermag, daß solche Grenzen in der Anderswelt zwar bestehen, aber auch jederzeit aufgehoben werden können, ja, daß die Möglichkeit solcher Überwindung und Aufhebung der Dimensionen von Zeit und Raum eine der speziellen Attraktionen der Anderswelt darstellt.

Der Autor will die Geschichten von der Anderswelt nicht nur zur Unterhaltung und zum Vergnügen des Lesers erzählen. Er ist – und hoffentlich teilt der Leser dieses Interesse – auch auf Erkenntnis aus.

Bei allen Wundern, die einem bei einer solchen Reise in und durch die Anderswelt begegnen, will er sich nicht von der Frage abbringen lassen, die ihn selbst seit langem beschäftigt:

Was ist das – die Anderswelt?

Ist sie nur Hirngespinst, Phantasmagorie, ein Nichts? Ist sie Chiffre, Metapher und wenn ja, wofür?

Ist die Anderswelt ein Totenreich oder ein Zaubergarten? Schlaraffenland gegenüber der Monotonie grauen Alltags? Raum der Utopie? Welt, in der das Wünschen noch hilft?

Ist sie verschüttete Erinnerung an eine versunkene Welt, an ein frühgeschichtliches Bewußtsein der Menschheit? Oder was sonst? Die Antwort treibt in den Bildern der Geschichten wie Goldstaub im Sand der Flüsse.

*Alle mit * gekennzeichneten Begriffe sind sind im Kapitel »Anmerkungen und Quellenangaben« (ab S. 173) erläutert.

I. Kapitel

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in welchem von den verschiedenen Feenwesen die Rede ist, welche die weitläufigen Provinzen der Anderswelt bevölkern

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»Das Wort Feen ist erst spät entstanden, das ursprüngliche Hauptwort ist Fays. Es hat einen archaischen und ziemlich affektierten Klang. Es wird abgeleitet von Fatae. Die drei klassischen Feen vervielfältigten sich später, daraus wurden übernatürlich Frauen, die das Schicksal der Menschen bestimmten und bei ihrer Geburt zugegen waren. ›Fay-erie‹ war zuerst ein Zustand von Verzauberung oder Glanz. Erst später wurde es für die Fays gebraucht, die über solch illusionäre Kräfte verfügten. Der Begriff »Feen« deckt ein weites Feld ab, die angelsächsischen und skandinavischen Elfen, die Daoine Sidhe des schottischen Hochlands, die Tuatha de Danann in Irland, die Tylwyth Teg in Wales, den Seelie Court und den Unseelie Court, das kleine Volk und die Guten Nachbarn. Die Feenscharen, Feenvölker und Feenzüge und die einzelnen Feen gehören dazu, die Feen, die die Größe eines menschlichen Wesens haben, die größer als Menschen sind, die drei Fuß hohen und die ganz winzigen Feen; die Feen, die im Haus wohnen und jene, die wild leben und dem Menschen feindlich gesinnt sind; Feen, die unter der Erde wohnen, sind zu ihnen zu rechnen, aber auch Wasserfeen, die in Lochs (Seen), Bächen, Flüssen und im Meer hausen. Zumindest verwandt mit ihnen sind die ›hags‹, die hexenhaften alten Weiber, die Monster und die Bogies. Schließlich sollte nicht vergessen werden, daß es auch Feentiere gibt.«

Katharine Briggs, A Dictionary of Fairies

Um die Anderswelt näher kennenzulernen, suchen wir zunächst die Bekanntschaft der Einzelgänger und Individualisten unter den Feen. Im Gegensatz zu Feen, die einem Volk oder Zug angehören, haben diese Einzelwesen individuelle Eigenschaften und Verhaltensweisen, an denen man sie sofort erkennen kann.

Sehen wir uns vorerst drei von ihnen an, die zusammen wiederum so etwas wie eine Familie bilden: den Lepracaun, den Cluricane und den Far Darrig. »Der Name Lepracaun«, schreibt Douglas Hyde, »leitet sich her vom Irischen leith brog – das heißt Einschuhmacher, wohl weil man ihn gewöhnlich an einem Schuh arbeiten sieht. Aus dem 15. Jahrhundert stammt ein Manuskript mit der Geschichte von Iubdan, König der Lepracaun, ein edler und angesehener Fürst, dessen stärkster Untertan sich dadurch auszeichnete, daß er eine Distel mit einem Hieb umhauen konnte. Alle Lepracauns sind häßlich. Sie sind meist nicht großer als ein Kind von zehn, elf Jahren, häufig sogar noch viel kleiner. Ihre Körper sind breit und gedrungen. Ihre Gesichter sehen aus wie verschrumpelte Äpfel. Lepracauns foppen und narren gern. In ihren Taten sind sie auf das spezialisiert, was man im Englischen einen »practical joke« nennt. Sie betreiben das Handwerk eines Schuhmachers oder Sattlers, kennen aber zudem den Ort, an dem ein versteckter Goldschatz liegt. Wenn ein Sterblicher einen Lepracaun fängt, kann er ihn zwingen, das Versteck des Schatzes zu verraten, aber er darf den kleinen Kerl nicht aus den Augen lassen, sonst ist er im Nu verschwunden. Immer versucht der Lepracaun, den Menschen, der ihn fängt, für einen Augenblick abzulenken, um dann zu entwischen. Er ruft: »Sieh mal, da geht ein Bienenschwarm durch!« oder »die Kühe sind ins Haferfeld gelaufen!«

Wer darauf hereinfällt, ist selber schuld. Es ist das erste und letzte Mal gewesen, daß er einen Lepracaun in seine Gewalt bekommt, und den Schatz wird er auch nie finden. Bezeichnend ist die Geschichte von jenem Mann, der sich so nicht vom Lepracaun überlisten ließ und ihn zwang, ihm jenen Busch im Feld zu zeigen, unter dem der Schatz vergraben lag. Aber der Mann hatte keinen Spaten bei sich, also nahm er ein Stück roten Stoff und band ihn an die Zweige des Strauches. Dann ließ er den Lepracaun frei und lief, um den Spaten zu holen. Er war nur drei Minuten fort, aber als er zurückkam, wehten rote Stoffetzen an allen Büschen auf dem Feld.

Obwohl der Lepracaun über große Schätze gebietet, ist seine Kleidung eher bescheiden. Gewöhnlich trägt er einen grauen oder grünen Mantel, eine schwere Lederschürze und einen rostroten Hut. Seine Insignien aber sind der eine Schuh und der Hammer.

Leichteres Spiel hat ein Sterblicher mit einem Lepracaun, wenn er diesem glaubhaft machen kann, daß er selbst von einem Feenwesen abstammt. Bei solchen höchst seltenen Gelegenheiten verschenken Lepracauns manchmal auch goldene Zügel, die jedesmal, wenn man an ihnen zieht, eine gelbe Stute herbeizaubern.

Der arme Junge aus Castlerea

Es war einmal ein armer Junge in Castlerea, der brachte täglich eine Fuhre Torf auf den Markt und verdiente ein paar Pennies mit dem Verkauf des Brennmaterials. Zum Leben war es zu wenig und zum Sterben zuviel. Es war ein merkwürdiger Junge, sehr still und launisch, und die Leute sagten, er müsse wohl ein Wechselbalg aus der Anderswelt sein, weil er sich nie an Spielen beteiligte, kaum redete und die halbe Nacht über alten Büchern saß. Er hoffte immer, reich zu werden und das mühsame Gewerbe des Torfstechens und Torffahrens aufgeben zu können. Dann wollte er in Frieden leben, ohne zu arbeiten, in einem schönen Haus mit einem großen Garten, ganz für sich allein.

Nun hatte er in den Büchern gelesen, daß die Lepracauns das Versteck aller Goldschätze in Irland wüßten, und Tag um Tag hielt er nach einem der kleinen Schuhmacher Ausschau und horchte, ob sich nicht irgendwo das Geräusch ihrer Hämmer vernehmen lasse. Schließlich entdeckte er tatsächlich eines Abends einen kleinen Kerl unter einem großen Blatt. Er war ganz in Grün gekleidet und trug einen Hut mit einem Kniff auf dem Kopf. Der Junge sprang von seinem Karren und packte den Lepracaun am Nacken. »Rühr dich nicht«, rief er, »zeig mir, wo ich Gold finde, oder du bist des Todes.«

»Nur sachte«, antwortete der Lepracaun, »laß mich am Leben, und ich will dir verraten, was du wissen möchtest. Aber eines laß dir gesagt sein: Ich könnte dir auch so weh tun, wenn ich wollte. Wenn ich nicht gleiches mit gleichem vergelte, so nur deswegen, weil wir entfernte Verwandte sind. Darum will ich dir auch einen Ort zeigen, an dem Gold versteckt ist, das keiner haben darf, der nicht zum Volk der Feen gehört. Komm mit zu dem alten Fort von Lipenshaw. Dort liegt der Schatz. Aber beeil dich. Wenn die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verlöschen, wird auch das Gold verschwunden sein, und du wirst es nie mehr finden.«

»Nur zu denn«, sagte der Junge, und er stieg mit dem Lepracaun auf den Torfkarren und fuhr los. In zwei Sekunden waren sie an dem alten Fort und schritten durch die Tür in der Steinmauer.

»Nun sieh dich um«, sagte der Lepracaun, und staunend sah der Junge, daß der ganze Boden mit Goldstücken übersät war und daß so viele Gefäße aus Silber dort lagen, daß man hätte meinen können, jemand habe alle Schätze der Welt dort gehortet. »Nimm soviel du willst«, sagte der Lepracaun, »aber beeil dich. Wenn diese Tür zuspringt, wirst du diesen Ort zu deinen Lebzeiten nicht mehr verlassen.«

Also nahm der Junge soviel an Gold und Silber, wie er nur tragen konnte, und warf es auf seinen Karren, aber als er noch einmal zurückkam, um noch mehr zu holen, schlug die Tür unter Donnerkrachen zu, und der Platz war dunkel wie zur Nacht. Von dem Lepracaun war nichts mehr zu sehen. Der Junge hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich bei dem Wicht zu bedanken.

Er hielt es für das Beste, sich mit seinem Schatz aus dem Staub zu machen. Als er daheim ankam, zählte er seine Reichtümer. Das Gold hätte hingereicht als Lösegeld für einen König.

Der Junge war schlau genug, niemandem etwas davon zu erzählen. Er reiste am nächsten Tag nach Dublin, brachte all seine Reichtümer auf die Bank und stellte fest, daß er soviel Geld besaß wie ein großer Herr. Also kaufte er sich ein schönes Haus mit einem großen Garten. Er hielt sich Diener und Kutschen, und Bücher besaß er nun auch, soviel er wollte. Er versammelte gescheite Männer um sich, die ihm beibrachten, was man wissen sollte, wenn man sich in der Welt auskennen will. Er wurde ein angesehener Mann, und seine Nachkommen sind bis auf den heutigen Tag wohlhabend, denn auf geheimnisvolle Weise nahm das Vermögen dieser Familie nie ab, was immer sie auch an Almosen an die Armen schenkten, und das war nicht wenig.

Der Cluricane ist manchmal kaum von einem Lepracaun zu unterscheiden. Jedenfalls in der Gegend von Cork werden beide Feenwesen miteinander gleichgesetzt. Yeats schreibt, ein Cluricane sei vielleicht einfach nur ein Lepracaun, der mit Vorliebe auf Sauftouren ausziehe. Von einer nicht ganz harmlosen Begegnung mit einem Cluricane erzählt die folgende Geschichte, die T. Crofton Croker in seinen »Legends of the South of Ireland« aufgezeichnet hat.

Billy Mac Daniel und der Cluricane

Billy Mac Daniel war ein lebenslustiger junger Mann. Keiner legte auf den Tanzfesten zu Ehren des Namenspatrons eine so fesche Sohle aufs Parkett, keiner war so trinkfest wie er, keiner vermochte so geschickt mit dem shillelagh (Stock, der auch als Schlagwaffe gebraucht wird) dreinzuhauen, und wenn er sich vor etwas fürchtete, so höchstens davor, einmal nichts zu trinken zu bekommen. Wer da zahlen würde, war ihm egal, und um dem Wirt etwas vorzumachen, fiel ihm schon immer noch eine Ausrede ein. Trunken oder nüchtern – ein Wort und ein Hieb, das war so Billy Mac Daniels Art, und es ist nicht die schlechteste Art, einen Streit anzufangen oder ihn zu beenden. Bedauerlich ist nur, daß durch seine Art, nie nachzudenken, sich nie zu fürchten und sich nie groß um etwas zu sorgen, eben dieser Billy Mac Daniel in schlechte Gesellschaft geriet, denn mag man sie auch das »gute Volk« nennen, so kann man auch unter ihnen in schlechte Gesellschaft geraten.

Nun geschah es einmal, daß Billy in einer klaren frostigen Nacht nicht lange nach Weihnachten heimging; der Mond war rund und hell, und obwohl es eine Nacht war, wie man sie sich von Herzen wünscht, was den Anblick des Himmels angeht, so half das nichts gegen die beißende Kälte.

»Auf mein Wort«, schnatterte Billy, »ein Tropfen guter Schnaps wäre jetzt nicht so übel und könnte wohl verhindern, daß einem Mann die Seele einfriert. Ich wünschte wahrlich, ich hätte ein volles Maß vom besten.«

»Das sollst du nicht zweimal wünschen, Billy«, sagte ein kleiner Mann mit einem dreieckigen Hut, dessen Rand mit Goldborte verziert war und der große silberne Schnallen an den Schuhen trug, die so schwer schienen, daß man sich wundern mochte, wie er sich überhaupt darin bewegen konnte, und er hielt ihm ein Glas hin, größer als er selbst und gefüllt mit Schnaps so gut in Geruch und Geschmack wie nur möglich.

»Prost, Kleiner!« sagte Billy Mac Daniel unerschrocken, obwohl ihm schon klar war, daß der kleine Kerl da zum »guten Volk« gehörte, »auf Euer Wohl und vielen Dank, wer immer auch dafür zahlt.« Und damit setzte er das Glas an die Lippen und leerte es mit einem Zug.

»Prost«, sagte der kleine Mann, »es ist dir herzlich vergönnt, Billy, aber versuch nicht, mich zu betrügen, wie du das bei anderen gemacht hast. Heraus mit der Börse und gezahlt wie ein Gentleman.« – »Ich Euch etwas zahlen?« sagte Billy, »ich könnt Euch doch aufheben und in die Taschen stecken gerade so leicht wie eine Brombeere?«

»Billy Mac Daniel«, sagte der Mann jetzt schon recht zornig, »jetzt wirst du mir dienen, sieben Jahre und einen Tag. Das wird meine Bezahlung sein. Mach dich bereit und folge mir.«

Als Billy das hörte, tat es ihm nun doch sehr leid, so frech mit dem kleinen Mann umgesprungen zu sein, aber das half nun nichts mehr, denn ob er nun wollte oder nicht, er spürte, daß er dem kleinen Wicht folgen mußte, die liebe lange Nacht quer über Land, durch dick und dünn, Sumpf und Gebüsch, ohne zu rasten.

Als der Morgen kam, wandte sich der Cluricane um und sagte zu ihm:

»Du kannst jetzt erst einmal heimgehen. Aber ich warne dich, vergiß nicht, heute abend im Fortfield zur Stelle zu sein, denn über kurz oder lang hätte das für dich böse Folgen. Wenn ich merke, daß du ein williger Diener bist, wirst du in mir auch einen nachsichtigen Herrn finden.«

Heim ging Billy Mac Daniel, und obgleich er müde und zerschlagen genug war, fand er doch nicht ein bißchen Schlaf, weil er immer an den kleinen Mann denken mußte, aber er getraute sich nicht, dessen Befehl zu mißachten und so ging er am Abend treu und brav zum Fortfield. Er war noch nicht lange dort, da kam auch der kleine Mann schon und sagte: »Billy, ich habe vor, heute Nacht eine Reise zu unternehmen, sattle mir eines meiner Pferde, und für dich kannst du auch eines satteln, denn du kommst mit, und nach dem Fußmarsch gestern Nacht hättest du’s vielleicht gern etwas bequemer.«

Billy fand das sehr vernünftig von seinem Herrn. Er bedankte sich dementsprechend. »Aber«, sagte er, »wenn ich mir die Kühnheit erlauben darf, wo geht’s denn zu Eurem Stall, denn alles, was ich hier sehe, ist das Gemäuer vom alten Fort und der alte Dornenstrauch am Feldrand und ein Bach am Rand des Hügels mit einem Stück Sumpfland gegen uns hin.«

»Stell keine Fragen, Billy«, sagte der kleine Mann, »sondern geh hinüber zum Sumpf und bring mir die stärksten Binsen, die du findest.«

Billy tat wie ihm geheißen und überlegte, was der kleine Mann nun vorhabe. Er brach zwei der stärksten Binsen, die er finden konnte, mit einem kleinen Büschel brauner Blüten an jeder Seite, und brachte sie seinem Herrn.

»Aufgestiegen, Billy«, sagte der kleine Mann, nahm eine der Binsen und spreizte seine Schenkel darüber.

»Wo soll ich denn aufsteigen, Euer Ehren?« sagte Billy.

»Na, auf den Pferderücken wie ich auch«, erwiderte der kleine Mann.

»Wollt Ihr mich zum Narren halten«, sagte Billy, »wollt ihr vielleicht behaupten, die Binse, die ich drüben im Sumpf gebrochen habe, sei jetzt ein Pferd?«

»Aufgestiegen! Und keine langen Reden«, sagte der kleine Mann und schaute jetzt wieder sehr wütend drein, »das beste Pferd, auf dem du je gesessen hast, war ein Klepper gegen das, auf dem du jetzt im Sattel sitzt.«

Billy, der all das für einen Scherz hielt, aber seinen Herrn nicht erzürnen wollte, tat wie ihm geheißen.

»Borram! Borram! Borram!« rief der kleine Mann, und das bedeutet soviel wie »werde groß!« und augenblicklich wurden aus den Binsen zwei schöne Pferde, die rasch dahinjagten. Aber Billy, der die Binse zwischen die Beine genommen hatte, ohne weiter darauf zu achten, was er tat, stellte nun fest, daß er falsch herum auf dem Pferd saß, was insofern unangenehm war, als ihm der Schwanz des Viehs ständig ins Gesicht schlug. Aber so rasch war der Ritt losgegangen, daß er es nicht fertig gebracht hatte, sich umzudrehen und ihm jetzt nichts anderes übrig blieb, als sich am Schwanz festzuhalten. Endlich kam der Ritt zu einem Ende. Sie hielten am Tor eines vornehmen Hauses.

»Nun Billy«, sagte der kleine Mann, »mach einfach alles nach, was du mich auch tun siehst, und bleib dicht hinter mir! Da du aber den Schwanz eines Pferdes nicht von dessen Kopf unterscheiden kannst, paß auf, daß du nicht solange herumtorkelst, bis du plötzlich auf deinem Kopf und nicht mehr auf deinen Fußsohlen stehst. Denn hier geht es um ein altes Gebräu. Es kann eine Katze zum Sprechen bringen und einen Mann stumm machen.«

Der kleine Mann sagte dann noch ein paar seltsame Worte, die für Billy keinen Sinn ergaben, und beide fuhren sie darauf durch das Schlüsselloch und in einen Weinkeller, wo alle Arten von guten Weinen lagerten.

Der kleine Mann hielt sich ans Trinken, und Billy, dem dieses Beispiel nicht unangenehm war, hielt eifrig mit.

»Ihr seid ein guter Herr, soviel steht fest«, sagte Billy, »gleichgültig, was nachkommt. Ich will Euch gern weiterhin eifrig dienen, wenn Ihr nur fortfahrt, mir soviel zu trinken zu verschaffen.«

»Ich habe mit dir keinen Vertrag«, sagte der kleine Mann, »und ich denke auch gar nicht daran, einen solchen mit dir zu schließen. Auf jetzt, und mir nach.«

Und fort waren sie, durch ein Schlüsselloch und durch das nächste und dann wieder auf die Binsen, die sie draußen abgestellt harten. Sie jagten dahin und traten nach den Wolken, die vor ihnen wie Schneebälle hingen, sobald die Worte »Borram, Borram, Borram« von ihren Lippen gekommen waren. Als sie Fortfield wieder erreicht hatten, entließ der kleine Mann Billy, hieß ihn aber am nächsten Abend zur selben Stunde wieder zur Stelle zu sein. So ging das immer weiter, Nacht für Nacht, einmal nach Süden, dann wieder nach Norden, bis es keinen Weinkeller eines vornehmen Herrn in ganz Irland mehr gab, in dem sie nicht schon gewesen wären und sie über die verschiedenen Weinsorten besser Bescheid wußten als selbst ein altgedienter Butler.

Eines Nachts aber, als Billy Mac Daniel den kleinen Mann wieder traf und dieser ihn zum Sumpf hinüberschickte, um Pferde für die Reise zu holen, sagte der Herr zu seinem Diener: »Billy, heute brauch ich ein Pferd zusätzlich, denn es könnte sein, daß wir in Begleitung sind, wenn wir heimkommen.«

Also brachte Billy, der inzwischen schon gelernt hatte, keine langen Fragen zu stellen, eine dritte Binse mit, wunderte sich aber, wer das wohl sein werde, der auf dem Heimweg mit ihnen reiten sollte. Vielleicht bekam er nun einen Gehilfen. »Wenn das so ist«, überlegte sich Billy, »werde ich ihn immer die Pferde holen lassen, denn ich sehe nicht ein, warum nicht jeder Zoll von mir selbst ebensogut als Herr hingehen kann wie mein Meister.« Also ritten sie los. Billy führte das dritte Pferd, und sie hielten nicht inne, bis sie eine hübsche Farm in der Grafschaft Limerick erreichten, nahe dem Schloß von Carrigogunniel, das, wie man sagt, von dem großen Brian Boru errichtet worden ist. Im Haus war ein großes Fest im Gange, aber der kleine Mann blieb vorerst draußen stehen und lauschte. Dann wandte er sich plötzlich um und sagte:

»Billy, morgen werde ich tausend Jahre alt.« »Tatsächlich?« sagte Billy, »Gottes Segen, Sir!« »Sag dieses Wort nicht wieder, Billy«, meinte der kleine alte Mann, »es könnte für immer mein Ruin sein. Nun Billy, da ich morgen tausend Jahre auf der Welt sein werde, denke ich, ist es höchste Zeit, daß ich mich verheirate.«

»Das würde ich auch meinen«, sagte Billy, »daran kann’s keinen Zweifel geben. Wenn Ihr je heiraten wollt, dann jetzt.«

»Und zu diesem Zweck«, sagte der kleine Mann, »sind wir auch den ganzen Weg hierher geritten, denn in diesem Haus heiratet heute abend der junge Darby Riley Bridget Rooney. Sie ist ein großes hübsches Mädchen und kommt aus ordentlichem Haus. Ich habe beschlossen, sie zu heiraten und sie dann mitzunehmen.«

»Und was wird Darby Riley dazu sagen?« meinte Billy.

»Schweig!« sagte der kleine Mann und schaute wieder streng drein. »Ich habe dich nicht mitgenommen, damit du mir dumme Fragen stellst«, und ohne weitere Vorbereitung murmelte er wieder jene seltsamen Worte, die ihm die Kraft verliehen, durch Schlüssellöcher zu fahren, als ob er Luft sei, und bei denen Billy sich vornahm, sie sich einzuprägen, während er sie ihm nachsprach. Die beiden fuhren also hinein, und um eine bessere Übersicht zu haben, setzte sich der kleine Mann auf den großen Balken, der quer über die Köpfe von allen hin durch das ganze Haus lief, und Billy setzte sich neben ihn. Da er es aber nicht gewohnt war, an einem solchen Fleck zu sitzen, baumelten seine Beine ganz unordentlich herunter, während der kleine Mann sich so geschickt mit untergeschlagenen Beinen hinsetzte, als sei er sein Leben lang ein Schneider gewesen.

Da waren sie nun also, der Herr und sein Knecht, und schauten auf den Spaß herab, der da unten vor sich ging, und unter ihnen waren der Priester, der Pfeifer, der Vater von Darby Riley mit Darbys zwei Brüdern und mit dem Sohn seines Onkels, und von Bridget Rooney waren Vater und Mutter da. Stolz war das alte Paar an diesem Abend auf seine Tochter, und recht hatten sie, und vier Schwestern feierten mit. Sie hatten brandneue Bänder an ihren Kappen und dann erst die drei Brüder, die sahen so sauber und wach aus wie nur je drei Jungen in Munster, und da saßen auch noch die Onkels und Tanten und Cousins und Cousinen, auf daß das Haus voll werde, und es gab zu essen und trinken in Hülle und Fülle, und es hätte auch noch gereicht, wenn es doppelt soviel Gäste gewesen wären.

Nun geschah es, daß gerade da, als Mrs. Rooney dem Hochwürden ein Stück von dem Schweinekopf abgeschnitten hatte, der schön mit Wirsing ausgestopft war, die Braut niesen mußte, was alle am Tisch ansteckte, aber keine Sterbensseele sagte »Gott segne dich« zum Nachbarn, wie es sich doch eigentlich gehört. Alle waren davon ausgegangen, daß der Priester »Gott segne Euch!« sagen werde, was ja eigentlich auch seine Pflicht und Schuldigkeit gewesen wäre, und niemand wollte ihm das Wort aus dem Mund nehmen, aber er hatte es eben auch vergessen über dem guten Stück Schweinskopf und dem Gemüse. Und nach einem kurzen Augenblick des Verschnaufens ging aller Spaß und alles Reden weiter. All diesem sahen Billy und sein Meister aus der Höhe herab voller Aufmerksamkeit zu. »Ha!« rief der kleine Mann freudig aus, stieß das eine Bein übermütig von sich, und in seinen Augen begann es zu funkeln, während seine Augbrauen immer mehr gotischen Spitzbögen glichen. »Ha«, sagte er und schaute erst lustvoll auf die Braut hinab und sah dann Billy an:

»Die Hälfte von ihr habe ich schon. Sie muß nur noch zweimal niesen, und sie ist mein, Priester, Meßbuch und Darby Riley hin oder her.«

Wieder nieste Bridget, aber diesmal so leise, daß es kaum jemand außer dem kleinen Mann überhaupt wahrnahm und niemand darauf verfiel »Gott segne dich!« zu sagen.

Billy betrachtete unterdessen das arme Mädchen mit mitleidiger Miene, denn er konnte nicht umhin sich vorzustellen, wie schrecklich es für ein junges hübsches Mädchen von neunzehn Jahren mit großen blauen Augen, durchsichtiger Haut, Grübchen an den Wangen und den ballrunden Brüsten, auf die er von seinem Platz eine besonders gute Aussicht hatte, sein müsse, gezwungen zu werden, ein häßliches kleines Mannsbild zu heiraten, das genau tausend Jahre weniger einen Tag alt war.