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informationen zur deutschdidaktik
Zeitschrift für den Deutschunterricht
in Wissenschaft und Schule

Sehnsuchtsort Mittelalter

Herausgegeben von
Sabine Seelbach und Gerhild Zaminer

Heft 3-2016
40. Jahrgang

StudienVerlag Innsbruck

 

 

Editorial

SABINE SEELBACH, GERHILD ZAMINER:
Sehnsuchtsort Mittelalter

 

 

 

 

 

 

 

Magazin

Aktuelles

FLORIAN MARLON AUERNIG, WERNER WINTERSTEINER: Literarische Bildung ist eine zentrale kulturelle Kompetenz

Gedicht im Unterricht

KARL FRINGS: Balladenklassiker im Rap-Gewand

Kommentar

INA KARG: Mittelalter zwischen Verlust und neuem Boom

ide empfiehlt

MICHAEL BAUM: N. Mitterer (2016): Das Fremde in der Literatur

Neu im Regal

Heros und Thymos: Vom Attraktivitätspotential des Mittelalters

SABINE SEELBACH: The Fault in Our Stars.
Zur Legitimität der emphatischen Sinndebatte

ANNA MÜHLHERR, HEIKE SAHM: Helden im Mittelalter

Kompetenzorientierte Mittelalterdidaktik: Bestandsaufnahme und Desiderata

YLVA SCHWINGHAMMER: Empirische Erhebungen zum Umgang mit älterer deutscher Literatur und Sprache im Unterricht. Eine vorläufige Bestandsaufnahme

ANDREA SIEBER: Mittelalterliche Texte und Themen im kompetenzorientierten Deutschunterricht

Sprachbewusstsein und emotionale Kompetenz

ANN-KATRIN BULMAHN, KIRSTEN MENKE-SCHNELLBÄCHER: In en dorp en rave quam. Mittelniederdeutsch im Deutschunterricht?

LAURA VELTE: Wütend sein auf Mittelhochdeutsch. Was mediävistische Emotionsforschung im Deutschunterricht leisten kann

Intertextualität, Gender und Multimedialität

ANNA RAUSCH, SIMONE STEFAN: Unterrichtsskizze Der Handschuh von Friedrich Schiller

DOROTHEA PEROTTI: Minnelyrik im interdisziplinären Projektunterricht. Ein Bericht

GÜNTHER BÄRNTHALER: Melvin Burgess’ Schlachten. Val Volson und die Völsungen im Deutschunterricht

Service

PETRA SCHEBACH: Weiterführende Auswahlbibliographie zu mittelalterlichen Themen und Texten im Deutschunterricht

 

 

 

»Mittelalter« in anderen ide-Heften

ide 3/2001

Mittelalter

ide 2/2007

Mittelmeer

ide 4/2012

Literaturgeschichte

 

Das nächste ide-Heft

ide 4-2016

New Literacies im Deutschunterricht erscheint im Dezember 2016

 

Vorschau

ide 1-2017

Flucht und Ankommen

ide 2-2017

Die Donau – Länder am Strome

 

 

 

 

 

www.uni-klu.ac.at/ide
Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

 

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Sehnsuchtsort Mittelalter

Moderne Befindlichkeit und alte Texte in der Schule

Woher kommt das Faszinosum Mittelalter? Die Attraktivität des Themas und seiner Versatzstücke in unterschiedlichen Medien war der Ausgangspunkt für die Überlegungen zu einer ide mit dem Titel »Sehnsuchtsort Mittelalter«. Die Frage nach sozialen und geistesgeschichtlichen Ursachen für das anhaltende kulturelle Interesse an mittelalterlichen Denkformen und Heldenfiguren steht dabei ebenso im Zentrum wie der fachdidaktische Wert der Beschäftigung mit mittelalterlichen Stoffen und mittelalterlicher Sprache im Deutschunterricht.

Computerspiele, Fernsehserien, Fantasy-, Science Fiction- sowie Kinder- und Jugendliteratur arbeiten mit mittelalterlichen Stoffen und Elementen, daher bietet die Beschäftigung mit den Originalen Wiedererkennungspoten tial, das nicht nur auf der Motivationsebene genutzt, sondern auch zentralen Zielen des kompetenzorientierten Sprach- und Literaturunterrichts dienstbar gemacht werden kann.

Die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Texten bietet zudem Chancen für die Entwicklung eines vertieften Sprachbewusstseins, dies in der Einheit von Sensibilisierung für Phänomene des Sprachwandels und Ausprägung einer produktiven Distanz zum Sprachgebrauch der Gegenwart.

In vier thematischen Clustern beschäftigen sich die Beiträge dieses Heftes mit mittelalterlicher Literatur im Unterricht.

Heros und Thymos: Vom Attraktivitätspotential des Mittelalters

Sabine Seelbach geht der Frage nach den Ursachen für die anhaltende Attraktivität mittelalterlicher Narrative beispielhafter Handlungskompetenz, Wirkmächtigkeit und Selbstbestimmtheit des Individuums nach. Es gibt in der Gegenwart immer mehr Wichtigkeitswünsche als Wichtigkeitsbiografien. Die zeitgenössische Analyse dieses Phänomens schafft es allenfalls bis zur Wiederentdeckung des Tocqueville- Paradox, nach welchem die Abschaffung sozialer Ungleichheit die Sensibilität für verbliebene Ungleichheiten auf tendenziell narzisstische Weise bis ins Unendliche steigere (vgl. Geißler 2006, S. 301). Narzissmus-Etikettierungen sowie die skeptizistische Verordnung einer »Diätetik der Sinnerwartung« (Odo Marquard) verbleiben jedoch im Vorfeld der eigentlichen Problemlage. Die seit der Aufklärung waltende Entleerung des gesellschaftlichen Raums von der Transzendenz bringt für den Einzelnen ein Defizit an Anerkennung mit sich: Gott als »arbiter actuum« ist nicht mehr verfügbar, die Gesellschaft dagegen rast im ADHS-Modus der Aufmerksamkeitsstörung – wohin? Das Individuum erzählt gegen die ihm zugeteilte Beliebigkeit mit Ich-Narrativen von Helden und Heiligen an, die ihm eine Behausung bieten, Bedeutung und eine Aufgabe.

Anna Mühlherr nähert sich dem Problemfeld der Mittelalterrezeption von der erzähltheoretischen Seite her an. Ausgehend vom Erwerb kultureller Kompetenz als einer der Zielgrößen didaktischer Arbeit, verweist sie einmal mehr auf die zentrale Rolle der Literatur als imaginären Ort des Durchspielens von Erfahrungen und auf das kognitive Potential des Erzählens für den Erwerb eigener Handlungskompetenzen. Erzählungen von Helden seien fester Bestandteil des kulturell Imaginären und böten vielfach beschreibbare Projektionsflächen für unterschiedlichste Vorstellungen und somit die Voraussetzungen für eine permanente Arbeit am Mythos. Das didaktische Potenzial einer Exploration des Heldenbegriffs bestehe u. a. darin, zur Präzisierung des eigenen Selbstverständnisses anzuleiten, Differenzen zutage zu bringen und dabei die »Ambiguitätsund Ambivalenztoleranz« zu befördern. Heike Sahm stellt im Anschluss an Mühlherr den von beiden in Zusammenarbeit mit Franziska Küenzlen herausgegebenen Sammelband Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter (2014) vor.

Kompetenzorientierte Mittelalterdidaktik: Bestandsaufnahme und Desiderata

Auch Ylva Schwinghammer verpflichtet sich dem gemeinsamen Anliegen, der starken Mittelalter-Wahrnehmung in der Kultur der Gegenwart auch eine adäquate Präsenz mittelalterlicher Literatur in der Schule an die Seite zu stellen und geeignete Möglichkeiten ihres Einsatzes im Unterricht zu erkunden. Auf der Grundlage ihrer profunden empirischen Studien vermag sie ein brisantes Zahlenmaterial vorzulegen, das geeignet ist, die noch immer seitens der schulpolitischen Legislative waltenden Vorbehalte gründlich auszuräumen. Erstens fallen die Relevanzurteile der großen Mehrheit der SchülerInnen bezüglich des Mittelalters sehr viel positiver aus als angenommen. Somit ist das Interesse an einer solchen Beschäftigung nicht schwer zu wecken. Zweitens böte gerade die Kompetenzorientierung – vielfach als Ausschlussgrund für mittelalterliche Texte instrumentalisiert – neue Chancen auch für ältere Autoren und Texte, vorausgesetzt, man beschränke sich nicht auf ein starres Konzept der Inhalts- bzw. Wissensvermittlung. Es wird der Nachweis erbracht, dass alle geforderten literarischen Teilkompetenzen auch an einem mittelalterlichen Textkorpus erwerbbar sind. Sprache sei nicht nur Barriere, sondern auch Bildungspotential (Sprachwandel). Übersetzungen als Unterrichtsverfahren förderten die Fähigkeit zu Dekodierungsleistungen. Widerständige Lektüre intensiviere die prozeduralen Ebenen des Leseprozesses und das Bedürfnis nach tieferem Textverstehen. Die brisanteste Beobachtung Schwinghammers besteht jedoch darin, dass die stärkste Fraktion unter den BedenkenträgerInnen ausgerechnet in den Lehramtsstudierenden zu identifizieren ist. Dieser Umstand verschiebt den Brennpunkt der Problematik zu einem Gutteil zurück an die Uni und die didaktischen Kompetenzen der HochschullehrerInnen.

In vergleichbarer Weise plädiert Andrea Sieber für eine »fähigkeitsorientierte Output-Didaktik« des Mittelalters, die in angemessener Weise auf objektivierbare Alteritäts- und Eigenerfahrungen zurückgreifen könne. Sie kritisiert, dass in der bisherigen Debatte um geschichtliche Differenzerfahrungen zu oft Vorstellungen historischer Normativität gegen moderne Ästhetisierungsformen ausgespielt worden seien. Sie wirbt dagegen für eine bessere didaktische Balance zwischen den legitimen Rezeptionsanreizen mittelalterlicher Stoffe und der kritischen Reflexion moderner Medienästhetik. Der Aufnahme aktueller Lebenswirklichkeit sei mehr Raum zu gewähren, Themen wie Identitätsbildung, Empathiefähigkeit und kulturelle Teilhabe könnten in Rahmen der Kompetenzorientierung neu fokussiert werden. Dazu sei die Herstellung einer besseren Kohärenz von fachwissenschaftlicher, didaktischer und unterrichtspraktischer Arbeit erforderlich. Als gelungenes Beispiel einer solchen Kooperation wird auf das Projekt »mittelneu« Duisburg/Essen verwiesen.

Sprachbewusstsein und emotionale Kompetenz

Der Beitrag von Kirsten Menke-Schnellbächer und Ann-Katrin Bulmahn beschäftigt sich am Beispiel eines niederdeutschen Fabelkorpus mit den Möglichkeiten, das Niederdeutsche als wichtige Varietät des Deutschen historisch-diachron zu betrachten und anhand älterer Texte in den Unterricht einzubeziehen. Die Autorinnen greifen die in der Europäischen Sprachencharta niedergelegte Zielsetzung auf, geschichtlich gewachsene Regional- und Minderheitensprachen zu schützen und in die Lehrpläne zu integrieren. Sie verorten die Beschäftigung mit der historischen Entwicklung des Niederdeutschen im Kompetenzbereich »Sprache und Sprachgebrauch untersuchen«.

Laura Velte leistet einen Beitrag zur benannten Neu-Fokussierung von Themen der aktuellen Lebenswirklichkeit im Unterrichtskonzept. Auf der Grundlage der historischen Emotionsforschung, die die Emotion im Spannungsfeld von anthropologischer Konstanz und kulturgeschichtlich-medialer Variabilität erforscht, beschäftigt sie sich mit dem Thema »Zorn« in der mittelalterlichen Literatur. Sie arbeitet anhand verschiedener mittelalterlicher Textbeispiele variable (verbale und nonverbale) emotionale Codierungen heraus und führt Analysen der jeweiligen semantischen Umfelder (Figureninteraktionen und -konstellationen) einem vertieften Textverständnis zu. Mit der Erkenntnis der Referenzialität von Ausdruck und dahinter liegender Gefühlsrealität werden Alteritätserfahrungen reflektierbar und das Bewusstsein für Gesprächssituationen und Textsorten entwickelt.

Intertextualität, Gender und Multimedialität

Anna Rausch und Simone Stefan beschreiben in ihrem Praxisbeitrag eine differenzierte Unterrichtsplanung in einer Neuen Mittelschule. Am Beispiel von Schillers Ballade Der Handschuh wird der mittelalterliche Inhalt mit unterschiedlichen Arbeitsaufträgen kompetenzorientiert erarbeitet. Ein selbstgezeichneter Comic dient in diesem Setting zunächst als Verständnishilfe für die inhaltliche Erarbeitung und wird im Anschluss kontrastiv zur Ballade betrachtet. Abgeschlossen wird diese Unterrichtsskizze mit einem Schreibworkshop, der zuvor erarbeitete inhaltliche Aspekte mit der Lebenswelt der SchülerInnen in Beziehung setzt und für die Textproduktion nützt.

Dorothea Perotti berichtet in ihrem Beitrag über ein mehrwöchiges interdisziplinäres Projekt in einer gymnasialen Oberstufe. Dabei wird die Entwicklung der deutschen Sprache exemplarisch an unterschiedlichen Beispielen aus der Minnelyrik erarbeitet. Neben sprachgeschichtlichen Aspekten nimmt sie die dargelegten Rollenbilder und Kommunikationsmöglichkeiten in den Blick und lässt die Ergebnisse zur Lebenswelt der Jugendlichen in Beziehung setzen, reflektieren und zu unterschiedlichen Textprodukten verarbeiten. Den Abschluss der projektbezogenen Unterrichtsarbeit in den beteiligten Fächern Musik und Deutsch bildet ein gemeinsamer Workshop mit einer externen Expertin, in dem wesentliche Fachinhalte wieder aufgenommen und zusammengeführt werden.

Günther Bärnthaler bietet mit Melvin Burgess’ Schlachten eine Buchempfehlung für LeserInnen der Oberstufe, die bei den Lesevorlieben dieser Altersgruppe ansetzt und in ihrer vielschichtigen Komposition viele Zugänge für das literarische Lernen bietet. In seinem Beitrag erläutert er die im Zentrum stehende, mit Elementen aus Fantasy und Science Fiction neu erzählte Völsunga saga unter Bezugnahme auf die historische Textvorlage und hilfreiches Kontextwissen. Weiters arbeitet er das Potential dieses Textes für zentrale Ziele des Literaturunterrichts wie Individuation und Enkulturation heraus. Schlachten bietet Raum für die Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen und Fragen der Geschlechteridentität und eignet sich durch intertextuelle Bezüge auch dafür, sich mit immer wieder aufgegriffenen literarischen Stoffen zu beschäftigen und an ihrem Gebrauch oder Missbrauch kulturelle Deutungskompetenz zu entwickeln.

Bibliographische Hinweise zum Sehnsuchtsort Mittelalter hat Petra Schebach zusammengestellt.

Im Magazinteil berichten Florian M. Auernig und Werner Wintersteiner von der Enquête »Literaturunterricht in Österreich«. Das Gedicht im Unterricht stammt diesmal von Karl Frings, der Kommentar zum Thema von Ina Karg. Neben Rezensionen aktueller Neuerscheinungen empfiehlt Michael Baum die neue Publikation von Nicola Mitterer.

Die Herausgeberinnen wünschen eine inspirierende Lektüre.

Literatur

GEISSLER, RAINER (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. 4., aktual. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

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SABINE SEELBACH studierte Germanistik und Philosophie in Leipzig, wo sie 1986 promovierte. Auf die Habilitation in Heidelberg im Jahre 1999 folgten Gastprofessuren in Osnabrück, Bielefeld, Freiburg, Opole und Wien. Seit 2011 hat sie die Professur für Ältere deutsche Sprache und Literatur in Klagenfurt inne.
E-Mail: sabine.seelbach@aau.at

GERHILD ZAMINER ist AHS-Lehrerin für Deutsch und Geschichte am BRG Viktring und Mitarbeiterin am Institut für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt im Bereich der Lehrerinnenaus- und -fortbildung (Universitätslehrgang PFL Deutsch Sekundarstufe).
E-Mail: gerhild.zaminer@aau.at

Sabine Seelbach

The Fault in Our Stars

Zur Legitimität der emphatischen Sinndebatte

 

 

Hans Blumenberg hat in seiner »Arbeit am Mythos« den Menschen primär als einen »Homo narrans« beschrieben, der die Unkommensurabilität seines Daseins mittels des Erzählens zu bewältigen sucht. Gegenwärtig dominieren zunehmend Narrative des Mittelalters, die zur ideellen Bearbeitung moderner Befindlichkeiten geeignete Projektionsflächen zu bieten scheinen. Der Beitrag geht der Frage nach den sozialen und geistesgeschichtlichen Ursachen dieser Favorisierung mittelalterlicher Denkformen nach.

Mann, ich sehe im Fight Club die stärksten und cleversten Männer, die es je gab. Ich sehe so viel Potential. Das vergeudet wird. Herrgott nochmal, eine ganze Generation zapft Benzin, räumt Tische ab, schuftet als Schreibtisch-Sklaven. Durch die Werbung sind wir heiß auf Klamotten und Autos. Machen Jobs, die wir hassen, und kaufen dann Scheiße, die wir nicht brauchen. Wir sind die Zweitgeborenen der Geschichte, Leute. Männer ohne Zweck, ohne Ziel. Wir haben keinen großen Krieg, keine große Depression. Unser großer Krieg ist der spirituelle, unsere große Depression ist unser Leben. Wir wurden durch das Fernsehen aufgezogen in dem Glauben, dass wir alle einmal Millionäre werden, Filmgötter, Rockstars… Werden wir aber nicht. Und das wird uns langsam klar. Und wir sind kurz, ganz kurz vorm Ausrasten. (Tyler Durden in Fight Club, USA 1999)

1. Esse est percipi. Gesicht und Blick

Was macht den Menschen aus? In seinem Essay über den norwegischen Massenmörder Anders Breivik, der gerade jetzt zu erneuter trauriger Prominenz gelangt ist, reflektiert der Schriftsteller Karl Ove Knausgård über Grundvoraussetzungen sozialer Identitätsbildung des Einzelnen:

Die allerstärksten Kräfte des Menschlichen finden sich in der Beziehung zwischen dem Gesicht und dem Blick. Nur dort existieren wir wirklich füreinander. Im Blick der anderen entstehen wir und in unserem eigenen Blick entsteht der andere. Dort können wir auch vernichtet werden. Nicht gesehen zu werden ist vernichtend, genauso wie nicht zu sehen. (Knausgård 2015)

Die Konzentration auf Gesicht und Blick, hier als Metapher für das Wahrnehmen und das Wahrgenommen-Werden, spielt sicher nicht unbewusst auf eine der Grundthesen empiristischer Erkenntnistheorie an: »Esse est percipi« – Sein ist Wahrgenommen-Werden. Die gemäßigt idealistische Lesart dieses Satzes besagt, »dass Sinnesdaten, solange sie wahrgenommen werden, existieren, wobei offen bleibt, ob sie auch außerhalb der Wahrnehmung existieren« (Blume o. J.). Der auf George Berkeley (1685–1753) zurückgeführte Satz, der sich erklärtermaßen auf Inhalte des Wahrnehmungsbewusstseins bezog, erfährt in der Gegenwart eine praxeologische Verkürzung und Radikalisierung: die Schlussfolgerung des Nicht-Seins aus dem Tatbestand des Nicht-Wahrgenommen-Werdens bzw. die Auffassung des Letzteren als Akt der Ver-nicht-ung des eigenen Seins.

Wahrnehmen heißt im Umkehrschluss, das Sein des anderen anzuerkennen. Anerkennung ist die rarste Währung der Moderne; über sie geschieht Zuschreibung von Sinn. Im Unterschied zu harmloseren, aber gleichwohl markanten Formen des Visibilitätsstrebens wie etwa in Casting-Shows, die erklärtermaßen nach »Superstars« suchen, oder auch im Livestream-Erzählen des Autors Karl Ove Knausgård selbst reicht eine bezeugende Kamera/Beobachterinstanz immer weniger aus. Die Wahrnehmungsschwelle kann tendenziell nur noch mit Extraordinärem überschritten werden. Dem Satz »Ich werde gesehen, also bin ich« folgt nun im Extrem der Satz »Ich töte, also werde ich gesehen«. Es handelt sich um eine Pathologisierung des Ringens um den Seins-Status bei gleichzeitiger Transzendierung des Seinsbegriffs. Denn die Eudämonie wandert tendenziell aus der Welt heraus: Die sinnhafte Selbstaufwertung erfüllt sich erst im Tode, im eigenen und in dem der anderen: Ich töte und sterbe für die Gottheit. Gott ist es, der mich wahrnimmt. Mir wird nichts mangeln. Die Gottheit ist innerhalb dieses Denkens ein unverzichtbarer Bestandteil, hilft sie doch zu legitimieren, was als naturrechtliche Grenze dem Menschen eingeschrieben ist: das Töten. Metaphysik behält ihre angestammte Entgrenzungsfunktion im agonalen Bezirk auch in der Gegenwart bei. Jeder Mörder will ehrbar bleiben.

Die heutige Gesellschaft ist so verfasst, dass in ihr »ständig sehr viel mehr Kandidaturen auf Prominenz, das heißt auf mit Wahrnehmungsprivilegien ausgestattete soziale Positionen deponiert« werden, »als durch die vorhandenen Aufmerksamkeitskapitale honoriert werden können« (Sloterdijk 2014, S. 90). »Es werden nach dem Vorstoß in die Freiheits- und Unternehmensära viel mehr Ambitionen geweckt, als je unter dem Obdach legitimer Ansprüche zu beherbergen sind.« (Ebd., S. 87) Der Kampf um Anerkennung als Aufbegehren gegen die benannte perzeptionstechnische Ver-nicht-ung beginnt in der Gegenwart nachgerade die Form eines Krieges anzunehmen. Um selbst ehrbar zu bleiben, muss dem handelnden Individuum sowie seinem Kampf die Glorie der Gerechtigkeit verliehen werden.

Diese Glorie wird nun immer öfter aus den Denkformen des Mittelalters bezogen. Kriege brauchen Helden, Märtyrer und große Ideen, vor deren Hintergrund der Einzelne an Größe und Sinn gewinnt. Anders Breivik zum Beispiel sah sich selbst als Tempelritter und somit als Teil einer großen kulturellen Bewegung zum Kampf gegen die Auflösung der traditionellen »abendländischen Werte«. Diese Bewegung bezeichnete er selbst als Kreuzzug. Wenn die eigene Physis dabei weitgehend unerheblich wird, so kommt der Metaphysik eine umso größere Bedeutung zu.

Die Öffentlichkeit hatte sich angesichts der neuen »Helden« bis vor kurzem weitgehend auf das Verharren in Schockstarre und bestenfalls auf Narzissmus-Etikettierungen kapriziert. Erst die jüngsten Ereignisse trieben die Erklärungsnot so weit voran, dass vorhandene Theorieangebote wie etwa der Anerkennungsdiskurs, den wir hier im Extrem zu greifen bekommen, es wieder in die Tagespresse geschafft haben (vgl. Truscheit 2016, Mayer 2016, Thiel 2016 u. a. m.). Diesen Diskurs zusammenfassend hat Peter Sloterdijk bereits vor einiger Zeit auf die Verwerfungen innerhalb des seelischen Energiehaushalts des Menschen verwiesen, die sich nach längeren Vorstufen dann in der Spätmoderne in aller Schärfe ihren Ausdruck suchten und letzten Endes auf die fahrlässige Marginalisierung bzw. Inkriminierung der stolzhaften, selbstaffirmativen Bedürfnisse des Menschen zurückzuführen seien (gestörte Eros-Thymos-Balance; vgl. Sloterdijk 2006, S. 30 f.). Entgegen der These Sloterdijks, das christliche Mittelalter mit »seine[m] früh statuierte[n] Ressentiment gegen das Ich« (ebd., S. 31) sei die Ursache dieser Störung, muss jedoch festgehalten werden, dass jene im Christentum gefeierte Haltung der demütig exekutierenden Ausführung göttlicher Bestimmungen dem Menschen auch einen Lohn in Aussicht stellte: die absolute Entgrenzung. Denn der Gedanke der Erlösung verheißt nicht nur den Verlust der Bürde zeitlicher Endlichkeit, sondern vermag im Sinne der Werkheiligkeit den Menschen auf Grund seiner Tat ins Überdimensionale zu steigern und ihm auf der Projektionsfläche der Ewigkeit eine im irdischen Leben nie erreichbare Sichtbarkeit zu verleihen. Somit vermochte das christliche Mittelalter die frei fluktuierenden Energien menschlicher Selbstaffirmation vielleicht sogar wirkungsvoller zu bändigen und zu integrieren. Die Moderne, die Gott ausgetrieben hat, setzte an seine Stelle einen Begriff von Freiheit und Selbstbestimmung, der offenbar keinen vergleichbaren Nährwert hat.

2. Helden und Heilige: Projektionen der Aufklärungskritik

Als erste historische Bewegung hat die Romantik das entstehende Defizit erspürt. Noch in Tuchfühlung mit dem entschwindenden religiösen Erbe, aber schon weit genug von historischer Realität entfernt, vermochte sie, dem unbehausten Menschen für einen kurzen historischen Augenblick ein schützendes Dach von feinstem Idealismus zu bauen.

Joseph von Eichendorff, der seine Zeit noch immer als integralen Teil von Heilsgeschichte auffasste, sah diese folglich auf ein Ziel zulaufen: auf den »Sieg der göttlichen Grundkraft« (Eichendorff 1911, S. 129). In seiner Fragment gebliebenen Abhandlung über die heilige Hedwig schreibt er:

Es walten im Leben der Menschen seit dem Sündenfalle zwei geheimnisvolle Kräfte, die beständig einander abstoßen und in entgegengesetzten Richtungen feindlich auseinandergehen. Man könnte sie die Zentripetal- und die Zentrifugalkraft der Geisterwelt nennen. Jene strebt erhaltend nach Vereinigung mit dem göttlichen Zentrum alles Seins, es ist die Liebe; während die andere verneinend nach den irdischen Abgründen zur Absonderung, zur Zerstörung und zum Hasse hinabführt. (Ebd.)

Die Waage sieht Eichendorff sich dem Irdischen und damit dem Hassprinzip zuneigen. Ursachen dafür findet er in der durch die Reformation ausgelösten Vernunftgläubigkeit, die auf dem Wege kulturellen Vergessens und des historischen Fehlurteils den Boden bereitet habe für die nunmehr herrschende materialistische Weltsicht, die Anbetung der Industrie, die Zerstörung der gesellschaftlichen Bande durch Egoismus und die schließliche Entfremdung des Menschen von seiner eigentlichen Bestimmung. Diesen Antagonismus dennoch zum Guten hin zu entscheiden, bedürfe es wehrhafter Helden, die sich allerdings vom eingeschränkten irdischen Heroismus des Kriegshelden und Staatsmanns gegenkonzeptlich unterscheiden müssten. In typisch romantischer Verkennung sieht Eichendorff die Heiligen als Kräfte einer höheren Harmonie, die über den trennenden Prinzipien der Nation, des Standes und Geschlechts stehen. Als Repräsentanten der verlorenen Einheit seien sie in besonderer Weise in der Lage, den »ganzen« Menschen, nicht nur seine Rationalität anzusprechen, seine gegenwärtige reduktionistische Daseinsform zu heilen und Ganzheitlichkeit in ihm wieder aufzurichten. Auch in der Gegenwart sei es möglich, heilig zu werden: Gegen die moderne Hauptsünde des vernunftbegründeten Hochmuts und Dünkels seien Liebe und Demut zu setzen. Der Heilige als Leitfigur von extraordinärer Leistung wird in seiner spezifisch spirituellen Übersteigerung menschlichen Maßes zum Instrument der Modernekritik Eichendorffs. An der Schwelle zum industriellen Zeitalter kann hier noch einmal der religiöse Heilsbringer zur kulturellen Projektionsfläche werden und sogar Kapitale anderer mittelalterlicher Prototypen wie des Herrschers und des Kriegers auf sich vereinen.

In jenem historischen Moment, da mit dem alles überwölbenden und behausenden christlichen Kosmos auch der gattungskonstitutive Gedanke der Erbsünde an Geltung verlor, begann ein neues, nunmehr weltliches Bewusstsein, Erbe zu sein, Platz zu greifen (vgl. Sloterdijk 2014, S. 23). Im Zeitalter der erst anbrechenden Moderne, der Noch-Verfügbarkeit christlicher Utopien konnte dieses Bewusstsein beide Wege gehen: Im Unterschied zu den aufklärerischen Modernisierern, die selbst die innerweltlichen Genealogien als Fessel durch Herkunft verleugneten und bekriegten, warnten Konservative wie Eichendorff vor den Folgen eines solchen Verlusts und plädierten für eine lebendige Inanspruchnahme des christlichen Erbes zur Sicherung des unbeschädigten Menschen und seines Handlungsspielraumes unter ethischem Vorzeichen.

3. Die unerträgliche Beliebigkeit des Seins – Ersatzmetaphysiken

Hatten Marx und Engels in der Frühphase ihres Schaffens noch einen Befund des »Ständische[n] und Stehende[n]« erhoben (vgl. Sloterdijk 2014, S. 75, mit Verweis auf das Kommunistische Manifest von 1848), so wich diese Wahrnehmung gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend einer Diagnose eines neuen Seinsmodus der Welt, nämlich ihres Entgleitens aus dem Zentrum der Sicherheit (vgl. ebd., S. 72, mit Bezug auf Comenius’ Centrum securitatis von 1625), das in Nietzsches Metapher vom fortwährenden Stürzen einen prominenten Ausdruck fand.1

Die Spätmoderne hat das christliche Erbe de facto bereits hinter sich gelassen. Christliche Metaphysik vermag keinen wirklichen Fluchtpunkt der Orientierung mehr zu bieten. Der Schriftsteller François aus Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung (2015) kann sich in der arithmetischen Mitte des Texts angesichts seiner kulturellen Zeitreise zum »wahren Beginn des christlichen Mittelalters« (S. 128) und der allzu flüchtigen Wirkung des Madonnenbildnisses von Rocamadour (S.144– 146) nur noch des verlorenen Kontakts zu diesem Erbe bewusst werden. Die zu Füßen der schwarzen Muttergottes erlebten Anfänge einer Aufhebung seiner Individualität sind angesichts des kleinsten Alltagsgeschäfts schnell vergessen. Die Wallfahrt geht ins Leere. Houellebecqs Held ist der klassische Fall des Enterbten, seine Unterwerfung eine Erscheinungsweise des Scheiterns des aufklärerischen Entwurfs.

Die zunächst als intellektueller Befreiungsschlag bejubelte futuristische Wende der Geschichtsphilosophie mit ihrem antigenealogischen Impetus hat weitgehend zu der Erkenntnis geführt, es gäbe wohl eine Universalgeschichte, jedoch eine der Kontingenz. Sie, der Ausdruck einer neuen unerträglichen Beliebigkeit des Seins, ist der neue, ungeliebte Gott, dem gerade in der Gegenwart ein weites Spektrum an Ersatz-Metaphysiken entgegengesetzt wird. Deren gemeinsamer Nenner sind Wieder-Behaustheit des Menschen in einem kohärenten Kosmos (selbst in der Dystopie), ein sichtbarer Handlungsradius und positive Sinnzuschreibungen.

Diese Ersatzmetaphysiken können synkretistisch vorgehen, wie im Beispiel von James Camerons Film Avatar (USA 2009), der einerseits auf naturreligiöse Vorstellungen zurückgreift (Göttin, die aus allem besteht, was ist, und darauf beruhendes Körperwissen des Individuums; Idee einer in dieser Göttin beschlossenen konstanten Energiemenge, aus der lediglich geborgt werden kann), andererseits aber auch auf Metaphern des Übernatürlichen (Überwindung der Schwerkraft: hängende Berge), die an jene biblischer Herkunft erinnern (brennender, aber unversehrt bleibender Dornbusch).

Sie können – wie in David Mitchells Cloud Atlas (Film: USA 2012) – ein der Chronologie und Kausalität enthobenes, an der Ereignisorientiertheit und diskontinuierlichen Montagepraxis Gilles Deleuze’ (Tausend Plateaus) erinnerndes Weltmodell präsentieren, das sich bewusst sowohl von geschichtsphilosophischen Fluchtpunkten als auch von der linearen Vorstellung der Wiedergeburt verabschiedet, dem Menschen aber mit der Idee eines Netzes an parallel seienden Chronotopoi, in dem immerwährend das Gleiche geschieht und aus dem nichts verloren werden kann, eine gewisse Erbauung bietet.

John Green führt in seinem erfolgreichen und 2014 verfilmten Jugendbuch The Fault in Our Stars (dt. Titel: Das Schicksal ist ein mieser Verräter) gleich mehrere Metaphysiken gegeneinander ins Feld. Er unternimmt nichts Geringeres als die Rücknahme jener kopernikanischen Wende, mit der das Subjekt der Renaissance ein objektiv waltendes Schicksal abweist und die Determinanten des Handelns – im Guten wie im Bösen – konsequent sich selbst übereignet:

The fault, dear Brutus, is not in our stars,
But in ourselves, that we are underlings.
(Shakespeare 2004, S. 87)

Um jene Selbstmächtigkeit, in der das Subjekt nur sich selbst unterworfen ist, gründlich in Frage zu stellen, wählt Green Exempelfiguren, die an Evidenz nicht überbietbar sind. Die Jugendlichen Hazel Grace und Augustus sehen ihrem nahen Krebstod entgegen – eine Situation, die ihrem Selbst keinen Raum mehr lässt, sei es als schuldhafter Verursacher, sei es als aktiver Überwinder oder gar als siegender Held. Gerade vor dem Hintergrund von Ausweglosigkeit scheint die hermeneutische Energie des Menschen die stärksten Impulse zu empfangen. Die Modelle, mittels derer die jungen ProtagonistInnen ihre brüchige Existenz in ein heiles Kontinuum hineinzuerzählen versuchen, können auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein. Das Christentum ist für Hazel Grace keine Option, gegenüber seinen Symbolen nimmt sie eine zynische Haltung an. Peter van Houten dagegen, den Autor des (fiktiven) Buches im Buch Ein herrschaftliches Leiden, betet sie geradezu an, sein Buch nimmt für sie den Rang einer Bibel ein. Sein Vorschlag, das tödliche Leiden als elitäres Distinktionsmerkmal mit der Werthaftigkeit und Glorie eines heiligenden Martyriums aufzufassen, ist für ihr Bedürfnis nach Sinn akzeptabel. Letztlich bleibt dieses Konzept jedoch an der mittelalterlichen Vorstellung des »Sanktus« orientiert. Gott wird darin zwar entbehrlich, nicht aber das Moment der Erwähltheit, von dem das Subjekt seine Erbauung empfangen kann. Dieses Konstrukt kann hingegen nur so lange halten, bis sich in der persönlichen Begegnung mit van Houten in Amsterdam2 der Zynismus des Autors gegenüber dem eigenen Werk herausstellt. Er hat sich inzwischen in Richtung mathematischer Relativität von Endlichkeit verabschiedet. Dieser neuen Metaphysik der Zahl vermag Hazel durchaus etwas abzugewinnen. Unendlichkeit existiert auf wundersame Weise auch im Binnenraum eines begrenzten Zahlenintervalls, also auch im Binnenraum begrenzter Zeit. Die Erkenntnis, eine Art Nebenwirkung eines Evolutionsprozesses zu sein, dem wenig am einzelnen Leben liegt, kann ihre Beruhigung/Erbauung/ Tröstung finden in der Schau der unfassbaren Eleganz des Universums, das seit seinem Ursprung nach dem Prinzip »Omnis cellula e cellula« verfährt – also eine behausende Welt darstellt, aus der ebenfalls nichts verloren werden kann. Der Begriff der geschaffenen Ordnung wird hier vermieden, doch in der Vorstellung, das Universum wolle in seiner Eleganz erkannt werden, schaut doch wieder eine göttliche Instanz um die Ecke. Auch der Mathematik wird also eine transzendente Dimension eingeschrieben. Beim jungen Augustus bleiben die mittelalterlichen Denkformen dagegen in ihren Klarnamen erhalten. Virtuelle Welten wie das fiktive Videospiel Counterinsurgence 2: The Price of Dawn und der Film V wie Vendetta, in denen ein dunkler Held als Befreier auftritt, liefern ihm jene dystopische Haupt- und Staatsaktion, die auch einem zu kurzen Leben Außergewöhnlichkeit, dem Tod einen Sinn verleihen kann: mit einer heldengemäßen Tatenbilanz als gerechter Richter, Verteidiger der Schwachen und Beschützer der Gefährdeten. Es ist der Tugendkatalog des mittelalterlichen »miles christianus«, der hier Pate stand und eine virtuelle Erweiterung des Handlungsspielraums gewährt.

Was John Green hier am Beispiel real verwehrten Lebens vorführt, ist nur der Extremfall für eine um sich greifende Weltwahrnehmung vom »fault in our stars« und für die passionierte Suche nach Antworten, die sich – mehr oder weniger verkappt – in Denkformen der Vormoderne bewegt.

4. Legitimität der emphatischen Sinndebatte

Odo Marquard hatte die »emphatische Sinndebatte« als Phänomen der Spätmoderne eingeordnet, deren Dilemma darin bestehe, dass sie die kultureigene Form von Metaphysik abweise, aber weiterhin an der Absolutheit der Sinnerwartung und deren Einlösbarkeit für ein glückhaftes menschliches Einzelleben festhalte. Die daraus erwachsende Anspruchshaltung und deren reale Uneinlösbarkeit führen zu geradezu abstürzenden Frustrationstoleranzen und – als extreme Konsequenz – zur Verneinung des Lebens. Marquard versucht diesen Trend mittels einer »Diätetik der Sinnerwartung« zur Ruhe zu bringen, die eine »Dämpfung der Perfektionismen durch den Mut zur Unvollkommenheit« beinhalte und zur wertschätzenden Wahrnehmung auch der »kleinen Sinnantworten« befähige (vgl. Marquard 1986, S. 48; S.52). War es vielleicht in den 1980er Jahren noch denkbar, dass man Kräfte der sozialen Psyche mittels eines (vielleicht unfreiwillig christusförmigen) Demutsgebots bändigen und der individuellen Beschlussgewalt überantworten könne, so muten ähnliche Einschätzungen in der Gegenwart schon problematischer an; wenn etwa die Gefahr des Scheiterns von Demokratien mit Blick auf Platons Politeia auf ein narzisstisch pathologisiertes Freiheitsstreben seiner BürgerInnen in Stagnationssituationen sattsam erreichter Ziele gesellschaftlicher Emanzipationsbewegungen zurückgeführt werden (vgl. Bender 2016). Bei aller Eleganz des Gedankens greift auch diese Beschreibung zu kurz. Auch sie verkennt die Ursachen und die existentielle Wucht der latenten Bedürfnisse.

Seit den Tagen von Eichendorffs Taugenichts