image

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

1.

Die „Isabella V.“ lag hart am Wind, als die kleinen Inseln im Süden auftauchten.

Philip Hasard Killigrew sah den fragenden Blick von Ben Brighton, seinem Ersten Offizier, und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß auch nicht, was das für Inseln sind“, sagte er. „Sie sind auf unseren Karten nicht eingezeichnet.“

Ben Brighton rieb sich seine Bartstoppeln.

„Wir sollten jedesmal die Augen schließen, wenn wir Land sehen“, sagte er. „Der Teufel mag wissen, wann wir sonst nach England zurückkehren.“

Hasard nickte. Auch er wollte nach Hause. Die ewigen Kämpfe und die lange Zeit auf See konnten einen Mann auf die Dauer zermürben. Seine Gedanken schweiften zurück. Es war lange her, seit sie den Kontakt zu Francis Drake und der „Golden Hind“ verloren hatten. Lebte Drake noch? Hatte er es tatsächlich geschafft? Vielleicht war er sogar vor ihnen in England.

„Schiff Backbord voraus!“

Hasards Kopf ruckte hoch. Dan O’Flynns Blondschopf ragte aus dem Mars des Großmastes. Seine Hand wies nach Norden.

„Ein Dreimaster!“ rief Dan O’Flynn.

Hasard preßte die Lippen aufeinander. Er hatte immer angenommen, hier in der Neuen Welt müsse man froh sein, alle Monate mal einem Schiff und menschlichen Wesen zu begegnen, aber hier in der Karibik herrschte mehr Verkehr als im Kanal zwischen Dover und Calais.

Hasard gab Ben Brighton einen Wink mit der Hand. Es gefiel ihm zwar nicht, dem Schiff auszuweichen, denn dadurch gerieten sie zu dicht an die Inseln im Süden, aber er wollte jeden weiteren Zusammenstoß mit den Spaniern vermeiden.

Ben Brightons Stimme scholl über das Schiff, und Smoky und Carberry gaben seine Befehle weiter. Die schwerfällige Galeone fiel langsam ab und wurde vom steifen Wind, der aus nordöstlicher Richtung wehte, schnell nach Süden versetzt. Es dauerte keine halbe Stunde, da war von dem anderen Schiff nichts mehr zu sehen.

Hasards Befürchtungen wurden bestätigt. Die „Isabella“ hatte Schwierigkeiten, nicht auf Legerwall zu geraten. Nur mühsam kämpfte sich die schwerfällige Galeone gegen den Nordost von den Korallenriffen vor den Inseln fort.

Hasard hörte durch das Heulen des Windes und Knarren der Takelage den Schrei Dan O’Flynns, aber er verstand die einzelnen Worte nicht. Er blickte zu den Inseln hinüber, und dann sah auch er den dunklen Fleck dicht vor dem weißen Strand der einen Insel.

Er kniff die Augen zusammen. Es war ein Wrack, ganz offensichtlich. Und es konnte noch nicht lange dort liegen. Segelfetzen hingen von der schrägstehenden Rahe des Vormastes herab und flatterten im Wind. Die anderen beiden Masten waren gebrochen und hingen, von den Wanten festgehalten, zur Seeseite über Bord.

„Wahrscheinlich ist sie im selben Sturm auf das Riff gebrummt, der auch das Sklavenschiff zerschmettert hat“, sagte Ben Brighton. „Die Kerle haben eben Pech gehabt.“

Hasard antwortete nicht. Er starrte zu dem Wrack hinüber. Er wußte, was Ben Brighton in diesem Moment dachte. Sicher, auch er wollte nach England, und das möglichst ohne Aufenthalt, aber etwas war wieder einmal stärker in Hasard. Er wußte nicht, ob es reine Neugier war oder die Vermutung, im Rumpf der gestrandeten Galeone befände sich vielleicht eine wertvolle Ladung.

„Sieh zu, daß du die ‚Isabella‘ so dicht wie möglich ranbringst“, sagte er zu Ben Brighton.

Ben Brighton seufzte und starrte Hasard nach, der hinunter in die Kuhl ging und mit Carberry sprach.

So dicht wie möglich ran.

Als ob das so einfach wäre!

Ben Brighton dachte einmal mehr an die kleine, aber ungemein wendige und schnelle „Isabella“ zurück, mit der sie an der Westküste der Neuen Welt hinaufgesegelt waren. Mit dem Schiff hätte er es auch gewagt, hier dicht vor den Riffen den Anker zu werfen.

Aber mit der schwerfälligen „Isabella V.“?

Er blickte zum Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen. Und doch mißtraute er dem Wetter. Zu oft hatten sie in diesen Breiten schon erlebt, daß sich ein wolkenloser Himmel innerhalb von einer Stunde in eine Sturmhölle verwandeln konnte. Und wenn sie sich dann mit ihrer Galeone auch nur in Sichtweite dieser Riffe befanden, konnten sie auch gleich direkt darauf zusteuern und sich neben das andere Wrack legen.

Ben schrie seine Befehle über Deck.

Wenig später luvte die „Isabella“ an und ging wieder härter an den Wind.

Ben Brighton hatte die Möglichkeiten der Galeone abgewogen und entschieden, daß es bodenloser Leichtsinn gewesen wäre, direkt auf das Wrack zuzulaufen und in der Nähe zu ankern. Er hatte nichts gegen diese Galeone, aber alle Umstände, unter denen sie mit ihr fuhren, waren ungünstig.

Sie konnten weder schnell segeln, weil sie nicht genug Männer hatten, die Segel zu bedienen. Sie mußten sich außerdem hüten, mit einem starken Feind in Berührung zu geraten, denn für die vierundzwanzig siebzehnpfündigen Culverinen standen in einem Gefecht höchstens sechzehn Mann zur Verfügung, und das waren verdammt zu wenig, um mehr als eine Breitseite abzufeuern.

Ben Brighton hatte immer die Perfektion bewundert, mit der der junge Killigrew seine Schiffe führte, aber was nutzte ein gutes Schiff, wenn die Leute fehlten, es zu bedienen?

Ben atmete auf, als sie die Ostspitze der Insel passierten. Kleinere Nachbarinseln tauchten auf. Sie bildeten mit der größeren Insel, an deren Küste das Wrack lag, eine Art Kessel, der wie ein natürlicher Hafen wirkte. Wie es darin aussah, wenn der Wind drehte und von Süden blies, wußte Ben nicht, und er hütete sich, es sich vorzustellen.

Er ließ die „Isabella“ abfallen und durch die Passage segeln, die von den beiden Spitzen der Inseln begrenzt wurde.

Er ließ bis auf die Blinde und das Fockmarssegel alle Leinwand einholen. Er mißtraute diesem tiefblauen Wasser, das im Gegensatz zu der See nördlich der Insel sehr ruhig war.

Dan O’Flynn, der immer noch im Großmars saßerhielt von ihm den Auftrag, nach Korallenriffen Ausschau zu halten, und vier Männer wurden zum Loten eingeteilt.

Die „Isabella“ stand fast. Der Wind in diesem Kessel war so schwach, daß er kaum die Segel bauschte.

Ben blickte zu Hasard hinunter, der immer noch mit Carberry sprach, aber der kümmerte sich nicht um ihn. Er fluchte still vor sich hin und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen den hellen Strand, der von Palmenwäldern begrenzt wurde.

Ein kleines Kap tauchte auf, das Ben geeignet erschien, um der „Isabella“ bei einem plötzlichen Sturm Schutz zu bieten. Langsam ließ er die Galeone auf das Kap zuloten. Als die Ankertrosse durch die Klüse rauschte, atmete er auf. Auf dieser Seite der Insel schien es keine Korallenriffe zu geben. Sie hatten noch mehr als fünf Faden Wasser unter dem Kiel.

Hasard sprang die Stufen zum Achterdeck hinauf. Ben Brighton schob sein Kinn trotzig vor, denn er erwartete die Frage, ob das so dicht wie möglich sei.

Aber Hasard sagte nichts. Er blickte zur Insel hinüber und fragte nur: „Was meinst du, wie lange wir brauchen, wenn wir die Insel am Strand umrunden?“

Ben Brighton zuckte mit den Schultern.

„Ihr müßtet ein Boot mitnehmen, und es ist eine Viecherei, immer durch Sand stapfen zu müssen“, sagte er. „Einen Tag werden wir mindestens verlieren, wahrscheinlich aber zwei.“

Hasard ging nicht darauf ein.

„Wir werden einfach quer über die Insel marschieren“, sagte er mehr zu sich selbst. „Sie kann an dieser Stelle nicht viel breiter als eine halbe Meile sein.“

„Mit dem Boot?“ fragte Ben Brighton.

Hasard nickte.

„Mit dem Boot. Ich nehme sieben Männer mit. Wir werden sehen, daß wir bis zum Einbruch der Dunkelheit alles erledigt haben. Vielleicht werden wir auf der anderen Seite übernachten, aber dann schicke ich einen Mann zurück, der dir Bericht erstattet. Bereite alles dafür vor, daß wir morgen früh wieder ankerauf gehen.“

Ben Brighton nickte gottergeben. Er wußte, daß er gegen Hasards Eigensinn nichts ausrichten konnte, und er wollte es auch gar nicht. Zu oft schon hatte es sich erwiesen, daß Hasard mit seinen Entscheidungen instinktiv richtig gelegen hatte.

Aber diesmal?

Ben Brighton schüttelte den Kopf. Er wollte nicht mehr daran denken, sondern sich auf seine Aufgabe konzentrieren, die Hasard ihm gestellt hatte. Vielleicht fand er ein bißchen Zeit, um mit Ferris Tucker weiter daran zu tüfteln, wie sie die unteren mit den Marsrahen verbinden konnten, so daß sie nur eine Brasse zu bedienen brauchten.

Zum Glück hatte Hasard Ferris Tucker nicht für den Landausflug eingeteilt.

Ben beobachtete, wie Stenmark, Buck Buchanan, Sam Roskill und Batuti das kleine Boot zu Wasser ließen, mit dem sie an Land pullen und dann die Insel überqueren wollten. Matt Davies, Carberry und der alte Haudegen Valdez kümmerten sich um die Waffen. Niemand konnte schließlich wissen, ob sich nicht die Mannschaft der gestrandeten Galeone an Land gerettet hatte und nun die Gelegenheit wahrnahm, sich ein neues Schiff zu besorgen.

Als Hasard das Achterdeck wieder verließ und in die Kuhl hinunterging, schwang sich Dan O’Flynn aus dem Mars und hangelte an den Wanten hinunter. Arwenack turnte um ihn herum und kreischte.

„Wartet, ich komme mit!“ rief Dan.

Hasard blickte Carberry grinsend an.

„Kannst du noch einen gebrauchen, der dir beim Boottragen hilft?“ fragte er.

„Dann kann ich auch gleich den Kutscher mitnehmen“, erwiderte Carberry grollend.

„Was soll das heißen, du Dickwanst?“ fragte Dan wütend, als er vor Carberry stand.

„Das soll heißen, daß wir dich nicht gebrauchen können, Söhnchen“, sagte Carberry. „Außerdem haben wir Angst, daß du uns mit deiner Pike stichst, wenn es zu einem Kampf kommen sollte.“

„Das kannst du gleich haben!“ Niemand hatte gesehen, wo Dan so schnell seine gekürzte Pike herhatte. Die Spitze schnellte vor und bohrte sich leicht in Carberrys Oberschenkel.

Carberry brüllte vor Zorn. Er ging einen Schritt vor. Seine Pranken zuckten auf Dan zu, doch der hatte sich blitzschnell gebückt und tauchte unter den zupackenden Händen weg.

Im nächsten Augenblick spürte Carberry etwas in seinem Nacken. Arwenack zerrte in seinen Haaren und keckerte wie verrückt. Carberry griff nach ihm, aber der Affe war zu schnell. Er hing bereits wieder in den Wanten und entblößte sein Gebiß.

„Schluß jetzt!“ sagte Hasard grinsend. „Wir nehmen Dan mit. Vielleicht brauchen wir einen kleinen schlanken Mann, wenn wir in das Wrack eindringen.“

Carberry blickte Dan wütend an. Die kleine Wunde in seinem Bein störte ihn weniger, aber der Bengel hatte seine beste Hose ruiniert.

„Warte, bis wir zurück sind, Söhnchen“, sagte er knurrend, „dann werde ich dir den Arsch versohlen.“

„Der Teufel ist dein Söhnchen“, erwiderte Dan und warf den Kopf in den Nacken. Er ging zu Valdez und ließ sich zwei Pistolen geben. Dann half er, die Musketen ins Boot zu schaffen, das unten auf dem Wasser dümpelte.

Hasard sprach noch kurz mit Ben Brighton, bevor er als letzter ins Boot stieg. Sie legten ab und pullten mit kräftigen Zügen auf den Strand zu, der in paradiesischer Stille dalag.

Als der Kiel des Bootes über den Sand knirschte, hatte Hasard zum erstenmal ein seltsames Gefühl. Es war, als wittere er eine unsichtbare Gefahr. Am liebsten hätte er seinen Männern befohlen, das Boot wieder ins Wasser zu schieben und zur Galeone zurückzupullen.

Er schüttelte die Gedanken ab. Was sollte ihnen hier schon geschehen? Nirgends war ein Anzeichen, daß diese Insel bewohnt war. Außerdem war sie viel zu klein dafür.

Und das Wrack?

Hasard war plötzlich nicht mehr davon überzeugt, auf dem Wrack Schätze vorzufinden.

Buck Buchanan und Stenmark zogen das Boot, das von vier Männern getragen werden konnte, ganz an Land. Die anderen starrten auf den Hügel, den sie überqueren mußten, wenn sie die andere Seite der Insel erreichen wollten.

„Das sieht verdammt steil aus“, sagte Dan O’Flynn.

Hasard nickte.

„Vielleicht haben wir uns zuviel vorgenommen“, erwiderte er vorsichtig. „Wir sollten abstimmen, ob wir den Weg auf uns nehmen oder nicht.“

Hasard fluchte innerlich, als er die Gesichter der Männer betrachtete. Sie schauten ihn an, als sähen sie ihn zum erstenmal. Er las Verwunderung und Mißtrauen in ihren Augen. Schließlich hatte er noch nie eine Abstimmung vorgeschlagen, wenn er sich schon für ein Unternehmen entschlossen hatte.

„Du meinst, wir sollen zum Schiff zurückpullen?“ fragte Carberry und legte seine Stirn in hundert Falten, was ihm einige Mühe bereitete.

Hasard wischte die Frage mit einer heftigen Handbewegung fort.

„Davon habe ich nichts gesagt“, erwiderte er. „Die Frage ist nur, ob das nicht zuviel Aufwand für eine gestrandete Galeone ist.“

Ich sollte den Mund halten, dachte Hasard, bevor ich noch mehr Unsinn rede. Aber was sollte er tun? Er konnte den Männern doch nicht erklären, daß er ein ungutes Gefühl hatte.

„Jetzt sind wir schon mal hier“, sagte Dan O’Flynn. „Den Maulwurfshügel da vorn schaffen wir doch mit einem Bein.“

Die anderen Männer nickten, und Hasard blieb nichts anderes übrig, die Entscheidung der Männer zu akzeptieren, wenn er sie schon gefragt hatte.

Zu sechst hoben sie das Boot an. Auf der linken Seite waren Batuti, Stenmark und Sam Roskill, auf der rechten Carberry, Matt Davies und Hasard. Hasard war froh, daß sie dieses leichte Boot an Bord gehabt hatten, denn mit einem der anderen Boote wäre es unmöglich gewesen, diesen Weg in Erwägung zu ziehen.

Hasard dachte an Ben Brighton, der die „Isabella V.“ zwischen die Insel gesegelt hatte. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, denn auch Hasard war sich darüber im klaren, daß sich die schwerfällige Galeone niemals wieder würde freisegeln können, wenn sich der Wind noch etwas verstärkte.

Er überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, erst zwei Männer als Vorhut über die Insel zu schicken. Vielleicht war es gar nicht nötig, das Boot mitzuschleppen, und sie konnten das Wrack auf dem Riff zu Fuß erreichen. Aber dann schüttelte er den Kopf. Die Riffe lagen meist zu weit vom Strand entfernt.

Dan O’Flynn und Valdez gingen voraus. Valdez hatte ein breites Entermesser mitgenommen, das ihm jetzt gute Dienste leistete. Er schlug damit eine Bresche in die Büsche, die noch keine Menschenhand berührt zu haben schien.

In den Bäumen über ihnen schrien Papageien, aber sonst war es still. Nur das Keuchen der Männer, die das Boot trugen, drang durch die Stille.

Der Weg war nicht so steil, wie Hasard angenommen hatte. Schon nach einer knappen Stunde hatten sie die Hügelkuppe erreicht und konnten das Wrack auf dem Riff sehen.

Die Galeone bot ein Bild der totalen Zerstörung. Sie lag mit ziemlicher Schlagseite im Riff, das Heck oben, das Vorschiff zum Teil unter Wasser. Masten und Spieren waren abgebrochen und zerschmettert, das Rigg war ein irrer Knäuel. Vom Vormast, der als einziger noch stand, hingen die Segel in Fetzen herab.

Dan O’Flynn war plötzlich ganz aufgeregt und wies aufs Meer hinaus.

„Da, es ist dieselbe Galeone, die ich heute morgen schon gesichtet habe“, sagte er.