Inhaltsverzeichnis
Erstes Buch - Das Häuschen an der Grenze
Einleitung
Kapitel 1 Zwei Frauen
Kapitel 2 Die Magdalena - der Neuzeit
Kapitel 3 Die deutsche Granate
Kapitel 4 Eine Versuchung
Kapitel 5 Der deutsche Arzt
Zweites Buch - Mablethorpe-House
Einleitung
Kapitel 1 Die Gesellschafterin der Lady Janet
Kapitel 2 Es kommt der Mann
Kapitel 3 Der Mann erscheint
Kapitel 4 Eine Nachricht aus Mannheim
Kapitel 5 Ein Rat von Dreien
Kapitel 6 Die Tote lebt
Kapitel 7 Julian verreist
Kapitel 8 Julian kommt zurück
Kapitel 9 Spätere Ereignisse werfen ihren Schatten voraus
Kapitel 10 Mercys Gewissensbisse
Kapitel 11 Abermaliges Zusammentreffen
Kapitel 12 Der Schutzengel
Kapitel 13 Sie wird gesucht
Kapitel 14 Der böse Dämon
Kapitel 15 Der Polizeimann in Zivil
Kapitel 16 Tritte im Korridor
Kapitel 17 Der Mann im Speisezimmer
Kapitel 18 Lady Janet in Bedrängnis
Kapitel 19 Der Brief Lady Janets
Kapitel 20 Das Bekenntnis
Kapitel 21 Eine große Seele und eine kleinliche Seele
Kapitel 22 Magdalenens Lehrjahre
Kapitel 23 Der Urteilsspruch
Kapitel 24 Die letzte Prüfung
Nachschrift - Briefe zwischen Horace Holmcroft und Grace Roseberry
I. Mister Horace Holmcroft an Miss Roseberry
II. Miss Grace Roseberry an Mister Horace Holmcroft
III. Mister Horace Holmcroft an Miss Grace Roseberry
Nachschrift - Auszüge aus Julian Grays Tagebuch
Erster Auszug
Zweiter Auszug
Dritter Auszug
Vierter Auszug
Fünfter Auszug
Sechster Auszug
Wilkie Collins

Die Neue Magdalena

 
e-artnow, 2016
Kontakt info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7228-3

Erstes Buch - Das Häuschen an der Grenze

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Inhaltsverzeichnis

Der Schauplatz ist Frankreich.

Der Zeitpunkt ist der Herbst des Jahres 1870 - des Kriegsjahres zwischen Frankreich und Deutschland.

Die Personen sind: Kapitän Arnault in der französischen Armee; Wundarzt Surville bei der französischen Ambulanz; Wundarzt Wetzel bei der deutschen Armee; Mercy Merrick, als Wärterin der französischen Ambulanz beigegeben, und Grace Roseberry, eine Dame, auf einer Reise nach England begriffen.

Kapitel 1
Zwei Frauen

Inhaltsverzeichnis

Es war eine dunkle Nacht. Der Regen goss in Strömen herab.

Spät am Abend waren Streifpatrouillen der Franzosen und Deutschen nahe bei dem kleinen Dorf Lagrange dicht an der deutschen Grenze aufeinander gestoßen und handgemein geworden. In dem Kampf, der sich dann entspann, hatten diesmal die Franzosen über den Feind gesiegt. Für den Augenblick wenigstens waren einige hundert Mann vom Heere der Eindringlinge über die Grenze zurückgeworfen worden. Es war ein unbedeutendes Gefecht, bald nach dem großen deutschen Sieg von Weißenburg, und die Zeitungen haben gar keine, oder nur wenig Notiz davon genommen.

Kapitän Arnault, der Befehlshaber auf französischer Seite, saß allein in einem Häuschen des Dorfes, das von dem Müller der Gegend bewohnt war. Er las eben beim matten Schein eines Talglichtes einige aufgefangene Depeschen der Deutschen.

Er hatte die brennenden Scheiter, die auf dem großen, offenen Rost lagen, verlöschen lassen; die rote Glut der Kohlen erleuchtete nur schwach einen Teil des Zimmers. Hinter ihm auf dem Fußboden lagen einige leere Säcke des Müllers. In der Ecke, ihm gegenüber, stand das massive Bett aus Nussbaumholz. An den Wänden ringsum hingen in reicher Abwechslung kolorierte Abbildungen von allerlei frommen und häuslichen Gegenständen. Eine Verbindungstür, welche in die Küche des Häuschens führte, war aus ihren Angeln gerissen worden, um darauf die im Scharmützel Verwundeten herein zu tragen. Sie waren jetzt in der Küche bequem zur Ruhe gebracht unter der Obhut des französischen Arztes und der englischen Wärterin, welche die Ambulanz begleitete. Ein Stück groben Zeuge hing in der Öffnung zwischen den beiden Zimmern und bildete so den Ersatz für die Tür. Eine zweite Tür, die vom Schlafzimmer in den Hof hinausführte, war versperrt; und der hölzerne Laden, welcher das eine Fenster des Zimmers verwahrte, war sorgfältig verriegelt. Verstärkte Wachen standen auf allen Vorposten. Auf diese Weise hatte der französische Kommandant sein Möglichstes getan, um sich und seinen Leuten eine ungestörte Nachtruhe zu sichern.

Kapitän Arnault war noch in die Depeschen vertieft, aus denen er zuweilen mithilfe des auf dem Tisch stehenden Schreibzeuges Notizen machte, als er in dieser Beschäftigung durch das Erscheinen eines Eintretenden unterbrochen wurde. Doktor Surville trat aus der Küche herein, indem er den Zeugvorhang auf die Seite schob, und näherte sich dem kleinen, runden Tisch, an welchem sein Vorgesetzter saß.

„Was gibt's?” fragte der Kapitän in scharfem Ton.

„Ich hätte eine Frage an Sie”, versetzte der Arzt. „Sind wir gesichert für die Nacht?”

„Weshalb wollen Sie das wissen?” forschte der Kapitän argwöhnisch. Der Arzt deutete nach der Küche, die nunmehr zum Hospital für die Verwundeten umgewandelt war.

„Die armen Kerls da drinnen sind besorgt für die nächsten paar Stunden”, versetzte er. „Sie fürchten einen Überfall und sie fragen mich, ob sie halbwegs sicher sein können, eine ruhige Nacht zu haben. Was glauben Sie darüber?”

Der Kapitän zuckte die Achseln. Der Arzt ließ nicht nach. „Aber, Sie sollten es wissen,” sagte er.

„Ich weiß, dass wir im Augenblick im Besitz des Dorfes sind”, antwortete der Kapitän, „mehr weiß ich nicht; hier sind Papiere des Feindes.” Er hielt sie in die Höhe und schüttelte sie ungeduldig, während er sprach: „Sie geben mir keine Nachricht, auf die ich mich verlassen könnte. Dagegen kann ich nur sagen, dass das Hauptcorps der Deutschen, der Zahl nach und um das Zehnfache überlegen, diesem Hause möglicherweise näher ist als das französische Hauptcorps. Ziehen Sie daraus Ihre Schlüsse. Ich habe weiter nichts zu sagen.”

Nach dieser entmutigenden Antwort sprang Kapitän Arnault auf, zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf und zündete sich am Licht eine Zigarre an.

„Wohin gehen Sie?” fragte der Arzt.

„Um nach den Vorposten zu sehen.”

„Haben Sie dies Zimmer zunächst nicht nötig?”

„Ich brauche es jetzt nicht, für mehrere Stunden nicht, denken Sie einen ihrer Verwundeten hier einzuquartieren?”

„Ich dachte an die englische Dame”, antwortete der Arzt, „die Küche ist doch nicht recht der Platz für sie. Sie hätte es hier bequemer und die englische Wärterin könnte ihr Gesellschaft leisten.”

Der Kapitän lächelte, doch nicht sehr vergnügt. „Es sind zwei Frauen”, sagte er, „und Doktor Surville ist ein Ritter der Damen. Führen Sie sie herein, wenn sie so unvorsichtig sind, sich hier Ihnen anzuvertrauen.” Im Begriffe hinaus zu gehen, blieb er noch einen Augenblick stehen und blickte misstrauisch zurück auf die brennende Kerze. „Schärfen Sie den Frauen Vorsicht ein”, sagte er, „dass sie ihre Neugierde ja nicht außerhalb dieses Zimmers üben.”

„Was meinen Sie?”

Der Kapitän wies mit dem Zeigefinger bedeutsam nach dem geschlossenen Fensterladen.

„Haben Sie je eine Frau gekannt, die der Versuchung widerstanden hätte, zum Fenster hinaus zu sehen?” fragte er. „Finster, wie es schon ist, werden Ihre Damen früher oder später gewiss die Lust verspüren, diesen Laden zu öffnen. Sagen Sie ihnen, dass ich nicht wünsche, durch das Kerzenlist mein Hauptquartier den deutschen Patrouillen verraten zu sehen. Wie ist das Wetter? Regnet es noch?”

„Es gießt in Strömen.”

„Um so besser. Dann werden die Deutschen uns nicht sehen.” Mit dieser tröstlichen Bemerkung öffnete er die Tür, die in den Hof führte, und schritt hinaus.

Der Arzt hob den Zeugvorhang etwas in die Höhe und rief in die Küche: „Miss Merrick, haben Sie Zeit, ein wenig auszuruhen?”

„Zeit im Überfluss”, antwortete eine sanfte Stimme, mit einem Anflug von Melancholie, die schon in diesen drei Worten hörbar durchklang.

„So kommen Sie herein”, fuhr der Arzt fort, „und führen Sie die englische Dame auch herein. Hier haben Sie ein ruhiges Zimmer ganz für sich allein.”

Er hielt den Vorhang zurück und die beiden Frauen traten ein.

Die Wärterin ging voran - sie war groß, schlank und anmutig gebaut - sie trug das nette Uniformkleid von schwarzem Stoff, mit einfachem Leinwandkragen und Manschetten und das hochrote Kreuz der Genfer Konvention auf die linke Schulter geheftet. Bleich und traurig, in ihrem Gesichte und ganzen Wesen den beredten Ausdruck unterdrückter Leiden und tiefen Kummers, lag in ihrer Haltung ein angeborener Adel, in dem Blicke ihrer großen, grauen Augen und in den feinen Linien ihres Gesichtes eine angeborene Größe, die sie unter jedweden Verhältnissen und in jedweder Kleidung unwiderstehlich anziehend und schön erschienen ließ. Ihre Begleiterin hatte einen dunkleren Teint und war kleiner, allein sie besaß so hervortretende Reize, dass es nichts weiter bedurfte, um die höfliche Beflissenheit des Doktors zu rechtfertigen, ihr im Zimmer des Kapitäns ein Obdach zu verschaffen. Das allgemeine Urteil hätte sie in jedem Lande für eine ungewöhnlich schöne Frau erklärt. Sie trug den langen, grauen Mantel, in dem sie vom Kopf bis zum Fuß eingehüllt war, mit einer Grazie, die eben einfachen, ja selbst abgetragenen Kleidungsstücken den eigenen Reiz mitteilt. Die Mattigkeit in ihren Bewegungen und die Unsicherheit im Ton ihrer Stimme, als sie dem Arzt dankte, bewies deutlich, wie sehr sie durch die ertragenen Anstrengungen litt. Ihre dunklen Augen durchsuchten scheu den matt erleuchteten Raum und sie hielt sich fest am Arme der Krankenwärterin mit dem Ausdruck einer Frau, deren Nervensystem erst kürzlich durch Schreck heftig erschüttert worden.

„Auf eines haben Sie zu achten, meine Damen”, sagte der Arzt. „Hüten Sie sich ja, den Fensterladen zu öffnen, sonst könnte das Licht durch das Fenster von draußen gesehen werden. Im Übrigen steht es uns frei, es uns hier so bequem als möglich zu machen. Beruhigen Sie sich, Madame, und vertrauen Sie auf den Schutz eines Franzosen, der Ihnen wahrhaftig ergeben ist!” Um seinen letzten galanten Worten mehr Nachdruck zu verleihen, führte er die Hand der englischen Dame an seine Lippen. In dem Augenblicke, als er sie küssen wollte, wurde der Zeugvorhang abermals zurückgeschoben. Ein Bediensteter der Ambulanz erschien und meldete, ein Verband sei locker geworden und einer der Verwundeten allem Anscheine nach dem Verbluten nahe. Der Arzt fügte sich, obgleich mit schlecht verhehltem Unmut, in sein Schicksal, ließ die Hand der reizenden Engländerin fallen und gehorchte der Pflicht, die ihn nach der Küche rief. Die zwei Damen blieben allein im Zimmer zurück.

„Wollen Sie nicht Platz nehmen, Madame?” fragte die Wärterin.

„Nennen Sie mich nicht Madame”, versetzte die junge Dame freundlich. „Mein Name ist Grace Roseberry. Wie heißen Sie?”

Die Wärterin zögerte. „Mein Name ist nicht so hübsch wie der Ihre”, sagte sie und zögerte wieder. „Nennen Sie mich Mercy Merrick”, fügte sie nach kurzem Bedenken hinzu.

Hatte sie einen falschen Namen angegeben? Haftete vielleicht an ihrem wahren Namen irgendeine unglückliche Berühmtheit? Miss Roseberry ließ sich nicht Zeit, um diese Fragen zu stellen. „Wie kann ich Ihnen meine Dankbarkeit bezeigen”, rief sie, „für Ihre schwesterliche Freundlichkeit gegen mich, gegen die Fremde?”

„Ich habe nur meine Pflicht getan”, sagte Mercy Merrick in etwas kühlem Tone. „Es ist nicht der Rede wert.”

„Es ist wohl der Rede wert. In welcher Lage fanden Sie mich, als die französischen Soldaten die Deutschen vertrieben hatten! Mein Reisewagen war aufgehalten, meine Pferde weggenommen worden, ich selbst in fremdem Land bei einbrechender Nacht, meines Geldes und meines Gepäcks beraubt und überdies noch bis auf die Haut von dem strömenden Regen durchnässt! Ihnen verdanke ich mein Obdach hier - ich trage Ihre Kleider, ohne Sie wäre ich vor Angst und Schrecken gestorben. Womit kann ich Ihnen solche Dienste vergelten?”

Mercy stellte einen Stuhl für ihren Gast in die Nähe des Tisches und setzte sich selbst, in einiger Entfernung, auf eine alte Kiste, die in einer Ecke des Zimmers stand. „Darf ich eine Frage an sie richten?” sagte sie plötzlich.

„Hundert Fragen”, rief Grace, „wenn Sie wollen.” Sie sah nach der verlöschenden Glut und dann nach der dunkelsten Ecke des Zimmers, wo die undeutlich sichtbare Gestalt ihrer Begleiterin saß. „Die elende Kerze gibt kaum Licht”, sagte sie ungeduldig. „Sie wird nicht mehr lange aushalten. Können wir den Raum nicht etwas heiterer machen? Kommen Sie doch hervor aus Ihrer Ecke. Rufen Sie nach mehr Holz und Licht.”

Mercy blieb in ihrer Ecke und schüttelte den Kopf; „Kerzen und Holz sind gar seltene Dinge hier”, antwortete sie. „Wir müssen Geduld haben, selbst wenn wir im Finsteren gelassen würden. Sagen Sie”, fuhr sie fort, indem sie ihre Stimme etwas erhob, „wie kam es, dass Sie wagten, in Kriegszeit die Grenze zu passieren?”

Bei Beantwortung dieser Frage ließ Grace die Stimme sinken. Die eben noch gezeigte Heiterkeit ihres Wesens verschwand plötzlich.

„Ich hatte die dringendsten Gründe”, sagte sie, „nach England zurückzukehren.”

„Allein?” versetzte die andere, „ohne irgendwelchen Schutz?”

Grace senkte den Kopf. „Ich ließ meinen einzigen Beschützer - meinen Vater - auf dem englischen Friedhof in Rom zurück”, antwortete sie im Tone rührender Einfachheit. „Meine Mutter starb vor mehreren Jahren in Kanada.”

Die schattenähnliche Gestalt der Wärterin veränderte plötzlich ihre Stellung auf der Kiste. Sie war bei den letzten Worten der Miss Roseberry aufgesprungen.

„Kennen Sie Kanada?” fragte Grace.

„Sehr gut”, war die kurze Antwort, sie wurde trotz ihrer Kürze nur mit Widerstreben gegeben.

„Waren Sie jemals in der Nähe von Port Logan?”

„Ich lebte einst ein paar Meilen von Port Logan entfernt.”

„Wann?”

„Es ist schon einige Zeit her.” Mit diesen Worten zog sich Mercy Merrick in ihre Ecke zurück, und gab dem Gespräch eine andere Wendung. „Ihre Verwandten in England werden Ihretwegen in großer Angst sein”, sagte sie.

Grace seufzte. „Ich habe keine Verwandten in England. Sie können sich kaum jemand vorstellen, der freudloser dasteht als ich. Wir zogen fort von Kanada, als die Gesundheit meines Vaters uns Besorgnis einflößte, und versuchten nach dem Rate des Arztes das Klima Italiens. Sein Tod machte mich nicht nur freudlos, sondern auch arm.” Sie schwieg einen Augenblick und nahm aus der Tasche des großen, grauen Mantels, den ihr die Krankenwärterin geliehen hatte, eine lederne Brieftasche. „Meine Aussichten für die Zukunft”, begann sie wieder, „beruhen sämtlich auf dem Inhalt dieser kleinen Tasche. Es ist der einzige Schatz, den ich zu verbergen im Stande war, als ich meiner anderen Sachen beraubt wurde.”

Mercy konnte gerade die Brieftasche sehen, als Grace sie in der immer zunehmenden Dunkelheit des Zimmers in die Höhe hielt.

„Haben Sie Geld darin?” fragte sie.

„Nein, nur einige Familienpapiere und einen Empfehlungsbrief meines Vaters an eine ältere Dame in England - mir der er durch seine Heirat verwandt wurde, und die ich noch nie gesehen habe. Die Dame will mich als Gesellschafterin und Vorleserin in ihr Haus nehmen. Wenn ich nicht schnell nach England zurückkehre, erhält eine andere diese Stelle.”

„Können Sie sich denn nicht auf etwas anderes verlegen?”

„Nein. Meine Erziehung ist vernachlässigt worden - wir führten ein etwas unregelmäßiges Leben im fernen Westen. Ich bin durchaus nicht befähigt, eine Gouvernantenstelle auszufüllen. Darum hänge ich ganz und gar von der fremden Dame ab, die mich um meines Vaters willen aufnimmt.” Sie steckte die Brieftasche wieder in die Tasche ihres Mantels und schloss ihre kleine Erzählung ebenso einfach, als sie sie begonnen hatte. „Meine Geschichte ist traurig, nicht wahr?” sagte sie.

Die Wärterin beantwortete plötzlich diese Frage mit den sonderbaren, bitteren Worten:

„Es gibt wohl noch traurigere Geschichten als die Ihrige. Es gibt Tausende unglücklicher Frauen, die sich nichts besseres wünschen würden, als mit Ihnen zu tauschen.”

Grace stutzte. „Was kann den an meinem Los beneidenswert erscheinen?”

„Ihr unbescholtener Charakter und Ihre Aussicht, in einem anständigen Haus ehrenvoll untergebracht zu werden.”

Grace wendete sich auf ihren Stuhl und blickte verwundert in die dämmerige Zimmerecke.

„Wie sonderbar Sie das sagen!” rief sie. Keine Antwort; die schattenhafte Gestalt auf der Kiste rührte sich nicht. Grace stand unwillkürlich auf und näherte sich mit ihrem Stuhle der Wärterin. „Ist Ihr Leben vielleicht etwas romanhaft gewesen?” fragte sie. „Weshalb haben Sie sich die furchtbaren Verpflichtungen auferlegt, die ich Sie hier erfüllen sehe? Sie flößen mir unbeschreibliches Interesse ein. Geben Sie mir Ihre Hand.”

Mercy fuhr zurück und wies die dargebotene Hand ab.

„Sind wir denn nicht Freundinnen?” fragte Grace erstaunt.

„Wir können niemals Freundinnen sein.”

„Warum nicht?”

Die Wärterin blieb stumm.

Grace erinnerte sich des Zögerns, als sie ihren Namen nannte und zog daraus einen neuen Schluss. „Sollte ich recht geraten haben”, fragte sie eifrig, „wenn ich in Ihnen irgendeine hohe Dame in Verkleidung vermute?”

Mercy lachte vor sich hin - leise und bitter. „Ich, eine hohe Dame!” sagte sie verächtlich. „Ich bitte Sie um des Himmelswillen, sprechen wir von etwas anderem.”

Graces Neugierde war auf das Höchste gespannt. Sie fuhr beharrlich fort: „Ich bitte Sie nochmals, lassen Sie uns Freundschaft schließen.” Bei diesen Worten legte sie ihre Hand sanft auf Mercys Schulter. Mercy schüttelte sie unwillig ab. Es lag in dieser Bewegung eine Härte, die selbst das geduldigste Wesen hätte verletzen müssen. Grace zog sich empört zurück. „Ach”, rief sie, „Sie sind grausam.”

„Ich will Ihnen wohl”, antwortete die Wärterin ernster als je.

„Ist das freundlich von Ihnen, mich so in Entfernung zu halten? Ich habe Ihnen mein Schicksal erzählt.”

Die Wärterin sagte mit vor Erregung erhobener Stimme: „Veranlassen Sie mich nicht, zu sprechen, Sie werden es bereuen.”

Grace ließ sich nicht abschrecken. „Ich habe Zutrauen zu Ihnen”, fuhr sie fort. „Es ist von Ihnen nicht edel, mich gegen Sie zu verpflichten, und Ihrerseits mich von Ihrem Vertrauen auszuschließen.”

„Sie wollen es so haben?” sagte Mercy Merrick. „Wohlan denn, es sei! Setzen Sie sich wieder.” Grace fühlte vor Erwartung der kommenden Enthüllungen ihr Herz heftig klopfen. Sie zog ihren Stuhl näher an die Kiste, auf welcher die Wärterin saß. Diese schob jedoch den Stuhl entschlossen in einige Entfernung zurück.

„Nicht so nahe!” sagte sie streng.

„Weshalb nicht?”

„Nicht so nahe”, wiederholte die ernste, entschlossene Stimme. „Warten Sie ab, bis Sie mich gehört haben.”

Grace gehorchte, ohne ein Wort weiter zu verlieren. Es entstand eine augenblickliche Stille. Ein schwacher Lichtstrahl zuckte aus der verlöschenden Kerze empor und zeigte Mercy, wie sie in sich gekauert auf der Kiste saß, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in die Hände gedrückt.

Im nächsten Augenblick war das Zimmer in Finsternis begraben. Als die zwei Frauen von der Dunkelheit überrascht wurden, begann die Wärterin zu sprechen.

Kapitel 2
Die Magdalena - der Neuzeit

Inhaltsverzeichnis

„Waren Sie bei Lebzeiten Ihrer Mutter jemals in der Lage, mit ihr nach hereingebrochener Nacht durch die Straßen einer großen Stadt zu gehen?”

In dieser sonderbaren Weise eröffnete Mercy Merrick die vertrauliche Unterredung, zu der sie Grace Roseberry genötigt hatte. Grace antwortete einfach: „Ich verstehe Sie nicht.”

„Ich will Sie auf andere Art fragen”, sagte die Wärterin. Ihre Stimme verlor die unnatürliche Härte und Strenge und gewann ihre ursprüngliche Weichheit und jenen traurigen Klang wieder, als sie folgende Worte sprach: „Sie lesen doch die Zeitungen wie die übrigen Leute”, fuhr sie fort; „haben Sie da nie von Ihren unglücklichen Mitmenschen gehört - den darbenden Auswürflingen der Gesellschaft - welche die Not zur Sünde getrieben hat?”

Noch immer verwundert, antwortete Grace, dass sie dergleichen öfter in Zeitungen und Büchern gelesen habe.

„Haben Sie gehört - dass, wenn diese darbenden, sündigen Geschöpfe Frauen waren - ein Zufluchtsort für sie bestand, um sie zu schützen und zu bessern?”

Die Überraschung, mit der Grace anfangs zugehört hatte, verschwand und machte einem undeutlichen Verdacht Platz, dass etwas Peinliches im Anzug sei. „Dies sind außergewöhnliche Fragen”, sagte sie ängstlich. „Was meinen Sie damit?”

„Antworten Sie mir”, drängte die Wärterin. „Haben Sie von den Besserungshäusern gehört? Haben Sie von Frauen gehört, die so tief gesunken sind?”

„Ja.”

„Rücken Sie Ihren Stuhl noch etwas weiter von mir weg.” Sie hielt inne. Ihre Stimme sank, ohne ihre Festigkeit zu verlieren, tief herab. „Ich war einst auch eine dieser Unglücklichen”, sagte sie ruhig.

Grace sprang mit einem unterdrückten Schrei empor. Sie stand wie versteinert, unfähig ein Wort hervorzubringen.

„Ich war in einem Besserungshause”, fuhr die sanfte, traurige Stimme der anderen fort. „Ich bin im Gefängnis gewesen. Wünschen Sie jetzt noch meine Freundin zu werden? Drängt es Sie noch, an meiner Seite zu sitzen und meine Hand zu fassen?” Sie wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. „Sehen Sie, Sie hatten sich geirrt”, fuhr sie sanft fort, „als Sie mich grausam nannten - und ich hatte recht, wenn ich sagte, ich sei nur wohlwollend.”

Bei dieser Anrede fasste sich Grace. „Ich will Sie nicht kränken”, begann sie verwirrt.

Mercy Merrick unterbrach sie. „Sie kränken mich nicht”, sagte sie in einem Tone, dem man auch nicht den leisesten Schmerz anmerken konnte. „Ich bin es gewohnt, am Pranger meiner eigenen Vergangenheit zu stehen, ich frage mich wohl mitunter, ob ich allein die Schuld an allem trage. Ich möchte manchmal wohl wissen, ob denn die menschliche Gesellschaft nicht irgend Verpflichtungen mir gegenüber hatte, damals, als ich als Kind in den Straßen Zündhölzchen verkaufte und später - wie mir als Arbeiterin gar oft bei der Nadel die Sinne schwanden aus Mangel an Nahrung.” Hier, zum ersten Male, versagte ihr die Stimme; sie wartete einen Augenblick, und war wieder gefasst. „Jetzt ist es nutzlos, bei diesen Dingen zu verweilen”, sagte sie ergeben. „Die Gesellschaft kann dafür zahlen, dass ich gebessert werde - aber mir selbst kann sie mich nicht mehr zurückgeben. Sie sehen mich hier auf einem Vertrauensposten - wo ich in Geduld und Demut nach Kräften Gutes tue. Es ist einerlei! Hier oder anderswo, was ich jetzt bin, ändert nicht, was ich einst war. Drei Jahre hindurch tat ich alles, was eine Frau, die aufrichtig büßen will, nur tun kann. Es ist einerlei! Lassen Sie meine Geschichte nur erst bekannt werden, und ihr Schatten fällt auf mich; die liebevollsten Menschen ziehen sich von mir zurück.”

Sie wartete abermals, ob denn dies Wesen wohl ein Wort des Trostes für sie haben werde? Nein. Miss Roseberry fühlte sich unangenehm berührt; Miss Roseberry war verwirrt. „Mir tun Sie recht leid”, war alles, was sie sagen konnte.

„Jedermann bedauert mich”, antwortete die Wärterin geduldig, wie immer; „jedermann ist freundlich gegen mich, aber das bringt das Verlorene nicht wieder.”

„Ich kann nicht mehr zurück! Ich kann nicht mehr zurück”, rief sie in einem leidenschaftlichen Ausbruch von Verzweiflung - sie bezwang sich jedoch im nächsten Augenblick. „Soll ich Ihnen sagen, welche Erfahrungen ich gemacht habe?” begann sie von neuem.

„Wollen Sie die Geschichte hören - die Geschichte einer Magdalena - aus unseren Tagen?”

Grace trat einen Schritt zurück; Mercy verstand sie sogleich.

„Ich werde Ihnen nichts erzählen, das zu hören Sie sich scheuen müssen”, sagte sie. „Eine Dame in Ihrer Lage würde ja ohnehin die Prüfungen und Kämpfe nicht fassen können, die ich durchzumachen hatte. Ich will meine Geschichte im Besserungshause beginnen lassen. Die Hausmutter hat mich mit dem Charakter entlassen, den ich mir ehrlich verdient habe - den Charakter einer gebesserten Frau. Ich trat in einen Dienst und rechtfertigte das in mich gesetzte Vertrauen, ich ward eine treue Dienerin. Eines Tages ließ mich meine Herrin rufen - eine gütige Herrin, wie es nur eine geben konnte. Mercy, mir tut es Ihretwegen leid; es ist herausgekommen, dass ich Sie aus einer Besserungsanstalt genommen habe; ich würde alle Dienstleute im Hause verlieren, Sie müssen gehen. Ich kehrte zu der Hausmutter zurück - die war wieder freundlich. Sie nahm mich wie ihr Kind auf. Wir wollen es nochmals versuchen, Mercy; seien Sie deshalb nicht niedergeschlagen. - Ich sagte Ihnen vorhin, ich sei in Kanada gewesen?”

Grace begann gegen ihren Willen Interesse zu fühlen. Sie antwortete etwas in einem Tone, den man fast hätte warm nennen können. Sie kehrte auf ihren Stuhl zurück - der in gehöriger und bedeutsamer Entfernung von der Kiste stand.

Die Wärterin fuhr fort: „Meine nächste Stelle war in Kanada bei der Frau eines Offiziers, vornehme Leute, die ausgewandert waren. Ich begegnete dort mehr Freundlichkeit als je und führte diesmal ein angenehmes und ruhiges Leben. Ich fragte mich selbst: Sollte das Verlorene wieder gewonnen sein? Bin ich wieder geboren? Meine Herrin starb. Es kamen fremde Leute in die Nachbarschaft. Darunter befand sich eine junge Dame - mein Herr dachte an eine zweite Frau. Ich habe (in meinen Verhältnissen) das Unglück, eine sogenannte schöne Frau zu sein, ich errege die Neugierde der Fremden. Die neuen Ankömmlinge erkundigten sich nach mir; die Antworten meines Herrn schienen sie nicht zu befriedigen. Mit einem Worte, sie fanden heraus, was ich früher gewesen war. Wieder die alte Geschichte; Mercy, mir tut es sehr leid; man spricht über Sie und mich; wir sind unschuldig, aber das hilft nichts - wir müssen voneinander scheiden. Ich verließ die Stelle. Nur einen Vorteil hatte ich mir während meines Aufenthaltes in Kanada angeeignet, der mir hier gute Dienste leisten sollte.”

„Und worin bestand der?”

„Unsere nächsten Nachbarn waren französische Kanadier. Ich lernte französisch sprechen.”

„Kehrten Sie nach London zurück?”

„Wohin hätte ich sonst gehen sollen - ohne jede Stellung?” sagte Mercy traurig.

„Ich ging wieder zu der Hausmutter zurück. In der Besserungsanstalt waren Krankheiten ausgebrochen, so machte ich mich als Krankenwärterin nützlich. Einer der Ärzte wurde auf mich aufmerksam - er verliebte sich in mich, wie man gewöhnlich sagt. Er hätte mich auch geheiratet. Die Wärterin jedoch, als ehrliche Frau, war verpflichtet, ihm die Wahrheit zu sagen. Er erschien nie wieder. Die alte Geschichte! Ich begann zu erlahmen, weil ich mir immer wieder sagen musste, ich kann nicht zurück! Ich kann nicht zurück! Da erfasste mich die Verzweiflung - die Verzweiflung, die das Herz stumpf macht. Ich hätte vielleicht einen Selbstmord begangen; vielleicht hätte ich mich in den Strudel meines früheren Lebens hineinziehen lassen - um eines Menschen, um eines Mannes willen tat ich es nicht.”

Bei diesen letzten Worten stockte ihre Stimme neuerdings, die bei der früheren Erzählung ihres traurigen Schicksals ruhig und gleichmäßig geklungen hatte. Sie hielt inne und schien schweigend den Erinnerungen zu folgen, welche sie eben in ihrem Innern wieder wachgerufen hatte. Hatte sie vergessen, dass sie nicht allein im Zimmer war? Die Neugierde ließ Grace keine Wahl, sie musste ihrerseits darauf etwas sagen.

„Wer war jener Mann?” fragte sie. „Auf welche Weise hat er sich als Ihr Freund erwiesen?”

„Mein Freund? Er weiß nicht einmal, dass ich existiere.”

Diese befremdende Antwort konnte die Ungeduld nur noch erhöhen, mit welcher Grace mehr zu hören wünschte.

„Sie sagten eben -” begann sie.

„Ich sagte eben, dass er mich gerettet hat. Er tat es wirklich; Sie sollen hören, wie. An einem Sonntag war unser gewöhnlicher Geistlicher im Besserungshause verhindert, den Gottesdienst zu halten. Er wurde von einem Fremden vertreten, einem ganz jungen Menschen. Die Hausmutter sagte uns, sein Name sei Julian Gray. Ich saß in der letzten Reihe der Bänke, im Schatten der Galerie, von wo aus ich ihn sehen konnte, ohne von ihm gesehen zu werden. Er predigte über den Text aus der heiligen Schrift: „Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr denn über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen!” Was glücklichere Frauen von seiner Predigt gedacht haben mögen, weiß ich nicht; unter uns - von den Bewohnern des Besserungshauses - blieb auch nicht ein Auge tränenleer. Was mich betrifft, so bewegte er mein Herz in einer Weise, wie kein Mann weder vorher noch nachher es jemals getan. Die starre Verzweiflung meines Innern schmolz schon beim Klang seiner Stimme. Mein Lebenslauf zeigte mir wieder, während er sprach, seine edlere Seite. Seit jenem Augenblick habe ich mich in mein hartes Schicksal gefügt und trage es in Geduld. Vielleicht wäre noch mehr aus mir geworden, vielleicht wäre ich glücklich geworden, hätte ich es über mich gewinnen können, mit Julian Gray zu sprechen.”

„Was hinderte Sie daran, mit ihm zu sprechen?”

„Ich fürchtete mich.”

„Vor was fürchteten Sie sich?”

„Davor, mein schweres Leben mir noch schwerer zu machen.”

Eine Frau, die sie verstanden hätte, würde vielleicht haben erraten können, was das sagen wollte. Grace jedoch war einfach in Verlegenheit versetzt, und darum nicht fähig, es zu erraten.

„Ich verstehe Sie nicht.”

Jetzt blieb für Mercy keine andere Wahl, als die Wahrheit in deutlicheren Worten zu bekennen. „Ich fürchtete ihm durch meinen Kummer Interesse einzuflößen, und dafür mein Herz an ihm zu verlieren.”

Der gänzliche Mangel irgendwelchen Verständnisses für sie von Seiten Graces sprach sich nun unbewusst auf die deutlichste Weise aus.

„Sie!” rief sie aus, im Tone des größten Erstaunens.

Die Wärterin erhob sich langsam, der Ausdruck, in dem Grace ihre Überraschung kundgegeben hatte, sagte ihr deutlich - ja fast in roher Weise - dass sie ihr Bekenntnis genug enthüllt hatte.

„Ich setze Sie in Erstaunen?” sagte sie. „O, mein junges Fräulein - Sie wissen nicht, welch eine rauhe Behandlung ein Frauenherz ertragen und dennoch in Treue schlagen kann! Bevor ich Julian Gray gesehen hatte, waren mir die Männer nur ein Gegenstand des Abscheus. Lassen wir dies Gespräch. Der Prediger aus dem Besserungshaus ist jetzt nur mehr eine Erinnerung - die einzige willkommene Erinnerung aus meinem Leben. Weiter habe ich ihnen nichts zu erzählen. Sie bestanden darauf, meine Geschichte zu hören - nun haben Sie sie gehört.”

„Ich habe aber noch nicht gehört, auf welche Weise Sie hier Beschäftigung fanden”, sagte Grace, indem sie artigkeitshalber, aber innerlich mit Unbehagen das Gespräch fortsetzte.

Mercy schritt durch das Zimmer und scharrte langsam die letzten glimmenden Reste des Feuers zusammen.

„Die Hausmutter hat Bekannte in Frankreich”, antwortete sie, „die mit den Militärspitälern in Berührung stehen. Unter diesen Umständen war es nicht schwer, mir diese Stelle zu verschaffen. Die Gesellschaft kann hier für mich eine Verwendung finden. Meine Hand ist so leicht, meine tröstenden Worte sind jenen leidenden Unglücklichen”, sie deutete nach dem Raum, wo die Verwundeten lagen, „so lieb, als wenn ich die ehrbarste Frau von der Welt wäre. Und trifft mich ein Streifschuss auf meinem Weg, ehe der Krieg zu Ende ist - nun! So ist die Gesellschaft wenigstens auf eine bequeme Art mich los geworden.”

Sie stand und blickte gedankenvoll auf die Trümmer des Feuers, als sehe sie auf die Trümmer ihres eigenen Lebens. Die gewöhnliche Menschenfreundlichkeit forderte es, ihr darauf etwas zu erwidern. Grace besann sich - trat einen Schritt näher - blieb stehen und erledigte sich ihrer Aufgabe mit der einfältigsten unter den alltäglichen Phrasen, die ein Mensch dem anderen sagen kann.

„Wenn ich etwas für Sie tun kann”, begann sie. Der Satz ward nicht vollendet. Miss Roseberry besaß gerade genug Schonung gegen die Verlorene, die sie gerettet und geschützt hatte, um weitere Worte für überflüssig zu halten.

Die Wärterin erhob ihren edel geformten Kopf und schritt langsam nach dem Vorhang, um zu ihrer Pflicht zurückzukehren.

„Miss Roseberry hätte wohl meine Hand fassen können!” dachte sie bitter bei sich selbst. „Aber nein! Sie hielt sich vielmehr in Entfernung, ohne zu wissen, was sie eigentlich sagen sollte. „Was können Sie für mich tun?” fragte Mercy, sie war im Augenblick durch die kalte Verbeugung ihrer Gefährtin zu einem Ausbruch ihrer vollen Menschenverachtung gereizt. „Können Sie mir den Namen und die Stellung einer unschuldigen Frau geben? Ach hätte ich Ihr Schicksal! Hätte ich nur Ihren guten Ruf und Ihre Aussichten für das Leben!” Sie legte ihre Hand auf die Brust und bezwang sich. „Bleiben Sie hier”, begann sie wieder, „während ich an meine Arbeit gehe. Ich will sehen, dass Ihre Kleider getrocknet werden. Sie sollen meine Kleider nicht länger tragen müssen, als dringend nötig ist.” Nach diesen melancholischen Worten - die in rührendem Tone, nicht bitter gesprochen wurden - war sie im Begriffe, in die Küche zu treten, als sie bemerkte, dass das Klatschen des Regens am Fenster aufgehört hatte. Sie ließ den Vorhang fallen, und lenkte ihre Schritte zurück, dann öffnete sie den Fensterladen und sah hinaus.”

Der Mond stieg verschleiert am trüben Himmel empor; der Regen hatte aufgehört; das begünstigende Dunkel, welches die französische Position vor den Augen der deutschen Patrouillen verborgen hatte, wurde mit jedem Augenblick geringer. In ein paar Stunden, wenn nichts dazwischen kam, konnte die Engländerin ihre Reise fortsetzen. In ein paar Stunden brach der Morgen an.

Mercy hob die Hand, um den Laden zu schließen. Bevor sie ihn wieder festmachen konnte, schlug von einem der entfernteren Posten der Knall eines Büchsenschusses an ihr Ohr, gleich darauf ein zweiter, schon näher und stärker. Mercy hielt inne, den Laden in der Hand, und horchte gespannt auf einen nächsten Knall.

Kapitel 3
Die deutsche Granate

Inhaltsverzeichnis

Der Knall des dritten Büchsenschusses drang durch die Nacht - schon ganz aus der Nähe des Häuschens. Grace sprang auf und trat erschreckt an das Fenster.

„Was bedeutet dies Schießen?” fragte sie.

„Signale der Vorposten”, erwiderte die Wärterin gelassen.

„Droht irgend Gefahr? Kehren die Deutschen zurück?”

Doktor Surville erwiderte diese Frage. Er hob eben den Zeugvorhang in die Höhe, um einen Blick in das Zimmer zu werfen, als Miss Roseberry sprach.

„Die Deutsche dringen gegen uns vor”, sagte er. „Ihre Vorhut ist in Sicht.”

Grace sank auf den nebenstehenden Stuhl und zitterte am ganzen Leibe. Mercy näherte sich dem Arzt und richtete entschlossen die Frage an ihn:

„Werden wir die Stellung verteidigen?” forschte sie.

Doktor Surville schüttelte bedeutsam den Kopf.

„Unmöglich! Der Feind ist uns wie immer um das Zehnfache überlegen.”

Der schrille Wirbel der französischen Trommeln wurde draußen gehört.

„Das Zeichen zum Rückzug!” sagte der Arzt. „Der Kapitän ist nicht der Mann danach, über das, was er zu tun hat, lange nachzudenken. Wir müssen selbst für uns sorgen. In fünf Minuten müssen wir diesen Ort geräumt haben.” Bei diesen Worten knallte eine förmliche Salve aus den Reihen der Deutschen. Ihre Vorhut griff die französischen Vorposten an. Grace fasste den Arzt mit flehender Gebärde am Arme. „Nehmen Sie mich mit”, rief sie. „O ich habe schon einmal von den Deutschen zu leiden gehabt; verlassen Sie mich nicht, wenn sie wieder kommen!” Der Arzt fühlte sich der Situation gewachsen; er drückte die Hand der hübschen Engländerin an seine Brust.

„Fürchten Sie nichts, Madame”, sagte er, und dabei sah er aus, als könnte er mit seinem unüberwindlichen Arm die gesamten Streitkräfte der Deutschen vernichten.

„Das Herz eines Franzosen schlägt unter Ihrer Hand. Die Ergebenheit eines Franzosen wird Sie zu schützen wissen.”

Graces Kopf sank auf seine Schulter. Monsieur Surville hatte das Bewusstsein, sich gut benommen zu haben; er blickte auffordernd nach Mercy hin. Auch sie war ein reizendes Wesen. Der Franzose hatte eine zweite Schulter für sie bereit. Zum Unglück war das Zimmer finster - der Blick für Mercy war verschwendet. Sie dachte der hilflosen Kranken im Innern des Hauses und erinnerte den Arzt an die Pflichten seines Berufes.

„Was soll aus den Kranken und Verwundeten werden?” fragte sie.

Monsieur Surville zuckte die Achsel - die freie nämlich.

„Die kräftigsten unter ihnen können wir mit uns fortnehmen”, sagte er. „Die Anderen müssen hier zurückbleiben. Für sich selbst meine Liebe, brauchen Sie nichts zu fürchten. Es wird sich schon ein Platz im Gepäckwagen finden.”

„Und auch für mich?” bat Grace eifrig.

Der unbesiegbare Arm des Arztes legte sich leise um die Taille der jungen Dame und antwortete stumm mit einem Drucke auf diese Frage.

„Nehmen Sie diese dann mit”, sagte Mercy. „Mein Platz ist bei den Armen, die Sie hier zurücklassen.”

Grace horchte mit maßlosem Erstaunen. „Bedenken Sie doch, was Sie riskieren”, sagte sie, „wenn Sie hier bleiben.” Mercy zeigte auf ihre linke Schulter.

„Beunruhigen Sie sich nicht um meinetwillen”, antwortete sie, „das rote Kreuz wird mich schützen.”

Ein neuer Trommelwirbel ermahnte den empfindsamen Wundarzt, seinen Platz als Generaldirektor der Ambulanz ohne Verzug einzunehmen. Er führte Grace zu einem Stuhl und legte diesmal ihre beiden Hände an sein Herz, um sie über das Unglück seines Abganges zu trösten. „Fürchten Sie nichts, reizende Freundin. Sagen Sie sich selbst, Surville ist ein ehrenhafter Mann! Surville ist mir ergeben!” Er schlug beteuernd auf seine Brust; er vergaß abermals die Finsternis im Zimmer, und warf einen Blick unbeschreiblicher Ehrerbietung auf seine reizende Freundin. „A bientôt!” rief er, warf ihr einen Kuss zu und verschwand.

Als der Zeugvorhang hinter ihm herabgefallen war, wurde plötzlich der Knall des Kleingewehrfeuers von dem Dröhnen der Kanonen mächtig übertönt. Im nächsten Augenblicke platzte draußen im Garten, nur einige Klafter vom Fenster entfernt, eine Granate mit fürchterlichem Gekrach.

Grace sank mit einem Schrei des Entsetzens auf die Knie, Mercy - ohne ihre Besonnenheit zu verlieren - trat zum Fenster und blickte hinaus.

„Der Mond ist aufgegangen”, sagte sie. „Die Deutschen beschießen das Dorf.”

Grace stand auf und lief Schutz suchend auf sie zu.

„Bringen Sie mich fort”, rief sie. „Wir werden getötet, wenn wir hier bleiben.” Sie hielt inne und sah verwundert auf die große schwarze Gestalt der Wärterin, die unbeweglich am Fenster stand. „Sind Sie denn aus Eisen?” rief sie. „Kann Sie denn nichts erschrecken.” Mercy lächelte traurig. „Weshalb sollte ich mich fürchten, mein Leben zu verlieren?” antwortete sie. „Ich habe nichts, was des Lebens wert wäre.”

Der Donner der Kanonen erschütterte abermals das ganze Häuschen. Eine zweite Granate platzte im Hof, dem Gebäude gerade gegenüber.

In höchster Bestürzung über das Getöse und von Schrecken ergriffen, da die Geschosse immer näher dem Häuschen einschlugen, schlang Grace die Arme um die Wärterin und hing sich in Vertraulichkeit, zu der sie das Entsetzen hinriss, an das Wesen, dessen Hand zu berühren sie vor kaum fünf Minuten sich gescheut hatte. „Wo ist es am sichersten?” rief sie. „Wo kann ich mich verstecken?”

„Wie soll ich Ihnen sagen können, wo das nächste Geschoss einschlagen wird?” antwortete Mercy ruhig.

Die standhafte Fassung der Einen schien die Andere geradezu wahnsinnig zu machen. Grace ließ die Wärterin los und blickte wild umher, um einen Weg zur Flucht zu entdecken. Sie wollte nach der Küche eilen, aber das Geschrei und die Verwirrung, welche die Übertragung der leichten Verwundeten in den Krankenwagen begleitete, trieb sie zurück. Ein zweiter Blick zeigte ihr die Tür, die in den Hof führte. Sie stürzte darauf los, mit einem Ausruf der Erleichterung. Eben legte sie die Hand auf das Schloss, als der dritte Donner des Geschützes ertönte.

Grace sprang einen Schritt zurück und hielt sich mechanisch mit beiden Händen die Ohren zu. Im selben Augenblicke platzte die dritte Granate auf dem Dache des Häuschens, durchschlug Dach und Decke und explodierte im Zimmer gerade an der Tür. Mercy sprang unverletzt von ihrem Platz am Fenster gegen die Mitte zu. Die glühenden Bruchstücke der Granate steckten den hölzernen Fußboden sogleich in Brand, und mitten unter diesen Sprengstücken im Rauch, nur schwach zu erkennen, lag die bewusstlose Gestalt ihrer Gefährtin. Selbst in diesem furchtbaren Augenblick verlor die Krankenwärterin nicht ihre Geistesgegenwart. Sie eilte an die Stelle zurück, wo sie früher gestanden hatte, und in deren unmittelbarer Nähe sie schon vorhin die leeren Mehlsäcke auf einen Haufen zusammengelegt bemerkt hatte, sie erfasste zwei derselben, warf sie auf den rauchenden Boden und trat das Feuer mit den Füßen aus. Hierauf kniete sie bei der bewusstlosen Frau nieder und hob ihren Kopf in die Höhe.

War sie verwundet oder tot?

Mercy zog die eine kraftlose Hand empor und legte ihre Finger an das Gelenk. Während sie noch erfolglos nach dem Puls fühlte, eilte Doktor Surville, in Besorgnis für die Damen, herein, um zu sehen, ob etwas geschehen sei.

Mercy rief ihn an. „Ich fürchte, die Granate hat sie gestreift”, sagte sie und überließ ihm ihren Platz. „Sehen Sie doch nach, ob sie schwer verwundet ist?”

Die Besorgnis des Arztes für seine reizende Patientin drückte sich in einer kurzen Verwünschung aus, wobei er jedoch mit besonderer Emphase den Buchstaben R schnarren ließ. „Ziehen Sie ihr de Mantel aus”, rief er, indem er seine Hand unter ihren Kopf schob. „Der arme Engel! Sie hat sich im Fallen umgedreht; die Schnur ist um ihren Hals gewickelt.”

Mercy entfernte den Mantel. Er fiel auf den Boden, als der Arzt Grace in seinen Armen aufrichtete.

„Bringen Sie Licht”, sagte er ungeduldig; „Sie werden in der Küche eines bekommen.” Er versuchte den Puls zu fühlen; seine Hand zitterte, der Lärm und die Verwirrung in der Küche machten ihn bestürzt. „Gerechter Gott!” rief er aus, „meine Erregung übermannt mich.” Mercy näherte sich ihm mit dem Lichte.

Sein Schein fiel auf die grässliche Verletzung, die der Engländerin am Kopfe durch einen Granatsplitter beigebracht worden war. Im Nu veränderte sich das Benehmen des Arztes. Der Ausdruck von Besorgnis verschwand aus seinem Gesichte; seine handwerksmäßige Fassung legte sich plötzlich wie eine Maske darüber. Was war jetzt der Gegenstand seiner Bewunderung? Eine schwerfällige Last in seinen Armen - nichts weiter. Mercy entging die Veränderung in seinem Gesichte nicht. Ihre großen, grauen Augen beobachteten ihn aufmerksam.

„Ist die Dame schwer verwundet?” fragte sie.

„Bemühen Sie sich nicht länger das Licht zu halten”, war die kühle Antwort. „Es ist vorbei - ich kann nichts mehr für sie tun.”

„Tot?”

Doktor Surville nickte mit dem Kopfe und schüttelte seine geballte Faust in der Richtung der Vorposten. „Verfluchte Deutsche”, rief er; er sah auf das tote Gesicht auf seinem Arm und zuckte resigniert die Achseln. „Dies ist das Schicksal im Kriege”, sagte er; dabei hob er die Gestalt empor und legte sie auf das Bett in der einen Ecke des Zimmers. „Ein nächstes Mal, Wärterin, trifft es vielleicht Sie oder mich. Wer weiß? Pah! Das Problem des Geschickes der Menschen widert mich an.” Er wendete sich vom Bett weg und gab seinen Abscheu dadurch noch deutlicher zu erkennen, dass er die Bruchstücke der zerplatzten Granate anspuckte. „Wir müssen sie hier zurücklassen”, nahm er das Gespräch wieder auf. „Sie war im Leben ein reizendes Geschöpf - jetzt ist sie nichts. Kommen Sie fort, Miss Merrick, bevor es zu spät ist.”

Er bot der Wärterin seinen Arm; das Knarren der abfahrenden Bagagewagen wurde draußen gehört und der schrille Trommelwirbel ward in der Entfernung von neuem laut. Der Rückzug hatte begonnen.

Mercy schob den Vorhang auf die Seite und sah die Schwerverwundeten hilflos, der Gnade oder Ungnade des Feindes überlassen, auf ihrem Strohlager hingestreckt. Sie wies den dargebotenen Arm Monsieur Survilles zurück.

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich hier bleiben werde”, antwortete sie.

Monsieur Surville erhob seine Hände als höfliches Zeichen eines feingebildeten Mannes, dass er eine Einwendung machen müsse. Mercy hielt den Vorhang zurück und deutete nach der Tür des Häuschens.

„Gehen Sie”, sagte sie. „Ich bin entschlossen.”

Selbst in diesem letzten Augenblick hielt sich der Franzose gut. Er verschwand vom Schauplatz mit ungeschmälerter Grazie und Würde. „Madame”, sagte er, „Sie sind erhaben!” Bei diesen schmeichelhaften Abschiedsworten verbeugte sich der Meister der Galanterie - bis ans Ende seiner Bewunderung des schönen Geschlechtes treu - und verließ, die Hand auf der Brust, das Häuschen.

Mercy ließ den Vorhang in der Tür ganz fallen. Sie war allein mit der Toten.

Das letzte Geräusch der Tritte, das letzte Rasseln der Wagen erstarb in der Entfernung. Kein erneuertes Schießen aus der feindlichen Stellung störte die darauffolgende Stille. Die Deutschen wussten, dass die Franzosen auf dem Rückzug waren. In einigen Minuten konnten sie das verlassene Dorf besetzen. Der Lärm ihres Anzuges musste im Häuschen hörbar werden. Inzwischen war die lautlose Stille fürchterlich. Selbst die armen Verwundeten, die in der Küche zurückgelassen waren, erwarteten schweigend ihr Schicksal.

Allein im Zimmer, wendete sich Mercys erster Blick nach dem Bette.

Die zwei Frauen waren bei einbrechender Nacht in der Verwirrung des ersten Gefechtes zusammengetroffen. Bei der Ankunft im Häuschen trennten sie sich, als die Wärterin von ihrer Pflicht abgerufen wurde, dann waren sie erst wieder im Zimmer des Kapitäns zusammengekommen. Ihre Bekanntschaft war von kurzer Dauer gewesen; sie hatte auch nicht versprochen, zur Freundschaft zu gedeihen. Aber der unglückliche Zufall hatte Mercys tiefere Teilnahme für die Fremde erweckt. Sie nahm das Licht und näherte sich dem Leichnam der Frau, die buchstäblich an ihrer Seite getötet worden war.

Sie stand am Bett und blickte in der Stille der Nacht auf das regungslose, tote Gesicht herab.

Es war ein interessantes Gesicht - das einmal gesehen, lebend oder tot, für immer unvergesslich blieb. Die Stirn war ungewöhnlich nieder und breit, die Augen ungewöhnlich weit auf der Seite; Mund und Kinn auffallend klein. Mit zarter Hand glättete Mercy das aufgelöste Haar und ordnete die zerdrückten Kleider. „Vor kaum fünf Minuten”, dachte sie bei sich selbst, „wünschte ich sehnlichst, mit dir tauschen zu können!” Sie wendete sich seufzend vom Bett ab. „Ich wollte, ich könnte jetzt tauschen!”

Die Stille fing an, ihr drückend zu werden. Sie schritt langsam an das andere Ende des Zimmers.

Der Mantel auf dem Boden - ihr eigener Mantel, den sie Miss Roseberry geliehen hatte, erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie daran vorbeischritt. Sie hob ihn auf, bürstete den Staub davon ab und hing ihn über den Stuhl. Dann setzte sie das Licht wieder auf den Tisch und ging an das Fenster, um auf die ersten Laute zu horchen, die das Heranrücken der Deutschen verkünden würden. Der Wind strich leise durch einige nahestehende Bäume und erregte so den einzigen Ton, den ihr Ohr vernahm. Sie wendete sich vom Fenster ab und setzte sich beim Tisch nieder, in Gedanken vertieft. Gab es hier noch irgendwelche Verpflichtung, die christliche Barmherzigkeit gegen einen Toten zu erfüllen hatte? Gab es noch einen Dienst, der inzwischen, bis die Deutschen kamen, geleistet werden konnte?

Mercy rief sich das Gespräch ins Gedächtnis zurück, das zwischen ihr und ihrer unglücklichen Gefährtin geführt worden war. Miss Roseberry hatte von dem Zweck ihrer Rückkehr nach England gesprochen. Sie hatte einer Dame Erwähnung getan - einer angeheirateten Verwandten, der sie persönlich fremd war - die sie aufnehmen wollte. Jemand, der im Stande wäre, die Art und Weise zu erzählen, wie das arme Geschöpf vom Tode überrascht worden war, sollte doch wohl dieser ihrer einzigen Bekannten deshalb schreiben. Wer konnte dies tun? Niemand anderer, als die einzige zurückgebliebene Zeugin der ganzen Katastrophe - Mercy selbst.

Sie nahm den Mantel vom Stuhle, auf den sie ihn vorhin gelegt hatte, und zog aus der Tasche die lederne Brieftasche, welche Grace ihr gezeigt hatte. Das einzige Mittel, um die Adresse zu erfahren, an die sie in England schreiben sollte, war, die Brieftasche zu öffnen und die darin befindlichen Papiere durchzusehen. Mercy öffnete die Tasche - und hielt inne, denn sie fühlte ein sonderbares Widerstreben, die Nachforschung noch weiter fortzusetzen.