Ostfriesische Rache

Ostfrieslandkrimi

Andrea Klier


ISBN: 978-3-95573-250-9
1. Auflage 2015, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2015 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de und www.ostfrieslandkrimi.de

Titelbild: Unter Verwendung eines Bildes von Shutterstock.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Für alle Menschen, die leiden müssen, und in Erinnerung an Stella.

Prolog

Noch 35 Tage bis November

 

Allerheiligen, die Lebenden gedenken der Toten,

die Farben verblassen,

Nebel kriecht über Gräber und Gassen.

 

Kerzenlicht erhellt das dunkle Grab,

leuchtet ihren Seelen,

die Körper in Weiß gehüllt, geschmückt mit Astern und Chrysanthemen.

 

Das Opfer muss sein,

Befreiung tut Not,

Allerheiligen – sie sind tot.

 

Das Totenreich öffnet seine Pforten,

27. September,

noch 35 Tage bis November.

Kapitel 1

1. Tag

Emden - Mittwoch, 27. September, 16 Uhr

Eine Böe fegte über sie hinweg. Amelies Vokabelheft flatterte im Wind. Sie schlug das Heft zu und stopfte es in ihre Schultasche. Für die morgige Arbeit konnte sie am Abend immer noch lernen. Amelie lehnte sich an der Parkbank zurück und lauschte den Geräuschen um sich herum. Sie konnte die an der Reling befestigten Fender bis zu ihrem Platz auf der Parkbank ächzen hören. Durch das Aufkommen des Windes begannen die Schiffe jetzt heftiger zu schaukeln, die Fender gerieten zwischen Rumpf und Kaimauer und quietschten bei jedem Stoß. Von ihrem Platz aus konnte sie all das nicht sehen, doch das war nicht nötig, sie war hier geboren und kannte sich in dem mittelalterlichen Binnenhafen aus. Sie wusste, dass die Sonne jetzt auf die Museumsschiffe schien und kleine Lichtpünktchen in den Wellen aufblitzen ließ, die sanft an den Bug der Schiffe schlugen.

Amelie holte tief Luft. Sie fuhr gern hinaus. Ihr Vater arbeitete als Kapitän auf einem der Schiffe, die Rundfahrten für Touristen anboten. Von Bord aus konnten sie die maritime Aussicht auf den Ratsdelft genießen, der die Geheimnisse früherer Zeiten spiegelte und die Fantasie beflügelte. Sie war mit Seemannsgeschichten aufgewachsen und konnte nie genug davon hören. Im nächsten Moment hörte sie etwas anderes.

Die sich öffnende Verriegelung eines Autos, dann eine Stimme.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“

Amelie schüttelte den Kopf. „Danke, nicht nötig. Und ich darf auch nicht zu Fremden in den Wagen steigen.“

„Es wird gleich regnen.“

Amelie blieb auf ihrer Bank sitzen und schielte nach oben. Das stimmte. Dunkle Wolken zogen am Himmel vorbei, der Wind blies kräftig, die Menschen hasteten durch die Straßen. Der Platz, in dem sie zwischen Bäumen auf einer Parkbank saß, wirkte wie verlassen. Sie würde sicher nass werden, wenn sie sich nicht beeilte.

„Wie alt bist du denn?“

„Zehn.“ Sie stand auf, ihre blonden Haare wehten im Wind. „Ich glaube, es regnet wirklich gleich los. Zum Glück habe ich es nicht weit.“ Amelie drehte sich um und wollte gehen.

„Möchtest du mal schauen? Sie sind noch ganz klein. Als Babys sind sie besonders süß. Ich kann dir eines schenken, wenn du möchtest. Sie sind gerade mal sechs Wochen alt.“

Amelie zögerte. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, sich nicht mit Fremden einzulassen, aber einen Blick in ein Auto werfen war sicherlich erlaubt. „Sind es Katzen oder Hunde?“, wollte sie wissen und kam näher an den Wagen heran.

„Katzen. Und wirklich drollig.“

Amelie blickte auf. Das Lächeln kam ihr plötzlich seltsam vor und gefiel ihr gar nicht mehr. Zögernd blieb sie stehen und schielte in den Wagen. Im Inneren konnte sie keine Katzen entdecken. Sie trat einen Schritt zurück.

„Traust du dich nicht? Du musst nur hineinsehen.“

Die Tür öffnete sich. Ein Sonnenstrahl, der kurz zwischen den dunklen Wolken durchbrach, spiegelte sich in der silbernen Lackierung. Im nächsten Moment sprang eine kleine grau gestreifte Katze aus dem Wagen und tapste flink Richtung Gebüsch. Amelie reagierte sofort und schnappte sich den Ausreißer. „Du bist ja goldig“, flüsterte sie und drückte das Kätzchen an sich.

„Danke, dass du so schnell reagiert hast. Es wäre schlimm gewesen, wenn sie entwischt wäre. Sie ist doch noch so klein und hilflos. Sie muss noch versorgt werden.“

Amelie nickte und kam näher an das Auto heran. „Sie ist wunderhübsch. Ich glaube, sie mag mich.“

„Ganz bestimmt. Leg sie doch bitte wieder in ihren Korb zurück, damit ihr nichts passiert.“

Amelie hätte das Kätzchen gerne noch länger an sich gedrückt und gestreichelt, aber da bereits die ersten Regentropfen fielen und der Wind an Stärke zunahm, beugte sie sich in den Wagen hinein. Sie wunderte sich noch, dass kein anderes Kätzchen im Korb lag, und legte ihres hinein.

Im nächsten Moment spürte sie einen harten Griff in ihrem Genick und wie sie brutal in den Sitz gedrückt wurde. Die zweite Hand presste ihr ein Tuch vor den Mund. Es roch ekelhaft und nahm ihr den Atem. Amelie wurde schwindlig. Die Umgebung um sie herum verschwamm, ihre Glieder fühlten sich schwer an. Das Letzte, das sie registrierte, waren die großen Augen des Kätzchens, dann brach sie zusammen und tauchte in eine bleierne Schwärze ein.

 

Aumund - 17 Uhr 30

Der Wind blies immer stärker. Hauke Holjansen schlug sich den Kragen seiner Jacke nach oben. Er lief über den Hof und betrat das Gebäude der Materialausgabe der Polizei.

„Moin Hauke“, begrüßte ihn Paul, ein älterer Polizist. „Nach Feierabend noch unterwegs? Hast du deine Dienstwaffe in den Kanal geschmissen und brauchst Nachschub?“

„Moin.“ Hauke grinste. „Nee, ich bin noch vollständig. Ich hätte nur eine ungewöhnliche Bitte.“

„Schieß los.“

„Ich bin auf der Suche nach alten Handschellen, die niemand mehr braucht.“

Paul, der vornübergebeugt an einem länglichen Tisch lehnte, blickte perplex zu ihm auf. „Planst du irgendwelche Spielchen mit deiner Freundin?“

Hauke lachte. „Nee, die sind nicht für mich, sondern ein Geburtstagsgeschenk. Die Kleine heißt Laura und wird elf. Echte Handschellen wären ihr Traum. Sie hat mir bei meinem letzten Fall geholfen und will jetzt unbedingt zur Polizei.“

„Und bis dahin will sie mit dem Verhaften schon mal anfangen.“ Paul zwinkerte ihm zu.

„So ähnlich“, gab Hauke zu. „Ich dachte an ein defektes Teil, das nicht mehr richtig schließt und aus dem sich jeder ohne Probleme wieder befreien kann. Laura ist schon zuzutrauen, dass sie ein paar Jungs irgendwo festkettet.“

Paul stöberte in einer Schublade. „Ich hab da was für dich.“ Er zog ein paar Schellen hervor. „Die lassen sich nicht mehr reparieren. Der Schlüssel dreht durch, macht aber was her. Zum Spielen ist das ideal. Die schnappen ein und wenn du hier draufdrückst …“ Er zeigte Hauke, wie sich die Schellen problemlos öffnen ließen.

„Das ist mehr, als ich erwartet habe.“

Paul grinste. „Schenk ich dir. Und noch was.“ Er kramte erneut in seiner Schublade. „Ein Funksprechgerät.“

„Bist du verrückt? Laura ist gewitzt. Die hört damit unseren Polizeifunk ab.“

„Nee, das schafft sie nicht. Das Teil ist mit Analogfunk ausgestattet und nicht wie die modernen digital.“

„Ach, ein veraltetes Walkie-Talkie.“

„Richtig. Und mit einer Frequenz, die heute jeder benutzen darf. Es braucht nur neue Batterien, aber ob das bei ihr im Zeitalter der Handys noch ankommt?“

„Ich denke schon.“ Hauke zwinkerte ihm zu. „Sie bekommt von mir noch eine Taschenlampe, einen Polizeiblock und ein Set, um Fingerabdrücke abzunehmen. Meine Tante näht ihr auch eine Schutzweste.“

Paul dachte kurz nach. „Handelt es sich um die Kleine, der du bei den Lazarusmorden das Leben gerettet hast?“

„Genau!“

Paul wollte noch etwas sagen, als Haukes Handy klingelte. Es war die Kriminalrätin Fenna Falkeneck, die ihn bat, bei ihr vorbeizukommen.

„Dienst nach Feierabend, du Ärmster“, brummte Paul und packte Haukes Sachen ein.

„Danke.“ Hauke nahm die Tüte. „Nun sieh zu, dass wenigstens du nach Hause kommst. Da draußen braut sich ein Sturm zusammen.“ Er hob die Hand und machte sich auf den Weg zu seiner Vorgesetzten.

 

Als Hauke das Büro von Fenna Falkeneck betrat, saß sein Freund und Kollege Sven Ohlbeck bereits bei ihr.

„Nehmen Sie Platz“, kam die Kriminalrätin gleich zur Sache. „Sie müssen ab morgen einen Fall in Emden übernehmen.“

„Geht es um den Einbrecher, der sich heute Nacht den Weg freigeschossen hat?“

„Genau um den. In Emden herrscht gerade Ausnahmezustand.“ Die Kriminalrätin schob ihnen je eine Kopie der Unterlagen zu. Während Hauke und Sven sich in den Inhalt vertieften, ließ sie ihren Blick auf den Männern ruhen. Sie waren beide Mitte dreißig, durchtrainiert und schlank. Während Sven Ohlbeck dunkelhaarig war, repräsentierte Hauptkommissar Holjansen eher den nordischen Typ. Mit seinen hellbraunen Haaren und den blauen Augen erinnerte er entfernt an den jungen Robert Redford, vor allem, wenn er lächelte.

Hauke blickte von den Unterlagen auf. „Sie vermuten ein System hinter den Einbrüchen?“

„Der Mann geht gezielt vor. Jedes Mal die gleiche Masche. Saubere Arbeit am Tresor. Ausgeraubt wurden bisher nur Sparkassen in Emden. Ihr Vorgänger hätte ihn beinahe geschnappt. Leider war er nicht auf eine Schießerei vorbereitet.“

„Wie geht es dem Hauptkommissar?“, erkundigte sich Sven.

„Schlecht. Er liegt im künstlichen Koma, wird aber überleben, wenn keine Komplikationen eintreten. Finden Sie den Täter.“ Sie stand auf. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Passen Sie auf sich auf.“ Damit waren die beiden entlassen.

„Typisch“, maulte Sven draußen vor dem Präsidium. „Immer, wenn man mal halbwegs ’ne ruhige Kugel schieben könnte. Und die ist auch nicht gleichzusetzen mit Nichtstun.“

„Ich weiß“, stimmte Hauke ihm zu. „Die ruhige Phase bedeutet nur, endlich mal Zeit für den lästigen Papierterror zu haben.

„Den sich unsere nette Verwaltung extra für unsere Nerven ausgedacht hat. Und nun packen die uns von woanders noch was drauf, und wir dürfen als Kanonenfutter dienen.“

„Nicht als Kanonenfutter“, korrigierte Hauke. „Als Zielscheibe. Ich gehe die Unterlagen heute Nacht durch. Eines möchte ich vermeiden.“

„Ich auch“, stimmte ihm Sven zu. „Wir dürfen in kein Feuergefecht geraten. Der Kerl hat schon genug von uns angeschossen. Den ziehen wir aus dem Verkehr.“

„Machen wir“, bestätigte Hauke.

Sie verabschiedeten sich und fuhren in getrennten Autos nach Aurich, wo sie drei Häuserblocks voneinander entfernt wohnten.

 

Emden - 19 Uhr

Der Ausdruck in Hannas Augen war irre, die roten Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht, und sie schaute wie ein gehetztes Tier um sich. Seit Jahren verließ die Frau meist nur in der Dunkelheit die Sicherheit ihrer vier Wände. Sie ging dann zum Friedhof und blieb lange dort. Am Tag traute sie sich nur selten mit dem Wagen hinaus, weshalb das silber-metallic lackierte Auto überwiegend in der Garage stand. Diese war, wie alles auf dem Grundstück, stets verschlossen.

Paulina Buuren legte das Fernglas zur Seite. Ihre Nachbarin, Hanna Lindner, drehte wieder einmal komplett durch. Regelmäßig alle paar Wochen stopfte sie ihre Mülltonne mit Kleinkram voll. Die Hauswand warf leider einen langen Schatten, weshalb Paulina nicht erkennen konnte, was in die Tonne wanderte.

Früher, als Hannas Mann und das gemeinsame Kind noch bei ihr lebten, hatte man mit der Frau noch reden können, aber jetzt …

Paulina spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Sie wollte nicht an das Entsetzliche denken. Sie wollte vergessen, was passiert war, damals, als Hanna noch normal tickte. Zu dieser Zeit war sie, Paulina, sogar neidisch auf ihr Glück gewesen, auf das, was Hanna besaß, die strahlenden Augen und ihre wundervolle glückliche Familie. Sie war eifersüchtig gewesen, doch wie schnell sich doch die Zeiten ändern konnten.

Von einem Augenblick auf den anderen war plötzlich alles vorbei. Zerstört, vernichtet, der Traum vom Glück, und nur wegen eines einzigen Fehlers. Hanna würde ihr Leben lang dafür mit Seelenqualen bezahlen. Sie konnte keine Ruhe mehr finden und war seitdem nur noch ein Schatten ihrer selbst. Eine leere Hülle, die einsam vor sich hin lebte, ohne Hoffnung auf inneren Frieden und Vergebung. Ihr Verhalten wurde von Jahr zu Jahr seltsamer, geradezu beängstigend.

Paulina presste das Fernglas erneut an die Augen. Nein, es war unmöglich zu erkennen, was diesmal in die Tonne wanderte. Ein rötlicher Schimmer, Tücher, Fetzen, längliche Teile, es ging zu schnell.

Paulina seufzte. Bisher war es ihr nur ein einziges Mal gelungen, in die Tonne auf der Straße zu spähen. Was sie darin fand, waren Tücher voller Blutflecke und zerstörte Puppenteile, an denen ebenfalls Blut klebte. Paulina wurde schlecht bei dem Gedanken, dass es sich dabei um die Puppen von Hannas Tochter handeln könnte. Das war dann wohl eine Art der Bewältigung, wenn Hanna zum Messer griff und ihnen Arme und Beine abtrennte.

In Momenten der Qual konnte Hanna nicht anders, dann musste sie zerstören. Manchmal waren auch Schreie durch die geschlossenen Fenster zu hören, Schreie wie von einem verletzten Tier, unmenschlich, erschreckend und irre.

Einmal hatte Paulina zufällig durch das Küchenfenster beobachtet, wie Hanna am Tisch saß und mit einem irren Blick Messer schleifte. Es war auch bekannt, dass Hanna sich öfter die Arme zerschnitt.

Paulina schreckte aus ihren Gedanken auf, als Hanna den Deckel der Mülltonne zuschlug und wie von Sinnen über die hintere Terrasse zurück ins Haus rannte.

„Solche Leute gehören in eine geschlossene Anstalt“, murmelte sie. Es zuckte um ihren Mund, als die Außenlampe ausging und sich plötzlich ein Schatten aus dem Gebüsch schälte. Es war die Gestalt eines kleinen seltsamen Mannes, der stets nur ein Ziel hatte, nämlich Hannas Mülleimer zu durchwühlen und einiges von dem Inhalt in seine Plastiktüte zu stopfen.

Wie schaffte er es nur, das eingezäunte Grundstück zu betreten? Für sie und alle anderen war das unmöglich, denn der hintere Bereich des Hauses war hermetisch abgeriegelt.

Paulina biss sich auf die Lippen. Zum ersten Mal hatte sie den kleinen Mann vor einem halben Jahr bemerkt. Seitdem kam er regelmäßig, meist im Schutz der Dämmerung, manchmal klingelte er sogar an der Haustür. Um zu sehen, was dann vorging, musste Paulina in den vorderen Teil ihrer Wohnung im zweiten Stock wechseln.

Vom Balkon aus konnte sie beobachten, was im Eingangsbereich vor sich ging. Meist öffnete Hanna die Tür nur einen Spalt breit, um mit ihm zu sprechen.

Paulina bedauerte wieder einmal, dass sie seine Gesichtszüge nicht richtig erkennen konnte. Manchmal ließ Hanna den kleinen korpulenten Mann auch in ihr Haus. Wenn er dann wieder ging, hatte er es stets eilig.

Hanna war eine seltsame Frau mit sonderbaren Freunden. Offensichtlich konnte sie Menschen kaum noch ertragen. Einzig der kleine Mann, der Postbote und der Fahrer eines größeren Wagens, der Hanna in regelmäßigen Abständen Kisten lieferte und andere abholte, verkehrten noch mit ihr.

Was soll’s, dachte Paulina, als der kleine Mann hinter einem Busch in der Dunkelheit verschwand. Sie hatte selbst genug Sorgen, die Zeiten des Austauschs mit den Nachbarn waren eben vorbei. Vielleicht brauchte sie es aber auch gar nicht mehr lange hier aushalten. Dazu musste nur ihr Plan gelingen, und wenn beendet war, was sie begonnen hatte, würde diese Wohngegend für sie Vergangenheit sein.

Und das war gut so. Denn irgendwann musste jeder einen Schlussstrich ziehen und noch einmal ganz von vorn beginnen. Sie war erst Mitte vierzig und dazu bereit. Und ihre Schwester, so tragisch es auch war, würde ihr zu diesem Neuanfang verhelfen.

Kapitel 2

2. Tag

Norden - Donnerstag, 28. September, 17 Uhr 20

Als der Himmel sich bereits in ein sanftes Rosa verfärbte, fand Laura ihren Freund Onno am Kinderspielplatz seiner Wohnsiedlung. Er hockte auf einer Bank und starrte dumpf vor sich hin. Sein Körper wippte langsam vor und zurück, seine Augen blickten seltsam starr.

„Endlich finde ich dich.“ Laura blies sich eine dunkelbraune Locke aus der Stirn und setzte sich neben ihn auf die Bank.

Onno sah sie mit seltsam glasigen Augen an und presste seine Tüte an sich. „Ich bin eben erst aus Emden zurück. Bin dort in einer Gruppe. Soll irgendwann bei ihnen wohnen.“

„Toll, aber das hast du mir schon erzählt.“

Onno starrte sie nur an. „Hab gestern Nacht dort geschlafen. Bin noch in Emden spazieren gegangen. Sind schön, die Kanäle, auch bei Nacht.“

„Meine Freundin Deike wohnt auch in Emden“, erklärte Laura ihm. „Die lernst du an meinem elften Geburtstag kennen und noch viele andere.“

Onno nickte. „Kommst du noch mit zu mir? Meine Mutter hat mir Pflaumenkuchen mit Kartoffelsuppe versprochen.“

Laura, die hungrig war, zögerte. Ihre Mutter hatte Spätschicht und würde erst gegen halb zehn am Abend zurück sein. „Meinst du, das geht?“

„Sicher“, zerstreute Onno ihre Bedenken und stopfte die Tüte unter seine Jacke.

Laura deutete auf die Beule. „Was hast du da?“

Onno sah sich nach allen Seiten um und hob den Finger an den Mund. Wieder drehte er sich in alle Richtungen. Laura fand das merkwürdig, denn es war niemand auf dem Spielplatz zu sehen.

„Pst!“, flüsterte er. „Muss das erst nach Hause bringen.“

„Eine Überraschung?“

Onno spähte in seine Jacke, dann zum Sandkasten. Sein Blick verlor sich.

Laura kannte ihn. Ihr Freund war anders als andere Menschen, daher wartete sie geduldig, bis er antwortete.

„Es ist ein Geheimnis. Das darf ich dir nicht verraten.“ Er stand auf, die Tüte unter seiner Jacke fest an sich gepresst.

Gemeinsam liefen sie durch die Siedlung zu den Wohnblocks außerhalb. Hermine Jessken, Onnos Mutter, wartete schon am Fenster im vierten Stock.

Während Onno sofort in seinem Zimmer verschwand und die Tür verrammelte, setzte Laura sich zu seiner Mutter in die Küche und ließ sich den Teller Kartoffelsuppe und den Pflaumenkuchen schmecken.

„Sag mal, mien Deern“, fragte Frau Jessken, „hast du nichts zum Mittagessen bekommen?“ Lächelnd schenkte sie sich eine Tasse Tee ein. Für ihre 83 Jahre war sie noch rüstig, nur ihre Vergesslichkeit war sprichwörtlich. Sie musste vieles mehrmals fragen, bis sie es sich merken konnte. Laura störte das nicht. Genauso wenig störte es sie, wie Onno sprach. Für manche klang das komisch, doch Laura verstand ihn. Sie fühlte sich in der freundlichen Atmosphäre bei Jesskens wohl. Ihre eigene Oma sah sie nur selten, ihre Mutter musste viel arbeiten, und Hermine Jessken bemutterte sie immer, wenn sie kam.

„Ich hatte schon was zum Warmmachen“, verriet Laura der alten Frau. „Aber ich war den ganzen Tag draußen.“

Frau Jessken schmunzelte. „Onno vergisst auch oft das Essen. Wo steckt er eigentlich?“

„In seinem Zimmer. Er verrät mir nicht, was in der Tüte ist.“

„Denk dir nichts dabei. Er ist ein Geheimniskrämer. Manchmal schiebt er sogar den Tisch vor die Tür. Ich weiß gar nicht, was er dann treibt. Er hämmert und klopft und am Abend schafft er alles in seine Truhe. Er bastelt gern.“ Sie deutete zum Küchenregal. „Das Schiff hat er geschnitzt. Er mag es, wenn er mit seinem Messer etwas bearbeiten kann. Sein Messer ist sein Ein und Alles.“

Laura starrte auf das Holzstück, das grob und klotzig auf dem Küchenregal stand. Wie ein Schiff sah es nicht aus, aber mit etwas Fantasie konnte man sich das schon vorstellen. In diesem Moment betrat ihr Freund mit rot verschmierten Händen die Küche.

„Aber Onno, du musst dir die Hände waschen“, tadelte ihn seine Mutter. Er drehte sofort den Wasserhahn auf und wusch sich die Flecken ab.

„Zeigst du mir, was in deiner Tüte ist?“ Laura nahm sich noch ein Stück Pflaumenkuchen.

„Nee, kann ich nicht. Muss noch was dran tun.“

„Er zeigt seine Basteleien immer erst, wenn sie fertig sind.“ Frau Jessken schöpfte ihrem Sohn Suppe in den Teller und reichte ihm ein Stück Kuchen. Auch Laura schob ihr den Teller hin. „So ist es recht“, freute sie sich und war glücklich, dass es am Tisch munter zuging. Onno hatte sonst kaum Kontakt. Niemand wollte mit ihm zu tun haben. Seine Behinderung konnte ihm jeder gleich ansehen. Oft warfen ihr die Nachbarn feindselige Blicke zu. Dass getuschelt wurde, wusste sie, auch wenn sie nicht mehr allzu gut hörte.

Wie wird er nur zurechtkommen, wenn ich einmal nicht mehr bin?, dachte Frau Jessken betrübt, dann verbannte sie ihre Sorgen und wandte sich dem Gespräch am Tisch zu.

So verging die Zeit, bis Laura gehen musste, um ihren Bus nach Norddeich nicht zu verpassen. Onno wollte sie noch zur Haltestelle begleiten. Zuvor musste er noch den Mülleimer nach unten tragen und leeren.

Laura ging währenddessen auf die Toilette. Dabei bemerkte sie, dass Onnos Zimmertür einen Spalt breit offen stand. Da ihr Freund gerade die Haustreppe nach unten stapfte und Frau Jessken Geschirr spülte, vertrödelte sie keine Zeit. Kurzentschlossen schlüpfte sie durch den Türspalt und sah sich in Onnos Zimmer um. Auf seinem Basteltisch lagen das Messer und etliche rot beschmierte Tücher. Die Plastiktüte hing leer an seinem Stuhl. Laura schlich zur Truhe. Ihre Finger wanderten zum Deckel, den sie vorsichtig aufklappte. Im gleichen Augenblick erschrak sie und ließ ihn wieder fallen. Sie riss sich zusammen und öffnete den Deckel erneut.

Die Truhe war mit mindestens sechs Puppen gefüllt, alle rot verschmiert und ohne Arme und Beine. Über den Bäuchen der Puppenkörper waren Kratzer, teilweise Löcher. Onno musste mit seinem Messer darübergeritzt und hineingestochen haben. Die Arme und Beine lagen verdreht daneben, auch dort war überall rote Farbe zu sehen.

„Was will Onno daraus nur basteln?“, murmelte sie. „Das sieht aus wie Blut.“ Sie nahm einen Puppenkörper in die Hand. Die Puppe hatte keine Augen mehr, der Kopf war nach hinten verdreht. In diesem Moment hörte sie Schritte. Sie warf den Puppenkörper zurück in die Truhe, klappte den Deckel zu und schlich aus dem Zimmer. Gerade als sie die Küche betrat, brachte Onno den geleerten Mülleimer zurück. Laura verabschiedete sich, und Onno begleitete sie noch bis zur Bushaltestelle.

 

Emden - 19 Uhr

Draußen dämmerte es bereits. Die katholische Pfarrkirche St. Michael im Emder Stadtteil Groß-Faldern hob sich dunkel vom nachtgrauen Himmel ab. Eine in Schwarz gekleidete Frau betrat das Innere durch den Haupteingang. Die Tür quietschte, als sie aufgeschoben wurde und wieder zufiel. Die alte Dame bekreuzigte sich, zog den Schleier ihres Hutes tiefer ins Gesicht und steuerte den Beichtstuhl an. Es befanden sich kaum Menschen in der Kirche und niemand achtete auf sie. Die Tür zum Beichtstuhl knarrte, ebenso die Bank, als sie sich setzte.

Die Frau bekreuzigte sich ein weiteres Mal. „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

„Gott schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seine Barmherzigkeit“, erwiderte der Priester.

„Amen.“ Sie begann mit ihrem Bekenntnis und schloss es mit einem kurzen Reuegebet ab. „Ich bereue, dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Erbarme dich meiner, o Herr.“

Es folgte das Beichtgespräch, das den Pfarrer, eine Vertretung aus Leer, urplötzlich aus seiner behaglichen Ruhe riss. Entgegen der üblichen Beichte erging sich die Frau in Klagen, die sich einzig gegen ihren Sohn richteten. Erschrocken hörte er sich ihre Anklagen an. Dabei betrachtete er ihr Gesicht, das ihm durch den Schleier hart und verbittert entgegenblickte. Er kannte die Frau erst seit Kurzem und wusste nur, dass sie nicht in Groß-Faldern wohnte.

Seltsam, dachte er. Beim letzten Sonntagskaffee hatte er sie doch ganz anders erlebt. Überaus gütig bei der Überreichung eines Schecks für den Kindergarten. So freundlich, als sie mit einem Mädchen sprach, das ihr Blumen brachte.

„Versündigen Sie sich nicht“, unterbrach er sie erschrocken. „Es steht geschrieben, richtet nicht, damit nicht ihr gerichtet werdet.“

„Gott steht auf meiner Seite“, erwiderte sie unbeirrbar.

„Gott liebt und bewacht jeden Menschen.“

„Nein, der Herr hat mich geschickt, um zu handeln.“

„Tue Gutes und vergib allen Sündern. Der Herr gibt und der Herr nimmt. Niemand darf sich anmaßen, als Racheengel auf Erden tätig zu sein.“

„Aber als sein Werkzeug. Und als Werkzeug Gottes will und werde ich Gutes tun, auch wenn es schmerzt. Das Böse muss zerstört werden. Im Leid liegt wahre Erlösung.“ Sie blickte in das ernste Gesicht ihres Gegenübers, registrierte den bedauernden Blick, der in seinen Zügen lag.

Was wusste dieser Mann schon von den Leiden einer Mutter. Was wusste er von den Jahren der Qual, den seltsamen Blicken, was sie doch für einen teuflischen Kretin geboren hatte. Sie wollte nicht mehr nur tatenlos zusehen, sondern handeln. Die Sache musste aufhören. Der Geistliche war ihr fremd, nur eine Aushilfe, nicht mehr lange an diesem Ort, und offensichtlich konnte oder wollte er sie nicht verstehen.

„Kehren Sie um“, riet er fast flehend. „Den Friedfertigen gehört das Himmelreich. Versündigen Sie sich nicht.“

Nein, dachte sie. Nicht sie war es, die sich versündigte. Er war es und seine Helfershelfer und die, die ihn benutzten. Er war bereits zu weit gegangen. Es wurde Zeit, dass sie die Dinge in die Hand nahm. Sie hatte schon damit begonnen. Bald würden weitere Taten folgen.

Sie setzten das Beichtgespräch fort. Sie unterließ es dabei, ihren Sohn weiter anzuklagen. Gott allein konnte sie verstehen und führen. „Ich will für meinen Sohn beten, wie ich es immer tue. Und jetzt bitte ich um die Absolution“, beendete sie ihre Beichte und bekreuzigte sich.

Der Priester schien überrascht. Er wollte ihr gern glauben. Bestimmt war sie gewillt, ihr selbstgerechtes Verhalten zu ändern, doch trotz seiner Gutgläubigkeit erschien ihm die Umsetzung eher fraglich. Trotzdem erteilte er ihr die Lossprechung von ihren Sünden.

„Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

„Amen“, erwiderte sie und blickte mit kalten Augen in sein Gesicht.

Er wagte nicht sie anzusehen, als er ihr eine Gebetsbuße auferlegte, ebenso eine Danksagung für die eben erfahrene Vergebung.

Sie bekreuzigte sich und verließ, mit hocherhobenem Haupt und ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, den Beichtstuhl.