Inhalt

Sandy Einstein erinnert sich

Udo Bayer – CARL LAEMMLE

1. Laemmle und Deutschland in den dreißiger Jahren

2. Die amerikanische Einwanderungspolitik

3. Laemmles Schriftwechsel im Einzelnen

Danksagung

Der Autor

Liste der Korrespondenz Laemmles in Affidavit-Angelegenheiten aus den National Archives

Literatur

Impressum

Bücher, die im Carl Laemmle Press erschienen sind

Sandy Einstein erinnert sich

Als ich aufwuchs, sprach mein Vater kaum über seine Vergangenheit und ich hatte auch kein Interesse daran, ihn danach zu fragen. Er sagte, dass er während des nationalsozialistischen Terrorregimes in den 1930ern durch einen Produzenten in Hollywood freigekauft worden war und dass er dessen Sohn in Hebräisch unterrichtet hatte, da er in Deutschland Hebräischlehrer und Kantor war. Mein Vater verstarb als ich zwanzig Jahre und meine Mutter als ich siebenunddreißig Jahre alt war. Sie hinterließ ein handschriftliches Testament, einige Finanzunterlagen und ungefähr vierzig deutschsprachige handgeschriebene Briefe meines Vaters – alles verstaut in einer Kleiderkiste.

Ende 2010 – 28 Jahre nach dem Tod meiner Mutter – beschloss ich, mehr über meine Vorfahren zu erfahren. Gerade weil ich mich in meinen jungen Jahren nicht mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt hatte. Ich öffnete die Kleiderkiste und fand die Briefe meines Vaters. Einer fiel mir besonders auf. Ein Brief, den er an den Hollywood-Produzenten Carl Laemmle geschrieben hatte. Ich übersetzte ihn und erfuhr, dass er in dem Brief Carl Laemmle zusagte, mit ihm nach Amerika zu kommen. Dieser Brief faszinierte mich so, dass ich mehr über die Geschichte meines Vaters und seine Herkunft erfahren wollte. Ich durchsuchte das Internet, erfuhr mehr über Carl Laemmle und entdeckte einen Aufsatz von Udo Bayer mit dem Titel „Laemmle’s List“, den er 1998 für das „Film History Journal“ geschrieben hatte. Unter anderem wurde beschrieben, dass Carl Laemmle Bürgschaften ausgestellt hatte, um deutsche Juden vor der Unterdrückung des Nazi-Regimes in den 1930ern zu retten. Nachdem ich den Aufsatz gelesen hatte, wurde mir klar, dass mein Vater einer derjenigen war, für den über „Laemmle’s List“ eine Bürgschaft ausgestellt wurde. Das war die entscheidende Erkenntnis für mich.

Ich trat mit Udo Bayer, dem renommierten Laemmle-Historiker in Laemmles Geburtsstadt Laupheim, in Kontakt und schickte ihm die etwa vierzig Briefe meines Vaters zur Übersetzung. Dies war der Beginn unserer Freundschaft. Nachdem ich Udos Ausführungen gelesen hatte, entstand das Bedürfnis, die Welt auf Carl Laemmles unbekannte humanitäre Einsätze aufmerksam zu machen und ich begann, diese Informationen in der Medienlandschaft zu verbreiten. Udo und ich mailten uns. So erfuhr ich weitere Hintergründe über Laemmle, seine Bürgschaftserklärungen sowie die politische Situation der 1930er in Deutschland. Er sendete mir Archivdokumente aus dem Nationalarchiv in Washington D.C. und aus anderen Quellen zu. Diese Unterlagen sollten mir bei der Publikation von Artikeln helfen. Doch trotz der wertvollen Informationen, die ich von Udo erhalten hatte, war es sehr schwer, bei den Medien Interesse dafür zu wecken, einen Artikel über Laemmle und seine unbekannten humanitären Einsätze zu veröffentlichen. Ich zeigte jedoch Beharrlichkeit und gab nicht auf. Schließlich gelang es mir, die Publikation lokaler wie auch überregionaler Artikel zu initiieren. Mein größter Erfolg war die Kontaktaufnahme zu dem geschätzten Autor Neal Gabler. Nach großen Anstrengungen gelang es Herrn Gabler und mir, die New York Times für eine weltweite Veröffentlichungen eines Artikels über Laemmle zu gewinnen.

Im September 2013 reiste ich nach Laupheim, um Udo zu besuchen. Er war ein unübertreffbarer Gastgeber und Reiseführer. Er führte mich zu dem Ort, an dem sich damals die jüdische Schule befand, an der mein Vater unterrichtete hatte, die Synagoge stand, in der er Kantor war und zum „Museum zur Geschichte von Christen und Juden“, in dem ein ganzer Flügel Carl Laemmle gewidmet ist. Zuhause bei Udo erwartete mich ein Festessen und er stellte mich seiner Frau Gabi vor. Wir fuhren gemeinsam zum Geburtsort meines Vaters in der Nähe von Bad Buchau. Udo stellte mich der Lokalhistorikern Charlotte Mayenberger vor, die mir die Stadt zeigte, mich mit dem Bürgermeister Peter Diesch bekannt machte und mich zu dem Ort führte, an dem einst das Haus meiner Familie stand. Sie händigte mir sogar eine Kopie meines Familienstammbaumes aus, der bis zu meinem Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-Großvater ins Jahr 1665 zurückreicht.

Hinsichtlich meiner Herkunft ist es mir gelungen, den Kreis zu schließen. Den Ursprung meiner Reise stellte die Entdeckung des Aufsatzes „Laemmle’s List“ von Udo Bayer dar. Während dieser Reise schloss ich Freundschaft mit Udo und entwickelte ein Bewusstsein für Carl Laemmles humanitäre Anstrengungen, um deutsche Juden vor der Unterdrückung des Nazi-Regims in den 1930er zu retten. Bedauerlicherweise verstarb Udo am 25. September 2015. Mit ihm hat die Welt eine großherzige Seele verloren.

CA, Walnut Creek, USA, Oktober 2016

Udo Bayer – CARL LAEMMLE

Sein Kampf um Bürgschaften für jüdische Flüchtlinge1

Eine große humanitäre Tat von Carl Laemmle ist die Ausstellung von Bürgschaftserklärungen, sog. Affidavits, für verfolgte Juden in den Jahren bis zu seinem Tode am 24.9.1939. Nach seinen eigenen Worten hat er in seinem Leben noch nie so viel Mitgefühl für eine Sache empfunden, und er hat getan, was zu tun sein Herz ihm vorschrieb.2 Das m.W. einzige publizierte Zeugnis war bisher eine Äußerung des ehemaligen Geschäftsführers des Israelitischen Oberrats in Stuttgart, Wissmann, mit der Zahlenangabe von über dreihundert.3 Die wichtigste Quelle für Dokumente in dieser Angelegenheit dürfte das Nationalarchiv in Washington sein; da die Ermittlung der verfügbaren Dokumente aber entsprechende persönliche Archivarbeit voraussetzt, konnte dies erst Ende 1994 (dankenswerterweise durch Karin Schick) geschehen. Ihre Recherche förderte 45 Dokumente, meist Korrespondenz von Laemmle mit offiziellen amerikanischen Stellen aus dem Zeitraum zwischen November 1936 und April 1939 zutage; teilweise waren nur Indexkarten mit Datum und Namen der betroffenen Person vorhanden, nicht jedoch die eigentliche Akte; die Dokumente selbst befinden sich in einer Außenstelle des Archivs in Maryland. Gründe für die Lückenhaftigkeit des Archivmaterials waren nicht zu ermitteln.

Bekanntlich war die Judenverfolgung im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten insofern singulär und mit der Vielfalt heutiger Gründe für Migration und Asylgewährung kaum vergleichbar, als die Juden hier einzig und allein bereits wegen ihrer ethnischen Abkunft und völlig unabhängig von irgendwelchen Handlungen verfolgt wurden; dieser Verfolgungsgrund ist bekanntlich das einzige Merkmal, das der Verfolgte prinzipiell nie abstreifen könnte. Darin lag gleichzeitig die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Die einzige Möglichkeit, wenigstens das Leben zu retten, bot die Auswanderung. Sie war, unter zunehmenden Schwierigkeiten sowohl durch die deutschen Behörden wie durch die Einwanderungsbeschränkungen potentieller Aufnahmeländer bis in die zweite Jahreshälfte 1941 möglich. Von großer Bedeutung wäre für dieses Thema natürlich die gesamte Korrespondenz von Carl Laemmle; ihr Verbleib ist ungeklärt4. Laemmles Schwiegersohn Stanley Bergerman hat, nicht zuletzt aufgrund des persönlichen Kontaktes, der sich nach der Namensgebung des Laupheimer Gymnasiums entwickelt hat, neben anderen Erinnerungsstücken Laupheim auch einige Briefe geschenkt.

Die zitierten umfangreichen amerikanischen Untersuchungen zur Frage der Rettung europäischer Juden durch die Aufnahme in den USA beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem Handeln der Administration und ihren Entscheidungsträgern, teilweise auch mit jüdischen Organisationen, aber bemerkenswerterweise findet die Schwierigkeit der Affidavitgewährung selbst kaum Aufmerksamkeit, obwohl sie eine ganz zentrale Voraussetzung für die Rettung durch eine Flucht in die USA war.

So versucht also diese dem humanitären Engagement Laemmles gewidmete Untersuchung einen Zusammenhang herzustellen zwischen der fragmentarischen Korrespondenz aus den National Archives, den Untersuchungen zur amerikanischen Einwanderungspolitik und schließlich den politischen Ereignissen in Deutschland, über die Laemmle gut informiert war. Das Ziel dieser Darstellung ist ein dreifaches: zunächst skizziert sie einen wesentlichen Teil von Laemmles Lebensleistung in seinen letzten vier Jahren, ab 1936, dem Verkauf der Universal; daher ist dies auch eine wichtige Ergänzung seiner Biografie. Das zweite Ziel ist es, in einer Art Fallstudie aus der Korrespondenz eines vermögenden und bekannten amerikanischen Juden mit starkem philanthropischem Engagement zu ermitteln, welche Möglichkeiten zur Rettung europäischer Juden bestanden und wo solche Versuche auf Hindernisse stießen bzw. was ein Mann wie Laemmle erreichen konnte. Der perspektivische Akzent liegt somit also vornehmlich auf den USA und ihren politischen Entscheidungsträgern. Zum Dritten schließlich hat diese Untersuchung auch eine lokalhistorische Funktion: nämlich einen großen und nicht immer freundlich beurteilten Sohn der Stadt Laupheim in einem zusätzlichen Aspekt seines Wirkens vorzustellen, der bislang nicht erforschbar war und daher auch nicht gemäß seiner Bedeutung gewürdigt werden konnte.


1 Udo Bayer, Carl Laemmle und die Universal, Eine transatlantische Biografie, Kapitel 11
2 Dok. 33 u. Dok. 14 (aus den chronologisch durchnummerierten Dokumenten der National Archives; in Kopie im Stadtarchiv Laupheim)
3 Wissmann, S. 204 f.
4 Gabler, S. 480