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Table of Contents

»Silberregen«

Was bisher geschah

Prolog

1. Das Erwachen

2. Keine Widerrede

3. Das ist kein Spiel!

4. Tief unter den Gassen von …

5. Ein Bauwerk aus Chrom und Stahl

6. Ein Augenblick, ein Stundenschlag …

7. Eine Welt ohne Wall

8. Im Haus der Lady

9. Lagerfeuer und Marshmallows

10. Ein unerwarteter Besuch

11. Das Recht auf Wut

12. Der erste Schritt

13. Stören wir?

14. Nur ein Schritt

15. … tausend Jahre sind ein Tag

16. Let’s go

17. Das Monster von Whitechapel

18. Der Tower mal ganz anders

19. Eine Zuflucht

20. Wer manipuliert hier wen?

21. Ein Gespräch unter Feinden

22. Im Schatten der Macht

23. Ein Regen aus Silber

24. Habt ihr mich vermisst?

25. Abschied

26. Das Opfer

27. Kriegsrat

28. Was die Zukunft bringen mag?

29. Das letzte Sandkorn

Vorschau

Seriennews

Glossar

Lichtkämpfer

Schattenkrieger / Schattenkämpfer

Zauber

Die Prophezeiungen

Impressum


Das Erbe der Macht

Band 5

»Silberregen«


von Andreas Suchanek

 

Logo Erbe der Macht

 

Was bisher geschah

 

Vor einhundertsechsundsechzig Jahren erschufen mächtige Magier den Wall, eine mystische Sphäre, die die Welt der Magie vor Menschenaugen verbirgt. Nichtmagier – sogenannte Nimags – sollten auf diese Weise dem Einfluss dunkler Kräfte entrissen werden. Gleichzeitig galt es, machtvolle Artefakte den Händen gieriger Fürsten, Könige, Kaiser und Diktatoren zu entziehen.

Die Gesellschaft der Magier geriet in Vergessenheit.

Seit damals tobt ein Kampf im Verborgenen, der bis zum heutigen Tag andauert. Da sich der Wall aus der Essenz jedes lebenden Lichtkämpfers und Schattenkriegers speist, wollen die machtgierigen Kämpfer um den dunklen Rat die Sphäre wieder auflösen, um die alte Stärke zurückzuerlangen. Die Magier auf der Seite des Lichts stehen dem entgegen, sie tun alles, um die Nimags zu beschützen, die der Magie hilflos ausgeliefert sind.

Bei einem Einsatz in London stirbt der Lichtkämpfer Mark Fenton. Sein Sigil und die damit verbundene magische Macht gehen auf Alexander Kent über, der neu in die Welt der Magie eingeführt wird. Ihm zur Seite stehen Jennifer »Jen« Danvers und weitere Kämpfer des Guten, die vom Castillo Maravilla aus überall in der Welt operieren.

Es folgen gefährliche Tage für Alex. Er lernt die Welt der Magie kennen und wird in zahlreiche Abenteuer verwickelt. Durch einen geheimnisvollen Folianten – ein Erbe des letzten Sehers – erfahren Jen, Alex, Johanna von Orleans und Leonardo da Vinci von drei Sigilsplittern, die bei der Errichtung des Walls entstanden sind. Vereint sind sie dazu in der Lage, Allmacht zu erschaffen. Die Schattenfrau sucht nach diesen Artefakten. Jen und Alex gelingt es, in einer uralten Tempelanlage in Indien den Feuerblut-Splitter zu erbeuten.

Unterdessen suchen die übrigen Lichtkämpfer nach der wahren Identität der Schattenfrau. Eine erste Spur in die Vergangenheit der Ashwell-Familie erweist sich als Fehlschlag.

Max, der von einem Wechselbalg viele Wochen lang ersetzt wurde, konnte in der Zwischenzeit im Heilschlaf genesen. Jen und Alex erhalten die Nachricht, dass er erwacht ist.

Prolog

 

Das Gefängnis umgab ihn, zerquetschte sein Ich und zerbrach seine Seele.

Max stand zwischen den Wänden aus grob behauenem Stein, eine tiefe Decke über sich. Der Boden wurde bedeckt von Staub und winzigen Steinbröckchen, die herabgefallen waren. Ein rot pulsierendes Licht erhellte die Dunkelheit wie eine schwelende Wunde, die jemand in das Fleisch der Hölle gerissen hatte. In der Ecke lag ein fleckiges Stück Stoff. Er spürte die Kälte, die wochenlang ihre Klauen in seinen Leib geschlagen hatte, und zitterte.

An der Seite stand der Spiegel und schien ihn zu verhöhnen. Er trat vor das Glas. Ein heruntergekommener Mann starrte zurück. Er war dünn, schwach, ein Versager. Im Gesicht spross ein dichter Vollbart, ungepflegt und hässlich. Die Augen blickten ängstlich in die Welt. Blutige Kratzer zeichneten die nackte Brust. Narben, die bis tief in seine Seele reichten. Das Haar hing dem Mann auf die Schultern, fettig und strähnig. Der Anblick erzeugte Ekel in Max.

Er holte aus, zerschlug den Spiegel. Es störte ihn nicht, dass er sich dabei verletzte. Wichtig war nur, dass er verschwand. Der Schwache, der versagt hatte. Er wollte ihn nicht sehen, nicht an ihn denken.

Die Luft erwärmte sich, wurde heiß, schien zu kochen. Er konnte das Flimmern erkennen. Dann erschienen die Worte. Als schriebe ein Unsichtbarer mit Aschetinte auf die Wand. Ein Abschiedsbrief. Verfasst von dem anderen an seine Freunde. An jene, die ihn vergessen hatten. Hass stieg in ihm auf, pulsierte durch seine Adern wie Säure.

Etwas strich über seine Wange.

Die Umgebung veränderte sich, wurde zu feinem Nebel, der langsam verwehte. Der Traum zerfaserte, die Erinnerung schwand.

Das Gefängnis umgab ihn noch immer, zerquetschte sein Ich und zerbrach seine Seele. Das Gefängnis aus Fleisch und Knochen, das andere Körper nannten. Er konnte nicht aus ihm entkommen, niemals. Die Umgebung zerstob. Und der Albtraum namens Wirklichkeit verschlang ihn gnadenlos.

 

 

1. Das Erwachen

 

Er öffnete die Augen.

Stille. Der Schmerz schwieg. Sein Körper fühlte sich anders an als in den Wochen zuvor. Ein ungewohntes Empfinden, nirgendwo Pein, die zu einem ständigen Begleiter geworden war. Er atmete. Vorsichtig, langsam, er wollte keinen Fehler machen, den Augenblick nicht zerstören. Den Moment der Leere in seinem Geist festhalten.

Enge. Seine Brust wurde in einen Würgegriff gezogen, sein Innerstes zermalmt. Die Erinnerungen kamen wie ein Sturm über ihn, sein Körper zitterte.

Max krümmte sich zur Seite und erbrach sich. Er hatte lange nichts gegessen, es war nur Gallenflüssigkeit. Die Kehle schmerzte, als er sich wieder umdrehte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass noch jemand im Raum war.

Seine Gedanken rasten. Er lag in einem Bett im Krankenflügel. Der Geruch nach Heilkräutern durchzog die Luft, er konnte die verwehte Essenz gewirkter Heilzauber spüren.

Theresa stand neben dem Bett, betrachtete ihn mit einem untypischen Blick voller Mitgefühl. Direkt daneben wartete Kevin. Sein Gesicht war kreidebleich. In seinen Augen erkannte Max die unterschiedlichsten Emotionen: Angst, Hoffnung, Wut, Schwäche. Er wandte sich erneut zur Seite, übergab sich ein zweites Mal. Er wollte keine Gefühle!

Mit der Erinnerung und dem, was er im Blick von Theresa und Kevin sah, brachen die eigenen Emotionen wie ein Raubtier über ihn herein, das bisher in der Dunkelheit auf seine Chance gelauert hatte. Seine Brust schien zu zerbersten unter dem Druck.

Max ballte die Fäuste und brüllte all seinen Hass hinaus. Auf den Wechselbalg. Auf die Freunde, die den Austausch erst bemerkt hatten, als es zu spät gewesen war. Auf seinen schwachen Körper, der nicht eher dazu in der Lage gewesen war, sich zu befreien. Auf das Schicksal. Auf die Welt. Die Wut verschwand, wie ein dunkler Nebel, der sich ohne Gefäß verflüchtigte.

Zurück blieb Leere.

Scham.

Max rollte sich zu einer Kugel zusammen. Er wollte nichts sehen, nichts hören, nichts spüren. Die Welt sollte dort draußen bleiben, weit weg. Hätte er gekonnt, er hätte Fleisch und Knochen abgestreift, den Körper zurückgelassen und wäre geflohen. An einen dunklen Ort, wo ihn niemand kannte.

Tränen rannen heiß über seine Wangen.

»Geh«, erklang die Stimme von Theresa.

»Was?«, erwiderte Kevin.

»Es ist zu viel für ihn.«

»Aber … Max, willst du, dass ich gehe?«

Er kannte seinen Freund. Kev würde nicht verschwinden, bis er es von ihm selbst hörte. Max brachte ein Nicken zustande.

»In Ordnung.« Kevin bemühte sich um einen neutralen Ton, doch Max konnte hören, dass es ihn verletzte. »Aber, wenn du … so weit bist, ruf mich. Ich warte.«

Er vernahm Schritte, die sich entfernten.

»Du auch«, sagte Max.

»Nein.«

Er blickte auf. Theresa saß auf dem Stuhl neben seinem Bett. Sie zeigte keinerlei Emotionen mehr. Wie ein kalter Steinblock saß sie da, unbeugsam, unangreifbar, unzerbrechlich. Er nahm nichts von ihr wahr, kein Mitleid, keine Anteilnahme, nicht den Hauch eines Gefühls.

Gut.

Max wollte weder seine eigenen Empfindungen noch die von anderen. Sie sollten ihn in Ruhe lassen. Er wollte nichts davon hören, was sie über sein Versagen dachten. Was der Wechselbalg mit seinem Antlitz angerichtet hatte, wer gestorben war und wie. Er wusste bereits zu viel durch die Verbindung des Kontaktsteins.

Er rollte sich zusammen und blendete die Wirklichkeit aus.

Die Stunden verstrichen.

Jen tauchte auf, ebenso Chloe, dann Clara. Später Chris. Theresa schickte sie alle wieder fort. Irgendwann stand der Neuerweckte in der Tür, von dem der Wechselbalg erzählt und dessen Gesicht er Max gezeigt hatte. Ohne ein Wort stellte er einen Teller mit Keksen auf den Tisch. Bevor er ging, wünschte er Theresa ein frohes Weihnachtsfest und ihm alles Gute.

Sie schlug Max vor, seine Freunde hierher einzuladen, doch er wollte nicht. Das Fest der Liebe hatte für ihn jeden Reiz verloren. Früher hatte er die Festtage genossen, gemeinsam mit Kevin Plätzchen gefuttert, bis sie sich die schmerzenden Bäuche hielten. Er hatte darauf bestanden, selbst den Zauber auszuführen, der die Christbaumkugeln an den Baum schweben ließ. Doch wozu jetzt noch feiern?

Die Tage zwischen den Jahren verstrichen.

Theresa zwang ihn dazu, mehrmals täglich aufzustehen und Übungen zu absolvieren, damit seine Muskeln nicht degenerierten. Er duschte, rasierte sich, ließ zu, dass sie ihm mit einem Zauber die Haare schnitt. Aus seiner zotteligen Mähne wurde ein sauberer Kurzhaarschnitt. Einmal schaute er in den Spiegel und erblickte das Äußere eines Fremden, der naiv und unschuldig in die Welt blickte, an das Gute glaubte und stets ein Lächeln auf den Lippen trug. Er zerschmetterte den Spiegel mit einem Kraftschlag und rollte sich wieder zusammen.

Der Jahreswechsel kam. Vor dem Fenster stieg magisches Feuerwerk empor, Lachen drang an seine Ohren. Er sah Pärchen, die gemeinsam auf die Dächer schwebten und dort knutschend die Leuchtkugeln und Nebelsilhouetten betrachteten. Es war der einzige Tag im Jahr, an dem Leonardo zuließ, dass jemand das Dach bestieg. Vermutlich war er auch längst betrunken. Johanna behielt die Kontrolle, trank nichts und wachte darüber, dass niemandem etwas geschah.

Theresa erzählte ihm, dass Kevin gekommen war. Max wollte ihn nicht sehen. Er konnte nicht. Die Scham über das Geschehene war zu groß. Auch die Wut war noch immer da. Sobald er Kevin sah, stieg ein anderes Bild empor.

Sein Freund und der Wechselbalg lagen nackt zwischen den Laken, küssten sich, hatten leidenschaftlichen Sex. Immer, wenn seine Gedanken so weit waren, kam die Übelkeit zurück. Anfangs hatte er sich täglich übergeben, mittlerweile geschah es nur noch selten.

Das neue Jahr begann, wie das alte geendet hatte: grau, trist und kalt.

Irgendwann brachte Theresa ihm nicht länger das Essen. Er sollte es sich selbst holen. Entweder direkt in der Küche oder im Speisesaal. Sie ging wohl davon aus, dass er nachgeben würde und nach unten wanderte. Stattdessen nahm er seinen Essenzstab. Er hatte den unterarmlangen magischen Stab seit seinem Erwachen nicht mehr berührt. Ein Stück des Wechselbalgs schien daran zu kleben wie fauliger Eiter. Als er die Verlängerung seines Sigils nun berührte, verflog der Eindruck. Max schloss die Augen, als sich Sigil und Essenzstab tastend, zaghaft und schließlich voller Freude wieder miteinander verbanden.

Es tat gut.

Als er aufblickte, sah er Theresa. Lächelnd ging sie aus dem Raum. Er hatte exakt das getan, was sie wollte. Mit dem Stab konnte er sich Essen aus der Küche herbeischweben lassen. Darin war er gut. Es funktionierte jedoch nur bis zu jenem Tag, an dem eine dicke Köchin auftauchte. Wütend stellte sie klar, dass niemand Essen aus ihrer Küche stahl. Er sollte gefälligst selbst vorbeikommen und es bei ihr essen. Dann riss sie ihn in eine Umarmung, sagte »Alles wird wieder gut« und stürmte hinaus.

Max sah ihr mit offenem Mund nach.

An diesem Tag verließ er erstmals den Krankenflügel.

 

 

2. Keine Widerrede

 

Johanna seufzte.

Es war früher Morgen im Castillo. Die ersten Lichtkämpfer krochen verschlafen aus ihren Betten, andere kehrten von Außeneinsätzen oder Nachtschichten zurück. Bald würden die ersten Vorlesungen und Einsatzbesprechungen beginnen. Sie mochte diese Tageszeit. Mit einer Tasse Grüntee in der Hand klopfte sie an Max’ Tür. Er hatte auf einem neuen, eigenen Zimmer bestanden, wollte nicht wieder mit Kevin in eine gemeinsame Unterkunft. Verständlich nach allem, was geschehen war. Er brauchte Zeit. Allerdings konnten sie die Sache auch nicht einfach so weiterlaufen lassen.

Es kam keine Antwort.

Kurzerhand zeichnete sie das Symbol einer Elementtransformation mit dem Essenzstab auf das Holz, sprach die Worte und ließ die Tür zu Nebel werden. Sie störte nur ungern die Privatsphäre eines Lichtkämpfers, doch sie würde den Teufel tun und Max endgültig entgleiten lassen.

Auf der anderen Seite angekommen, sah sie sich um.

Ein Kraftschlag zerschmetterte ihre Tasse. Gleichzeitig wirkte eine Gravitationsumkehr, presste sie auf den Boden und unterdrückte jede Bewegung. Ihr Essenzstab wirbelte durch die Luft und stand in Flammen.

Johanna handelte instinktiv.

Voneinander unabhängig zeichneten die Finger ihrer beiden Hände Symbole. Das Feuer erlosch, der Stab flog zurück in ihre Hand. Die Gravitationsumkehr war danach nur noch ein Klacks. Sie kam in die Höhe.

»Tut mir leid wegen der Tasse«, sagte Max tonlos. In seiner Stimme gab es keinerlei Anteilnahme.

»Ich habe noch eine Menge davon. Wir müssen uns unterhalten.« Johanna betrachtete ihn eingehend. Er lag in Jeans und Pullover auf dem Bett, den Essenzstab in der rechten Hand. Das dunkle zerzauste Haar deutete darauf hin, dass er gerade geschlafen hatte. »Wie geht es dir?«

»Gut.«

»Und wie geht es dir wirklich?«

»Gut.«

Johanna unterdrückte ein weiteres Seufzen. »Du verwandelst dein Zimmer in eine Festung, bevor du schlafen gehst?«

»Sicher ist sicher.«

Sie wollte etwas sagen wie: »Das Castillo ist sicher«, doch es kam ihr hohl und leer vor. Die Ereignisse hatten bewiesen, dass es eine Lüge war. Nichts war absolut sicher. Für jeden Schutz, den sie einbauten, würde ein Schattenkrieger ein Schlupfloch finden. So war es immer. »Deine Freunde sorgen sich um dich.«

»Ich weiß.«

»Willst du nicht mit ihnen reden?«

»Das habe ich doch getan.«

Johanna ließ ihre Braue in die Höhe wandern, was die Antwort teilweise vorwegnahm. »Du hast gesagt, dass alles gut ist und bist davongestapft. Seitdem spielst du den Einsiedler.«

Er schwieg.

»Ich meinte, wirklich mit ihnen sprechen. Zu ihnen zurückkehren.«

Für eine Sekunde verlor Max die Maske aus stoischer Gelassenheit. Der Schmerz, den sie darunter erkannte, ließ sie zurücktaumeln. Theresa mochte seinen Körper geheilt haben, doch seine Seele war noch immer verletzt, würde nur langsam heilen. Sie kannte das. Kurz flammte das Bild eines anderen Menschen in ihrem Geist auf. Nach ihrer Gefangenschaft im Novum-Absolutum-Kerker hatte Tomoe auch Zeit benötigt. Max wollte, dass alles wieder so war wie zuvor. Johanna wusste, dass es das nie wieder sein würde. Der Mann, der die Schrecken des Kerkers überlebt hatte, war ein anderer; auch, wenn er das selbst noch nicht realisiert hatte. Er musste die Bande zu seinen Freunden neu knüpfen.

»Ab morgen wirst du Wesley Mandeville aufsuchen.«

»Was?« Er sprang auf. »Nein.«

»Oh, doch. Das ist keine Option. Jeder Lichtkämpfer, der ein traumatisches Erlebnis bewältigen muss, geht zu ihm. Das wirst du ebenfalls tun.«

Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, um Max Gelegenheit zu geben, das Gehörte zu verarbeiten. Die Zimmerfluchten eines Lichtkämpfers waren stets wie eine kleine Wohnung angelegt. Dank der Dimensionsfaltenzauber war das kein Problem. Es gab einen Hauptraum, von dem ein Bad, eine kleine Küche – die aber kaum jemand nutzte – und ein Schlafzimmer abzweigten.

Max hatte nicht einen Gegenstand aus den alten Räumen mit hierhergebracht. Das Regal war so leer wie die Schreibtischplatte, die Bettwäsche grau. Pflanzen suchte sie vergebens, kein Poster oder Gemälde hing an der Wand.

Der Spiegel einer gebrochenen Seele.

»Was, wenn ich mich weigere?«

Sie parierte seinen Blick gelassen. »Das wirst du nicht herausfinden, weil du hingehst. Morgen früh um neun Uhr ist deine erste Sitzung.«

Er sagte nichts.

Ohne ein weiteres Wort, nur mit einem verabschiedenden Nicken, ging sie hinaus.

»Und?«

Sie zuckte zusammen. »Kevin? Wo kommst du her?«

»Ich war in der Gegend.« Er machte eine ausladende Handbewegung, die das ganze Castillo einschloss. »Wie geht es ihm? Was hat er gesagt?«

»Er braucht noch etwas Zeit.« Als habe jemand die Fäden einer Puppe durchschnitten, schien jede Kraft aus Kevin herauszufließen. Seine Schultern sackten herab. »Verstehe.«

Johanna tätschelte ihm den Arm. »Er muss das, was geschehen ist, erst verarbeiten. Keiner von uns kann … keiner von euch kann wirklich nachempfinden, was hier passiert ist.«

»Aber du schon?«

»Ich wurde als Mensch auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und frag besser nicht, was davor passiert ist. Beantwortet das deine Frage?«

»Was kann ich tun?«

»Nichts. Lass ihm seine Freiheit, lass ihm Raum zum Atmen. Er wird zu euch kommen, sobald er soweit ist.« Hoffentlich.

Sie erkannte das Spiegelbild des Schmerzes von Max in Kevins Augen. Er war nicht körperlich gefoltert worden, doch seelisch hatte es ihn böse erwischt.

Die Intimität mit dem Wechselbalg schwelte in ihm. Er war wütender als je zuvor, ging in den Duellierstunden gnadenlos gegen Feinde vor. Gleichzeitig versagte Kevin bei Gruppenaufgaben, konnte Nähe nicht mehr so einfach zulassen.

Der Wechselbalg hatte ganze Arbeit geleistet. Er und die Schattenfrau.

»Wie laufen die Stunden bei Wesley?«

Er schluckte. »Gut.«

Sie hakte nicht weiter nach. Noch nicht. Auch er brauchte seine Zeit. Johanna verabschiedete sich und ging zum Frühstück. Max und Kevin waren die zwei Seiten einer Medaille. Sie konnte nur hoffen, dass sie den Weg zurückfanden und keiner von beiden dabei verloren ging.

 

 

3. Das ist kein Spiel!

 

Alex stützte sein Kinn auf die Handfläche und lauschte der Vorlesung. Zumindest versuchte er es. Seine Gedanken richteten sich jedoch immer wieder auf die Ungerechtigkeit des Lebens.

»… unabdingbar, dass ihr diese Gesichter verinnerlicht.« Thomas Alva Edison deutete mit der Spitze seines Essenzstabes auf eine Wand aus vergilbtem Papier. »Aventum.«

Tintenkleckse formten sich zu Tuschezeichnungen, in die Farbe einfloss. Sechs Gesichter blickten grimmig auf die dicht besetzten Sitzreihen der Neuerweckten.

Edison stand davor, hochgewachsen und aufrecht, mit durchgestrecktem Rücken. Das schwarze Haar trug er akkurat geschnitten, die Augen blitzten energiegeladen. Er kam Alex stets vor wie ein gespannter Bogen, der nur darauf wartete, einen Pfeil abzuschießen. Äußerlich trug er das Antlitz eines Mannes Mitte vierzig.

»Das sind die dunklen Unsterblichen«, sprach er weiter. »Der Graf von Saint Germain, Dschingis Khan, Aleister Crowley und Grigori Jefimowitsch Rasputin.« Er hielt kurz inne, ließ den Blick über die Reihen gleiten. »Die anderen beiden sind … schwierig. Ihr alle wisst von dem Kampf bei der Entstehung des Walls. Dabei starb einer der dunklen Unsterblichen. Wir wissen nicht, wer damals an seiner statt erwacht ist. Diese Person hat bisher noch in kein Gefecht eingegriffen.«

Alex’ Aufmerksamkeit war gefesselt. Ihnen wurde generell recht wenig über die Unsterblichen offenbart. Er wusste lediglich, dass sie nach ihrem Nimag-Tod als Unsterbliche wieder auftauchten. Das Alter wurde zufällig gewählt und fortan behielten sie es bei. Zu den Guten gehörten Johanna, Leonardo, Einstein, Tomoe und Edison. Mittlerweile wusste er auch, wer die letzte Person war. Eine peinliche Sache.

Er war auf dem Gang in sie hineingerannt. Eine junge Frau in den Zwanzigern, so hatte er gedacht und ein wenig mit ihr geflirtet. Letztlich stellte sich jedoch heraus, dass die äußerlich jüngste gleichzeitig die älteste Unsterbliche war. Seitdem durfte er sich ständig Witze anhören. Gerade heute Morgen hatte sein Mitneuerweckter René, mit dem Alex eine tiefe Feindschaft verband, ein Bild seiner Oma gezeigt und gefragt, ob er ein Date klarmachen sollte. Weil Alex doch auf ältere Ladies stand.

Wäre Edison in diesem Augenblick nicht in den Vorlesungssaal gekommen, Alex hätte seinen neuen Erzfeind kurzerhand mit einem Kraftschlag aus dem Fenster geworfen.

»Wer ist der Sechste?«, fragte jemand.

Erst jetzt realisierte er, dass noch ein dunkler Unsterblicher fehlte. Neugierig wartete er darauf, dass Edison weitersprach. Der Lehrer in ›Schattenmagie – Wie der Feind denkt‹ war ein ungeduldiger Mensch, knallhart und regelversessen.

»Der Letzte ist der, den ihr alle unter der Bezeichnung ›Verräter‹ kennt. Er ermöglichte damals die Erstürmung des Castillos, was beinahe den Wall verhindert hätte. Wir wissen, dass durch seinen Wechsel in die Reihen der dunklen Unsterblichen einer von dort entfernt wurde. Das Gleichgewicht blieb somit erhalten.«

»Ich höre immer nur Verräter«, warf Alex ein. »Niemand sagt uns den Namen.«

»Der ist auch absolut unbedeutend«, blaffte Edison zurück. »Ihr werdet ihn in keinem Buch und keinem Mentiglobus finden. Er greift nicht in Kämpfe ein und hat sich völlig zurückgezogen.«

Der Unsterbliche wechselte das Thema.

Alex’ Gedanken schweiften wieder ab. So ging es nicht weiter. Durch seine Ausbildung und den ständigen Einsatz als Lichtkämpfer hatte er immer weniger Zeit für Alfie und seine Mum. Das hatte zu einem bösen Streit geführt, weil sein kleiner Bruder ihm vorwarf, dass die Familie ihm jetzt nicht mehr wichtig war, wo er doch das große Geld verdiente.

Ein toller Start ins neue Jahr.

»Alexander Kent!«, brüllte Edison.

Alex fuhr auf. »Was?«

»Komm bitte zum Pult.«

Verdammt! Er kam der Aufforderung zögerlich nach.

Der Unsterbliche bedeutete ihm, vor dem aus Stein gehauenen Pult Aufstellung zu nehmen. Auf der Tafel im Hintergrund krochen Kreidebuchstaben umher, bildeten Lehrsätze.

»Also, du hast mir zugehört und weißt, warum du hier stehst?«

»Ähm. Klar.« Alex streckte den Rücken durch.

Edison verdrehte die Augen. »Nimm eine der Glühbirnen.«