Friesische Zerstörung

Ostfrieslandkrimi

Andrea Klier


ISBN: 978-3-95573-295-0
1. Auflage 2015, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2015 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de und ostfrieslandkrimi.de

Titelbild: Unter Verwendung des Bildes 149394164 von Sergey Nivens (shutterstock).

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt. Ebenso erfunden ist das Polizeikommissariat in Aumund mit all seinen Angestellten, den Kommissaren und Polizisten. Aumund ist ein fiktives Städtchen in Ostfriesland, das ich zwischen Aurich und Großes Meer angesiedelt habe, und das in Wirklichkeit nicht existiert. Bis auf Aumund (zusammengesetzt aus Aurich und Wittmund) sind alle anderen im Roman beschriebenen Orte real, und genau dort, im echten und wirklichen Ostfriesland, spielt auch die Handlung.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Prolog

Großes Meer – Bedekaspel

Mona Mo Riga war außer sich vor Zorn. Ihre dunkelroten Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, und ihre grünen Augen blickten voller Hass. Sie hob die Hand mit dem Messer und stach auf Helenas Gesicht ein. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen stand Helena starr da und kam erst wieder zu sich, als der zweite Stich folgte. Sie schrie auf, als ihre Mutter das Messer herauszog und erneut die Hand hob.

„Das bist du mal gewesen, du undankbares Geschöpf! Nie wieder wirst du in einer Galerie bewundert werden. Ausgestellt ja, aber nicht mehr bewundert.“ Wie von Sinnen stach Mona ein drittes Mal auf das Gemälde ein. Das Messer landete auf Helenas wohlgeformter Brust, von dort aus zerschnitt die Klinge die Leinwand bis nach unten.

„Aufhören!“, schrie Helena, doch ihre Mutter ließ nicht von dem Gemälde ab. Wie eine Irrsinnige stach sie immer wieder zu und vollendete die Zerstörung in Helenas Gesicht. „Willst du wissen, was passiert, wenn du mich verlässt und mit diesem Nichts und Niemand auf und davon läufst?“ Sie schleuderte das Messer auf den Werkstisch. Es rutschte über die Platte und fiel klirrend zu Boden. Mona achtete nicht darauf. Sie griff nach einer Skizze, entrollte das Blatt und streckte es Helena entgegen. Die starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Zeichnung ihrer Mutter.

„Das ist entsetzlich, nicht wahr? Und auf Leinwand kommt das erst richtig zur Geltung“, versprach Mona ihr. „Damit gehst du in die Geschichte ein. Außer …“ Sie lächelte von oben auf Helena herab. „Außer du bleibst. Das Gemälde befindet sich bereits in Alex’ Händen. Dieser hörige Hund wartet nur auf mein Kommando.“ Sie kam einen Schritt näher. „Es hängt einzig von dir ab, ob er es auspackt und ausstellt oder es unberührt und verschnürt lässt.“

Helena schluchzte auf. „Das ist Erpressung, das ist …“

„Eine faire Chance, um wiedergutzumachen, was du mir in den letzten Monaten angetan hast“, unterbrach Mona sie herrisch. „Alles im Leben hat seinen Preis. Ich schwöre dir, wenn du dich nicht beugst, stelle ich dieses Gemälde als Letztes von dir aus. Damit machst du Furore, aber nicht als Schönheit.“

Helena biss sich auf die Lippen. Als ihre Mutter nur irre auflachte, hielt sie sich die Ohren zu und schrie wie von Sinnen. Mona packte und schüttelte sie und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.

Schlagartig kam Helena zu sich. „Du hast mein Bildnis zerstört, du hast …“ Mit einem Schrei warf sie sich auf ihre Mutter. Die Frauen stürzten und rollten zur Seite. Wie eine Furie schlug Helena um sich. Mona wehrte sich mit nur einer Hand, die andere tastete am Boden entlang, bis sie das Messer zu fassen bekam.

„Du wirst gehorchen“, brüllte Mona oder …“ Ihre Hand schoss vor.

Helena wich zur Seite. Sie sah noch das Messer aufblitzen und bekam einen Meißel zu fassen.

Der Hass in den Augen ihrer Mutter erschreckte sie. Im nächsten Moment spürte sie einen heftigen Schmerz und wie ihre Sinne schwanden. Röchelnd sackte sie zusammen, und alles um sie herum verdunkelte sich.

Kapitel 1

„Wow“, stieß Maxi hervor, als sie zu der Villa blickte, die wie ein Miniaturschloss auf dem kleinen Hügel thronte und deren stilvoll gepflegtes Anwesen inmitten einer idyllischen Naturlandschaft lag. Sie hatte fast vergessen, wie wundervoll Ostfriesland war. Die Blätter der Bäume im Garten zeigten sich in den schönsten Farben, der Himmel war strahlend blau, und schneeweiße Wolken segelten zum Greifen nah über dem Dach der Villa dahin. Seevögel kreischten über ihnen, eine Brise rauen Windes strömte vom Großen Meer bis hierher.

Maxi strich sich die kurzen lockig-blonden Haare aus der Stirn, die der Wind ihr ins Gesicht pustete, und deutete auf das Angelboot mit dem Außenborder. „Ist das eures?“, wandte sie sich an Fabian, der in Gedanken versunken zum Kanal blickte, auf dessen Wasseroberfläche die Sonne unzählige Lichtpünktchen zauberte.

Er zuckte die Schulter. „Keine Ahnung. Da es am Anlegeplatz festgemacht wurde, gehört es wahrscheinlich meiner Mutter.“

Maxi ließ sich von seiner schweren Stimmung nicht niederdrücken und wandte sich an ihre Cousine Rosa. „Wie findest du es?“

„Idyllisch, wie immer. Ich kenne das Anwesen, zumindest von außen.“ Sie blickte zu Fabian, der noch immer starr auf die glitzernde Wasseroberfläche starrte. „Ihren Schwager kenne ich seit meiner Kindheit, nur dass ich jetzt bald Ihrer Mutter gegenüberstehe, kann ich noch gar nicht fassen.“

„Warum duzt du Fabian nicht?“, unterbrach Maxi sie. „Das ist unter Künstlern üblich.“

„Unter euch Künstlern vielleicht, ich bin Studentin der Medizin. Was ich so als bildende Kunst betreibe, kann ich nur als amateurhaft bezeichnen.“

Fabian drehte sich zu Rosa um. Für einen Moment blieb sein Blick auf ihrem rotblonden Haar haften, und er versank in dem Blau ihrer Augen. „Maxi hat recht. Sag Du zu mir.“ Er lächelte, was seinem zuvor düsteren Gesichtsausdruck jede Härte nahm. „Ich darf dich doch hoffentlich Rosa nennen? Frau Holjansen klingt extrem förmlich. In Amerika sind wir das nicht gewohnt. Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.“

Rosa zwinkerte ihm zu. „Wer kann von sich schon behaupten, mit einem international bekannten Maler per Du zu sein. Und erst deine Mutter.“ Sie holte tief Luft. „Mona Mo Riga ist hier jedem ein Begriff. Sie ist noch immer eine wunderschöne Frau.“

Bei der Erwähnung des Namens seiner Mutter verdüsterte sich sein Blick erneut. Rosa ließ ihn nicht aus den Augen. Sie kannte Fabian Peters erst seit gestern und wusste von ihm nur, dass er wie Maxi in Amerika lebte. Er war achtunddreißig Jahre alt, unverheiratet und hatte es mit seiner Kunst bis in die New Yorker Top-Galerien geschafft. Fabian war ebenso begabt wie seine Mutter, und dass beide sich nicht ausstehen konnten, sich sogar regelrecht hassten, war allgemein bekannt.

Mona Mo Riga lebte und arbeitete einzig für ihre schöne Tochter Helena, mit deren Porträts sie es bis in die höchste Spitze der Kunstszene geschafft hatte.

Seltsam, dass seine Mutter ihn hasst, dachte Rosa und lächelte Fabian zu. Der Mann war ihr gleich auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Sie hatte den gestrigen Abend gemeinsam mit ihm und Maxi in Hamburg verbracht.

„Wollen wir nicht endlich deine Mutter begrüßen?“, riss Maxi sie aus ihren Gedanken. „Je schneller du es hinter dich bringst, umso besser.“

Fabian deutete zur Treppe. „Ladys first.“

Maxi lachte. „Feigling. Du bist ja in Hamburg geboren, aber wir Ostfriesen scheuen keine Gefahr. Wir haben bereits damals dem legendären Seeräuber Klaus Störtebeker Unterstützung und Unterschlupf gewährt und beschützen auch dich.“ Sie setzte ihren Fuß auf den ersten Treppenabsatz und drehte sich um. „Deine Mutter hat dich schließlich herbestellt. Sie wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Vielleicht macht sie ihr Testament oder verteilt ihr Vermögen. Würde dir doch gelegen kommen?“

Als er nur unangenehm berührt die Lippen zusammenpresste, stieg sie lachend die Stufen hinauf und breitete die Arme aus. „Wundervoll, dieser raue Novemberwind. Bin ich froh, dass ich mitgekommen bin.“

Fabian schüttelte nur den Kopf, dann folgte er ihr mit Rosa.

 

Die Tür knarrte leicht, als die drei sie aufstießen.

„Nur angelehnt“, bemerkte Maxi und betrat den geräumigen Eingangsbereich. Als sie sich und die anderen in einem großen Spiegel betrachtete, blieb sie stehen und deutete auf das Bild, das der Spiegel zurückwarf. „Wären wir nicht ein hübsches Motiv? Blonder Mann umrahmt von zwei Frauen, die eine hell-, die andere rotblond. Wir sehen malerisch aus. ‚Porträt in Blond‘, klänge doch gut.“

Rosa schüttelte nur den Kopf. Maxi hatte sich auch mit einunddreißig nicht verändert. Sie kannte ihre zehn Jahre ältere Cousine zwar nicht ganz so gut wie ihr Bruder Hauke, doch schon bevor Maxi vor elf Jahren nach Amerika ausgewandert war, galt sie als unverblümter Wirbelwind. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und brüskierte damit meist ihre Mitmenschen. Rosa, damals erst zehn, hatte sie jedoch im Gegensatz zu ihrem Bruder immer gemocht.

„Habt ihr kein Personal?“ Maxi lief in die Mitte der Empfangshalle. „Sehr nachlässig. Wow, hier kann man prima Feste feiern und Gäste empfangen. Diese stilvoll geschwungene Treppe ist große Klasse.“ Neugierig sah sie sich um. Die Einrichtung der hellen und lichtdurchfluteten Räume zeugte von edlem Geschmack und Reichtum.

„Sie ist bestimmt im Atelier“, meinte Fabian, der sich sichtlich unwohl zu fühlen begann. „Kommt, wir müssen zur Südseite. Wenn wir sie dort nicht finden, steckt sie oben in ihrem Zeichenraum unter dem Dach.“

Sie versuchten es zuerst im unteren Bereich. Noch während sie sich dem Atelier näherten, fühlte Rosa eine merkwürdige Unruhe in sich aufsteigen. Irgendetwas stimmte nicht. Die Atmosphäre wirkte seltsam angespannt auf sie, das Innere der Villa löste trotz der Helligkeit der Räume eine düstere Beklemmung in ihr aus.

Ihre Tante, Lina Matern, hatte von ihr schon immer behauptet, dass sie, vor allem was Stimmungen betraf, einen sechsten Sinn besaß. Und die Atmosphäre in diesen Räumen war geprägt von etwas Machtvollem und Bösem. Ein Blick in Fabians Gesicht verriet ihr, dass auch er aufs Äußerste angespannt war.

Rosa fühlte, wie die düstere Atmosphäre mit jedem Schritt zunahm und allen, bis auf Maxi, zusetzte.

„Wow, ist das ein hübscher Gang“, rief diese gerade und wirbelte zu den anderen herum. „Was ist denn mit euch los? Wieso macht ihr so betretene Gesichter?“

„Spürst du es nicht?“, fragte Rosa.

„Was denn? Nein, ich spüre nichts, nur die Aufregung, gleich Mona Mo Riga gegenüberzustehen. Das Bildnis von Helena ist phänomenal.“ Sie wandte sich an Fabian. „Ich hoffe, ich lerne deine schöne Schwester ebenfalls kennen.“

„Wird sich wohl nicht vermeiden lassen“, antwortete er schroff. „Kommt, lasst mich vorangehen, dort hinten ist das Atelier.“ Er marschierte an den Frauen vorbei und klopfte an eine Tür. Nichts rührte sich. Erst, nachdem er ein paar Mal geklopft hatte, drückte er die Klinke nach unten und spähte in den Raum.

Fabian prallte zurück. Im Inneren des Ateliers sah es schrecklich aus.

Skulpturen waren zerbrochen, Arbeitsutensilien lagen verstreut am Boden, die Schubladen des Werkstischs waren mit Gewalt aufgebrochen worden, und ein Gemälde stand bis zur Unkenntlichkeit zerstört auf der Staffelei.

„Das sieht mir ganz nach einem Einbruch aus.“ Fabian betrat mit den anderen den Raum. Von Mona Mo Riga war nichts zu entdecken.

„Da muss etwas passiert sein.“ Maxi drehte sich zu Rosa um. „Dein Blick vorhin, du hast etwas aufgefangen. Schon als Kind konntest du schlechte Schwingungen regelrecht riechen.“

Rosa reagierte nicht. Sie stand nur da und fixierte die geschnitzte dunkle Bücherregalfront seitlich der hellen Fenster. Zahlreiche antike Bücher standen darin, ebenso Plastiken und etliche Rollen Zeichenpapier.

„Wir müssen uns in der Villa umsehen“, bestimmte Fabian. „Vielleicht ist meine Mutter oben und hat das da gar nicht mitbekommen.“

Rosa kam bei seinen Worten wieder zu sich und deutete auf eine kleine Frauenskulptur neben einer Bücherreihe. „Ist dahinter etwas verborgen?“

„Keine Ahnung. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr hier.“ Fabian untersuchte das Regal, bewegte die kleine Steinfigur, doch nichts passierte. Nur Rosas Unruhe wuchs, ebenso eine unerklärliche Angst. „Kommt, wir sollten endlich oben nachsehen.“

Rosa riss sich zusammen und folgte ihm und Maxi die Treppe hinauf. Weder im ersten Stock noch in dem großen hellen Dachatelier war irgendeine Menschenseele zu finden. Die ganze Villa schien verlassen.

Maxi griff in ihre Tasche und kramte ihr Smartphone hervor. „Hier kann nur einer helfen.“

„Lass das, wenn du den meinst, den ich vermute.“ Rosa legte ihr eine Hand auf die Schulter. „In dieser seltsamen Atmosphäre hätte ich ihn jetzt auch gern bei mir, aber das ist etwas für die örtliche Polizei. Abgesehen davon hat er eine Woche frei, und du weißt ja, wie er zu dir steht.“

„Papperlapapp“, wischte Maxi den Einwand fort. „Dein Bruder wird sich diesen Leckerbissen doch nicht entgehen lassen.“ Ehe jemand es verhindern konnte, ließ sie die anderen stehen und drückte noch im Gehen die eingespeicherte Nummer. Es war eine einmalige Gelegenheit. Maxi fühlte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, als sie es am Ende der Leitung klingeln hörte.

 

Aurich

Hauke war gerade bei den Klängen von Vivaldis ‚Vier Jahreszeiten‘ weggedöst, als ihn das Klingeln des Telefons jäh aus seiner Entspannung riss. Müde, und noch im Halbschlaf, weigerte er sich abzunehmen. Erst als es nach einer kurzen Pause erneut zu läuten begann, richtete er sich auf und schaltete die Musik stumm. Noch nicht einmal an seinem ersten freien Tag hatte er seine Ruhe.

„Holjansen“, nahm er den Anruf entgegen.

„Hallo Hauke. Ich bin es, deine Cousine Maxi Matern. Du erinnerst dich sicher noch an mich?“

Und ob er sich erinnerte. Die hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Was willst du?“, fragte er kurz angebunden. „Mir wieder auf den Wecker fallen und Unruhe stiften?“

„Nein, einen Einbruch melden. Der Künstlerin Mona Mo Riga wurde das Atelier verwüstet. Eines ihrer Gemälde ist zerstört, es scheint …

„Das geht mich nichts an“, unterbrach er sie barsch. „Ruf die örtliche Polizei an und erzähl denen das. Und jetzt entschuldige mich, ich habe Urlaub.“ Er legte auf und warf sich wieder auf die Couch. Fünf Sekunden später klingelte es erneut. Womit hatte er diese Strafe eigentlich verdient? Wütend griff er nach dem Telefon.

„Maxi, lass mich in Ruhe.“

„Es geht doch nicht um mich. Du musst sofort nach Bedekaspel kommen. Fabian Peters, der Sohn von Mona Mo Riga, ist beunruhigt und macht sich Sorgen. Seine Mutter ist verschwunden, ebenso seine Schwester. Wir wurden von den beiden erwartet. Rosa ist auch bei uns. Wie schon erwähnt, ist das Atelier verwüstet, es sieht ganz nach einem Kampf aus, deshalb …“

„Musst du das melden, selbstverständlich, aber nicht bei mir.“

„Aber ich dachte …“

„Falsch gedacht“, erwiderte Hauke. „Ich bin nicht zuständig.“

„Aber Hauke …“

„Tu einfach so, als wäre ich auf den Malediven. Und jetzt Ende der Diskussion. Was immer du in Ostfriesland treibst, ich wünsche dir eine angenehme Zeit. Grüß mir meine Schwester, und richte ihr aus, sie soll ja nicht auf die Idee kommen, dich zu einem Besuch bei mir mit anzuschleppen. Moin.“ Er legte auf, blieb aber noch mit dem Hörer in der Hand sitzen. Als das Telefon auch nach fünf Minuten stumm blieb, schaltete er die Musik wieder lauter und legte sich zurück auf die Couch. Eine halbe Stunde später war er eingeschlafen und fing gerade an zu träumen, als ihn das Telefon erneut aus seinem Schlummer riss.

Er schoss in die Höhe und griff nach dem Hörer, ohne auf die Nummer zu sehen.

„Verdammt, es reicht“, schnauzte er in den Apparat.

„Finde ich auch“, antwortete die Kriminalrätin Fenna Falkeneck, seine direkte Vorgesetzte. „Mit etwas weniger Morden würde Ostfriesland wesentlich besser dastehen.“

„Frau Falkeneck?“, fragte Hauke perplex.

„Höchstpersönlich.“ Sie seufzte. „Ich weiß, ich habe Ihnen und Ihrem Kollegen eine Woche frei zugebilligt, aber jetzt muss ich Sie bitten, einen Mordfall zu übernehmen, der äußerstes Fingerspitzengefühl erfordert.“

„Warum wenden Sie sich denn nicht an Hauptkommissar Müller von Abteilung eins oder an Hauptkommissar Dobner aus Abteilung zwo?“, schlug Hauke vor. „Wobei, wenn Fingerspitzengefühl erforderlich ist, Herr Müller geeigneter wäre.“

„Wäre er auch, sehr sogar“, stimmte sie ihm zu. „Doch bei Kriminaldirektor Lüttke wurde ausdrücklich darum gebeten, Ihnen den Fall zu übertragen.“

„Von wem?“ Hauke dachte kurz an Maxi, doch die hatte von einem Einbruch gesprochen und nicht von Mord. Abgesehen davon verfügte sie nicht über die Beziehungen, ihm einen Fall zuzuweisen.

„Fabian Peters hat darum gebeten. Sie wurden ihm empfohlen.“

Den Namen Fabian Peters hatte Maxi vor einer Stunde erwähnt. Dann steckte also doch sie dahinter. Wenn er die in die Finger bekam, würde er ihr den Hals umdrehen.

„Fabian Peters steht genau wie seine Mutter in der Öffentlichkeit“, fuhr die Kriminalrätin fort. „Die Familie ist allgemein bekannt. Der Fall wird in der Presse ziemlichen Wirbel verursachen.“ Sie zögerte. „Und da Sie gerade wegen des Entführungsfalls der Kinder bei den Reportern gut dastehen, geben wir Herrn Peters Bitte, Sie zu beauftragen, nach.“

Hauke, der langsam wach wurde, unterbrach sie. „Wer wurde denn ermordet?“

„Mona Mo Riga, die berühmte Malerin.“

„Kann denn nicht ein anderer …“

„Nein, die Sache ist entschieden. Der Fall gehört Ihnen. Fahren Sie sofort nach Bedekaspel. Ihren Kollegen Sven Ohlbeck informiere ich auch noch.“

„Erholung zählt wohl gar nichts mehr? Wir sind von unserem letzten Fall noch total ausgepumpt, wir brauchen dringend …“

„Ich mache das irgendwann wieder gut“, unterbrach die Kriminalrätin ihn erneut. „Fahren Sie gleich zum Tatort. Die hiesige Polizei ist bereits vor Ort und die Spurensicherung und Gerichtsmedizinerin unterwegs. Es ist wichtig, dass Sie den Mörder möglichst schnell fassen. Wenn die Sache bekannt wird, haben wir die gesamte Kunst- und Kulturszene am Hals. Viel Erfolg also, und halten Sie mich auf dem Laufenden.“ Nach diesen Worten legte sie auf.

Hauke knallte fluchend das Telefon auf die Station.

Kapitel 2

Hauke traf zur gleichen Zeit wie sein Freund und Kollege Sven Ohlbeck in Bedekaspel ein.

„Eine schöne Bescherung“, brummte Sven und schlug die Wagentür zu. „Wieso wir? Wieso in unserer Urlaubszeit? Habe ich was verpasst? Wurden Stellen abgebaut? Es gibt bei uns doch drei Abteilungen.“

„Aber nur einen Hauke Holjansen“, hörte er eine Stimme hinter sich sagen.

Sven drehte sich um und stand einer hübschen schlanken Blondine mit dunklen Augen gegenüber, die ihm scheinbar zerknirscht zulächelte.

„Wieso nur einen …?“ Sven brach verdutzt ab, als er den finsteren Blick seines Freundes bemerkte.

„Bedanke dich bei ihr“, bemerkte Hauke kalt. „Sie hat Fabian Peters eingeredet, sich unsere Abteilung zu wünschen.“

„Von eurer Abteilung war nie die Rede“, verbesserte Maxi ihn. „Ich habe nur von dir gesprochen.“ Sie ließ ihren Blick über Sven schweifen. „Aber dieser attraktive Herr mit den dunklen Haaren und braunen Augen versteht seinen Job sicher auch.“

„Ihre Einschätzung ist in beiderlei Hinsicht richtig“, stimmte Sven ihr geschmeichelt und halb versöhnt zu, doch Maxi hatte sich schon Hauke zugewandt.

„Hey, du siehst wie früher typisch nordisch, blond und noch immer ostfriesisch kühl aus.“ Sie musterte ihn ungeniert. „Jetzt endlich auch richtig männlich. Du gefällst mir wesentlich besser als vor elf Jahren.“

„Da bin ich ja unglaublich erleichtert“, konterte Hauke böse. „Wäre es schrecklich, wenn ich dir nun nicht gefallen würde?“

Maxi lachte. „Und warum funkeln deine Augen dann wie purer blauer Stahl?“

„Wundert dich das? Ohne deine Einmischung hätte ich eine erholsame Woche vor mir gehabt.“

„Jetzt hast du eben eine aufregende und interessante vor dir. Fabian Peters, seine Schwester Helena und vor allem Mona Mo Riga sind nicht irgendwer. Dieser Fall macht dich überregional bekannt. Ausruhen kannst du dich später immer noch.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Das hättest du dir nicht träumen lassen, dass wir über einen Mord wieder miteinander in Kontakt kommen.“

„Ich habe nie von dir geträumt und dich glatt vergessen. Und überregional bekannt werden will ich auch nicht, denn ich bin kein Filmstar. Hättest du nicht in Amerika bleiben können? Reist du ab, wenn ich dir den Flug zurück spendiere?“

„Nein, denn ich wollte dich wiedersehen. Den ganzen Flug über habe ich mir den Kopf zerbrochen, wie ich es anstellen soll, dich hinter dem Ofen hervorzulocken. Dass mir ein Mord in die Hände spielt, hätte ich mir nicht träumen lassen.“

„Größer ging’s wohl nicht, wie üblich“, erwiderte er barsch und drängte sich an ihr vorbei.

„Nein, das ging nicht. Ich bin zwar unerschrocken, doch der Anblick der Leiche war trotzdem ein Schock. Du bist vielleicht Härteres gewohnt …“

„Komm Sven, lass uns keine Zeit verlieren“, ignorierte Hauke ihre Worte und ließ sie stehen. Gefolgt von seinem Freund stieg er die Stufen zum Eingang hinauf.

„Wer ist das?“, wollte Sven wissen.

„Meine Cousine Maxi Matern. Eine unerträgliche Nervensäge. Ich konnte sie noch nie leiden. Sie besitzt das Talent, andere ständig auf Trapp zu halten und auf die Palme zu treiben. Alles muss nach ihrem Kopf gehen. Maxi hat mich schon immer maximal gestört.“

Sie betraten die Villa und wurden von einem der Polizisten zum Atelier geführt. Die Spurensicherung war bereits vor Ort.

„Hauke.“ Rosa wandte sich zu ihm um, als er den Raum betrat. Sie stand neben einem großen blonden Mann an der offenen Glastür, die auf die Veranda führte. Einer der Polizisten nahm gerade ihre Aussage auf. Sie war blass und blickte mit traurigen Augen zu Hauke auf.

„Dich verhöre ich später“, flüsterte er ihr zu und trat gemeinsam mit Sven durch den Spalt eines vorgeschobenen Bücherregals. Aus dem gut versteckten Nebenraum des Ateliers schimmerte grünes Licht, das Ambiente ähnelte einem Wintergarten. Die beiden Kommissare hatten jedoch eher das Gefühl, in einem Aquarium gelandet zu sein.

Die Vorderfront und das Dach bestanden aus Glas, die Seitenwände waren gemauert und blau-grün gestrichen. Üppige Grünpflanzen dominierten den Raum. Efeu rankte dicht an den Vorderfenstern empor und bedeckte sogar die Glasdecke. Die romantisch verspielte Kulisse wurde von einem steinernen Springbrunnen und dem beruhigenden Plätschern des Wassers in drei Schalen unterstrichen.

Den Beckenrand jeder Schale zierten zahlreiche weibliche Steinfiguren, und die wirbelnde Oberfläche des Wassers spiegelte sich an den Wänden wider. Bedingt durch das Sonnenlicht, das der Efeu dämpfte, und die wellenartigen Bewegungen fühlte sich Hauke urplötzlich in eine geheimnisvolle Unterwasserwelt versetzt.

„Beeindruckend“, flüsterte Sven und sah sich fasziniert um. „Ein schöner und ansprechender Raum.“

„Der Raum ja.“ Hauke warf einen Blick auf die Leiche, vor der eine junge blonde Frau mit einem Flechtenzopf kniete. Die Tote saß, mit dem Oberkörper über einen Tisch gebeugt, auf einem Stuhl. Der Mörder hatte ihr eine transparente Plastiktüte über den zur Seite gedrehten Kopf gestülpt. Sie hielt den Mund weit aufgerissen, und in ihren Augen war noch deutlich das Entsetzen zu erkennen.

„Tod durch Ersticken. Todeszeitpunkt zwischen halb elf und halb zwölf.“ Die Pathologin Sonja Wille erhob sich und drehte sich zu den beiden um. Als sie erkannte, wer gekommen war, riss sie die Augen auf. „Ich dachte, ihr habt frei.“

„Hatten wir auch“, erwiderte Hauke bitter. „Bis wir auf Wunsch von Herrn Peters abkommandiert wurden.“

Sonja nickte und wandte sich an Sven. „Mach dir nichts daraus. Ich bekomme auch keinen Urlaub. Aus unserem Trip nach Mallorca wird sowieso nichts.“

Sie machte Hauke Platz, der näher an die Leiche trat und die Tote musterte. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt worden, ein rot lackierter Fingernagel war abgebrochen, offensichtlich hatte zuvor ein Kampf stattgefunden.

„Es sind Hautpartikel unter den Fingernägeln zu finden“, unterbrach Sonja seine Betrachtung und deutete auf einen der Finger. „Irgendjemand, vielleicht der Mörder, hat versucht, die Hautfetzen zu entfernen, doch ein winziger Rest ist noch vorhanden. Sobald ich die DNA-Probe habe, bekommst du Bescheid.“

Hauke nickte und sah sich im Wintergarten um. Nichts deutete auf einen Kampf in diesem Raum hin. Im Gegensatz zum Atelier war alles intakt und scheinbar in Ordnung. Er ging zurück ins Atelier und betrachtete sich dort das Chaos. „Der Fundort scheint nicht der Tatort zu sein.“ Hauke deutete auf einen Läufer, der vor der Glasfront des hellen lichtdurchfluteten Raumes lag. „Hier sind Fußspuren zu erkennen. Sie hat sich gewehrt und mit ihren Absätzen Abdrücke hinterlassen.“

Hauke blickte in jeden Winkel. Die Verwüstung des Künstlerateliers bestätigte seinen Verdacht. „Ich vermute“, wandte er sich an Sven, „die Tote wurde im Atelier überfallen und dann erst in den Nebenraum geschleppt. Eventuell hat man sie auch hier schon erstickt.“

„Oder“, meinte Sven, „doch erst im Wintergarten, denn nur dort ist der Täter wirklich unbeobachtet. Im Atelier kann jederzeit jemand im Garten auftauchen und durch die Glasfront sehen.“

Sonja war den beiden gefolgt. „Laut Rosa war die Bücherregaltür verschlossen, als sie den Raum betraten. Deine Schwester konnte durch Zufall, nein“, verbesserte Sonja sich, „durch Intuition den Mechanismus finden, der die Regaltür öffnet.“

Hauke ging zurück zu der Leiche und betrachtete sich die zahlreichen Hämatome an den Armen. Er schob den Stoff ihrer Bluse zur Seite und deutete auf ihre Schulter. „Dieser rote Fleck auf der Haut, – das sieht nicht wie Farbe aus.“

„Stimmt, das ist eindeutig Blut. Ich kann dir erst nach der Laboruntersuchung sagen, ob es sich um ihr Blut handelt oder nicht.“

„Die Nachbarn erwähnten einen Krach“, informierte sie ein Streifenpolizist. „Das war vor etwa vier Stunden. Angeblich handelte es sich bei den Stimmen um Mona Mo Riga und ihre Tochter Helena. Es gibt zwei Zeugen, die beobachtet haben, wie Helena Ahrens gegen halb zehn weinend aus der Villa rannte. Sie wohnt im Haus nebenan. Danach blieb alles still.“

„Wurde die Tochter schon verhört?“

„Nein, sie ist seit dem Streit verschwunden. Wir haben nur die Haushälterin bei ihr angetroffen. Die kam erst gegen dreizehn Uhr und hat Helena Ahrens heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen.“ Der Polizist blätterte in seinem Block. „Und der Ehemann Kelvin Ahrens ist auch nicht anzutreffen, er liefert einen Grabstein aus. Nach Hamburg.“

„Hamburg?“ Hauke hob die Braue.

„Er ist Steinmetz und bekannt für besondere Grabsteine. Wann er zurückkommt, ist nicht bekannt.“

„Wurde etwas gestohlen?“, erkundigte Hauke sich und sah sich um.

Sein Kollege warf einen Blick auf seine Notizen. „Die Hausangestellte kam vor zwanzig Minuten vom Einkaufen zurück. Sie behauptet, dass zwei kleine Skulpturen fehlen.“ Er deutete zu einer Frauenskulptur auf einer Kommode. „Diese mit dem silbernen Überzug ist als Einzige noch da. Die anderen Figuren, eine aus Bronze und eine aus Gold, sind verschwunden. Sie schwört, dass beide vor ihrem Einkauf noch auf der Kommode standen.“

„Waren sie wertvoll?“

„Eher nicht. Die Figuren sind aus Holz gefertigt und wurden nur mit Bronze und einer Goldlegierung überzogen. Die Hausangestellte behauptet, die goldene Figur wäre die schönste gewesen und die bronzene die schlechteste von den dreien.“ Er kratzte sich am Kopf. „Seltsam, dass dann die bronzene und nicht die silberne gestohlen wurde, oder gleich alle drei.“

„Richtig“, stimmte Hauke ihm zu. „Und was fehlt sonst noch?“

„Hier unten nichts, da wurde hauptsächlich gewütet, scheinbar hat die Tote den Täter überrascht. Im oberen Bereich der Villa fehlen wertvolle Miniaturen aus dem siebzehnten Jahrhundert, Schmuck und andere Wertgegenstände. Die Hausangestellte ist gerade dabei, uns eine Liste zu erstellen.“

Hauke nickte ihm zu und wandte sich an Sven. „Befrag du die beiden Nachbarn, ich knöpfe mir zuerst Rosa und Fabian Peters vor.“

Während Sven die Villa verließ, trat Hauke in den Garten.

Rosa nickte ihm erleichtert zu und stellte ihm Fabian Peters vor. „Und das ist mein Bruder, Hauptkommissar Holjansen.“

Die Männer reichten sich die Hand.

„Danke, dass Sie den Fall übernommen haben“, begann Fabian. „Schrecklich, was passiert ist. Wir wurden von meiner Mutter um vierzehn Uhr erwartet. Eigentlich wollte ich gar nicht kommen, ich …“ Er brach ab und presste die Lippen aufeinander.

„Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“, erkundigte Hauke sich, als er nicht weitersprach.

Fabian lachte bitter auf. „Den gab es. Sie werden es sowieso herausfinden, also kann ich es Ihnen auch gleich verraten. Ich mochte meine Mutter nicht besonders.“ Er blickte zum Kanal und versank für einige Sekunden in den Anblick des vorbeifließenden Wassers. „Als wir gegen zwei Uhr ankamen, war die Haustür nur angelehnt“, erzählte er weiter. „Wir sind daher gleich ins Atelier gegangen.“

Er warf einen Blick ins Innere. „Als wir dieses schreckliche Durcheinander sahen, machten wir uns sofort auf die Suche nach ihr. Nein“, unterbrach er sich. „Zuerst stand Rosa bewegungslos da und starrte auf eine Figur im Bücherregal. Als ich die Figur untersuchte und bewegte, passierte aber nichts.“ Erneut starrte er durch die Glasscheiben ins Innere. Hauke bemerkte, dass sein Blick auf der Staffelei und dem zerstörten Gemälde ruhte. Irgendetwas daran schien ihn zu beunruhigen.

„Wir konnten meine Mutter nirgends finden“, fuhr Fabian fort. „Die gesamte Villa war verwaist. Irgendwie war das unheimlich. Maxi hat Sie dann angerufen, obwohl Ihre Schwester das verhindern wollte.“

„Danke für den Versuch“, nickte Hauke Rosa zu.

Fabian blickte verwirrt von einem zum anderen. „War mein Anruf im Polizeipräsidium falsch? Habe ich Ihnen Unannehmlichkeiten verursacht? Das täte mir leid. Maxi meinte, Sie wären der beste Kommissar der …“

„Sie übertreibt maßlos“, unterbrach Hauke ihn. „Kennen Sie meine Cousine schon länger?“

„Seit einigen Jahren. Maxis naive Malerei kommt in den Staaten gut an. Sie ist eine temperamentvolle, neugierige und quirlige Frau.“

„So kann man sie auch beschreiben, wenn man höflich bleiben will, doch zurück zu der Geheimtür“, lenkte Hauke das Gespräch wieder in die richtige Bahn.

„Es sah wie ein ganz normales Bücherregal aus.“ Fabian strich sich über die Stirn. „Ich wusste nichts von dem Nebenraum. Der muss erst nach meiner Abreise in die Staaten angebaut worden sein. Von außen und von Weitem sieht das auch aus wie eine mit Efeu bewachsene Mauer. Als wir von unserer Suche zurück ins Atelier kamen, zog es Rosa gleich wieder zu der Steinfigur. Sie suchte nach einem versteckten Mechanismus, den sie auch tatsächlich fand. Es gab ein klickendes Geräusch. Im nächsten Moment sprang das mittlere Regal vor, und wir konnten durch den Spalt in den Wintergarten sehen.“

„Zeigst du es mir?“, wandte Hauke sich an seine Schwester.

Rosa begleitete ihn ins Atelier. Sie schoben die Geheimtür zu, und auch Hauke konnte den Trick nicht herausfinden, um den versteckten Mechanismus der Entriegelung zu öffnen.

„Stell die Figur mit dem Sockel in diese runde, kaum wahrnehmbare Mulde.“ Rosa deutete an die besagte Stelle. Sie war schwer zu entdecken und passte sich ideal an die Maserung des Holzes an. „Während du die Figur in die Mulde drückst, musst du sie drehen.“ Rosa zeigte es ihm, und die Tür sprang auf.

„Beeindruckend. Und du hast dich davon angezogen gefühlt?“

„Schon bevor wir das Atelier erreichten, spürte ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Es lag etwas Bedrückendes, fast Böses in der Luft.“

„Mit deinem sechsten Sinn wirst du langsam unserer Tante immer ähnlicher.“

Sie lächelte schwach. „An Lina reiche ich nicht heran. Und ich denke nicht, dass ich mir das wünschen sollte. Das Auffangen von Stimmungen, vor allem düsteren, ist nicht gerade angenehm.“

„Glaub ich dir. Empathen haben es schwer.“ Hauke führte die beiden hinaus in den hinteren Teil des Gartens. Dort war noch immer die Spurensicherung beschäftigt. Maxi stand neben einem der Männer und redete auf ihn ein.

„Rosa, schaff sie bitte von hier fort, damit die Leute ungestört arbeiten können“, forderte Hauke seine Schwester auf.

„Mach ich“, versprach sie.

Hauke wandte sich an Herrn Peters. „Wo waren Sie zwischen zehn und zwölf Uhr?“

„Da haben wir uns in Aurich umgesehen.“

„Zusammen?“

„Nein, wir kamen um neun von Hamburg aus dort an und machten einen Zwischenstopp. Rosa wollte Maxi die Markthalle zeigen, während ich lieber durch Aurichs Straßen bummeln wollte. Gegen halb zehn haben wir uns getrennt und uns um halb zwei wieder am Marktplatz getroffen.“

„Ihre Mutter wurde voraussichtlich zwischen halb elf und halb zwölf Uhr ermordet.“ Hauke ließ ihn nicht aus den Augen. „Von Aurich bis Bedekaspel ist es nicht weit.“

Fabian schnappte nach Luft. „Glauben Sie etwa, ich bin nur hierhergekommen, um meine Mutter zu ermorden? Ich konnte sie nicht ausstehen, zugegeben, aber mit ihrem gewaltsamen Tod habe ich nichts zu tun.“

Hauke nickte. „Gut, dann können Sie jetzt gehen. Halten Sie sich zu unserer Verfügung. Bleiben Sie in der Villa?“

„Nein, Maxi und ich wohnen bei einem Freund. Er lebt außerhalb der Ortschaft in einem abseits gelegenen Haus.“

„Sprechen Sie von dem Maler Tammo Reichenberg?“

„Sie kennen ihn?“

„Flüchtig. Er war Zeuge in einem meiner Fälle. Ich kann mich noch an seinen makaberen Humor erinnern.“ Hauke blickte zu Maxi, die ihm vergnügt zuwinkte. „Ich gönne Maxi den Aufenthalt bei Ihrem Freund. Er scheint mir ganz der Mann zu sein, der sich nicht von ihr auf der Nase herumtanzen lässt.“

Fabian lachte. „Nein, er weiß, was er will, aber so schlimm ist Maxi nicht. Etwas anstrengend vielleicht, aber ansonsten süß.“

„Mit Hauke über Maxi zu sprechen, ist sinnlos“, klärte Rosa ihn auf. „Würdest du sie zu deinem Freund bringen? Ich möchte Sonja gleich in die Gerichtsmedizin begleiten.“

„Wieso denn das?“, fragte Hauke überrascht.

Rosa zog ihn zur Seite, sodass niemand sonst sie hören konnte. „Es geht um mein erstes Praktikum in der Pathologie. Ich hatte Glück, dass Sonja mich allen anderen vorgezogen hat. Und jetzt kann ich gleich von Anfang an bei der Obduktion mit dabei sein.“ Als Maxi auf sie zukam, reagierte Rosa sofort. Geschickt isolierte sie Hauke, damit er sich seiner Cousine problemlos entziehen konnte. Erst als Fabian und Maxi fortgefahren waren, kam Rosa wieder in das Atelier zurück.

„Können wir die Tote mitnehmen?“, hörte sie Sonja gerade fragen.

„Wegen mir. Seid ihr drinnen schon fertig?“, wandte Hauke sich an einen der Männer der Spurensicherung.

„Jo. Wir haben einen prima Fußabdruck gefunden. Scheint von einem Gummistiefel der Größe siebenundvierzig zu sein. Und auf dem Messer da, und auch sonst auf dem Boden, sind jede Menge Blutspuren zu finden.“

„Habe ich eine Stichwunde bei der Toten übersehen?“

„Nein“, antwortete Sonja. „Die Ermordete hat zahlreiche Blessuren und Hämatome, aber keine größere Wunde.“

Hauke atmete tief durch. „Dann stammt das Blut von jemand anderem.“

„Der Tochter vielleicht“, vermutete Sonja.

„Möglich.“ Hauke wandte sich an den Polizisten, der die Nachbarn befragt hatte. „Als Helena Ahrens aus der Villa lief, hat da jemand eine Verletzung erwähnt?“

Der Beamte schüttelte den Kopf. „Nee, das Anwesen ist zu weit von den anderen entfernt. Eine Nachbarin behauptet jedoch, sie habe geweint.“

Während die anderen zusammenpackten und fortfuhren, trat Hauke vor die Staffelei und betrachtete das zerstörte Gemälde.

„Ist das nicht entsetzlich?“ Sonja stellte sich neben ihn. „Ein Gemälde von Mona Mo Riga. Vielleicht sogar ihr letztes, und jetzt sind nur noch Fetzen davon übrig geblieben.“

„Scheint ein Frauenporträt gewesen zu sein.“ Hauke versuchte die einzelnen Teile zusammenzufügen. Ein seltsames Zeichen, das an ein Kreuz erinnerte, weckte sein Interesse. Er zog sein Smartphone hervor und fotografierte es, genau wie die anderen Fragmente, die von dem Gemälde übrig geblieben waren.

„Was hältst du von diesem Kreuz?“

Sonja beugte sich zu dem Fetzen herunter. „Wo soll da ein Kreuz sein? Ich kann keines erkennen.“

„Rosa?“

Seine Schwester kam näher. „Doch, da ist eines. Das erinnert mich an etwas, und auch dieser Kreis. Siehst du ihn?“Hauke bemühte sich. „Nein, oder doch, aber vielleicht ist das nur die Maserung der Leinwand.“

„Das Einzige, das ich erkenne, könnte ein Omega-Zeichen sein.“ Sonja deutete auf die entsprechende Stelle. „Genau da, wo ihr ein Kreuz vermutetet, das ich jetzt nicht sehe.“

Hauke und Rosa brauchten eine Weile, dann, mit viel Fantasie, erkannten sie es auch.

„Das Bild stellte wahrscheinlich ihre Tochter dar“, unterbrach Sonja die Betrachtung der beiden.

„Hast du Mona Mo Riga gekannt?“

„Nicht persönlich. Sie ist mir nur als Künstlerin ein Begriff.“

Er blickte zu Rosa.

„Ich kenne sie vom Sehen und war einmal mit Lina auf einer ihrer Ausstellungen. Sie wurde berühmt durch ihre Porträts. Wenn du etwas über sie wissen willst, wende dich an Lina, die kann dir sicher mehr verraten.“

Hauke nickte nur. Erneut wandte er sich dem sonderbaren Kreuz zu und versank in seine Gedanken.

 

***

 

Alex Haubner musste sich bei der Meldung setzen.

„Mona Mo Riga ist tot“, tönte es schon wieder aus dem Radio. „Sie wurde grausam erstickt, ihr Atelier verwüstet und eines ihrer Werke bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Um welches es sich handelt, liegt noch im Dunkeln, die Polizei …“

Alex hörte nicht mehr zu. Die Spatzen pfiffen es also schon von den Dächern. Die Sender unterbrachen immer wieder ihre laufenden Programme, um die Neuigkeit zu melden. Alex lockerte seine Krawatte, schenkte sich ein Glas Whisky ein und leerte es in einem Zug. Seine Hand zitterte, als er Mona Mo Rigas Brief nahm. Er starrte zuerst auf ihre übergroße Schrift, dann auf das dick verpackte und verschnürte Gemälde, das an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch lehnte.

Was sollte er mit einem Gemälde, das er nicht auspacken und ansehen durfte? Es gehörte ihm nicht, was auch ausdrücklich im Brief stand. Er durfte es nur in Verwahrung nehmen, musste es eingepackt lassen und auf weitere Anweisungen warten.

Verdammt, das konnte heikel werden. Was sollte er nur tun? Er riss an seinem Kragen. Der Brief musste auf jeden Fall verschwinden, der Inhalt durfte der Polizei nicht in die Hände fallen. Das Gemälde wurde ihm eben ohne Bedingungen zugesandt.

Alex wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was, wenn jemand von den Bedingungen wusste? Monas Sohn, den sie ganz plötzlich sehen wollte, obwohl sie ihn verabscheute. Oder vielleicht ihr neuer Galerist? Und Helena wusste sowieso immer Bescheid. Obwohl … in letzter Zeit …

Erneut griff er nach der Flasche und schenkte sich ein. Seine Hände zitterten wie Espenlaub, aber das war auch kein Wunder.

Nein, dachte er. Es war sein Brief, er konnte vernichten, was er wollte, genauso wie er …“ Er bekam kaum noch Luft, als er daran dachte, was er getan hatte. Doch es war geschehen, daran ließ sich nichts mehr ändern. Er stand unter Druck, und manchmal ging es nicht anders, man musste handeln. Sein Ruf stand auf dem Spiel, der Brief, samt dieser einen für ihn kompromittierenden Passage, musste daher sofort verschwinden.

Alex führte das Glas an seine Lippen. Die Flüssigkeit rann scharf durch seine Kehle und sorgte für eine angenehme Wärme in seinem Körper. Seine Gesichtsmuskeln entspannten sich, auch das Zittern seiner Hände ließ nach.

Mona Mo Riga war tot. Die Zeiten der Schikanen waren endgültig vorbei und … er holte tief Luft … das Wichtigste: Sie konnte ihn nicht mehr erpressen. Erst jetzt, ganz langsam, begriff er, was ihr Tod für ihn und seine Zukunft bedeutete.

Alex schenkte sich erneut ein und ließ seinen Blick auf der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ruhen. Für ihn blieb jetzt nur noch eines zu tun. Seine Spuren zu verwischen und das Gemälde auszupacken, denn jetzt gehörte es ihm. Ja, ihm allein hatte sie es geschickt.

Alex lächelte. Und er würde es auspacken. Wer tot war, konnte keine Befehle mehr erteilen. Der Tod veränderte die Spielregeln. Er wühlte in den Schubladen nach einem Feuerzeug und nahm den Brief in die Hand. Als das Schreiben in Flammen aufging, legte er das brennende Blatt in eine Marmorschale. Er wartete, bis nur noch die Asche übrig blieb, dann stand er auf und stellte das verschnürte Gemälde auf den Tisch. Alex griff nach einem Messer und zerschnitt langsam die Stricke.