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Stefan Bollinger (Hg.)
Die Linke und die Nation

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Über den Herausgeber

Stefan Bollinger, Jahrgang 1954, studierte Philosophie und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin/DDR. 1986 habilitierte er sich zum Thema der Neuen Sozialen Bewegungen. Nach dem Anschluß an die Bundesrepublik ist er einer der Mitorganisatoren einer Zweiten Wissenschaftskultur in Ostdeutschland und arbeitet zu linken Alternativen in Geschichte und Zukunft. Er lebt in Berlin.

Zuletzt gab er in der Reihe „Edition Linke Klassiker“ im Promedia Verlag heraus: Imperialismustheorien. Historische Grundlagen für eine aktuelle Kritik und Lenin. Träumer und Realist.

Inhalt
STEFAN BOLLINGER
Einleitung
Vorbemerkung/Editorische Notiz
Kapitel I: Die Internationalisten
KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS
Vorwort
Manifest der Kommunistischen Partei (1848)
Reden über Polen (1847)
Der magyarische Kampf (1849)
Der demokratische Panslawismus (1849)
AUGUST BEBEL
Vorwort
Gegen den Eroberungskrieg (1870)
Die parlamentarische Tätigkeit des Deutschen Reichstages (1873)
KARL KAUTSKY
Vorwort
Die moderne Nationalität (1887)
ROSA LUXEMBURG
Vorwort
Nationalitätenfrage und Autonomie (1908)
Zur russischen Revolution (1918)
Kapitel II: Die Verfechter der Selbstbestimmung
WLADIMIR ILJITSCH LENIN
Vorwort
Resolution zur nationalen Frage (1913)
Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916)
Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen Frage (1920)
Brief an den Parteitag (1922)
JOSEF WISSARIONOWITSCH STALIN
Vorwort
Marxismus und nationale Frage (1913)
LEW DAVIDOWITSCH TROTZKI
Vorwort
Die Internationale Revolution und die Komintern (1928)
ANTONIO GRAMSCI
Vorwort
Gefängnishefte (1934-35)
Kapitel III: Das Konzept der kulturellen Autonomie
OTTO BAUER
Vorwort
Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (1907/1924)
KARL RENNER
Vorwort
Marxismus, Krieg und Internationalismus (1918)
Kapitel IV: Die linken Nationalisten
JAMES CONNOLLY
Vorwort
Sozialismus und Nationalismus (1897)
Patriotismus und Arbeiterschaft (1897)
HO CHI MINH
Vorwort
Rede über die nationale und koloniale Frage (1924)
MAO ZEDONG
Vorwort
Der Platz der KP Chinas im nationalen Krieg (1938)
HARRY HAYWOOD
Vorwort
Die schwarze Nation (1948)
Kapitel V: Sonderfall Linke und deutscher Faschismus
Vorwort
KARL RADEK
Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts (1923)
Proklamation des ZK DER KPD (1930)
ALEXANDER ABUSCH
Der Irrweg einer Nation (1945)
ANTON ACKERMANN
Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus? (1946)
Quellen

Stefan Bollinger
Die Linke und die Dauerfragen Nation und Nationalismus

Ein Blick auf die Welt und auf Europa erinnert daran, wie offene nationale Fragen, ethnische Konflikte, religiös motivierte Verfolgungen, wie Nationalismus und Rassismus nach dem Ende der Blockkonfrontation vor 20 Jahren präsent wie schon lange nicht mehr sind. Lüftet man irgendein Zipfelchen dieser Konflikte, vertieft man den Blick auf Losungen, Mythen und geschichtliche Vorgänge, muß man auch einen kaum entwirrbaren Wust von Theorien, Historien, ideologischen Konstrukten und Vorurteilen freilegen.

Die großen linken Debatten zu Nation, Nationalismus und dem Zusammenhang von sozialistischen Zielen und nationalen Kämpfen sind lange vorbei. Ging es Mitte des 19. Jahrhunderts für die gerade entstehende deutsche Arbeiterbewegung in der Revolution von 1848/49 darum, ihren Platz in einer Revolution für Demokratie und Nationalstaat zu bestimmen, in der die Bourgeoisie die Führungsrolle hätte übernehmen müssen, so wurde dies durch den Sieg der Reaktion alsbald obsolet. Für Friedrich Engels war „eine der wirklichen Aufgaben der Revolution von 48 (und die wirklichen, nicht illusorischen Aufgaben einer Revolution werden immer infolge dieser Revolution gelöst) (…) die Herstellung der unterdrückten und zersplitterten Nationalitäten Mitteleuropas, soweit diese überhaupt lebensfähig und speziell zur Unabhängigkeit reif waren“1, wobei letztere Überlegung bei ihm nicht allzu differenziert ausfiel.

Entscheidend an dieser ersten Auseinandersetzung aber war, daß die Vordenker der Arbeiterbewegung Friedrich Engels, Karl Marx und August Bebel Position beziehen mußten und dabei den internationalistischen Charakter einer jeden sozialistischen Bewegung festschrieben. Die Debatte fand ihre Fortsetzung angesichts einer neuen Weltordnung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter den Vorzeichen des Imperialismus, seiner Konflikte und der anstehenden Revolutionen. Die zweite große Diskussion u.a. mit Otto Bauer, Karl Renner, Rosa Luxemburg, Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Wissarionowitsch Stalin dokumentiert der vorliegende Sammelband schwerpunktmäßig.

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, der ersten sich sozialistisch verstehenden Revolutionen und Revolutionsversuche, des Zerfalls der Vielvölkerreiche und der nicht eingelösten Versprechungen von der Freiheit der Kolonien trat die Diskussion in eine dritte, eher praktische Phase ein. In den Kolonien und abhängigen Ländern entstanden nationale Befreiungsbewegungen und die Kommunisten wollten sie als Bündnispartner gewinnen. Lenin suchte nach dem Ausbleiben der Revolution im Westen nun auch Verbündete im Osten: „Auf die Periode des Erwachens des Ostens folgt in der gegenwärtigen Revolution die Periode, in der alle Völker des Ostens die Geschicke der ganzen Welt mitentscheiden, in der sie aufhören, nur ein Objekt der Bereicherung zu sein. Die Völker des Ostens erwachen, um praktisch zu handeln und damit jedes Volk das Schicksal der ganzen Menschheit mitbestimmt.“2 Texte von Ho Chi Minh und Mao Zedong im vorliegenden Band repräsentieren diese Auseinandersetzungen.

Zugleich standen die Kommunisten in Deutschland, Italien und anderen Staaten im harten Abwehrkampf gegen einen nach dem Ersten Weltkrieg wiederum aufschäumenden Nationalismus und Chauvinismus, der sich gegen andere Völker ebenso richtete wie gegen die radikale innere linke Bedrohung des Kapitalismus. Der Faschismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, am radikalsten verkörpert durch den deutschen Nazismus, war die Speerspitze eines derart gewandelten Nationalismus – und Rassismus. Der Sieg über diese Ausgeburten des Nationalismus, über die deutschen und japanischen Imperialisten, leitete eine vierte, nun erst recht nicht mehr theoretische Etappe ein. In Befreiungskriegen mit zivilem Ungehorsam und angesichts einer von den traditionellen westlichen Kolonialmächten nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Repression gewannen zwischen 1947 und Mitte der 1960er Jahre die meisten Kolonien und abhängigen Gebiete ihre staatliche Unabhängigkeit. Die Einbettung in die Blockkonfrontation ließ sie schnell in neue Abhängigkeiten geraten. In Afrika, Lateinamerika und Asien gerieten die neuen Nationen nicht selten zu Schauplätzen von Stellvertreterkriegen der beiden Supermächte. Die Kolonialherren förderten in diesen Staaten zudem religiöse, ethnische und Stammeskonflikte.

In den 1960er und 1970er Jahren kam fünftens nochmals eine Diskussion hoch, die diese Länder und Bewegungen aus linker Sicht als Vorhut im antiimperialistischen Kampf und gegen die USA als der wichtigsten imperialistischen Macht verstand. Die Realitäten der Auseinandersetzung, der Verlust des emanzipatorischen Charakters nicht weniger dieser an die Macht gekommenen nationalen Befreiungsbewegungen und -kämpfer brachten schnell Ernüchterung. Schon damals wurde „das große historische Versagen des Marxismus“3 in Bezug auf den Nationalismus unterstellt. Die heutige, sechste, kaum als Diskussionsphase zu bezeichnende Etappe nach dem Ende der Blockkonfrontation ist bei so manchen Linken gekennzeichnet durch eine Abkehr von den einstigen internationalistischen Positionen und der Anerkennung des nationalen Befreiungskampfes. In den vormaligen Ostblockländern mauserten sich „Kommunisten“ über Nacht zu veritablen Nationalisten, die auch vor Gewalt und Krieg nicht zurückschrecken. Andere Linke entdeckten die „eine Welt“ für sich, in der Nationalstaatlichkeit, nationale Fragen und Unterdrückung keine Rolle spielen würden und die Zukunft für eine vielleicht sozialistische Perspektive in Globalisierung oder Europäischer Union oder beiden liegen soll.

Wie sieht der heutige Diskussionsstand aus? Nur wenige aktuellere Veröffentlichungen, so von Michael Löwy, versuchen – wie in unserem Band – den historischen Diskussionen der Linken, der Marxisten nachzuspüren und zu prüfen, wie aktuell diese heute noch sind.4 Mit den Arbeiten von Eric Hobsbawm5 und Étienne Balibar6 liegen wichtige marxistisch geprägte neuere Untersuchungen zum Platz von Nation und Nationalismus in der Geschichte vor. In der DDR wurde mit den Arbeiten von Alfred Kosing7 ein eigenständiger, wenn auch die Mehrzahl der Bürger nicht überzeugender Ansatz zur Ausbildung einer eigenen DDR-Nation entwickelt. Aus der Erbmasse der marxistischen Diskussion in der DDR sind nach 1989/90, mit durchaus differenzierten theoretischen Ansätzen, Beiträge entstanden, die sich gegen die eher westdeutsche „anti-deutsche“ und „anti-nationale“ Diskussion wenden.8 In der westdeutschen Diskussion der Linken dominierte und dominiert die Abwehr des deutschen Nationalismus, Chauvinismus und Faschismus. Prägend war hier der Faschismusforscher Reinhard Kühnl9. Am linken Flügel der sozialen Bewegungen hielten wenige Sozialdemokraten wie Peter Brandt10 an einem positiven Bezug zur Nation auch für linke Politik fest.

In den Mainstream brachte Karl W. Deutsch11 wichtige neue Aspekte ein, in neuerer Zeit bietet Hans-Ulrich Wehler12 einen knappen Überblick über Theorien zu Nation und Nationalismus. Darüber hinaus existieren eine Vielzahl lesenswerter Studien zu den Mechanismen der Nations- und Nationalismuserfindung.13. Sie sind oft inspiriert durch das von Benedict Anderson14 und Ernest Gellner15 entwickelte Konzept der „erfundenen Nationen“: „Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt und nicht umgekehrt.“16 Hinzu kommen zahlreiche empirische Untersuchungen und Darstellungen vor dem Hintergrund der Mainstream-Konzepte.17 Besonders die osteuropäische Entwicklung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks bot Forschern ein umfassendes Feld zu Untersuchung und Diskussion.18

Die Wiederkehr des Nationalismus

Das Scheitern des Realsozialismus bedeutete auch für das Problem der Nationen eine Zäsur. Der französische Soziologe Alain Minc sah 1992 „mit dem Verschwinden der sozialen Frage (…) die nationale Frage wieder offen“. Denn „Wirtschaftswachstum und Wohlfahrtsstaat haben von den beiden Extremen, den Ausgeschlossenen und den Überpriviligierten abgesehen, eine riesige Mittelschicht mit gleicher Lebensweise und gleichen Wünschen geschaffen“, „große soziale Kämpfe“ gäbe es nicht mehr und mit dem Ende Osteuropas „ist die soziale Frage hinweggefegt; es bleiben einzelne soziale Probleme“. Die Gesellschaft sei frei von der einigenden Kraft von Utopien und sozialen Kämpfen, sodaß sie auch nicht mehr strukturiert würde. Vielmehr ist sie nun „den ökonomischen Doktrinen, den Interessengruppen ausgeliefert“, verstreuten und übrigens veränderlichen Gruppierungen, ohne daß es noch ein integrierendes Leitbild gäbe. „Die soziale Frage hatte das Jahrhundert beherrscht, mit ihm verschwindet sie, und die nationale Frage, ihr Doppelgänger, den sie endlich hatte verschwinden lassen, kehrt wieder.“19 Die aktuelle Weltwirtschaftskrise stellt die soziale Frage und soziale Kämpfe wieder auf die Tagesordnung. Angesichts der Schwäche der sozialen Bewegungen der Arbeitenden und Unterprivilegierten, angesichts der Schwäche linker Theorie ist der Nationalismus jedoch präsent wie nie. Daher drängt sich die Frage auf, ob in Zeiten der Globalisierung die Nation als Schauplatz von möglichen sozialen und politischen Kämpfen wieder relevant wird.

Die Linke war und ist stolz auf ihr internationalistisches Erbe. Ihr Leitspruch lautete immer: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Folgerichtig können für den linken Historiker Eric Hobsbawm Marxisten keine Nationalisten sein: „Auf theoretischem Gebiet können sie es nicht sein, wenn man in Rechnung stellt, was landläufig als nationalistische Theorie gilt. (…) Und in ihrer Praxis können sie keine Nationalisten sein, weil der Nationalismus, wie schon der Name sagt, alle übrigen Interessen denen seiner jeweiligen ‚Nation‘ unterordnet.“20 Alles andere sei Verrat am Sozialismus. Dennoch stritten Linke immer wieder darüber, ob und wie nationale Befreiungskämpfe zu unterstützen seien, ob die Einheit der Nation auch ihr Anliegen sein dürfe. Mehr als einmal reagierten sie überrascht, wenn nationale und nationalistische, ja chauvinistische Parolen Arbeiter und Unterdrückte vereinten im Kampf gegen andere Chauvinisten, aber auch im Kampf gegen linke „Vaterlandsverräter“.

Auf den Punkt gebracht: Die Erfahrung von 1989-91 mit dem Untergang des Realsozialismus zwischen Elbe und Kamtschatka hat gezeigt, daß die nationale Karte oft stärker sticht als die soziale. Rosa Luxemburgs Aussagen werden ungewollt aktuell: „Der Nationalismus ist augenblicklich Trumpf. Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an. Vermoderte Leichen steigen aus hundertjährigen Gräbern, von neuem Lenztrieb erfüllt, und ‚geschichtslose‘ Völker, die noch nie selbständige Staatswesen bildeten, verspüren einen heftigen Drang zur Staatsbildung.“21 Seit 1989 begann eine kapitalistische Reconquista unter der Losung der Globalisierung. Der Widerstand wird zwar grenzüberschreitend gegen einen oft transnational antretenden modernen Kapitalismus und seine Monopole ausgerufen, aber reale Kampffelder bleiben vorerst die nationalen Zusammenhänge und Nationalstaaten.

Dabei zeigt sich, daß Nation und Nationalstaat selbst unscharfe Begriffe sind, und vermeintlich starke Nationen und Nationalstaaten wie Großbritannien oder Frankreich, zunehmend auch Deutschland, sich bei genauerer Betrachtung als vielfältig segmentiert darstellen. Die Folgen von Annexionen, Zusammenschlüssen und Einwanderungswellen machen sie selbst zu Schauplätzen nationaler und ethnischer Konflikte. Das Verknüpfen von nationalen und ethnischen Fragen mit religiösen Identitäten läßt ebenfalls Begriffe und Abgrenzungen verschwimmen. Für Linke können nationale Zusammenhänge nicht die sozioökonomische Analyse von Gesellschaften und die daraus abzuleitenden prosozialistischen Strategien ersetzen. Aber ohne Beachtung der nationalen Frage laufen sie immer wieder Gefahr, im Kampf um die geistig-kulturelle Hegemonie zu versagen.

Die Konflikte des 21. Jahrhunderts stellen sich heute oft als nationale und ethnische Auseinandersetzungen dar. Es handelt sich um Gegensätze in der Erbmasse des Sowjetimperiums, um Kämpfe in den asiatischen Staaten, vor allem in China. In diesen Regionen, noch mehr in Afrika und teilweise in Lateinamerika vermengen sich nationale und Stammeskonflikte. Aber selbst in den entwickelteren europäischen Regionen funktionieren noch alte, jahrhundertlang gepflegte Feindbilder aus einstigen nationalen Unterwerfungen. Selbst im vereinten Deutschland existieren nicht nur die nationalen Minderheiten der Sorben und Dänen, sondern zwei Gesellschaften in einem Staat22, als Ergebnis einer ungleichen Vereinigung. Die Geschichte ist reich an Anschlüssen23, die meisten haben Konflikte nur verdeckt, aber lassen sie als Bombe über Jahrhunderte ticken – ob im kanadischen Quebec oder im spanischen Katalonien.

Die Furcht vor der Vereinnahmung von Nation, Vaterland, Heimat und ähnlichen Begriffen und Gefühlen durch die extreme Rechte ist ebenso begründet wie entwaffnend. Als Teil eines Kategoriensystems zur wissenschaftlichen Durchdringung des modernen Kapitalismus, in dem letztlich die wirtschaftlichen Strukturen, die Macht- und Eigentumsverhältnisse entscheidend sind, bleibt die Nation unerläßlich. Als wesentliches Kampffeld im antikapitalistischen und antiimperialistischen Kampf wird sie – trotz anderer Angebote, von der Region über die Europaidee bis zum Weltbürgertum – in den meisten Staaten wichtig bleiben. Jede linke nationale Politik wird sich zwangsläufig gegen Ausgrenzung und Privilegierung wenden, so wie jeder rechte Nationalismus auf genau diese Ausgrenzung und die Privilegierung der eigenen Nation, ihre Vor- und im Extremfall Weltmachtstellung orientieren muß.

Linke Politik in der nationalen Frage kann nur eine Politik sein, die gegen jede Unterdrückung an- und für die internationalistische Solidarität aller Nationen und Nationalitäten eintritt. Eine Gesellschaft, die die sozialen Differenzen, die Klassenspaltungen aufheben will, kann nur eine Gesellschaft sein, die nationale und ethnische Konflikte aufhebt und Unterschiede wie Vielfalt als Chance für Entwicklung und Emanzipation begreift.

Seit dem Vorabend des „Völkerfrühlings“ der europäischen Revolution von 1848/49 stritten und streiten Linke um die Bedeutung der Nation. Sie suchten nach Antworten, wie sie in den politischen Kämpfen, an denen sie teilnahmen (und gar dominieren wollten), mit Nation und Nationalismus, mit Volk und Nationalität umgehen sollten. Wie könnten diese Fragen Teil ihrer prosozialistischen, demokratischen Strategie und Taktik werden?

Gerade angesichts der Schwäche der deutschen Bourgeoisie statuierte man Mitte des 19. Jahrhunderts eine „deutsche Misere“, die eine progressive wirtschaftliche und soziale Entwicklung Deutschlands verhinderte. Engels betonte: „Eine Klasse muß stark genug werden, um von ihrem Emporkommen das der ganzen Nation, von dem Fortschritt und der Entwicklung ihrer Interessen den Fortschritt der Interessen aller andern Klassen abhängig zu machen. Das Interesse dieser einen Klasse muß für den Augenblick Nationalinteresse, diese Klasse selbst für den Augenblick Repräsentantin der Nation werden. Von diesem Augenblick an befindet sich diese Klasse, und mit ihr die Majorität der Nation, im Widerspruch mit dem politischen Status quo.“24 1848 konnte „diese Klasse“ für ihn nur die Bourgeoisie sein. Das Proletariat spielte die Rolle eines Unterstützers, um den Triumph des Bürgertums für den anstehenden Kampf um soziale Befreiung ausnutzen zu können. Die Stoßrichtung gegen die Kleinstaaterei wie gegen die Verpreußung des Reiches war aber für Engels klar festgelegt: „Einige, unteilbare, demokratische deutsche Republik und Krieg mit Rußland, der die Wiederherstellung Polens einschloß.“25

Seit dem Aufkommen moderner Nationen stand die nationale Frage für alle sozialen Emanzipationsbewegungen auf der Tagesordnung, welche alle Formen der Unterdrückung und Ausbeutung abschaffen wollten und die sich über die Kampffelder und Bündnispartner, über die notwendigen Zwischenetappen und die ideologische wie politische Verteidigung der Ausbeuterklasse orientieren mußten. Heute finden sich die Antworten auf diese Fragen nicht mehr so leicht wie anläßlich der Revolution von 1848. Die Nationen scheinen sich in globalisierten Gemengelagen oder in Regionen aufzulösen und die Existenz der Klassen wird bestritten (in jedem Fall haben sie sich deutlich gewandelt).

Die Antworten marxistischer Theoretiker fielen und fallen so unterschiedlich aus wie es um die politische Konsequenz ihrer Protagonisten stand und steht – bei den einen revolutionär, bei den anderen reformerisch, zwischen „Selbstbestimmungsrecht bis zur Lostrennung“ vom bisherigen Staatswesen über das Ringen um „nationale kulturelle und politische Autonomie“ bis hin zur vehementen Ablehnung nationaler Fragen als Teil des sozialistischen Kampfes. Oft als ewig gültige Thesen konzipiert, bewegten sie sich in scharfer Auseinandersetzung miteinander und konnten in jeder neuen Situation auch rasch wieder zur Makulatur werden. Engels, wie sein Freund Marx sicher kein Theoretiker des Nationalen, aber ein oft emotionaler, nicht immer gerechter, aber aufmerksamer Beobachter der sozialen Kämpfe seiner Zeit, die er für die sozialistischen Ziele kanalisieren und bündeln wollte, schrieb: „Jeder polnische Bauer und Arbeiter, der aus der Verdumpfung zur Teilnahme an allgemeinen Interessen aufwacht, stößt zuerst auf die Tatsache der nationalen Unterjochung, sie tritt ihm überall als erstes Hindernis in den Weg. Sie zu beseitigen ist Grundbedingung jeder gesunden und freien Entwicklung. Polnische Sozialisten, die nicht die Befreiung des Landes an die Spitze ihres Programms setzen, kommen mir vor wie deutsche Sozialisten, die nicht zunächst Abschaffung des Sozialistengesetzes, Preß-, Vereins-, Versammlungsfreiheit fordern wollten. Um kämpfen zu können, muß man erst einen Boden haben, Luft, Licht und Ellenbogenraum. Sonst bleibt alles Geschwätz.“26

Mythos Nation?

Für die in den nachfolgenden Kapiteln aufgeführten, marxistisch beeinflußten Politiker und Theoretiker des Zusammenhanges von sozialer und nationaler Befreiung war die Existenz der Nation mit ihrer Struktur, ihrer Entwicklung, ihren vielfältigen ökonomischen, sozialen und geistigen Beziehungen unstrittig. Sie sahen die Nation als Resultat einer langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung hin zum Kapitalismus, in welcher Sprache, gemeinsamer Wirtschaftsraum, in aller Regel räumliche Nähe und als mehr oder minder „weiche“ Kategorien eine gemeinsame Kultur, bei einigen Verfassern eine spezifische Wesensart, eine Charaktergemeinschaft, ein Nationalcharakter, also sozialpsychologische Elemente, zu ihrer Formierung beitrugen. Für diese Theoretiker war es wichtig zu erkennen, daß solche Zusammenhänge existieren, wie sie im gesellschaftlichen Bewußtsein verankert sind und wie nationalistische sowie chauvinistische Ideologien an sie anknüpfen und sie mißbrauchen. Nicht zufällig, sondern aus historischer Erfahrung und Kenntnis heraus verbanden sie diese Einschätzungen mit dem Wirken der bürgerlich-demokratischen Revolutionen. So konnte das revolutionäre Frankreich ab 1789 auch in dieser Frage ein Leitbild für das revolutionäre, antifeudale, demokratische Handeln der Bourgeoisie sein – als Wegbereiter für die soziale Emanzipation der ausgebeuteten Massen, der Proletarier. Die in diesem Buch vertretenen Autoren haben den sozialen Charakter des Entstehens, der Entwicklung und der Hegemonie in Nationen herausgestellt, ohne sie darauf zu reduzieren. Sie waren sich über den ethnischen Charakter dieser Gemeinschaften bewußt, der durch Sprache, Kultur und Lebensweise bestimmt wird. Sie zogen daraus jedoch unterschiedliche Konsequenzen. Rosa Luxemburg und Josef Strasser meinten Marx und Engels richtig zu verstehen, als sie die Lösung eventueller Probleme in diesem Kontext auf die sozialistische Zukunft verschoben. Lenin sah in der nationalen Frage hingegen die Möglichkeit für zusätzliche Mobilisierungen der Massen gegen den Imperialismus.

Alle diese Denker blieben aber gegenüber der Nationsidee nicht neutral. Denn sie erkannten, daß mit dem Nationalismus, dem Versuch, für die eigene Nation eine optimale Entwicklungsmöglichkeit zu schaffen, Konfrontation in der Luft lag. Die westeuropäischen Nationen der Franzosen, Briten, Niederländer und Spanier wurden damals nicht als Problemfelder angesehen. Ihre innere Verfaßtheit und ihr innerer Zwangsprozeß der vermeintlich abgeschlossenen, unumkehrbaren Verschmelzung unterschiedlicher Nationen, ethnischen Gruppen und Sprachen schien erledigt. Die Sozialisten sahen die Konfliktfelder bei den sich erst verspätet formierenden großen Nationen, Deutschland wie Italien, und vor allem im Konglomerat der zunehmend als Völkergefängnisse verschrieenen drei Großreiche im Osten und Süden Europas – im Russischen, Osmanischen und Habsburger Reich.

Nicht nur die Linken, die Feinde eines chauvinistischen Nationalismus, begriffen, worum es bei der Nationsbildung immer auch ging: um Macht und Vorherrschaft. Max Weber, kreativer Theoretiker eines sich seriös gebenden deutschen Imperialismus, verstand sehr wohl, wie sich das „nackte Prestige der ‚Macht’“ durch die aktive Rolle der Mächtigen „unvermeidlich in andere, spezifische Formen ab(wandelt), und zwar in die Idee der ‚Nation’“. Nation sei „(…) ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann“. Der Zweck ist allerdings auch Weber klar: „gewissen Menschengruppen (sei) ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten“.27

Die Schwierigkeit des Verständnisses von Nation und Nationalismus liegt in diesem besonderen Zusammenwirken eines gesellschaftlichen, realen Phänomens mit seiner geistigen Widerspiegelung und seiner Umsetzung in Ideologie.

Die Begriffe Nation und vor allem Nationalismus dienen der Vereinnahmung, der Identifizierung, der Mobilisierung. Balibar fragt berechtigt: „Warum erweist sich die Definition des Nationalismus als so schwierig? Zunächst, weil dieser Begriff niemals für sich steht, sondern immer in einer Kette auftritt, deren zentrales und zugleich schwaches Glied er ist. Diese Kette wird ständig (je nach den Modalitäten einer Sprache) um neue Zwischen- oder Extrembegriffe erweitert: staatsbürgerliche Gesinnung, Patriotismus, Populismus, Ethnismus, Ethnozentrismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, Imperialismus, Jingoismus [der britische Hurra-Patriotismus – St.B.] (…) Ich möchte wetten, daß niemand in der Lage ist, diese Bedeutungsunterschiede eindeutig und endgültig zu fixieren. Aber es scheint, als seien sie in ihrer Gesamtbedeutung recht einfach zu interpretieren.“28 Der Nationsbegriff wie das ganze Brimborium von nationalen Symbolen, Gedenktagen, Weiheorten ist auf diesen Zweck ausgerichtet und für eine wissenschaftliche Durchdringung unscharf, verschwommen, idealisierend und manipulierend. Wer von der herrschenden Elite diesen Begriff beschwört, will mit dieser vermeintlichen nationalen Einheit die Machtverhältnisse verkleistern und seine Machtposition absichern. Die Rückbezüglichkeit auf einen erweiterten Ausdruck der Nation findet sich aber eben auch bei jenen, die diese Machtpositionen überwinden wollen. Die Gefahr ist groß, daß diese positive, prodemokratische, gar prosozialistische Stellung zur Nation umschlägt von einem Befreiungsnationalismus in einen unterdrückenden Nationalismus.

Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben dies wiederholt belegt. Die meisten Sozialdemokraten der Zweiten Internationale vergaßen 1914, daß sie gegen den Krieg aufstehen wollten, und erwiesen sich statt dessen als eifrige Verteidiger des jeweiligen Vaterlandes. Aber auch die Hoffnungen der Kommunisten und ihrer Dritten Internationale, später des „sozialistischen Lagers“, erfüllten sich nicht. Die von ihnen unterstützten nationalen Befreiungsbewegungen errichteten keine Gesellschaften ohne Ausbeutung und nationaler Unterdrückung. Woodrow Wilsons Idee von der Selbstbestimmung für die Nationen und Völker der Kolonien und abhängigen Länder wurde trotz deren hohen Blutzolls im „großen Krieg der weißen Männer“, dem Ersten Weltkrieg, auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Währenddessen hatte die radikale Linke – auch bei eigenen Widersprüchen, wie die abgedruckte Rede Ho Chi Minhs aus dem Jahr 1924 mit ihrer Kritik an der Kommunistischen Partei Frankreichs belegt – doch begriffen, wie sehr die Entkolonialisierung und die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen auch ihre Aufgabe ist. Lenin mahnte an, „dem klassenbewußten kommunistischen Proletariat aller Länder (erwachse) die Pflicht, sich besonders behutsam und besonders aufmerksam zu den überlebenden nationalen Gefühlen in den am längsten unterdrückten Ländern und Völkern zu verhalten, wie auch die Pflicht, gewisse Zugeständnisse zu machen, damit dieses Mißtrauen und diese Vorurteile rascher überwunden werden. Ohne das freiwillige Streben des Proletariats, und dann auch aller werktätigen Massen aller Länder und der Nationen der ganzen Welt, nach einem Bund und nach Einheit kann das Werk des Sieges über den Kapitalismus nicht mit Erfolg vollendet werden.“29 Doch selbst die großen sich sozialistisch nennenden Vielvölkerstaaten (die Sowjetunion, die Volksrepublik China und Jugoslawien) erwiesen sich als unfähig, das eigene Programm der nationalen Selbstbestimmung zu praktizieren.

In neuerer Diskussion wurde massiv der Versuch unternommen, weg von einer vermeintlich einseitig materialistischen und sozialökonomischen Erklärung der Herausbildung von Nationen zu gelangen und letztlich den Nationalismus selbst für die Rückerinnerung, ja Konstruktion von Nationen verantwortlich zu machen. Bei Wehler wird so „der Nationalismus der Demiurg [Weltenschöpfer – St.B.] der neuen Wirklichkeit“.30Zugrunde liegt dieser Theorie das Wissen darüber, wie Nationalisten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert die Geschichte umgeschrieben haben. So fälschte etwa der Linguist Václav Hanka die tschechischen „Königinhofer“ und „Grünberger“ Handschriften. Seitens des Deutschen Kaiserreiches und seiner Nachfolger wurde eine zielgerichtete Geschichtspolitik betrieben, mit dem kreativen Ausarbeiten nationaler Mythen wie dem von Hermann dem Cherusker31 als dem Begründer der Deutschen.32 Dazu kamen die Erfahrungen mit nationalistischen Aktivitäten und Verbänden33 im Vorfeld des Ersten Weltkriegs34 und schließlich der Faschismus selbst in seinen verschiedenen nationalistischen Ausgestaltungsformen35.

Für Marx und seine in diesem Sammelband vertretenen Anhänger ging es nicht um eine klassisch nationalistische Sichtweise mit ihrer Konsequenz aus einem seit der Völkerwanderung eingeleiteten Prozeß der Nationswerdung. Obwohl in den marxistischen Betrachtungen anerkannt wurde, daß Vorformen von Nationen existierten, daß Nationalstaatsbildungen, mit ihrem Werden und Vergehen, ihrem Ausbleiben in Deutschland oder Italien wesentlich für die Formierung von Klassen und großen sozialen Gruppen und ihren Bewegungen waren und sind. (Dabei wurde auch von den Linken die Heterogenität dieser Staaten, die oft selbst die Unterwerfung anderer nationaler Gemeinschaften einschloß, zuwenig in Betracht gezogen).

Für die sozialistische Denkrichtung ist der nationale Markt die erste Bedingung, die der Kapitalismus mit sich bringt. Er braucht den sprachlichen, rechtlichen, staatlichen und schließlich eigenständig ideologischen Rahmen, um Klassenverhältnisse zu zementieren oder zu durchbrechen – durch Religion, durch Nation und Nationalismus. Und was er braucht, das bringt er auch hervor.

Balibar betont vollkommen zurecht: „(E)ine Gesellschaftsformation (…) (reproduziert sich) nur in dem Maße als Nation, wie das Individuum von seiner Geburt bis zu seinem Tod durch ein Netz von Apparaten und täglichen Praktiken den Status des homo nationalis, homo oeconomicus, politicus, religiosus (…) erhält.“36 Was hier und noch stärker bei Anderson oder Gellner betont und unter dem Eindruck einer möglich gewordenen Dekonstruktion von Theorien, also auch der marxistischen, seit den 1980er Jahren diskutiert wird, ist im Marxschen Verständnis und dem seiner Protagonisten in unserem Band eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Wo über Nation, Patriotismus, Vaterland, über nationale Ehre und Würde und nationale Interessen diskutiert wird, hat dies keineswegs zuerst und allein etwas mit einer gemeinsamen Sprache, mit gemeinsamer Kultur oder gemeinsamen Wirtschaften zu tun. Weil dieses eingeforderte Gemeinsame, dieses vermeintliche Solidargefühl und –verhalten für eine derartige Gesellschaftsbetrachtung wenig hergibt. Gerne wird in diesem Zusammenhang die Sentenz des späteren britischen Premiers Benjamin Disraeli von den zwei Nationen in der einen37 zitiert. Arm und Reich, Proletarier und Bourgeois mögen partiell gemeinsame Lebenslagen und -interessen haben, aber für Theoretiker wie Kämpfer der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts schien unumstößlich, daß „die Arbeiter (…) kein Vaterland haben“ und „man (ihnen) nicht nehmen (kann), was sie nicht haben“38.

Der Neuansatz von Anderson u.a. bewirkte weniger eine Erneuerung marxistischen Denkens, sondern eine Verwirrung desselben. Wie so oft bei dem Versuch, vermeintlich tiefer in Marx einzudringen und die Vereinfachungen der Zweiten und Dritten Internationale auszumerzen. Nicht nur für linke Diskussionen war spätestens an diesem Punkt – besonders in der westdeutschen Diskussion – die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Nation und den unterschiedlichen Nationalismen obsolet geworden. Die in diesem Band versammelten Klassiker stritten hingegen noch erbittert darüber, ob man den auf den Sozialismus gerichteten Kampf durch nationale Fragen ablenken lassen dürfe – angesichts der Verbindung der Nation mit bürgerlicher Klassenideologie, mit Manipulation im Interesse einer Klassenharmonie als Ablenkung von den inneren Widersprüchen und als Reservoir für eine expansive Nutzung dieser Verbundenheit mit der eigenen Nation.

Es ist wohl genauer zu unterscheiden zwischen dem ideologischen Konstrukt der Nation als politischem Kampfelement einer herrschenden oder um die Herrschaft kämpfenden Klasse bzw. Klassenfraktion, den sich durch Tradition, Überlieferung, aber auch Nationalcharakter, Sitten und Gebräuchen und vor allem durch die Sprache herausbildenden nationalen Ideen und den Gefühlen des einfachen Volkes und der tatsächlich vollzogenen oder doch proklamierten Rolle des Nationalstaates.

Ethnische Gruppen sind offenbar unterhalb dieser Ebene angesiedelt und erweisen sich dann als problematisch oder kämpferisch, wenn sich Führungskräfte ebenso finden wie eine Nationalstaatsidee. Dies war gerade die Erfahrung der slawischen Nationen im k. u. k.- und im Russischen Reich, denen Friedrich Engels, Rosa Luxemburg und Josef Strasser wenig wohlgesonnen waren. Gleichwohl versuchte besonders die österreichische Sozialdemokratie ab 1899, die Bestrebungen dieser Völker für eine föderale, demokratisierte Umgestaltung des Habsburger Reiches zu nutzen.

Nationen, Nationalitäten und Ethnien zählen zur gesellschaftlichen Realität und sind insofern die Grundlage für Ideologiebildungen wie für Nationalismus. Wer diese Kategorien ignoriert oder mystifiziert, erweist sich als ahistorisch und unfähig, die die Massen bewegenden Gedankenwelten zu erkennen – im positiven wie im negativen Sinne entleert er Begriffe wie Heimat oder Vaterland ihres hartfaktischen Bezuges. Vor allem aber: Ein solches Herangehen überläßt gewollt oder ungewollt dieses Feld, in dem durchaus mit Bauchgefühlen operiert wird, den Rechten.

Letztlich sind die Konzepte einer Mystifizierung des Nationalen ungenaue, desorientierende Verästelungen in der Forschung, die nur scheinbar innovativ sind und weg von einer materialistisch-historischen Betrachtungsweise hin zu bloßer Ideologiekritik und -diskussion führen. Im marxistischen Sinne sind ideologische Phänomene immer in der Einheit der materiellen Bedingungen und ihrer geistigen Verarbeitung zu sehen. So entstehen Interessen und Konstrukte seitens der herrschenden Klassen (oder auch der gegen sie kämpfenden) und der für ihre Theoretisierung freigestellten, bezahlten Intellektuellen. Letztere können sich zwar verselbständigen, können die Seiten wechseln und mit der Auflösung der klaren Klassenkampffronten auch selbst aktiv werden, aber sie besorgen das Geschäft jener wichtigen sozialen Gruppen, denen sie sich verpflichtet fühlen, denen sie sich andienen oder auf deren Seite sie sich schlagen.

Für Linke ist es wesentlich, die Zusammenhänge, Stoßrichtungen und den manipulativen Einsatz von „Nationalbewußtsein“ (das materialistisch immer auch auf das gesellschaftliche Sein zurückgeführt werden kann) und ihrer Verwendung in der jeweiligen konkreten Situation zu betrachten: Welche Klasse strebt nach oben, welche verteidigt sich dagegen, wer unterdrückt wen und welche politische Lösung und nicht zuletzt Losung bietet einen Ausweg? Im 20. Jahrhundert bestand die marxistische Antwort lange Zeit in der Selbstbestimmung mit allen ihren auch separatistischen Konsequenzen. Heute dürfte die Lösung vielleicht eher in einer konsequenten national-kulturellen Autonomie liegen, wie sie die Franzosen/Quebecianer in Kanada genießen und wie sie den Sorben und Dänen in Deutschland zugestanden wurde, wobei auf die Größe der Nation und die Chancen ihrer Selbstdarstellung und Selbstgestaltung Rücksicht genommen werden muß. Die wichtigsten Lehren der Geschichte der Linken sind auf jeden Fall, daß das Negieren des Nationalen, der nationalen Widersprüche und selbst der diesbezüglichen Gefühle für den Kampf um Befreiung tödlich sein kann und daß die revolutionäre Beglückung eines anderen Volkes, das sich selbst als unterdrückt, abhängig, nicht gleichberechtigt behandelt fühlt oder dem dies erfolgreich von den alten kapitalistischen Eliten im Innern oder von außen nahegebracht wird, ebenfalls auf Dauer zerstörend wirkt.

Sonderfall Deutschland

Zu den prägenden Erfahrungen des Zusammenbruchs des Realsozialismus gehört das urplötzliche Durchschlagen der nationalen Frage und das Aufbrechen des Nationalismus vor allem ausgehend von vielen bisherigen DDR-Bürgern. 1989 ruhten ihre Hoffnungen und Erwartungen zunächst auf einer als antistalinistische Revolution39 versuchten Umwälzung und Erneuerung der DDR. Doch im Moment der unkontrollierten und preislosen Grenzöffnung befürworteten sie eine möglichst rasche Übernahme des, wie sie meinten, bundesdeutschen Erfolgsrezepts von marktwirtschaftlicher, richtiger kapitalistischer Ökonomie und funktionierender parlamentarischer Demokratie sowie Öffentlichkeit. Die sozialen Standards der DDR sahen ihre Noch-Bürger als unantastbar an. Über Nacht schlugen die Erwartungen nicht allein bei jenen, die seit dem Sommer offen in Richtung Westen flüchteten, sondern auch bei jenen, die im Oktober und Anfang November noch auf eine Erneuerung der DDR setzten, in nationalistischen Taumel und Heilserwartungen an die „anderen Deutschen“ um.40 Was die SED-Führung lange befürchtet hatte, was mit dem Offenhalten der deutschen Frage durch Bonn, was nach der völkerrechtlichen Regelung der deutsch-deutschen Zweisamkeit in den 1970er Jahren zumindest mit der These der deutschen Kulturnation aus dem Westen hochgehalten wurde, trat nun tatsächlich ein. Die DDR hatte in den 1970er Jahren die Idee einer Einheit der Nation aufgegeben, arbeitete die Vorstellung von einer eigenen, der DDRNation, als der progressiven Linie deutscher Nationsentwicklung heraus. Nur noch die gemeinsame Nationalität „deutsch“ wurde anerkannt.41 Im Herbst 1989 erwies sich dies alles als Makulatur und die Linke, nun im wesentlichen reduziert auf SED-PDS bzw. PDS, mußte sich mit dem „Deutschland, einig Vaterland“ abfinden. (Eine Ironie der Geschichte: Angesichts der Probleme der deutschen Einheit etablierte sich alsbald post festum eine DDR-Identität wie es sie zu Lebzeiten dieses Staates kaum gegeben hatte. Manche Ethnologen glauben heute ein besonderes ostdeutsches Ethnos42 ausmachen zu können.)

Auch für die westdeutsche Linke kam diese Wendung überraschend. Sie hatte sich längst arrangiert mit einer von den realen geschichtlichen Prozessen abgelösten Nationsvorstellung, zugespitzt und bewußt antinationalistisch als Verfassungspatriotismus charakterisiert. Ihre Perspektive lag, bis auf wenige Ausnahmen bei eher national-orientierten Teilen der SPD und jenen noch vorhandenen alten Sozialdemokraten um Willy Brandt, auf ein in der (west) europäischen Gemeinschaft aufgehendes diffuses Deutschsein fixiert. In unterschiedlicher Ausprägung rettete diese westdeutschen Linke – politisch durchaus heterogen – ihre Ablehnung der nationalen Bezüge in die postsozialistische Zeit hinüber und konnte sie in der nun gesamtdeutschen Linken etablieren. In radikalster Form versuchte sie es 1990 mit der Gegenlosung „Nie wieder Deutschland!“ – und scheiterte.43

Diese Ablehnung ist nach der Erfahrung mit einem brutalen rechtsgerichteten und mit Rassismus verwobenen Nationalismus in Deutschland nachvollziehbar, der verantwortlich war für das Auslösen zweier Weltkriege, schuldig an der Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, aber auch von Slawen. Diese Geschichte mußte jeden Glauben an Nation, Vaterland und Heimat desavouieren. Eine verspätete Nationswerdung, zumal von oben mit „Blut und Eisen“ praktiziert, hatte ihren teuflischen Preis. Ein betontes Weltbürgertum oder doch zumindest ein radikales Europäertum sollte die Scham für die eigene Mitverantwortung rechtfertigen. Zu dieser Position gehört allerdings auch eine undifferenzierte Reduzierung von Faschismus, Völkermord und Kriegsverbrechen allein auf die deutsche Geschichte unter Ausblendung der Gesamtgeschichte des Kapitalismus und seiner Verbrechen.44

Für den Historiker Helmut Bleiber ist der Umstand noch wichtiger, daß es „anders als etwa in der französischen Geschichte, in der es sowohl unter bürgerlich-demokratischen Vorzeichen (Verteidigung der Revolution 1793/94) als auch unter proletarisch-kommunistischem Panier (Résistance gegen die Okkupation durch Hitler-Deutschland) zeitweise zur Übereinstimmung von links und national kam, (…) in der deutschen Vergangenheit eindeutig die Inanspruchnahme des Nationalen durch die politische Rechte (dominiert hat) (…) Die Okkupation des Nationalen durch den junkerlich-bourgeoisien Ausbeuterblock [nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 – St.B.], die wachsende Verbindung von national einerseits und konservativ-reaktionär andererseits erschwerten es der revolutionären Sozialdemokratie, sich ihrerseits überzeugend des Nationalen zu bemächtigen und sich selbst als Hauptrepräsentanten nationaler Interessen darzustellen. Trotz wichtiger politischer und propagandistischer Schritte und Bemühungen gegen das Versailler Diktat gelang es auch der KPD in den Jahren der Weimarer Republik nicht, in einem solchen Maße auch als Wahrerin nationaler Belange Anerkennung zu finden, wie es erforderlich gewesen wäre, um die nationale Demagogie der Nazis unwirksam zu machen.“45

Bleibers Text verweist auf die Schwierigkeit der Linken, sich in den sozialen und politischen Kämpfen auf nationalem Terrain mit jenen Widersprüchen und Konflikten zu konfrontieren, die zunächst national und nationalistisch buchstabiert werden. Dafür gibt es in der deutschen Geschichte prägnante Beispiele. Sei es die linke Antwort auf die nationalistische und chauvinistische Kriegseuphorie 1914, sei es der Umgang mit der Niederlage im Krieg und mit dem Druck durch den Versailler Vertrag, sei es die nationalistisch und rassistisch verbrämte Vormacht- und Ausrottungspolitik des Nationalsozialismus oder das Schicksal der 1945 nach der Niederlage des Dritten Reichs gespaltenen und in die beiden Blöcke einbezogenen Deutschlands. Einige der Versuche der radikalen Linken, den nationalistischen Losungen der Rechten das Wasser abzugraben, durch ein eigenes Eintreten für die nationalen Interessen Deutschlands, sind im vorliegenden Band in ihrer Widersprüchlichkeit und Aussichtslosigkeit dokumentiert. Der Grat des politischen Handels war schmal, wie es sowohl der „Schlageter-Kurs“ Karl Radeks oder die Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes der KPD von 1930 bewiesen. Gleichzeitig gab es punktuelle Erfolge, so bei der Zuwendung zu nationalkonservativen Gegnern der Weimarer Republik, dessen bekanntester Exponent der Reichswehrleutnant Richard Scheringer war. 1931 gelang es, ihn von Hitler zu lösen und für die Kommunisten zu gewinnen. Zu diesen Erfahrungen gehört ebenso die zeitweise Zusammenarbeit von Kommunisten, Sozialdemokraten und Bürgerlichen im antifaschistischen Widerstand und nicht zuletzt die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland und des Bundes Deutscher Offiziere mit nicht wenigen antinazistischen, aber stockkonservativen deutschen Militärs in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Schließlich versuchten in den 1950er Jahren die Führungen in Moskau und in der DDR, mit konservativen, nationalistischen Kräften die deutsche Spaltung und eine Separatentwicklung von zwei Staaten zu unterlaufen. Ihre Politik lag nicht fern von dem stramm nationalen Kurs des bundesdeutschen SPD-Vorsitzenden Ernst Schumacher, der durchaus in der Lage war, den CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer als „Kanzler der Alliierten“46 zu titulieren. Letztlich blieb es aber bei Versuchen, denen immer die Glaubwürdigkeit fehlte, weil alle Bekenntnisse zu deutscher Nation und Einheit zugleich mit der strikten Ost- oder alsbald Westorientierung und ihren politischen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen verbunden waren.

Es kann gut sein, daß das Versagen der Linken in Ost- wie Westdeutschland mitverantwortlich ist für den Erfolg der konservativen Kräfte. Mit dem Offenhalten der „deutschen Frage“, dem besonderen Zugang zu den DDR-Bürgern über die Westmedien, den humanitären Beziehungen und das jederzeit einlösbare Versprechen an die Deutschen im Osten, als Bundesbürger behandelt zu werden, wurde den sozialen Emanzipationsbestrebungen ein Strich durch die Rechnung gemacht. Rudi Dutschke notierte 1969 in sein Tagebuch wohl mit größerer Tragweite als er ahnte: „Die ‚Nationale Frage‘ als Problem der deutschen Wiedervereinigung als revolutionäres Kettenglied des Angriffs gegen Spätkapitalismus und Revisionismus, muß endlich reflektiert werden, der Konterrevolution darf nicht der revolutionierende Boden der ‚nationalen Befreiung‘ innerhalb eines globalen Sozialismus-Kontextes überlassen bleiben.“47

Auch die Herausbildung einer anderen deutschsprachigen Nation aus den Resten des einstigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ist bemerkenswert und hängt unmittelbar mit der Erfahrung Faschismus zusammen. Die abgedruckten Beiträge von Karl Renner und Otto Bauer stehen gerade für den Versuch in jenem seit 1866 endgültig von Kleindeutschland unter Preußens Führung getrennten Teil einen Platz für die dortige deutsch-österreichische Nation zu finden.48 Die Führung der Deutschsprachigen im Habsburger Reich war angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der anderen, vor allem slawischen Nationen in Frage gestellt. Während Bauer und Renner eine föderale Lösung mit Autonomie für einzelne Volksgruppen anvisierten, setzte ihr Gegenspieler Josef Strasser auf den Internationalismus und den Sieg des Sozialismus, der allen Staatenbildungen vorausgehen sollte. 1918 erwies sich die Sozialdemokratie in der Donaumonarchie als unfähig, das Reich zusammenzuhalten. Auch die österreichischen Sozialdemokraten favorisierten letztlich eine großdeutsche Lösung, in der Deutsch-Österreich Teil eines Deutschen Reiches werden sollte. Aber der Ausweg des freiwilligen Anschlusses an den Nachbarn nördlich der Alpen war durch den Friedensvertrag von St. Germain blockiert. Erst der Anschluß 1938 durch die deutschen Faschisten brachte diese „Lösung“, die einmal mehr bewies, daß unter imperialistischen Vorzeichen Probleme im Interesse der Menschen nicht zu lösen sind.