Und vergiss nicht: Es ist bloß Geschreibsel.

1.
Am Stiefelabsatz. In Santa Maria di LEUCA.

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Beginnen wir bei ganz einfachen Dingen. Zum Beispiel beim Blau des Meeres. An diesem Morgen nach einem langen Nachtschlag herüber vom griechischen Korfu bis hierher sind wir unterwegs in Santa Maria di Leuca, ganz am Ende des Stiefelabsatzes, auf dem menschenleeren Lungomare, dem Spazierweg entlang des Meeres. Es ist Herbst. Ganz links: das Meer. Und während ich jetzt hinausschaue, kann ich nicht anders als festzustellen: Dies eigentümliche Glitzern auf dem Meer, das gibt es so doch nur an einem Ort. Das kann eigentlich nur Italien sein.

Natürlich stimmt das nicht, denn Meeresglitzern ist überall gleich, egal ob Ägäis oder Atlantik, ob Poros oder Puerto Rico. Meer ist schließlich Meer und Glitzern ist Glitzern. Und doch … Hätte mir jemand an diesem späten Oktobermorgen nach der langen Überfahrt eine Augenbinde abgenommen und mir das obige Foto gezeigt, ich hätte ganz sicher auf Italien getippt.

Am Strand, im Wasser unter dem Lungomare tummelt sich nur eine Handvoll Unentwegter, nicht mehr, obwohl es doch in dieser Jahreszeit am schönsten ist, am Meer zu sein. Die Lufttemperatur ist bei 21 Grad, das Meer bei 23 Grad, es ist also drinnen im Wasser wärmer als draußen, das konnten wir am frühen Morgen deutlich spüren, als wir uns noch vor dem Einlaufen in den Hafen draußen auf dem Meer ins Wasser stürzten. Und doch ist Santa Maria die Leuca herrlich verwaist an diesem Morgen. Im Supermarkt erklärt man uns, dass man heute für ein halbes Jahr schließen würde. Die leeren Regale werden gescheuert, kaum dass es dort noch etwas zu kaufen gibt. Santa Maria lebt im und lebt vom Sommer wie die meisten Orte am Meer, das ist das eine.

Das andere: dass dieser Ort offensichtlich eine lange Tradition als Sommerfrische, als Ferienort hat. Denn auf der anderen Seite des Lungomare reihen sich Ferienvillen und Sommerresidenzen der anderen Art aneinander. In irgendeiner Phase seiner langen Existenz scheint eine merkwürdige Bauwut in Santa Maria geherrscht zu haben. Nein, nicht der Stil des italienischen Futurismo, den ich so sehr liebe, die modernistische italienische Spielart des Bauhauses, sondern hier in Santa Maria di Leuca ist es ein architektonischer Stil-Mischmasch, ein wildes Deklamieren und Zitieren von Baustilen aller Epochen und aller Länder. Als da wären:

 

Ein klein wenig orientalisch-muselmanisch unter duftenden Kiefern.

Ein klein wenig maurisch.

Ein klein wenig US-amerikanisches White House, ohne Oval Office.

 

Und dann …

Ein klein wenig von allem mit rosa Streifen drauf und getoppt von einem Leuchtturm, den der heutige Besitzer des Nachts von innen mit einer roten Laterne erhellt. Ein rotes Licht, das in die heranbrechende Nacht über Santa Maria di Leuca leuchtet und mich an die alte Warnung an die Seefahrenden denken lässt, auf dem Meer und vor allem in Hafenvierteln wachsam zu sein:

 

„Nicht immer hält das rote Licht,

was es dem Fahrensmann verspricht.“

 

Dazu noch die prächtigen Ochsenaugen im linken und rechten Flügel, mit bemerkenswert schön gearbeiteten Fensterläden behängt.

 

Und weiter findet man:

Ein klein wenig Neugotik.

Ein klein wenig Neuromantik.

Ein klein wenig Neurenaissance.

 

Alles sieht so aus, als hätte zwischen Gründerzeit und Erstem Weltkrieg irgendetwas, der Himmel weiß was, die wohlhabenden Sommerfrischler aus dem nördlicher gelegenen Lecce dazu verführt, genau hier ihrer Lust am Märchenhaften zu frönen und sich in einzigartigen Villenbauten auszutoben. Ein Disneyland der Baustile, das sich fröhlich dem Betrachter darbietet. Santa Maria di Leuca, von dem die Legende erzählt, dass hier der Ort war, an dem früher Sirenen von den Klippen herunter die Seefahrer in die Irre gesungen hätten, verwirrt die Sinne heutiger Reisender mit einem herrlich bunten Allerlei alter Sommerresidenzen, von denen die meisten nur darauf warten, aus ihrem Halbschlaf wachgeküsst zu werden. In den leeren Gärten und kleinen verfallenden Parks vor den Gebäuden niemand. Niemand – außer einem humpelnden alten Gärtner – der vor dem White House dürre Planzen begießt. „Die Villen von Santa Maria di Leuca“. Ein neuer Titel, den ich aufnehme in die lange Liste meiner ungeschriebenen Bücher.

Als die Sonne im Meer versinkt, wandern wir hinauf zum Leuchtturm auf der Sirenenklippe. Und erleben dort oben, genau unter dem Halbmond, im beginnenden Dämmerlicht eben jenen Moment, in dem der Leuchtturm sich an die Arbeit macht, sein Licht in der Dämmerung über der stillen Piazza plötzlich anspringt und sich mit langsamer, unendlich langsamer Bewegung drei Linsen um das Licht zu drehen beginnen. Drei geschliffene riesige Glaslinsen, die in der Nacht um das Licht herumkreisen – unentwegt und mit bedächtiger, gleichmäßiger Bewegung – und den Schiffen bis 50 Kilometer weit draußen, die halbe Strecke nach Korfu hinüber, den Weg weisen mit einem einfachen Lichtsignal, das auch uns letzte Nacht bis hierher geführt hat.

 

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2.
Santa Maria di Leuca.
Giuseppe und Flic.
Der Hund, der Mathe kann.

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Es ist eine verlässliche Größe in meinem Leben, seit ich mit 16 zum ersten Mal in diesem Land war und mit vor Staunen über die Schönheit weit geöffnetem Mund stunden-, tagelang durch Gassen und Märkte strich: meine Begeisterung für Italien. Korruption, Mafia, Chaos oder geldgierige Charaktere, denen ich begegnete, konnten nichts daran ändern: Ich betrete dieses Land mit einem Lächeln. Und ich verlasse es mit einem Lächeln. Irgendein selbsthypnotischer Vorgang ist da am Werk, eine unerklärliche Ausschüttung an Glückshormonen immer dann, wenn ich durch die Schönheit dieser Sprache und dieses Landes und seiner Küche streife. Was immer es ist: Bin ich hier, verlässt mich das Staunen nie.

Unser Streifzug entlang des Lungomare von Santa Maria di Leuca führt uns an allerhand Restaurants vorbei, die schon in den Winterschlaf gefallen sind. Tische, Stühle im Inneren aufeinandergestapelt wie von Möbelpackern, keine Neonlampe, die mehr leuchtet, kein Duft von Spaghetti Frutti di Mare, der noch durchs Restaurant zieht, kein Kellner, der an den Tisch heranwedelt und „Aqua senza gas“ und Wein herbeibringt: Invernale – Wintersaison. Am Strand ist nur noch das Lupo di Mare geöffnet, das Restaurant des eigenwilligen Giuseppe Petese. Und er, der „lupo di mare“, der „Seewolf“, er empfängt seine Besucher im Restaurant mit den blauen Holzbänken über dem Meer aufs Eigenwilligste in vielerlei Arten. Da ist zunächst einmal das Schild am Lungomare neben dem Eingang. Mit Kreide steht in großen Buchstaben am Restauranteingang „Fidati“: „Trau dich.“ Muss ich mir Sorgen machen?

Dann ist da – zwischen allerhand anderen Raritäten – ein überlebensgroßes Poster an der Wand. Auf ihm: der Hausherr, der Seewolf höchstselbst, im Smoking, mit schwarzer Fliege, etwas spillerig als Salonlöwe im Gesellschaftsdress, doch überlebensgroß im Plakat – so wie eine italienische Fernsehshow, die jedem Normalbürger unverständliche Krone des farbigen Krachs, den Unterhaltung in Italien bietet, ihn erschuf. Dann eine Tafel mit Rechenaufgaben, mitten im Restaurant. Hoffentlich muss ich jetzt nicht öffentlich Kopfrechnen, bevor ich an meinen Teller mit Pasta komme.

Aber das mit dem Essen klappt untadelig. Als wir mit den Antipasti Mare, den Spaghetti mit Meeresfrüchten und dem frischen Schwertfisch endlich fertig sind, macht uns der Hausherr mit seinem Hund „Flic“ bekannt. Giuseppe hat nämlich Flic das Rechnen beigebracht. Und dafür braucht er die Tafel. Flic, der Hund, sitzt brav davor. Giuseppe deutet auf die erste Rechenaufgabe:

 

2 x 2 + 2 = ?

 

Flic guckt auf sein Herrchen. Dann auf das Leckerli. Dann auf mich. Dann schüttelt er sich, als wolle er all die imaginären Flöhe aus seinem Fell loswerden, die ihn quälen. Blickt treu auf Giuseppe und – bellt. Sechs Mal.

Sapperlott!

 

2 x 3 + 1 = ?

 

Das dauert dann schon etwas länger. Irgendwie scheint der Hund im Gegensatz zu seinem Herrn zu denken, das das Leckerli doch auch leichter rüberwachsen könnte als über die umständliche Rechnerei. Giuseppe lockt und gurrt und balzt. Flic schüttelt sich über all die Kompliziertheit, die menschliches Tun und Denken in die Welt gebracht hat, und bellt schließlich sieben Mal. Bravo! „Che Bello!“

 

2 x 5 - 1 : 3 = ?

 

Jetzt wird es richtig kompliziert. Wer weiß denn von uns noch, wie das war mit „Punkt vor Strich“? Oder müsste da nicht richtigerweise eine Klammer auf der Tafel stehen? Flic ist das alles einerlei, er schielt einfach auf das Leckerli und – bellt zwei Mal. „Bravo“ ruft Giuseppe entzückt, während wir noch mal kritisch nachrechnen und auf ganz andere Ergebnisse kommen. Egal!

Aber während Giuseppe mit wachsender Begeisterung sich nun der vierten Aufgabe auf der Tafel zuwendet und uns von Dollaro erzählt, dem Hund, mit dem er samt Rechenkünsten im italienischen Fernsehen auftrat, hören wir es draußen weit im Westen über dem Golf von Tarent zum dritten Mal donnern. Schluss mit lustig! Wir lassen Mathe Mathe sein und spurten im einsetzenden Gewitterregen den Lungomare hinunter, zurück zu LEVJE, auf der alles sperrangelweit offen steht und die wir gerade noch erreichen, bevor der große Regen einsetzt. Es wird merklich kühler, das schlechte Wetter ist da. Und mit ihm der Nordost, der uns ab heute Abend mit 5 bis 6 Windstärken in zwei Tagen übers Meer blasen soll: auf direktem Weg nach Sizilien. Nach Catania.

 

3.
Die Überfahrt nach Sizilien. Die erste Nacht.

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Mit den Gewittern ist der Wind auf Nordost gesprungen, und kaum lässt der Regen nach, vor dem wir uns in LEVJEs Inneres geflüchtet haben, da krabbeln wir wie die Maikäferlarven im Frühling aus LEVJEs Bauch, schauen in die wolkenschwere Abenddämmerung, legen ab und segeln los. Dahin, wo irgendwo im Dämmer die Sonne versinkt, nach Westen.

Kaum ist das letzte Licht der Sonne weg, ist nichts mehr zu sehen. Kuhnacht. Nur eine dichte Wolkendecke über uns, hinter der irgendwo der Mond steckt, und das rotgrüne Buglicht vor uns, das die Schaumkronen leuchtend grün färbt, wenn sie unter LEVJE hindurchrauschen. Und vorne am Bug ankommen und danach wieder im Dunkel verschwinden. Der Wind legt zu, je weiter wir uns von Santa Maria di Leuca entfernen, er kommt genau von hinten und das macht das Segeln ungemütlich. Denn nicht nur der Wind, auch die Wellen gewinnen mit jedem Meter von der Küste weg an Höhe. Noch im Hafen haben wir die Genua gesetzt, das große Vorsegel, das Groß bleibt drin. Zu wackelig ist der Kurs, ich will trotz Baumbremse mit LEVJE im Dunkel keine Patenthalse riskieren. LEVJE beschleunigt zuerst auf 5 Knoten, später auf 7, dann auf 8 oder gar 9, wenn im Dunkel die großen Wellen aus dem Golf von Tarent heranrauschen, ihr Heck packen, um das ganze Schiff zu drehen, aus seinem Kurs zu bringen versuchen.

Segeln auf einem Boot mit achterlichem Starkwind: Das ist für jedes Boot ein anstrengender Kurs, erst recht, wenn das Großsegel drinbleiben muss. Der Wind von hinten lässt LEVJE in den Wellen geigen, sie schaukelt von liiiiinks langsam nach reeeeeechts. Und dann wieder nach liiiiiiiinks. Und dann wieder nach reeeeeeeechts. Unter Deck beginnt das Konzert: Die Gläser im Geschirrschapp klirren erbärmlich. Ein Schott beginnt rythmisch zu knarzen, immer wenn LEVJE sich auf eine Seite legt. Das feine, langsame Strömen des Wassers, das nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt an ihrer kartondünnen Außenwand entlangströmt, während ich in meiner wachfreien Zeit versuche, übermüdet ein Auge zuzumachen. Alles schwingt, wackelt, kullert im schwachen Schein des Arbeitslichts und der beiden Lampions unter Deck, die Tomaten vorne im Obstnetz haben sich ungefragt Ausgang gegeben und kullern nun mit allem, was auf dem Kartentisch lag, über LEVJEs Bodenplatten. Bleistifte, W-LAN-Router, ein paar Schrauben, Papiere, meine Blocks, eine Flasche Wasser, eine der Taschenlampen, die Salonkissen, mein blaues Tuch, die Tube Sekundenkleber, dies und das. Im Nu ist LEVJE im Dunkel unter Deck in den Zustand des existenziellen Chaos übergegangen. Nasse Segeljacken, Wäscheteile auf den Salonbänken, Seestiefel und halbfeuchte Segelschuhe, die sich dem Kullern der Tomaten begeistert anschließen. Nur der Brotlaib guckt oben aus dem Obstnetz heraus noch ruhig schaukelnd dem Treiben unter ihm zu. Liiiiiiiiiinks. Reeeeeechts. Liiiiiiiiiiiinks. Reeeeeeeechts. Liiiiiiiinks. Reeeeeeeechts. Gleichzeitig das Drehen, wenn eine Welle von hinten erst das Heck hart fasst und plötzlich das Boot um 45, 60 Grad aus seinem Kurs drückt, das Heck gewaltig anhebt, unter LEVJE hindurchgeht und zuletzt das Heck im Wellental zurücklässt, während der Bug sich in den Himmel richtet. Meine Welt, LEVJEs Deck, ihr Salon, die Kojen unter Deck: Alles ist in einer dreidimensional wiegenden, vorwärts schraubenden Bewegung begriffen, in der jede eigene Bewegung nicht nur einen Kraftakt bedeutet, sondern aufrechter Gang zu ungelenkem Stolpern, Schlittern, zu einem schlagartigen Irgendwo-Halt-Suchen, Sich-Festkrallen verkümmert, weil LEVJEs Bewegung in der achterlichen Welle mal wieder unvorhersehbar war. Es ist eine Welt, die nur noch aus Bewegung besteht. Vielleicht war ja das der Grund, weshalb Jules Verne seinem Kapitän Nemo als Motto für seine Nautilus eingab: „Mobilis in Mobili“ – „beweglich im Beweglichen“.

All dies im Dunkel, all dies fast ohne Sicht. Wir haben uns in Wachen eingeteilt: Sven übernimmt die erste, sein Sohn Tino die zweite, bis etwa zwei Stunden nach Mitternacht, und dann von morgens um zwei bis fünf Uhr ist meine Wache. Ich versuche zu schlafen, während Sven oben aufpasst. Wache gehen, das bedeutet: Aufpassen, dass das Boot auf seinem Kurs bleibt. Aufpassen, das nicht eines der anderen Schiffe um uns im Dunkel – Frachter, Tanker, Fähren, Segler, die in der Nacht den Golf von Tarent ebenso queren wie wir – plötzlich auf Kollisionskurs mit uns geraten. Und aufpassen, dass alles auf LEVJE weiter funktioniert: dass der Autopilot seinen Dienst versieht, der Arme, der bei diesem Kurs enorm rackern muss. Dass das Segel richtig steht. Dass wir nicht gegen einen treibenden Baumstamm rummsen oder in eine unbeleuchtete Muschelzuchtanlage geraten.

Während Sven also oben aufpasst, versuche ich, so schnell wie möglich einzuschlafen, ein Auge zuzumachen. Es geht nicht. Ähnlich wie der ganze andere Kram rutsche, kullere ich bei jeder Schiffsbewegung auf meiner Matratze von liiiiiiiinks nach reeeeeechts und wieder zurück, begleitet von plötzlichem heftigen Eintauchen auf die Matratze und wieder schwerelosem Abheben, wenn die großen Wellen unter uns hindurchlaufen. Als LEVJE sich in der Welle weit nach Backbord hinüberneigt, kommen mir alle meine Pullover, Hosen, Bücher von der Steuerbordseite meiner Koje entgegen. Ein Sturzbach von Sachen begräbt mich unter sich, ein Platzregen meiner Utensilien. Noch bin ich nicht lethargisch. Noch besitze ich die Energie, mich aufzurichten. Und alles wieder an seinen Platz zu räumen im Hin und Her.

Als ich endlich einschlafe, ist Svens halbe Wache vorbei, mehr als ein Dösen, in dem mein Körper jede Welle fühlt und mein Ohr jedes Knarzen wahrnimmt, ist nicht drin. Es ist eine Welt, schaurig und schön zugleich. Schaurig, weil diese Welt all dem widerspricht und sich mit allen Kräften vehement dem widersetzt, was auch nur irgendwie mit persönlichem Wohlbehagen zu tun hat. Sie ist schön, weil den Elementen in ihrer Kraft so unglaublich nah: dem leisen Fließen der Wellen entlang der Bordwand, nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Dem Gluckern von 2390 Meter Wassersäule unter mir mit allem Leben, das darin wohnt in einer Welt, die wir nur ahnen können, die uns vollkommen fremd ist. Dem Wind, der LEVJE mit der Geschwindigkeit eines Marathonläufers Stunde um Stunde zuverlässig durch die Wellen treibt.

Als Tinos Wache um 11 Uhr beginnt, ist es mit Dösen und Träumen vorbei. Tino ist 19, viel mit Sven, seinem Vater, gesegelt. Aber er ist zum ersten Mal hier an Bord, er kennt das Boot noch nicht, weiß noch nicht, wo er in Dunkelheit und Geschaukel am besten seinen Lifebelt einklinkt, wo er die Kompassbeleuchtung im Fernglas anschaltet, um die anderen Schiffe im Dunkel zu beobachten. Tatsächlich hat die Batterie im Fernglas, die in den vergangenen Tagen noch funktionierte, ihren Geist aufgegeben, dann also die alte Methode, mit dem Peilkompass, um festzustellen, wo sich ein Frachter, eine Fähre oder ein Fischer hinbewegt. Drei Mal stehe ich während Tinos Wache auf, weil ich spüre, dass er nicht zurechtkommt in der Dunkelheit. Kleinigkeiten. Beim dritten Mal ist es richtig ernst: Plötzlich nimmt das Heulen und Pfeifen zu, LEVJE hat sich quergelegt in den Wind, die Wellen treffen sie jetzt breitseits, alles Schwanken ist nun infernalisch. Ich springe aus meiner Koje und bin im Nu an Deck: Eben, als LEVJE in der Welle auf fast 10 Knoten beschleunigte, brach die Halterung an der Pinne, in die der Autopilot greift. Von einem Moment auf den anderen sind wir ohne Ruder, ohne Steuer in den Wellen. Der Wind, der LEVJE sofort anluven ließ. Ich habe die Schrauben vor ein paar Monaten erneuert, doppelt so starke wie vorgesehen benutzt. Jetzt ist eine 5 Millimeter dicke Edelstahlschraube einfach gerissen. Bleistiftdicker Edelstahl hat im Dunkel aufgegeben unter der Wucht von Wind und Wellen.

Uns bleibt nachts um 2 Uhr nichts anderes übrig, als von Hand zu steuern. Klaglos bringt Tino LEVJE wieder vor den Wind, starrt ins Dunkel voraus, während ich unter ihm am Boden liege, den Schaden untersuche und überlege, ob wir eine Reparatur jetzt gleich im Dunkel, unter Segel, im Geschaukel und Geschwanke vornehmen können. Aussichtslos. Jetzt im Finstern mit Akkuschrauber rumhantieren, das gibt nur Gefummel. Also bleibt nichts anderes, als das Ruder wieder selbst in die Hand zu nehmen. Und LEVJE von jetzt an per Hand durch die Wellen zu steuern. Und neben dem Wachegehen nun auch noch stundenlang die zerrende Pinne im Dunkel zu halten.

Es ist 02:30 Uhr am Morgen, als ich Tino unter Deck schicke. Seine Wache ist vorüber, er soll schlafen. Ich setze mich, bewaffnet mit Fernglas und Wasserflasche, auf dem schwankenden Deck an die Pinne. Der Wind hat weiter aufgefrischt, es weht jetzt mit 6 Beaufort, in Böen mehr. Wir sind jetzt mitten auf dem Golf von Tarent, aus dem es von Norden heraus bläst.

Mal sehen, was die Nacht bringt auf dem Meer.

 

4.
Die Überfahrt nach Sizilien. Der Morgen.

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Ich bin müde. Kaum Schlaf vorher. Nur ein leichtes Dösen hatte sich eingestellt während meiner wachfreien Zeit, während Sven und Tino LEVJE nach Westen gesegelt haben.

Die ersten Minuten am Steuer versuche ich mich zu orientieren. Wir haben jetzt, nach siebeneinhalb Stunden, den Golf von Tarent zur Hälfte überquert, befinden uns etwa in der Mitte der großen Einbuchtung zwischen Absatz und Sohle. Der helle Schein hinter uns von Santa Maria di Leuca und Gallipoli ist verschwunden. Das Licht des Leuchtturms, der 25 Seemeilen in die Nacht leuchtet, ist nicht mehr zu sehen. Rechts vor mir, im Dunkel, ein schwacher Lichtschein, es muss Crotone sein. Die Sohle des Stiefels also in Sicht. Davor, mitten im Schwarz, ein gleißend heller Scheinwerfer, der mich blendet. Mitten auf dem Meer ein riesiger Scheinwerfer, ein irritierendes Etwas, bis mir Tino erklärt, dass ihn ein Schleppverband überholt hat. Ein Schiff, das hinter sich zwei, drei andere herzieht. Davon sieht man in der Dunkelheit wenig, Tino sah nur drei weiße Lichter übereinander, die den Schleppverband kennzeichnen und die quälend langsam an uns vorbeigezogen sind, Kurs Crotone. Auf dem letzten Schiff, um es kenntlich zu machen, doch wider alle seemännischen Regeln: ein strahlend heller Scheinwerfer, nach hinten gerichtet. Nach Nordwesten zu blicken, ins gleißende Licht, war also keine gute Idee. Und doch ist der Scheinwerfer eine große Hilfe, um mich einzusteuern. Wenn ich so steuere, dass ich ihn genau hinter LEVJEs Steuerbord-Want behalte: Dann halte ich genau Kurs auf Catania, unserem Ziel auf Sizilien. Also los. Schöne Idee. Aber zunächst machen mir die großen Wellen einen Strich durch die Rechnung. Sie kommen schräg von hinten. Treffen zuerst LEVJEs Heck und drücken es, wenn ich nicht gleich Ruder lege, zur Seite. Der Bug dreht sich damit höher in den Wind, wir beschleunigen noch einmal plötzlich auf Halbwindkurs, legen uns zur Seite. Ich ziehe mit aller Kraft an der Pinne, um das Boot wieder auf Kurs zu bringen, abfallen zu lassen, die Pinne ächzt schwer, gleichzeitig zieht die nächste Welle unter uns hindurch. LEVJE geigt von links nach rechts und wieder nach links und wieder nach rechts. Und immer so weiter. Das große Geigen und Schaukeln in der achterlichen Welle, es hält weiter an, hört für einen Moment nur auf, wenn mir LEVJE unfreiwillig ausbricht und anluvt gegen alle Absicht und ich sie mit Mühe und aller Kraft an der Pinne wieder auf den alten Kurs zwinge.

Nach eineinhalb Stunden, gegen 4 Uhr morgens, bin ich müde. Richtig, richtig müde. Meine Wache dauert noch eineinhalb Stunden. Ich beginne mit den alten Tricks gegen die Müdigkeit. Wasser trinken. Es ist schon nicht einfach, mit nur einer Hand die Flasche zu öffnen, zu trinken, wieder zuzudrehen. Die andere Hand muss ja mit Kraft an der Pinne bleiben. Auf die Zunge beißen, abwechselnd, immer wieder. Aufstehen, auf dem schwankenden Deck im Stehen steuern. Ein Lied pfeifen. Müdigkeit von zu wenig Schlaf, von zu viel Schwanken, vom Unterwegssein in einer Umgebung, die nur noch Bewegung ist. Wellen, die hinter mir im Dunkel heranrauschen, sodass ich hinaufsehen muss, kurz bevor sie LEVJEs Heck treffen. Zur Sicherheit habe ich das Steckschott am Niedergang eingesteckt. Es verhindert im Ernstfall, dass eine Welle unter Deck gelangt, das Schiff unfreiwillig zu einer Badewanne macht. Es ist beeindruckend, wie Wellen links und rechts von LEVJE brechen. Die Müdigkeit ist das eine. Die Schönheit der Elemente das andere. Höre ich hinaus in die Nacht, durch die wir dahinstürmen, glaube ich, im gewaltigen Rauschen in der Dunkelheit die regelmäßigen Atemzüge eines großen Lebewesens zu hören, das rhythmische Atmen eines Delphins, der neben uns herschwimmt. Oder eines Wals. Aber es ist nur das Atmen des Meeres, das ich vernehme, im Rauschen der Wellen, im Wehen des Windes das Geräusch eines großartigen Lebewesens, das da ein- und ausatmet: das Meer.

04:30 Uhr: Noch eine halbe Stunde Wache. Wieder eine Böe, eine Welle, die LEVJEs Heck ausbrechen lässt. Wieder meine Mühe, mit aller Kraft die Pinne heranzuziehen, mein Boot erneut auf Kurs zu bringen. Hinter mir, langsam aus dem Dunkel aufsteigend, der hellste Stern, die Venus, die mich in den Morgenstunden immer foppt, weil ich sie für das Topplicht eines Seglers halte, der hinter mir heransegelt. Ein Zeichen, dass die Dunkelheit bald ein Ende hat und der Morgen naht. Unten höre ich Geklapper. Sven schält sich aus seiner Koje. Ich sehe, wie er sich im Dämmer des Notlichts unter Deck langsam anzieht. Wasserdichte Hose. Segeljacke. Schwimmweste. Lifebelt. Alles nicht einfach im gewaltigen Schwanken, im Geigen und Sich-Schrauben durch die Wellen. Ein ums andere Mal muss Sven sich festkrallen unter Deck, irgendwo, wo er gerade Halt findet, um nicht umgeworfen zu werden. Eine Welt, die eine andere ist.

Dann steht er an Deck, ich erzähle ihm, was passiert ist, er besieht sich den Schaden und übernimmt dann das Ruder. Und ich: falle vor Müdigkeit fast LEVJEs Niedergang hinunter, schäle mich mühselig im schwankenden Dunkel aus meinen Klamotten, den Stiefeln, der salzigen Schwerwetterhose, Jacke, Pullover, Unterwäsche, Hemd. Ich taumle im Schwanken noch in LEVJEs Bad, eine winzige Kammer an Steuerbord. Eine plötzliche Bewegung des Schiffes drückt mich Kopf voraus an die Bordwand. Ich stemme mich weg. Mühsam schaffe ich es, mir die Hände zu waschen, das Salz zu spülen von den Händen, aus dem Bart. Ahhhh, kaltes Süßwasser statt lauwarmem Salzwasser, das übers Cockpit spritzt, wenn die Wellen am Heck kraftvoll brechen. Kaltes Süßwasser – ein Gedicht.

Dann kämpfe ich mich unter Deck nach vorne in LEVJEs Bug, dorthin, wo Sven schlief, ich schlafe jetzt in seiner Koje, denn Tino schläft in meiner. Drei Männer und nur zwei Kojen, da ist das einfach so, wir wechseln durch.

Kaum dass ich liege und den Kopf an der Bordwand habe, dort, wo das Wasser außen an LEVJE entlangströmt, bin ich diesmal auch gleich weg. Ich brauche keinen Moment, um einzuschlafen. Schlaf, der sich wie watteweiches Blei auf mich legt. Und weg.

 

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5.
Die Überfahrt nach Sizilien. Der Tag.

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Am Morgen. Ich schlafe nicht länger als eineinhalb, zwei Stunden, obwohl meine wachfreie Zeit eigentlich sechs Stunden beträgt. Ein eigener Rhythmus stellt sich ein. Zwei Stunden reichen, damit ich mich fit fühle. Draußen an Deck hat das Dunkel dem Grau Platz gemacht. Graue Wolken, die über den Himmel jagen, Wellen, die von hinten heranrollen, vom Golf von Tarent. LEVJE, die von den Wellenhängen hinuntersurft, eine weiße Gischtspur hinterlassend, kurz beschleunigend auf 8, 9, fast 10 Knoten. Sie ist ja ein kleines Schiff, rein rechnerisch liegt ihre maximale Rumpfgeschwindigkeit gerade mal bei 7,2 Knoten.

Wir sind schnell unterwegs, sehr schnell. Wenn es so weitergeht, schaffen wir ein Etmal von fast 140 Seemeilen. Ein Etmal: Das ist die Distanz, die ein Schiff in 24 Stunden zurücklegt. Und 140 Seemeilen in 24 Stunden, über 250 Kilometer auf einem Schiff von 9,40 Meter Länge – das kann sich sehen lassen.

 

Einen Videoclip unserer Reise finden Sie bei Youtube: Hier klicken.

 

Die Zahlen: Sie sind das eine. Das andere ist die Faszination dieser Welt im Grau des Morgens. Das Land ist weit, weit weg, irgendwo rechts ein schmaler Strich zwischen Himmel und Meer. Ein schmaler Strich wie der zwischen zwei Lippen. Statt Land sind es Berge und Täler aus Wasser, die uns umgeben. Fliegende Fische, die 100 Meter weit die wandernden Täler entlangschwirren auf schnell schlagenden Brustflossen, aufgeschreckt von LEVJEs Rumpf, unendlich geschickte Segler die Täler entlang.

Schaumkronen von brechenden Wellen links, rechts, hinter uns. Kurz bevor sie brechen, leuchtet ihre Spitze flaschengrün im Licht der wolkenverhangenen Sonne hinter uns. Sie sehen aus wie durchscheinendes Glas, wenn wir hinaufschauen, leuchtendes Glas unter brechenden weißen Kämmen, vergänglich und schnell. Wind, der LEVJEs Genua füllt, das Segel, einen Moment zum Zerreißen gespannt, den nächsten schlapp sich krümmend, windend, wickelnd, wenn der Wind genau von hinten kommt.

Sven, Maschinenbauer, Erfinder, der am Ruder steht, ist ebenso fasziniert von dieser Welt wie ich. Er nähert sich ihr anders, erzählt im Grau, im Schwanken des Schiffes von Sir Isaac Newton und dessen Versuch, alles, alles, was er sah, in reine Mathematik zu übersetzen. Das Fallen eines Blattes von einem Herbstbaum. Vielleicht auch das Brechen eines Wellenkamms kilometerweit draußen auf dem Meer, während der Wind weht. Zahlen. Und dazwischen LEVJE, mein Schiff, das sich durch diese Welt bewegt, die in Bruchteilen von Sekunden eine andere Form annimmt und doch die gleiche bleibt und in jeder Sekunde Aufmerksamkeit erfordert.

Und während Sven uns weiter durch die Wellen nach Westen bringt, schnappe ich mir im Grau meine Kamera, turne zum Bug und nehme begeistert auf, was ich da sehe, versuche, auf meiner inneren Festplatte zu speichern, was ich da draußen sehe, die aberwitzige Schönheit dieser Welt, damit ich sie niemals vergesse. Und immer, immer wieder abrufen kann in Zukunft, wie faszinierend diese Welt hier draußen ist.

Mehr als eine Stunde versuche ich, die Landschaften da draußen zu fotografieren, zu filmen, festzuhalten irgendwie. Dann bin ich dran mit meiner Wache, löse Sven ab, wir lassen Tino weiter schlafen. Sven geht nach unten ins Geklapper, ins Schwanken, fällt in seine Koje, hundemüde, und weg. Und ich: bin allein mit dieser Welt, am Ruder, Schönheit und Gefährlichkeit, Lebensfeindlichkeit und Fülle, Kargheit und Reichtum, die mich umgeben.

 

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6.
Die Überfahrt nach Sizilien. Die zweite Nacht.

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Es ist Abend geworden. Sven und ich haben uns immer wieder abgelöst, Tino schläft immer noch, fast 16 Stunden liegt er jetzt erschöpft. Und schläft. Sven und ich drehen nachmittags bei, kurz bevor das Grau in Dämmer übergeht. LEVJE steht nun mitten in den Wellen unter backgestelltem Vorsegel quer zum Wind. Im Schwanken, im Grau reparieren wir die defekte Pinne. Die Reparatur ist gründlich vorgedacht, jeder Schritt überlegt. Bei dem Seegang haben wir keine Zeit, uns irgendein „Hmmm. Und-was-machen-wir-jetzt?“, irgendeine Komplikation zu leisten. Das Meer, die Elemente zwingen dazu, die Dinge bewusst zu tun, nicht einfach irgendwie loszulatschen, ohne auf den Weg zu achten.

Ich erinnere mich an eine Situation vor vielen Jahren, nicht weit von hier. Auf der Überfahrt von Korfu nach Santa Maria di Leuca hatten wir auf Svens Schiff, der Juanita, bei sechs Windstärken in der Abenddämmerung festgestellt, dass sich die Leewanten des Mastes – die stählernen Seile, die bei diesem Kurs auf der windabgewandten Seite liegen und den Mast stabilisieren – wegen einer Nachlässigkeit einfach ihrer Halterung in den Salingen entledigt hatten. Die Salinge, die zu beiden Seiten neben dem Mast Befestigungs- und Umlenkpunkte für die Wanten bieten, standen völlig frei. Ausgehängt baumelten sie neben dem Mast. Wir segelten hoch am Wind. Der Mast wurde nur noch gehalten von den luvwärtigen Wanten. Als wir es entdeckten, wurden wir beide kreidebleich. Wir waren allein an Bord. Und noch Stunden vom Festland entfernt. Wären wir, ohne den Schaden zu entdecken, arglos eine Wende gefahren: Unweigerlich wäre der Mast bei dieser Windstärke über Bord gegangen. Sven stand am Ruder. Er hielt einfach den Kurs weiter. Und tat neben dem Bleichwerden zunächst nichts anderes als – nachdenken. Er schwieg, während das Schiff einfach weiter durch die Wellen boxte. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erschien, durchbrach Sven plötzlich die Stille: „Ich weiß, wie wir’s machen. Es ist ganz einfach. Wir bleiben genau auf dem Kurs. Du steuerst das Schiff mit einer Hand. Und sicherst mich mit der anderen Hand, während ich den Mast hochklettere. Und die Wanten wieder in die Salinge einhänge.“ Ein Druck legte sich wie eine Klammer um meine Brust, als mir schlagartig ins Bewusstsein schoss, was ich ohnehin wusste. Sven hatte Familie, war Vater von drei kleinen Kindern. Beidrehen? War nicht möglich. Motor an und Segel runter? Ging auch nicht. Was Sven vorschlug, war tatsächlich der einzige Weg. Nur: Wenn ich steuernd mit einer Hand einen Fehler baute, wenn irgendetwas schiefging, während Sven oben im Mast bei diesen Windstärken herumturnte …

Wir durchdachten jeden einzelnen Schritt des Verfahrens, jedes Detail. Spielten uns richtig rein in den Ablauf des Manövers, in jede Kleinigkeit. In jede mögliche Komplikation, die uns zu schaffen machen könnte, in jedes Detail, das schiefgehen konnte. Dann nahm ich das Steuerrad in die Hand, bat darum, mich einfach einsteuern zu können, probeweise, wie es wäre mit einer Hand, nur mit der linken. Denn mit der rechten musste ich Sven am Spifall sichern – alle anderen Fallen waren ja belegt, weil alle Segel zwar gerefft, aber doch oben waren. Das Spifall, es war die einzige Leine, die Sven sichern konnte. Und so steuerte ich linkshändig. Am Anfang geriet es zu einem Schlingerkurs durch die Wellen, während Sven sich unten in seinen Klettergurt zwängte und die notwendigen Werkzeuge bereitlegte. Schlangenlinie durch die Wellen, weil ich mit der Linken mit dem Rad im Rücken steuern musste, an Juanitas Kompasssockel gelehnt. Ungewohnt, das Rad nicht zu sehen. Ungewohnt, weil Umgreifen schlecht möglich war. Aber irgendwie gelang es, die drei Dinge unter einen Hut zu bringen. Das Schiff auf Kurs zu halten. Die Bewegung meiner Linken halbwegs richtig zu koordinieren. Mit der rechten gleichzeitig die Lose aus dem Fall zu holen, um Sven zu sichern. Der erschien an Deck, schmirgelte mit grobem Schleifpapier die Sohle seiner Bootsschuhe, um besseren Halt beim Klettern am Mast zu haben.

Dann turnte er im Geschwanke vor zum Mastfuß und sicherte den Klettergurt am Spifall. Auch er testete am Mast erst mal die beste Technik. Als die stellte sich nach einigem Probieren dann heraus, etwas abzufallen, um bei dicht geholten Segeln Juanita in noch mehr Schräglage zu bringen. Zwei, drei Tests. Dann tief Luft holen. Los.

Weil das Schiff jetzt mehr Lage hatte, stand der Mast schräg. Wie ein Affe klettere Sven auf der Luvseite den Mast hinauf. Hielt sich mit beiden Armen am Mast und machte am Mast entlang, wie auf einer schiefen Ebene, einfach einen Schritt nach dem anderen. Im Nu war er bei der ersten Saling, kaum dass ich mitkam, die Lose aus der Sicherungsschot zu holen. Am Fall schwang er sich hinüber, nach außen, an die Salingnock, plötzlich war er außer Sicht, das Großsegel verdeckte ihn. Eine Weile war er einfach weg, ich sah, wie das lose Want sich bewegte, konzentrierte mich darauf, nur ja den Kurs zu halten, während Sven irgendwo oben bei der Saling sieben, acht Meter über den Wellen baumelte. Plötzlich erschien Svens Kopf hinter dem Segel, er quälte sich bei Schräglage wieder zur anderen Seite herüber. „Hab’s eingehängt“, rief er und schaute zur oberen Saling hoch. Dasselbe noch mal. Wieder nutzte Sven die leichte Schräge, um einfach den Mast hochzulaufen. Wieder holte ich mit einer Hand die Lose aus dem Fall, das ihn in seiner Höhe hielt. Wieder schwang er sich auf die andere Seite. Griff sich hoch über den Wellen das flatternde Want. Legte es in seine Kerbe in der Salingnock. Und sicherte das Want mit vielen Lagen Panzerband.

Das Abseilen war schwierig. Die Klemmen hielten Sven in der Höhe. Für einen kurzen Moment musste ich das Ruder loslassen. Mit einer Hand das Fall um die Winschtrommel legen, es dichtholen. Mit der anderen Hand die Klemme öffnen. Gruslig. Aber es klappte. Langsam seilte ich Sven ab, der nun den Mast hinunterlief, wie er vorher hochgelaufen war. Juanitas Mast war wieder sicher.

Was ich damals lernte, war das Durchspielen eines Manövers in all seinen Einzelheiten und Eventualitäten. Und wie damals bei der Sicherung von Juanitas Mast spielen wir auch die Reparatur von LEVJEs Pinnenhalterung im Grau des Schlechtwetters in allen Einzelheiten durch. Akkubohrer, Werkzeuge, Harz, Härter, Bolzen, Schraubenzieher liegen bereit. Was wir sonst noch brauchen könnten auch. LEVJE kommt mir in diesem Moment vor wie ein U-Boot. Alles ist irgendwie da in ihrem kleinen Bauch, ich finde alles auf ihr, denn nichts, nichts wird weggeworfen, keine Schraube, kein alter Bolzen, den kleinsten Rest EPDM, ein synthetischer Kautschuk, der zum Abdichten oder für das Lager meines Ruders nützlich ist. Alles habe ich aufgehoben, wer weiß, wofür ich das noch mal brauchen kann. Und in Momenten wie diesem bin ich um alles froh, was irgendwie zur Reparatur beitragen könnte. Als alles bereitliegt: Jetzt die Genua backgestellt, durch den Wind gesegelt, die Pinne festgebunden. Wellen, die seitwärts auf uns treffen, Regen, der einsetzt, draußen, kilometerweit vom Land entfernt, gerade als wir anfangen wollen mit der Reparatur. In Windeseile bohrt Sven zwei neue Löcher in die Pinne. Setzt dicke Stahlbolzen ein, die wir mit vorher angerührtem, schnell härtendem Harz in die Löcher kleben. Keine Viertelstunde dauert die Operation, Sven ist Meister in diesen Dingen.

Eine Stunde später, als das Harz ausgehärtet ist, greift der Autopilot wieder, die Bolzen halten ihn. Wir können ihm jetzt wieder für die Nacht die Arbeit des Steuerns überlassen.

Gerade rechtzeitig. Als die Dämmerung naht, verkümmert unsere Welt zu einem lichtlosen Grau. Der Regen setzt noch stärker ein, und weil er von hinten kommt, weht er herein ins Schiff bis zum Kartentisch. Sven, der gerade Wache hat, krümmt sich unter die Sprayhood. Nach einer Weile gibt er auf, entnervt von Starkwind und Regen, der ihm ins Gesicht schlägt. Sven, der immer die Nerven behält, ist jetzt abgekämpft, geht schweigend durchs schwankende Boot zu seiner Koje, lässt sich fallen. Ich schaue hinaus durch LEVJEs Seitenfenster: lichtloses Grau in Grau. Regen, der gegen die Scheiben prasselt. Ich bin jetzt zwar warm und trocken und der Autopilot steuert uns zuverlässig in die heranbrechende Nacht. Aber Zustand ist das keiner. Das geht gar nicht: Keiner an Deck, keiner auf Wache. Der Wind frischt auf im Regenschauer. LEVJE schlingert, taumelt, schwankt mehr und mehr durchs trübe Licht der Dämmerung. Nein, ich muss da hoch an Deck, auch wenn es mich Überwindung kostet, ich muss da raus und Wache gehen, während die beiden tief schlafen. Mit etwas mulmigem Gefühl ziehe ich meine Schwerwetter-Sachen an, gehe nach draußen, nach oben.

Irgendwann schrieb ich über die Angst, dass es ein zuverlässiges Rezept gäbe, wenn sie sich deiner bemächtigt: Geh. Einfach. Nachsehen. Schau dem ins Auge, was dir Angst macht. Denn meist ist das gar nicht so schlimm. Eine einfache Regel. Aber wie alles, was es an einfachen Lebensregeln so gibt, ist das schon ganz schön schwer. Es kostet Überwindung. Als ich an Deck bin, schaue ich mich um. Das Grau ist nun ein Dunkelgrau, der prasselnde Regen ist in feinen Niesel übergegangen. Irgendwo rechts ist die Küste. Es weht zwischen 30 und über 35 Knoten, die Wellen rollen aus der Tiefe des Golfs von Tarent entsprechend an. „Nachsehen gehen!“ Etwas zittrig nehme ich das Ruder in die Hand. Hänge den Autopiloten aus. Versuche, von Hand zu steuern, einen Anhaltspunkt zu finden, auf den steuernd ich das Schiff weiter und besser als der Autopilot auf Kurs halten kann. Eine Viertelstunde vergeht. Dann habe ich den Bogen raus, habe mir auf LEVJEs kleinem Kompass eine Ecke gemerkt. Werde keck, habe mir in meiner Umgebung ein Instrument geschaffen, nach dem ich in der einförmigen Wellenlandschaft im Halbdunkel meinen Kurs steuern und halten kann.

Cap Spartivento. Der Golfo di Squillace, die unruhigste Ecke, liegt nun hinter uns. „Il Golfo di Squillace al marinaio non da pace“, sagen italienische Segler. „Der Golf von Squillace, er lässt dem Seemann keine Ruh.“ Aber anders als vor zehn Jahren, als ich diese Ecke zum ersten Mal nachts passierte, lassen Wind und Strom nun nach. Die Wellen kommen gleichförmiger