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1. Auflage 2017
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-030187-0
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pdf: ISBN 978-3-17-030188-7
epub: ISBN 978-3-17-030190-0
mobi: ISBN 978-3-17-030191-7
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Der Unterricht im Sekundarbereich I hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert. Es werden zunehmend höhere Anforderungen an die fachlich gute Ausbildung der Jugendlichen gestellt. Die Wirtschaft erwartet dies von einer guten Schule. Aber auch an die Entwicklung der Kompetenzen in den Bereichen der Kommunikation und Interaktion werden hohe Ansprüche gestellt, die nicht mehr alle Jugendlichen in der geforderten Art und Weise erfüllen. Team- und Absprachefähigkeit, soziales Engagement und Einsatzfreude sollten selbstverständlich sein. Doch die ›gefühlte‹ und reale Wirklichkeit wird von den Lehrkräften anders erlebt. Neben den sich ständig verändernden Anforderungen der Lehrpläne und der zunehmenden Heterogenität der Lerngruppen – als Stichworte seien genannt: Inklusion, Migration, digitales Klassenzimmer – wird erwartet, dass die Lehrkräfte sich dem stellen und keinen Schüler auf dem Weg zu selbstständig denkenden und arbeitenden jungen Menschen zurücklassen. Es gibt jedoch zu viele Heranwachsende, die nicht mehr über die geforderten zufriedenstellenden, leistungsbezogenen Voraussetzungen sowie über eine ausreichende emotional-soziale Stabilität verfügen.
Die damit verbundenen Schwierigkeiten – die großen und kleinen Probleme des schulischen Alltags – sind allen Autoren dieses Buches bewusst. Mit ihren grundsätzlichen und speziellen fachlichen Theoriebeiträgen wollen sie dazu beitragen, die Reflexion der Lehrkräfte über den eigenen Unterricht anzuregen. Darüber hinaus darf auch über die Schulentwicklung bis hin zu grundsätzlichen Veränderungen im Schulwesen unseres Landes nachgedacht werden.
Vor allem aber die sehr praktischen Beispiele des zweiten Teils dieses Buches mögen dazu dienen, die tägliche, schwierige pädagogische Alltagarbeit auch in komplizierten, konfliktbeladenen Situationen zu erleichtern.
Obwohl in der Schule mehrheitlich weibliche Lehrkräfte engagiert und kompetent ihre Schülerinnen und Schüler unterrichten und fördern, wurde im Text der besseren Lesbarkeit wegen bei der Beschreibung von Personen in der Regel die männliche Form verwendet.
Wir danken an dieser Stelle allen Autoren und Autorinnen dieses Buches für ihre wertvollen Beiträge. Es war viel Arbeit und Mühe, die wir jedem einzelnen von ihnen zugemutet haben. Doch es hat sich gelohnt, denn die Beiträge spiegeln auch einen großen Teil des beruflichen Lebenswerkes von Frau Prof. Dr. Kerstin Popp wider. Sie hat sich wie kaum eine andere in den letzten 25 Jahren für die Weiterentwicklung der Forschung und Lehre der Pädagogik im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung, nicht nur in Sachsen, verdient gemacht. Wegbegleiter, Fachkollegen wie ehemalige Studierende, Mitarbeiter und Freunde wollen sich mit diesem Buch dafür bei ihr bedanken.
Andreas Methner, Kerstin Popp, Barbara Seebach
Leipzig, im Februar 2016
Der Friederich, der Friederich,
das war ein arger Wüterich!
Er fing die Fliegen in dem Haus
und riß ihnen die Flügel aus.
Er schlug die Stühl’ und Vögel tot,
die Katzen litten große Not.
Und höre nur, wie bös er war:
Er peitschte, ach, sein Gretchen gar!
(Hoffmann, 1988, S. 2)
Dieses Zitat aus einem sehr alten Kinderbuch, dem »Struwwelpeter« von Heinrich Hoffmann belegt, dass das Problem von Verhaltensproblemen bei Kindern und Jugendlichen nicht neu ist. Dies vereinfacht uns die konkrete Situation nicht. Zu hoffen ist auch, dass wir seit Heinrich Hoffmann bessere Möglichkeiten des Umgangs mit diesen Problemen haben. Worum geht es uns heute?
Eine gut fundierte Erhebung zur Prävalenz von Verhaltensproblematiken aus neuerer Zeit ist die KiGGS-Studie. Seit dem Sommer 2014 liegen die Ergebnisse der ersten Welle nach der Basiserhebung vor. In der Ergebnisauswertung wird festgestellt:
»In den letzten Jahrzehnten vollzog sich […] ein Wandel im Gesundheits- und Krankheitsspektrum von Kindern und Jugendlichen, der unter anderem mit einer Zunahme psychischer Auffälligkeiten […] und einer Verschiebung von akuten zu chronischen Erkrankungen einherging« (Ellert, Brettschneider & Ravens-Sieberer, 2014, S. 798).
Bezogen auf die KiGGS-Studien bemerken Petermann und Koglin (2015, S. 5):
»Es zeigte sich, dass bei 7,6% der Kinder aggressives Verhalten auftrat, wobei sich Jungen und Mädchen kaum unterscheiden (7,9 und 7,2%). Es liegen auch keine bedeutsamen Unterschiede in verschiedenen Altersgruppen vor. In der Gruppe der Sieben- bis Zehnjährigen konnten 7,9% der Kinder mit aggressiven Verhalten bestimmt werden, in der Gruppe der Elf- bis 13jährigen sind es 7,5% und in der Gruppe der 14- bis 17jährigen sind es 7,4%«.
In einer durchschnittlichen Klasse mit 22 Schülern ist bei dieser zahlenmäßigen Größenordnung davon auszugehen, dass mindestens zwei von ihnen Auffälligkeiten im sozialen Handeln zeigen. Während die Prävalenz von ADHS relativ konstant bei 5% liegt (Vgl. Schlack et al., 2014), steigen die psychischen Auffälligkeiten rapide an und werden derzeit bei 20% aller Kinder und Jugendlichen vermutet (vgl. Hölling et al., 2014, S. 818). Im Hinblick auf die große Verbreitung von Verhaltensauffälligkeiten in allen Schulformen ist der Forderung von Roland Stein zuzustimmen, dass alle Lehrkräfte grundlegende Kompetenzen besitzen müssen, »um psychische Störungen oder deren Entstehung früh zu erkennen und damit grundlegend umgehen müssen« (Stein, 2011, S. 327).
Trotz zahlreicher Kinder und Jugendlichen mit abweichendem Verhalten bleibt umstritten, was man eigentlich unter einer Verhaltensstörung verstehen kann. Noch immer gilt die Definition von Myschker als die am weitesten genutzte:
»Verhaltensstörung ist ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann« (Myschker & Stein, 2014, S. 51).
Myschkers Definitionsansatz weist für den Einstieg in die Thematik zahlreiche Vorteile auf:
• Er zeigt mit dem Wort »Erwartungen« den subjektiven Gehalt der Beurteilung. Jeder Mensch beurteilt aus seiner individuellen Sicht, wann ein Verhalten abweichend ist oder nicht.
• Er verdeutlicht, dass den Handelnden durch seine gezeigten Verhaltensweisen erhebliche Nachteile entstehen. So können beispielsweise Kinder und Jugendliche, die eine gute schulische Anpassung zeigen und gut in den Klassenverband integriert sind, ihre Emotionen besser regulieren, emotionale Situationen erkennen und sich in andere besser hineinversetzen. Dagegen zeigen Heranwachsende, welche schlechter mit ihren Emotionen umgehen können, häufig durch aggressive Verhaltensweisen und Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen auf (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2008, S. 27).
• Er warnt, dass ohne eine spezielle Förderung sich die Thematik nicht erledigt und sich eine Verhaltensstörung manifestiert. Lehrkräfte müssen sich der Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung annehmen, sonst ist die Erfüllung des schulischen Bildungsauftrages für alle Schüler gefährdet, denn neben entsprechenden kognitiven und methodischen Kompetenzen bedarf es eines normadäquaten Sozialverhaltens.
Doch ist der Definitionsansatz nicht kritiklos geblieben, da er einseitig den Begriff der Verhaltensstörung in den Blick nimmt und beispielsweise die Umfeld- oder Risikofaktoren vernachlässigt. Zahleiche weitere Versuche wurden unternommen (vgl. Hillenbrand, 2008) und insbesondere hat sich der Begriff des Förderbedarfs in der emotionalen und sozialen Entwicklung im schulischen Bereich verfestigt (vgl. u. a. KMK-Empfehlungen 1994 und 2000). Die Kommission unterstreicht damit den engen Zusammenhang von emotionalem Erleben und sozialem Handeln. Emotionale Fertigkeiten sind zwingende Voraussetzung für die Entwicklung einer angemessenen sozialen Kompetenz (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2008, S. 23).
Kinder und Jugendliche durchlaufen eine Entwicklung, in der nicht nur körperliche und geistige Veränderungen vor sich gehen. Im Verlauf dieser Entwicklung ist ein Kompetenzzuwachs zu verzeichnen, der auch emotionale und soziale Kompetenzen einschließt. Im Bereich der emotionalen Fähigkeiten beschreibt Saarni (2002) acht Schlüsselfertigkeiten:
1. Die Fähigkeit, sich seiner eigenen Emotionen bewusst zu sein.
2. Die Fähigkeit, die Emotionen anderer wahrzunehmen und zu verstehen.
3. Die Fähigkeit, über Emotionen zu kommunizieren.
4. Die Fähigkeit zur Empathie.
5. Die Fähigkeit zur Trennung von emotionalem Erleben und emotionalem Ausdruck.
6. Die Fähigkeit, mit negativen Emotionen und Stresssituationen umzugehen.
7. Die Fähigkeit, sich der emotionalen Kommunikation in sozialen Beziehungen bewusst zu sein.
8. Die Fähigkeit zur Selbstwirksamkeit, erfordert die Akzeptanz des eigenen emotionalen Erlebens, welche es ermöglicht, in sozialen Interaktionen bei anderen Menschen erwünschte Reaktionen hervorzurufen.
Bei diesen Fähigkeiten handelt es sich um Entwicklungsprodukte der kindlichen Ontogenese, die entsprechend der körperlichen und physischen Voraussetzung, aber auch gemäß der Förderung im sozialen Milieu in unterschiedlichen Art und Weise ausgeprägt werden. Fachvertreter merken an Saarnis Modell kritisch an, das die Herleitung der acht Fertigkeiten nicht auf einem theoretischen Erklärungsmodell beruht, sondern auf ihren empirischen Untersuchungen fußt, die jedoch nicht detailliert erläutert sind (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2008, S. 15). Doch für die schulische Arbeit ist der Ansatz gewinnbringend, denn aus dem Blickwinkel der Förderung muss hervorgehoben werden, dass Fähigkeiten erlernt sowie trainiert und durch die Lehrkraft beobachtet werden können. Doch wäre die Annahme falsch, den Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung alleinig auf schlecht ausgebildete emotionale Fähigkeiten zu reduzieren.
Viele Jugendliche besitzen die Kompetenz, gezielt den wunden Punkt ihrer Mitschüler und Lehrkräfte zu finden und sie damit an den Rand der Verzweiflung zu treiben. Diese Jugendlichen sind damit emotional sehr kompetent, wissen nur nicht, wie sie in sozialen Situationen angemessen handeln, womit der Bereich der sozialen Kompetenz angesprochen ist. Der Begriff der sozialen Kompetenz ist nicht einheitlich definiert. Beck, Cäsar und Leonhardt (2007, S. 13) definieren:
»Soziale Kompetenz ist eine Menge an kognitiven, emotionalen und motorischen Fertigkeiten, die einem Individuum zur Verfügung stehen und in spezifischen Situationen auch umgesetzt werden können, um soziale Aufgabenstellungen alters- und entwicklungsentsprechend angemessen und effektiv zu bewältigen.«
Die Autoren stellen die Handlungssicherheit mit dem Begriff der »Fertigkeit« heraus, jedoch bedeutet diese Sicherheit noch nicht die Anwendung. Für eine Anwendung muss das Individuum (subjektiv) Sinn in seinem Handeln sehen (vgl. Mutzeck, 2000, S. 65). Dieser Aspekt wird durch Hinsch und Pfingsten (2002) mit dem Begriff der »Konsequenz« des Handelns mehr betont. Sie schlagen folgende Definition vor:
Die »Verfügbarkeit und Anwendung von Verhaltenswissen, die in bestimmten sozialen Situationen zu einem langfristigen günstigen Verhältnis von positiven und negativen Konsequenzen für den Handelnden führen« (Hinsch & Pfingsten, 2002, S. 5).
Nach Schlee (2002, S. 45) bilden Menschen gedankliche Konstruktionen, mit deren Hilfe sie Sinn- und Handlungsorientierung gewinnen. Im Sinne der genannten Definition ist die »Verfügbarkeit […] von Verhaltenswissen« die gedankliche Konstruktion eines jeden Menschen. Der Mensch als aktives Wesen orientiert sich in seinem Handeln an Sinn und Bedeutung (vgl. Schlee, 2007, S. 179), folglich sind Handlungen geplant und zielgerichtet (vgl. Mutzeck, 2008, S. 58). Demnach wird der Handlungsbewertung (vgl. in der Definition von Hinsch und Pfingsten unter Begriff Konsequenz) große Bedeutung geschenkt (vgl. Mutzeck, 2008, S. 61). Die Anwendung dieses Verhaltenswissens steht in Verbindung mit der subjektiven Handlungsbewertung. Die Handlungssicherheit (Fähigkeit) und die subjektive Handlungsbewertung (Konsequenz) sind somit zwei elementare Bestandteile sozialer Kompetenz und sind für jegliche Interaktion wesentlich. Damit sind sie nicht fachlich gebunden, sondern können (im schulischen Kontext) als überfachliche Kompetenz bezeichnet werden. Um sozial kompetentes Verhalten herauszubilden, ist es notwendig,
• soziale Situationen differenziert wahrnehmen zu können,
• diese differenziert bewerten (interpretieren) zu können,
• ein ausreichendes Handlungsspektrum zu haben
• und dies real umzusetzen.
In der Einführung zur Toolbox in diesem Buch werden weitere grundlegende Bedingungen für die Entstehungen von Handlungen aufgezeigt.
Ein weiterer Definitionsversuch stammt aus der Feder von Opp. Er verwendet den Begriff der Gefühls- und Verhaltensstörung:
»Der Begriff Gefühls- und Verhaltensstörungen beschreibt eine Beeinträchtigung (disability), die in der Schule als emotionale Reaktionen und Verhalten wahrgenommen werden und sich von altersangemessenen, kulturellen und ethnischen Normen so weit unterscheiden, dass sie auf die Erziehungserfolge des Kindes und Jugendlichen negativen Einfluss haben« (Opp, 2003, S. 509 f.).
Auch in der KiGGS-Studie wird dieser Begriff verwendet.
»Nationale und internationale bevölkerungsrepräsentative Studien weisen Häufigkeiten von 9–22% von Kindern und Jugendlichen mit Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens auf« (Hölling et al., 2014, S. 807).
Hier rückt der Normbegriff in den Blickwinkel des Interesses, der von Peter Jogschies im vorliegenden Band eingehender diskutiert wird. Michael Fingerle setzt sich vertieft mit den zwei psychologischen Konstrukten: Selbstregulation (zu der unter anderem die Emotionsregulation zu zählen ist) und soziale Kompetenzen auseinander.
Nach den bisherigen Ausführungen wird verständlich, dass es nicht möglich sein wird, »Verhaltensstörung«, »Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung«, wie auch andere Begriffe für diese »uralte Erfahrung in der Erziehung« (Möckel 2007, S. 14) allgemeingültig und exakt zu definieren. Das Verhalten eines Schülers wird von gesellschaftlichen, institutionellen und persönlichen Normen und Wertevorstellungen bestimmt, aber auch beurteilt. Dabei wird immer wieder auf den subjektiven Anteil bei der Bewertung von Verhalten aufmerksam gemacht (vgl. Schlee, 1993). Die Art der Wahrnehmung wird auch von subjektiven Vorstellungen geprägt:
»Der Begriff Verhaltensstörung könnte immer dann Verwendung finden, wenn es dem Beobachter nicht gelingt, für eine bestimmte Verhaltensweise einen Sinn zu konstruieren, die dieses konkrete Verhalten für ihn in diesem konkreten Kontext plausibel erscheinen lässt. Oder einfacher formuliert: Er findet das Verhalten ›unsinnig‹, er kann eine mögliche Funktionalität dieses Verhaltens im gegebenen Kontext nicht entdecken« (Werning, 2002, S. 237).
Nur in der Interaktion mit anderen Menschen kommt Verhalten zum Tragen und in der subjektiven Wahrnehmung des Interaktionspartners wird Verhalten als gestört erlebt. Durch diese individuell wertende Wahrnehmung werden alle Bezeichnungen für Verhaltensstörung zum relationalen Begriff. Menschen begegnen sich nicht voraussetzungsfrei, sondern haben stets ein Bild von ihrem Interaktionspartner. Im Umgang mit Schülern mit abweichendem Verhalten hat sich ein humanistisches Menschenbild mit besonderer Betonung des Menschen als reflexives Subjekt bewährt, wie es auch allen Artikeln in diesem Band zugrundeliegt. Hinter Handlungen – und mögen sie noch so abweichend erscheinen – ein subjektiv sinnvolles Verhalten zu sehen, begründet einen verstehenden Zugang und stellt eine grundlegende Kompetenz in der schulischen Erziehungshilfe dar. Wie Birgit Herz verdeutlicht, gibt es bei einer solchen Haltung nicht immer eine schnelle Konfliktlösung und Lehrkräfte müssen lernen, dass »das Aushalten von Nicht-Verstehen das Bemühen um ein Verstehen nicht verhindern« darf (Herz, 2013, S. 54).
Die Konkretisierung des Problems ist die eine Seite, die andere der Umgang mit diesem. Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es, nicht neue Akzente in der Populationsbestimmung zu setzen, sondern den Umgang mit dieser herausfordernden Schülergruppe zu optimieren. Dafür werden im ersten Teil des vorliegenden Werkes grundlegende theoretische Lehrkompetenzen im Umgang mit abweichendem Verhalten aufgezeigt. Nach Puhr (2003, S. 81) brauchen Professionelle
»Enthusiasmus, Optimismus, die Überzeugung in die Wichtigkeit ihrer Arbeit und den Glauben an die Entwicklungspotenziale der Kinder und Jugendliche, mit denen sie zusammen sind. Sie brauchen gleichzeitig aber auch Ausdauer und eine hohe Frustrationstoleranz, um die Widerstände gegen die Welt, welche die Kinder und Jugendlichen an ihnen erproben, immer wieder aufs Neue auszuhalten. Und sie brauchen umfangreiches theoretisches Wissen im Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen, sowie vielfältige Unterstützung, um diese herausfordernde Arbeit leisten zu können, ohne auszubrennen.«
Allein durch Sanktionen und Intervention wird man der Herausforderung von abweichendem Verhalten im Klassenraum nicht Herr, sondern die Mehrheit der Störung kann im Vorfeld durch einen präventiven Ansatz begegnet werden. Die Beiträge von Tatjana Leidig und Thomas Hennemann sowie von Yvonne Blumenthal, Bodo Hartke und Robert Vrban ebnen den Weg für eine präventive Arbeit im Unterricht.
Doch ist jegliche präventive Arbeit vom Scheitern bedroht, wenn nicht eine Veränderung des Unterrichts vollzogen wird. Überlegungen zum Umgang mit schwierigen Schülerinnen und Schülern insbesondere in der Sekundarstufe I suchen daher immer mehr nach neuen, alternativen Überlegungen der Unterrichtung. Die Beiträge von Manfred Wittrock und Heinrich Ricking sowie von Ines Budnik sind hierfür nur zwei Beispiele.
Um pädagogische Entscheidung auf die entsprechende Schülergruppe abzustimmen und Verhaltens- und Leistungsschwierigkeiten genauer zu erfassen, bedarf es einer Diagnostik. In den Artikeln von Ingrid Hesse und Birgit Latzko sowie von Blanka Hartmann wird diese grundlegende Kompetenz thematisiert und werden Möglichkeiten zur Umsetzung aufgezeigt.
In vielen Veröffentlichungen wird verdeutlicht, dass gerade eine Intervention, die an den Ursachen ansetzt, schwierig und immer vielfältiger sein muss. Rabold und Baier verwiesen auf die Notwendigkeit der Kenntnis der Bedingungsfaktoren, um delinquentes Verhalten zu verhindern. Sie vermerken dazu weiter:
»Neben einer Reihe von empirisch bereits gut abgesicherten Erkenntnissen wird der Blick in letzter Zeit dabei zusätzlich auf Faktoren gerichtet, die sich aus den veränderten Rahmenbedingungen des Aufwachsens ergeben und die für die Erklärung delinquenten Verhaltens relevant sein können. So wird sich einerseits der ethnischen Vielfalt der heute aufwachsenden Jugendgeneration und deren Auswirkung auf das Zustandekommen interethnischer Konflikte gewidmet (vgl. Babka von Gostomski 2003), andererseits auch der zunehmenden sozialen Desintegration, die in einer höheren Armutsquote und gestiegener Jugendarbeitslosigkeit ihren Ausdruck findet (vgl. Heitmeyer et al. 1996). Nicht zuletzt lässt die Medialisierung des Jugendalltags die keinesfalls sehr neue Frage nach den Auswirkungen von Fernseh- und Computerspielkonsum auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen aktueller denn je erscheinen« (Rabold & Baier, 2007, S. 9 f.).
Wie auch im nachfolgenden Abschnitt zu den Erscheinungsformen ersichtlich werden wird, spielen soziale Faktoren eine zunehmende Rolle.
Mit dieser theoretischen Fundierung im Gepäck werden im zweiten Abschnitt diverse Erscheinungsformen aufgezeigt.
Beck, N., Cäsar, S. & leonhardt, B. (2007). Training sozialer Fertigkeiten mit Kindern im Alter von 8 bis 12 Jahren. TSF (8–12). Tübingen: DGVT.
Ellert, U., Brettschneider, A.-K. & Ravens-Sieberer, U. (2014). Gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse der KiGGS-Studie – Erste Folgebefragung (KiGGS Welle 1). Bundesgesundheitsblatt, 57, 798–806.
Herz, B. (2013). Einführung in die schulische und außerschulische Erziehungshilfe. In B. Herz (Hrsg.), Schulische und außerschulische Erziehungshilfe. Ein Werkbuch zu Arbeitsfeldern und Lösungsansätzen (S. 9–52). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Hinsch, R. & Pfingsten, U. (2007). Gruppentraining sozialer Kompetenz GSK. 4., völlig neu bearb. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz/PVU.
Hölling, H., Schlack, R., Petermann, F., Ravens-Sieberer, U. & Mauz, E. (2014). Psychische Auffälligkeiten und psychosoziale Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren in Deutschland – Prävalenz und zeitliche Trends zu 2 Erhebungszeitpunkten (2003–2006 und 2009–2012). Ergebnisse der KiGGS-Studie – Erste Folgebefragung (KiGGS Welle 1). Bundesgesundheitsblatt, 57, 807–819.
Hoffmann, H. (1988). Der Struwwelpeter. 3. Aufl. Berlin: Altberliner Verlag.
KMK (Kultusministerkonferenz) (1994). Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1994/1994_05_06-Empfehl-Sonderpaedagogische-Foerderung.pdf.
KMK (Kultusministerkonferenz) (2000). Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2000/2000_03_10-FS-Emotionale-soziale-Entw.pdf.
Möckel, A. (2007). Geschichte der Heilpädagogik. 2., völlig überarb. Neuaufl. Stuttgart: Klett-Cotta.
Mutzeck, W. (2000). Verhaltensgestörtenpädagogik und Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Mutzeck, W. (2008). Kooperative Beratung. Grundlagen, Methoden, Training, Effektivität. 6. überarb. u. erw. Aufl. Weinheim: Beltz.
Myschker, N. & Stein, R. (2014). Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Kohlhammer.
Opp, G. (2003). Symptomatik, Ätiologie und Diagnostik bei Gefühls- und Verhaltensstörungen. In A. Leonhardt & F. Wember (Hrsg.), Grundfragen der Sonderpädagogik. Bildung – Erziehung – Behinderung (S. 504–517). Weinheim, Basel, Berlin: Beltz.
Petermann, F. & Koglin, U. (2015). Aggression und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden: Springer.
Petermann, F., Natzke, H., Gerken, N. & Walter, H.-J. (2006). Verhaltenstraining für Schulanfänger. Ein Programm zur Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen. Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F. & Wiedebusch, S. (2008). Emotionale Kompetenz bei Kindern. 2., überarb. u. erw. Aufl. Göttingen: Hogrefe.
Puhr, K. (2003). Schule zur Erziehungshilfe als lernende Organisation. In G. Opp (Hrsg.), Arbeitsbuch schulische Erziehungshilfe (S. 65–108). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Rabold, S. & Baier, D. (2007). Delinquentes Verhalten von Jugendlichen. Zur differentiellen Bedeutsamkeit verschiedener Bedingungsfaktoren. Kriminalsoziologie + Rechtssoziologie, 2, 9–42.
Saarni, C. (2002). Die Entwicklung von emotionaler Kompetenz in Beziehungen. In M. Salisch (Hrsg.), Emotionale Kompetenz entwickeln. Grundlagen in Kindheit und Jugend (S. 3–30). Stuttgart: Kohlhammer.
Schlack, R., Mauz, E., Hebebrand, J. & Hölling, H. (2014). Hat die Häufigkeit elternberichteter Diagnosen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in Deutschland zwischen 2003–2006 und 2009–2012 zugenommen? Ergebnisse der KiGGS-Studie – Erste Folgebefragung (KiGGS Welle 1). Bundesgesundheitsblatt, 57, 820–829.
Schlee, J. (1993). Zur Problematik der Terminologie in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen. In H. Goetze & H. Neukäter (Hrsg.), Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 6 (S. 36–49). 2. Aufl. Berlin: Marhold.
Schlee, J. (2002). Veränderungswirksamkeit unter ethischer Persepktive – Zur Umstrukturierung Subjektiver Theorien in Familien- und Organisationsaufstellungen nach Bert Hellinger. In W. Mutzeck, J. Schlee & D. Wahl (Hrsg.), Psychologie der Veränderung. Subjektive Theorien als Zentrum nachhaltiger Modifikationsprozesse (S. 39–52). Weinheim, Basel: Beltz.
Schlee, J. (2007). Fördern als planvolle Veränderung Subjektiver Theorien, in: W. Mutzeck (Hrsg.), Förderplanung. Grundlagen, Methoden, Alternativen (S. 178–198). 3., überarb. u. erw. Aufl. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz.
Stein, R. (2011). Pädagogik bei Verhaltensstörung – zwischen Inklusion und Intensivangeboten. Zeitschrift für Heilpädagogik, 62, 9, 324–336.
Werning, R. (2002). Sonderpädagogik. Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung. Wien: Oldenburg.
Auf dem Gebiet dessen, was man früher Verhaltensgestörtenpädagogik nannte und das nun fast überall in der Bundesrepublik als Förderpädagogik (bzw. Förderschwerpunkt) im Bereich sozial-emotionale Entwicklung bezeichnet wird, stehen zwei psychologische Konstrukte an zentraler Stelle: Selbstregulation (zu der unter anderem die Emotionsregulation zu zählen ist) und soziale Kompetenzen. Beide erleben gerade eine Blüte in der psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung, bei beiden nimmt die Anzahl der einschlägigen Publikationen von Jahr zu Jahr zu, darunter auch selbstregulationsbezogene Arbeiten mit einem direkten Bezug zu schulischen Verhaltensproblemen (z. B. Blair & Diamond, 2008; Barkley, 1997). Im Folgenden soll zunächst diskutiert werden, wie diese Konstrukte definiert werden, bevor auf Risikofaktoren und offene Fragen der Prävention eingegangen werden wird. Dieser Exkurs ist nötig, da zwischen den fraglichen Konstrukten einerseits begriffliche Überschneidungen existieren und sie sich andererseits wechselseitig beeinflussen. Gleichzeitig existiert ein ihnen allen gemeinsames Bestimmungselement: die sogenannte Adaptivität.
An dieser Stelle dürfte es nötig sein, kurz auf den Kompetenzbegriff einzugehen, auf den im Folgenden immer wieder zurückgegriffen werden muss. Im Allgemeinen werden darunter all jene Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden, die einen Menschen dazu in die Lage versetzen, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten. Der Kompetenzbegriff ist – nota bene – schillernd und vor allem in den Erziehungswissenschaften Gegenstand eingehender Diskussionen (z. B. Treptow, 2013). In der Psychologie und der empirischen Bildungsforschung hat eine Begriffsfassung weite Verbreitung gefunden, die von Weinert (2001a; 2001b) zusammengefasst wurde als
»die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert, 2001a, S. 27 f.).
An dieser Definition ist unter anderem hervorzuheben, dass sie Kompetenzen sowohl kognitive als auch affektive Komponenten zuschreibt. Außerdem beziehen sich Kompetenzen in diesem Sinne auf bestimmte Situationskategorien, sind jedoch gleichzeitig in gewissen Grenzen verallgemeinerbar (Klieme, 2004).
Auch die Selbstregulation wäre, im erziehungswissenschaftlichen Sinne, zu den Kompetenzen zu rechnen. Selbstregulation ist kein völlig neues Forschungsgebiet, doch das aktuell zu verzeichnende, verstärkte Interesse gründet sich auf den Nachweis von Zusammenhängen zwischen frühkindlicher Entwicklung und den Entwicklungsleistungen in späteren Lebensabschnitten (z. B. Ponitz et al., 2009; Rothbart, Ellis & Posner, 2004; Posner & Rothbart, 2000). Der verhältnismäßig neue Fokus auf die Selbstregulation hat nicht zuletzt mit aktuellen Ergebnissen einer Forschergruppe um Moffit zu tun, die mit der Durchführung und Auswertung der neuseeländischen Dunedin-Studie befasst ist, einer Längsschnittstudie, in der ein relativ großes Sample von etwa 1.000 Personen seit ihrer Geburt untersucht wird, und die nunmehr auf Daten aus 38 Lebensjahren zurückgreifen kann. In einer neueren Publikation (Moffit, Poulton & Caspi, 2013) konnten die Autoren zeigen, dass ein von ihnen auf Basis ihrer Daten konstruiertes Maß der Selbstkontrolle die einzige Variable war, die über einen Zeitraum von 38 Jahren in einem gewissen Umfang Entwicklungserfolge (Gesundheit, sozio-ökonomischer Status, Substanzmissbrauch, Delinquenz, finanzielle Probleme) vorhersagen konnte, selbst nach Kontrolle der Intelligenz und des sozialen Herkunftsmilieus. Unabhängig von den radikalen – und sehr fragwürdigen – sozialpolitischen Schlussfolgerungen, welche die Autoren aus ihren Ergebnissen ableiten, belegen ihre Zahlen tatsächlich, dass es sich bei diesem Selbstregulationsmaß um ein sehr grundlegendes Merkmal handelt, das – je nach Ausprägung – entweder ein ernstzunehmendes Entwicklungsrisiko oder eine wichtige Ressource darstellt. Ihr Maß der Selbstregulation stellt ein Fähigkeitsbündel dar, das sich auf Bereiche der Impulskontrolle, des Belohnungsaufschubs, der emotionalen Stabilität, der Planung und Aufmerksamkeit konzentriert und sich an analogen Temperamentstypen bzw. frühen Kompetenzen von Säuglingen und Kleinkindern orientiert und den Bereich des Sozialverhaltens eher indirekt abbildet. In diesem Sinne ist Selbstregulation das Resultat des Zusammenspiels einiger grundlegender Hirnfunktionen, nämlich der exekutiven Kontrolle, des Arbeitsgedächtnisses, der lateralen Inhibition und der mentalen Flexibilität (Blair & Diamond, 2008) Diese auf neurobiologische Funktionen reduzierte Definition der Selbstregulation stellt keineswegs einen allgemeinen Konsens dar. Folgt man etwa einer stärker psychologischen Definition von Selbstregulation (Baumeister & Vohs, 2007; Baumeister et al., 2006), so stellt sie sich folgendermaßen dar:
»Selbstregulation ist die Fähigkeit des Selbst, sein Verhalten zu ändern. Sie vergrößert die Flexibilität und Adaptivität menschlichen Verhaltens und befähigt Menschen dazu, ihr Handeln an ein bemerkenswert breites Spektrum sozialer und situativer Anforderungen anzupassen« (Baumeister & Vohs, 2007, S. 115, Übersetzung durch den Autor).
Da sich der Begriff »Verhalten« hier auf ein weitgefasstes Spektrum von Verhaltensweisen bezieht (das ergibt sich aus dem »breiten Spektrum situativer und sozialer Anforderungen«), darf zunächst einmal angezweifelt werden, ob es wirklich sinnvoll ist, von Selbstregulation als einer singulären, eindimensionalen Fähigkeit zu sprechen, wie dies Moffit, Poulton und Caspi tun. Offenbar sind in der Selbstregulation mehrere regulative Teilkompetenzen enthalten (das gilt auch für den neurobiologischen Ansatz von Blair und Diamond). Hierzu zählen, folgt man der Definition, ebenso das Selbstkonzept (und die zugehörigen Regulationsstrategien) wie auch die sozialen Kompetenzen. Außerdem steht im Zentrum der Definition die Anpassung des Handelns an äußere Anforderungen, die in der Literatur meist als Adaptivität bezeichnet wird (Hertel, Fingerle & Rohlfs, 2016). Insofern ist die oben genannte Definition eigentlich redundant. Sie enthält auch implizit die Annahme, dass eine solche Anpassung in irgendeiner Weise erfolgreich sein muss, ohne jedoch entsprechende Erfolgskriterien offenzulegen.
Soziale Kompetenzen werden in der Literatur in ähnlicher Weise definiert wie die Selbstregulation, wobei jedoch in der Regel die soziale Natur der Situationskomponente stärker akzentuiert wird. Eine auf einem kritischen Review der zurzeit vorliegenden Definitionen beruhende Begriffsfassung stammt von Kanning (2009). Er definiert sozial kompetentes Verhalten als das
»Verhalten einer Person, das in einer spezifischen [sozialen] Situation dazu beiträgt, die eigenen Ziele zu verwirklichen, wobei gleichzeitig die soziale Akzeptanz des Verhaltens gewahrt bleibt« (Kanning, 2009, S. 15).
Soziale Kompetenzen sind dann all jene Fähigkeiten und Wissensbestände, die einen Menschen zu einem solchen Verhalten befähigen. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf einer adaptiven, situationsadäquaten Verhaltenssteuerung, die eine Passung zwischen inneren und äußeren Anforderungen herstellt. Außerdem stellt Kanning im Weiteren klar, dass eine solche Steuerung des Sozialverhaltens die Verfügbarkeit kognitiver und emotionaler Verhaltensweisen – d. h. auch emotionaler Kompetenzen – beinhaltet (siehe auch Jerusalem & Klein-Heßling, 2002; Pfingsten & Hinsch, 2002). Auf diese Weise entsteht ein Überschneidungsbereich zwischen sozialen und emotionalen Kompetenzen, denn eine der bekanntesten Definitionen emotionaler Kompetenzen (Saarni, 1999) betont die Anwendung emotionaler Fertigkeiten in sozialen Interaktionen, vor allem hinsichtlich des Wissens um die Wirkung des eigenen Emotionsausdrucks auf andere Personen, die strategische Steuerung des eigenen Verhaltens, aber auch die Fähigkeit, mit negativen Emotionen und Stress umzugehen. Zumindest die letztgenannte Schlüsselkompetenz stellt wiederum ein zentrales Element der sogenannten Emotionsregulation dar (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2008; Meerum, Terwogt & Stegge, 2001), die ebenfalls zum Bereich der Selbstregulation gezählt wird, womit sich der Kreis schließt. Unter den Begriff Emotionsregulation subsumiert man kognitive und Verhaltensstrategien, mit denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene Emotionen initiieren, hemmen oder aufrechterhalten, um soziale Beziehungen und das eigene Verhalten zu regulieren (Kullik & Petermann, 2012, S. 24). Natürlich dient auch die Emotionsregulation der Herstellung einer adaptiven Passung zwischen Individuum und Umwelt (Fingerle, Röder & Müller, im Druck).
Bei der sozial-emotionalen Entwicklung geht es also um die Entwicklung eines ganzen Bündels miteinander verwobener Einzelkompetenzen, die im konkreten Verhalten aufeinander abgestimmt werden müssen, um zu einem adaptiven Ergebnis zu führen. Die Komplexität dieser von Kindern und Jugendlichen zu erbringenden Leistungen wird noch durch den Umstand erhöht, dass nicht nur äußere, sondern auch innere Anforderungen berücksichtigt werden müssen. Das in die Selbstregulation (und damit auch in das soziale Verhalten) involvierte Selbstkonzept eines Menschen wird zumeist als die Gesamtheit all dessen aufgefasst, das ein Mensch über seine Eigenschaften und Fähigkeiten weiß und denkt, sowohl hinsichtlich seiner eigenen Wahrnehmung als auch der Einschätzung seiner Person durch andere Personen (Müller, Schmidt & Conzelmann, 2012; Filipp & Mayer, 2005; Shavelson, Hubner & Stanton, 1976). Damit ist das Selbstkonzept (manchmal auch als Selbstschema oder Selbsttheorie bezeichnet) nicht nur für die Planung des sozialen Verhaltens relevant, es stellt auch einen Filter für alle Versuche dar, dieses Verhalten von außen zu verändern. Das Selbstkonzept ist zudem durch spezifische Motive bzw. Prinzipien geprägt, für deren Realisierung und Einhaltung wiederum spezielle Strategien der Verarbeitung selbstbezogener Informationen zur Verfügung stehen (in diesem Zusammenhang wird in der Literatur tatsächlich nie von Kompetenzen, sondern nur von Strategien oder Verarbeitungsprozessen gesprochen, obwohl es vielleicht angemessen wäre, auch hier mit dem Kompetenzbegriff zu operieren). Von den angesprochenen selbstbezogenen Zielgrößen/Motiven sind zuoberst das sogenannte Prinzip der Selbstkonsistenz und das Motiv der Selbstwerterhöhung zu nennen (in der Literatur werden auch Varianten diskutiert, etwa im Zusammenhang mit der schulischen Leistungsentwicklung, z. B. Dweck & Molden, 2005; Calsyn & Kenny, 1977). In jüngerer Zeit wurde versucht, die seit Jahrzehnten vorliegende, teilweise widersprüchliche empirische Befundlage in eine kohärente Theorie zu integrieren, der sogenannten Selbstbestätigungstheorie (Sherman & Cohen, 2006), die davon ausgeht, dass Menschen bestrebt sind, ihr Selbstbild und den Wert ihrer Person auch gegen Widerstände aufrechtzuerhalten. Hierzu wird beispielsweise die Gültigkeit von Informationen, die eine Neubewertung oder Änderung des Selbstbildes nahelegen würden, in Frage gestellt, während zum Selbstbild passende Informationen bevorzugt werden. Tatsächlich sind diese Prozesse jedoch flexibler und variantenreicher, als es zunächst den Anschein hat, und es lassen sich auch Bedingungen nachweisen, unter denen dem Selbstbild widersprechende Informationen sehr wohl akzeptiert werden (z. B. Jacks & O’Brien, 2004; Cohen, Aronson & Steel, 2000). Eine eingehendere Darstellung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, doch es soll zumindest festgehalten werden, dass das Selbstkonzept und seine Hauptkomponenten (das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeitsüberzeugung) beispielsweise von großem Gewicht bei der Findung jener Kompromisse zwischen Dominanz und sozialer Akzeptanz sind, welche soziale Kompetenzen charakterisieren.
Offensichtlich handelt es sich also im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung um ein wechselseitig abhängiges Kompetenzgeflecht. So ist die Hemmung von Wutgefühlen eine Aufgabe der Emotionsregulation bzw. der emotionalen Kompetenzen, aber ebenso eine spezielle soziale Kompetenz. Die Aufrechterhaltung eines hoch positiven Selbstwertgefühls kann unangenehme soziale Erfahrungen abpuffern, aber auch dazu führen, dass man das Selbstwertgefühl aggressiv verteidigen muss (z. B. Baumeister, Smart & Boden, 1996). Ein niedriges Selbstwertgefühl kann zu sozialem Rückzug führen und erfordert neben spezifischen Selbstregulationsstrategien auch geeignete Emotionsregulationsstrategien zur Verbesserung der Stimmungslage und so weiter. All diese Regulationsprozesse geschehen zudem nicht im leeren Raum, sondern in der sozialen Welt.
Dies hat durchaus pädagogische Konsequenzen, denn zum einen kann man nicht in jedem Falle unterstellen, dass ein inakzeptables Verhalten auf Kompetenzdefizite zurückgeht, da situative Angemessenheitskriterien zu berücksichtigen sind, zum anderen ist die Aufgabe, mehrere, eventuell sich widersprechende interne und externe Standards in eine Balance zu bringen, nicht immer ohne Weiteres lösbar.