Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Portrait of the Psychopath as a Young Woman erschien 1998 im Verlag Necro Publications.

Copyright © 1998 by Edward Lee und Elizabeth Steffen

1. Auflage Februar 2016

Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Lektorat: Simona Turini

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-417-1

www.Festa-Verlag.de

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Kapitel 7

(I)

Als Kathleen um etwa sechs Uhr früh aufwachte, musste sie sich anstrengen, um sich zu erinnern. Wo bin ich?, dachte sie, bis die Kopfschmerzen ihrem Gedächtnis auf die Sprünge halfen. Schweißüberströmt lag sie in Platts Apartment, einer Einzimmerwohnung ohne Klimaanlage nahe der P Street. Vom Balkon schien das Morgenlicht herein und Kathleen, als hätte es sie überrascht, zog schnell die Decke über sich. Platt lag schlafend neben ihr.

Du böses Mädchen, Kathleen. Was würde die Radiopsychiaterin dazu sagen? Dass sie sich betrunken hatte, um mit Platt zu schlafen? Und wir haben mehr gemacht, als zu schlafen, erinnerte sie sich.

Ausgedehnte Zeiträume sexueller Inaktivität, würde die Seelenklempnerin sagen, haben Sie mit starren Selbstzweifeln gefüllt. Sie fühlen sich nicht begehrt, weil Sie keinen Sex haben. Indem Sie sich berauscht haben, haben Sie eine Situation geschaffen, die die Möglichkeit auf einen Sexualkontakt erhöhte.

Habe ich das?, überlegte sie. Sie konnte sich undeutlich an Platts Einwand erinnern, dass sie nicht nach Hause fahren konnte. »Ich rufe Ihnen ein Taxi oder ich fahre Ihren Wagen zu mir. Ich werde auf der Couch schlafen.« Platt hatte sie keineswegs ausgenutzt. Kathleen vermutete das Gegenteil, nämlich dass sie ihn ausgenutzt hatte. Sie war kalt duschen gegangen und hatte festgestellt, dass ihre Periode aufgehört hatte. Ihr Schamhaar war ziemlich buschig und so hatte sie einigermaßen lächerlich über der Toilette gestanden und es mit einer kleinen Schere getrimmt, die sie im Schrank gefunden hatte. Es war alles so berechnend, dass sie es selbst kaum glauben konnte.

Er hatte, wie versprochen, auf der Couch unter einer Decke gelegen, als sie in ein Handtuch geschlungen hereingekommen war. Im Schein einer kleinen Lampe hatte er in einem Gedichtband von Anne Sexton mit dem Titel The Death Notebooks gelesen. Für einen Augenblick hatte ihn das lange blonde Haar mädchenhaft wirken lassen. Vielleicht ist er schwul, hatte sie überlegt. P Street und Dupont waren eindeutig Schwulenviertel. Das Gedicht, das er gelesen hatte, hatte jedoch von einem Mädchen gehandelt, da war sie sich sicher. Er schaute zu ihr auf und sagte: »Das Bett ist gleich da drü…«

»Ich schlafe lieber hier«, hatte sie gesagt. Sie hatte das Licht gelöscht, das Handtuch fallen lassen und war auf ihn geklettert und sie drückten Anne Sexton zwischen ihre Oberkörper, als sie sich küssten. Platt war ein bisschen schüchtern, weil er nicht wusste, was er davon halten sollte. In der Dunkelheit fühlte sie sich hemmungslos, sie fühlte sich wie jemand anderes; wie jemand, den sie in einem Schmuddelfilmchen sah, oder wie jemand, über den man tuschelte. Sie hatte sich neben die Couch gekniet, die Decke weggezogen und seinen Slip hinuntergestreift. Seine Haut fühlte sich weich und kühl an, als sie die Hände an seinen Seiten entlanggleiten ließ. Im Dunkeln waren die Hände ihre Augen und sie war zufrieden mit dem, was sie sah.

Nein, er ist nicht schwul, befand sie. Sein Penis – von durchschnittlicher Länge, dünn und nicht beschnitten – war schon steif, bevor sie ihn berührte. Sie drückte ihn sanft und Platt unterdrückte ein Stöhnen. Ich hab einen Penis in der Hand, wurde ihr bewusst, und ich weiß noch nicht mal, wie der Typ mit Vornamen heißt. Sehr peinlich. Sie beugte sich vor und nahm ihn in den Mund, er unterdrückte noch ein Aufstöhnen. Sie ließ die Zunge über die Eichel streifen und leckte die kleinen, salzigen Lusttropfen auf. Seine Hand glitt ihren Rücken auf und ab und seine Beine versteiften sich. »Kathleen«, flüsterte er, »hör lieber auf. Ich bin gleich so weit.«

Immerhin ist er ein Gentleman, dachte sie. Es machte ihr nichts aus, sie fühlte sich sogar geschmeichelt und musste an den Spruch über die drei größten Lügen von Männern denken: »Ich liebe dich«, »Ich wollte gerade anrufen« und »Ich verspreche, dass ich nicht in deinem Mund komme.« Seine Hoden, von ihren Fingern umschlossen, zogen sich zusammen. Fasziniert stellte sie fest, dass der rechte etwas größer war und sich ein bisschen weiter zurückzog. Ihr Mund saugte fester, verstärkte die nasse Reibung und erneut hörte sie sein panisches Flüstern: »Kathleen, Kathleen …« »Mh-mhmm« war alles, was sie in dem Moment erwidern konnte. An ihren Lippen spürte sie ein nervöses Pulsieren. Als er zu spritzen begann, drückte sie seine Hoden, der rechte hatte sich nun vollkommen angespannt. Sie hatte das erst ein paarmal gemacht. Ich hoffe, ich mache es richtig. Geht es Männern genauso?

Aus eigener Erfahrung wusste sie: Wenn Männer es ihr mit dem Mund gemacht hatten – was nicht allzu oft passiert war –, gab es eine Menge Möglichkeiten, es falsch zu machen. Man musste sich praktisch an eine Liste mit Richtlinien halten. Sie zuckte, als die ersten Strahlen sie tief in der Kehle trafen. Seine Finger krallten sich in ihr nasses Haar. Als sie fertig war, ließ sie die ordentliche Menge Sperma aus dem Mund auf seinen Bauch tropfen.

»Komm, wir machen dich sauber«, sagte sie. Sie tastete in der Dunkelheit nach einem Kleenex, fand aber keines. Ob es unhöflich war, wenn sie es mit der Decke aufwischte? Vielleicht hätte ich es besser geschluckt, dachte sie, aber das hatte sie nicht tun wollen. »Ich hab keine Taschentücher hier«, sagte er, gefolgt von einem reißenden Geräusch. Kathleen lachte. »Prügelt ihr Dichter euch auf die Art?« »Genau genommen«, sagte er, »ist es so eine Art esoterisches Kompliment. Ich sehe es überhaupt nicht als Beleidigung an, Schöpfung mischt sich mit Schöpfung.« Er säuberte sich mit einer Seite, die er aus Anne Sextons Buch gerissen hatte.

Im Dunkeln zog er sie hoch. Sie war dankbar für die Dunkelheit, so konnte er nicht sehen, wie fett sie war. In der nicht klimatisierten Wohnung fühlte sie sich köstlich heiß. »Komm«, sagte er und führte sie zum Bett. »Die Kondome sind hier drüben.«

Nach einer weiteren kühlen Dusche schlich sie, eingehüllt in die Couchdecke, in der Einzimmerwohnung umher. Platt lag, leise schnarchend, schamlos nackt auf dem Bett. Fast ebenso schamlos trat sie auf den Balkon und rauchte im Licht der Abenddämmerung eine Zigarette. Unten zog sich ein hässlicher gebührenpflichtiger Parkplatz die P Street entlang. Der Mann im Kassenhäuschen sah aus wie Onkel Sammy, bis sie blinzelte und erkannte, dass er schwarz war. Ein anderer Mann, der entschlossen mit einer Aktentasche die Straße entlangeilte, sah ebenfalls wie Onkel Sammy aus. Sie blinzelte ihn fort. Retrograde Schockanfälle, nannte das der Therapeut. Keine Halluzinationen, aber das Gedächtnis spielte Streiche. Das hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Warum jetzt? Was macht Sam gerade?, fragte sie sich. Holt er sich in seiner Zelle einen runter? Denkt er an mich? Dann dachte sie an die Killerin, die, wenn man dem allwissenden Lieutenant Spence glaubte, ebenfalls missbraucht worden war. Wer hatte die Mörderin missbraucht? Und wie? In welchem Alter und wie oft?

Für das Buch würde sie all das in Erfahrung bringen müssen. Und falls die Killerin ihr nicht mehr schrieb, würde es gar kein Buch geben. Spences Warnung tauchte auf: »Pfuschen Sie nicht mit Beweisen herum.« Sie machte sich gedanklich eine Notiz: Ruf in New York an, frag nach der Post.

Als sie wieder drinnen war, inspizierte sie Platts Arbeitsbereich, der viel unorganisierter als ihr eigener war. Auf dem mit imitierter Holzmaserung verzierten Tisch stand eine kleine, elektrische Brother-Schreibmaschine. Aus der Walze hing ein Stück Papier wie eine Zunge. Kreative Menschen hatten oft ihre Eigenarten und einen merkwürdigen Aberglauben, was ihre Arbeit anging. Ein Territorialsystem. Übertrat sie irgendwelche poetischen Gesetze, indem sie sich umsah? Aber Platt schlief weiter, zu einer nackten Kugel zusammengerollt. Auf das Papier hatte er getippt:

EXIT von Maxwell Platt

Maxwell! Kathleen freute sich. Immerhin kannte sie nun seinen Vornamen. Aber war Exit nicht der Titel des Gedichtes gewesen, dass er während der Lesung vorgetragen hatte? Dieses hier war anders.

Durch dämmrige Nächte

noch meine Liebe gleitet.

Ich bin für immer

und unsagbar deins.

Auf dem Tisch lag eine Aktenmappe. Ob ich darf?, überlegte sie. Sie hatte kein Recht, ohne Erlaubnis seine Arbeit anzuschauen. Sie sah trotzdem nach, Dichter faszinierten sie, und besonders Dichter, die ihr Orgasmen verschafften. Das erste Gedicht in dem Ordner hieß erneut:

EXIT von Maxwell Platt

Nannte er alle seine Gedichte Exit? Eine Exit-Fixierung, dachte sie. Wie meine Killer-Fixierung. Das Gedicht, datiert vom 12. Dezember 1990, lautete:

Ah, Liebe – uns düsteren Segen spendend,

dies, oder süß verdammend.

Ich seh, wie du dein Herz mir nimmst

du siehst mein Herz zerspringen.

Doch in jener Nacht, genau vor einem Jahr,

Ich erinnere mich: Du und ich, wir küssten uns im Schnee.

Kathleen schloss den Ordner. Sie schämte sich, obwohl Platt es nie erfahren würde. Du meine Güte, dachte sie, als sie nach unten sah. In der Ecke seines Arbeitsplatzes stand ein Stapel Veröffentlichungen, über einen Meter hoch: Zeitschriften, Zeitungen, Sammelbände, Independent-Ausgaben und Literaturjournale: alles, worin Platt veröffentlicht hatte. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine Säule der Poesie. Sie nahm die oberste Zeitschrift, The Annapolis Critique, und blätterte durch den Inhalt.

EXIT von Maxwell Platt … Seite 8

Noch ein Gedicht mit dem Namen Exit. Allmählich faszinierte es sie. Sie schlug Seite acht auf und las:

Ich habe stets weniger bekommen

als das Geringste von dir.

Nun hoffe ich, dass die Ratten

kommen und sich laben an dir.

Platt, der Altruist, zeigt am Ende doch Verbitterung. Ja, es war klar: Diese Gedichte handelten von Frauen aus Platts Vergangenheit, er war ein Liebeslyriker. Es kam ihr vollkommen real vor, vollkommen ehrlich, nicht abgeschmackt. Die meisten zeitgenössischen Gedichte behandelten Liebe als Nebensächlichkeit. Offenbar war es wichtiger, über Politik oder Atomwaffen zu schreiben. Aber ein solch bitteres Gedicht, dachte sie. Verbitterung wollte gar nicht zu Platt passen. Sie selbst hatte sich nie verbittert gefühlt, wenn Männer sie nicht mehr trafen oder anriefen. Womöglich hatte sie auch noch nie jemanden genug geliebt, um über den Niedergang einer Beziehung verbittert zu sein.

Aber das hier ist nur sexuell, machte sie sich klar. Platt war kein physisches Musterexemplar, aber er sah attraktiv und gepflegt aus. Auf keinen Fall würde er ein Dickerchen wie mich lieben. Dieses Selbstempfinden belastete sie überhaupt nicht, sie war stolz auf ihre Objektivität, da fiel die Scheinheiligkeit nicht ins Gewicht. Wenn Leserinnen schrieben, die Angst hatten, wegen ihres Übergewichtes zurückgewiesen zu werden, versicherte Kathleen ihnen, dass das Aussehen in einer wahren Beziehung nichts bedeutete. Schmeiß ihn raus, würde ihr Rat lauten.

Immer noch wie eine zerzauste Freiheitsstatue in die Decke gehüllt, tapste sie zum Bett und betrachtete Platt. Alle paar Minuten veränderte er seine Lage. Jetzt lag er mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf der Matratze und die blonden Haare bedeckten sein Gesicht. Ihre Kopfschmerzen wurden erträglicher. Ob ich einfach gehen soll?, fragte sie sich. Sie wollte unbedingt ihren Herausgeber anrufen und fragen, ob irgendwelche Briefe für sie gekommen waren. Auf dem Boden lagen drei zugeknotete Kondome, in deren Reservoirs der sichtbare Beweis, dass Platt sich der Situation gewachsen gezeigt hatte. Die Erinnerungen tauchten wie Filmschnipsel auf: Heißhungrig hatte er sie geliebt und sich ständig um ihre Lust gekümmert, bis sie an einem gewissen Punkt fast verärgert war. Dauernd hatte er gefragt: »Wie fühlt es sich für dich besser an?« oder »Ist es so oder so besser?«. Am liebsten hätte sie gesagt: Platt, ich wurde seit einem Jahr nicht flachgelegt. Es fühlt sich alles gut an, also halt die Klappe und mach einfach. Sie hatte mehrere Orgasmen, aber der beste kam zum Schluss. Er hatte ihren Hintern an die Bettkante gezogen, sich vor sie gekniet und ihre Klitoris mit der Zunge gestreichelt, während er zwei Finger in ihrer Vagina hin und her bewegte. Sie hatte geschrien, als sie zuckend zum Höhepunkt kam, und dann grinsend und schnurrend in der Dunkelheit gelegen, während das süße Pulsieren sich hinzog.

Platt bewahrte die Kondome, eine Marke namens Sheik, in einer seltsamen Schale mit Klappdeckel auf, die auf dem Nachttisch stand. Sie nahm eines und krabbelte vorsichtig nach unten. Sein schlaffer Penis lag wie erschöpft auf den Schamhaaren. Sie berührte sanft seine Unterseite – sie wollte ihn nicht aufwecken –, dann beugte sie sich vor und begann ihn zu lecken. Sie konnte ihren Duft riechen, zusammen mit dem Geruch nach Gleitmittel und Sperma.

Blitzschnell wurde er hart. Sie rollte das Kondom über, dann rüttelte sie ihn.

»Maxwell?«, sagte sie. Oder wollte er lieber Max genannt werden? Woher soll ich das wissen? »Maxwell? Wach auf.«

Sie kam hoch und küsste ihn auf den Mund, während er langsam die Augen öffnete. Ihre Finger streichelten sanft seinen Penis. »Maxwell? Ich muss gleich gehen.«

»Hmm?«, sagte er.

»Ich muss bald nach Hause gehen. Aber können wir es vorher noch mal machen?«

Er sah verschlafen herunter zu seinem Schoß. »Sieht so aus, als wäre das schon beschlossen.«

(II)

Früher an diesem Morgen sagte Kohls in der Leichenhalle der CES zu Spence: »Was wir hier haben, Lieutenant, ist das alte menschliche Puzzlespiel.«

Spence kannte den Jargon, er hatte solche Dinge schon gesehen. Das machten Crackdealer mit Spitzeln oder mit anderen Dealern, die sich im falschen Revier bewegten. Mit Kettensägen oder Äxten zerstückelte Körper. Die Körperteile waren oft wie Holz gestapelt.

Kohls, der Techniker für die Beweissicherung bei der MCS, hatte die im Kofferraum des Audi gefundenen Teile auf drei rostfreien Seziertischen ausgebreitet. Die Tische hatten Abflussgitter und Auffangfilter. »Drei Leichen«, sagte er. »Wir nennen sie Eins, Zwei und Drei. Eins …«, er deutete darauf, »… ist dem Kaliumgehalt im Glaskörper zufolge seit etwa einer Woche tot. Zwei und Drei seit mehreren Wochen, vielleicht seit einem Monat. Der Todeszeitpunkt ist wegen der Hitze zu dieser Jahreszeit immer schwer zu bestimmen. Kommt immer drauf an, wo die Teile gelegen haben.«

»Wo sind die Köpfe?«, fragte Spence.

»Im Kühlschrank. Wollen Sie sie sehen?«

»Äh, nein. Ich will, dass Sie mich so schnell wie möglich ins Bild setzen. Ich will alle Ähnlichkeiten und Unterschiede wissen.«

»Sie meinen zwischen diesen drei und Calabrice?«

»Genau.«

Kohls schien ständig eine sonderbare Art von Vitalität zu unterdrücken, was Spence nicht von jemandem erwartete, der histologische Untersuchungen an menschlichen Gehirnen vornahm, Organe wog und Blutbäder forensisch analysierte. Er nahm einen Schluck aus einer Coke-Dose. »Ähnlichkeiten? Lippen mit klinischem Faden zusammengenäht, Augen mit Sekundenkleber verklebt, Trommelfelle durchstoßen.«

Sie schaltet ihnen die Sinne aus, erkannte Spence. Warum? »Ist das alles?«

»So ziemlich. Natürlich extrem verstümmelte Genitalien, aber das sehen Sie ja selbst.«

Ja, das sah Spence. Bizarre, rohe Ovale. »Was ist mit den Genitalien?«

»Die hat sie behalten, Sir. Nicht ein Pimmel in dem ganzen Haufen.«

Spence, der ein kräftiger Mann war, fühlte seine Knie weich werden.

»Die Unterschiede sind auffälliger«, fuhr Kohls fort. »Calabrices Hände und Füße waren unversehrt. Den dreien hier hat sie sie alle entfernt, verbrannt und dann auf den Stapel geworfen. Ich bin noch nicht einmal sicher, dass ich die Hände und Füße den richtigen Körpern zugeordnet habe. Im Spektrometer erkennt man verringerten Kohlenstoffgehalt und kommerzielles Naphta. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, dass sie mit den Händen und Füßen ein Barbecue veranstaltet hat. Der Punkt ist, dass sie es ordentlich gemacht hat. Sie brauchen nicht zu glauben, dass wir irgendeinen der Kerle hier leicht identifizieren können.«

»Was ist mit den Zähnen?«

»Noch ein wichtiger Unterschied. Anders als bei Calabrice wurden den dreien die Zähne gezogen, bevor sie ihnen den Mund zunähte. Die Zahnextraktionen sehen alle ziemlich sauber aus, also muss sie es getan haben, während sie von dem Amobarbital noch bewusstlos waren. Sie wollte nicht, dass diese drei identifiziert werden, aber ganz offensichtlich hat es sie nicht gekümmert, ob wir Calabrice identifizieren. Es ist fast so, als ob …«

Es ist fast so, als ob sie wollte, dass wir von Calabrice erfahren, überlegte Spence.

»Sind Sie sicher, dass Sie die Köpfe nicht sehen wollen?«

»Nein, danke«, sagte Spence. »Ich muss noch fahren.«

»Die Werte der Gewebeproben sind alle noch vorläufig. Aber da haben Sie den großen Unterschied zwischen den drei und Calabrice.«

»Was meinen Sie?«

»Calabrice war ein gut genährter, männlicher Weißer. Sicherlich ein mäßiger Trinker, niedrige B-6- und Magnesiumwerte, aber er war gesund. Er war in ordentlicher Verfassung.«

In ordentlicher Verfassung, wiederholte Spence.

»Und die Typen?« Kohls wedelte mit der Hand. »Schlechte histologische Werte. Eine Menge arterieller Ablagerungen, Lebersklerose ersten Grades, eine Menge Lipofuszin, wenig Körperfett. Die Kerle waren unterernährt.«

»Penner?«

»Nein, keine Penner. Nur ernährungsbedingte Mangelerscheinungen. ›Player‹.«

»Player« waren Gauner, Nachtschwärmer, Stadtmenschen mit unregelmäßigem Einkommen, die sich schlecht ernährten. »Mit anderen Worten«, sagte Spence, »nicht die Art von Leuten, die in Oberklassebars abhängt.«

»Genau«, sagte Kohls. »Im Vergleich zu Calabrice waren die drei hier Phantome.«

Phantome, dachte Spence.

Er dachte darüber nach, während er zum Hauptquartier in die Indiana Avenue zurückfuhr. Er hatte einen Termin. Die Autopsieberichte waren zu diesem frühen Zeitpunkt noch mit Vorsicht zu genießen, aber Kohls hatte ihm im Voraus genug zum Nachdenken gegeben.

Spence hatte sehr viel nachgedacht.

Nun saß er im Büro von Dr. Ian Simmons, der ruhig die forensischen Vorabberichte las. Simmons, in den 60ern, ziegenbärtig und mit einer Wampe, war der forensische Psychiater des Departments. Er hatte vor Kurzem in einer britischen Fachzeitschrift für Medizin namens Lancet einen Artikel veröffentlicht (›Unterschiede im kriminellen Verhalten ipsilateraler männlicher Personen‹) und war für irgendeine Auszeichnung nominiert worden.

»Demnach suchen Sie nach jemandem mit medizinischen Kenntnissen. Vielleicht nach einem Arzt.« Simmons’ Augen weiteten sich vor Vergnügen. »Nach mir, vielleicht.«

»Sie sind keine Frau mit roten Haaren«, stellte Spence fest.

»Ah, aber könnte der Haarausfall nicht von einer Perücke kommen?«

»Nicht mit intakten Haarwurzeln. Nicht wenn die Schaftoberhaut voll mit nicht-oxidiertem Dihydrotestosteron ist. Mikroskopisch passen die Schamhaare genau zu den Kopfhaaren. Die Spindelstruktur und die Größenordnung sind typisch weiblich.«

»Gut, gut«, sagte Simmons und las weiter den Vorbericht. Er testete Spence, wie er das immer tat. »Wer macht den Radioimmunassay?«

»McCrone Associates. Die sind teuer, schicken die Ergebnisse aber viel schneller als die vom Bureau.«

»Das Geld der Steuerzahler hätten Sie sparen können«, sagte Simmons. »Die Ergebnisse des RIA werden auf dauerhaften Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Mangelernährung und Megalopsie hinweisen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Wenn ich falschliege, gebe ich Ihnen ein Abendessen aus.«

»Ich hoffe, dass Sie sich irren«, sagte Spence. »Ich war schon lange in keinem guten Restaurant mehr.«

Simmons kicherte. »Mit Sicherheit haben Sie die Computertechniker schon überprüfen lassen, ob es zwischen rothaarigen Frauen und den letzten Entlassungen aus der Psychiatrie Zusammenhänge gibt.«

»Ja«, sagte Spence. »Und Krankenhausangestellte.«

»Dummerweise gibt es so etwas wie Datenschutz, hm?«

»Ich werde ihnen sagen, dass sie die letzten vier Monate überprüfen sollen.«

»Sie sollen ein Jahr überprüfen«, berichtigte Simmons. »Das ist weiter entwickelt als Ihr typisch unsystematisierter Realitätsbruch. Das können Sie mir glauben, Jeffrey. Dafür werde ich bezahlt.«

Simmons’ Gebaren faszinierte Spence jedes Mal aufs Neue. Der Doktor sprach immer mit ausladenden Gesten und Gesichtsausdrücken, sah dabei aber nie beim Lesen auf, so als ob der Vorbericht das Gesicht von Spence sei. Simmons war womöglich Spences einziger wahrer Freund.

»Sagittale Fusion des Schläfenbeins. Mastoid-Fusion … alle vier Opfer sind Ende 20, Anfang 30, aber die ersten drei kommen aus schwächeren sozialen Schichten.«

»Das ist richtig«, sagte Spence.

Er las weiter. Dann zog Simmons die Augenbrauen zusammen. »Ihre Freundin verhält sich ziemlich stammesmäßig …«, Simmons nannte die Killer stets Spences ›Freunde‹, »und sie ist vermutlich sowohl intelligent als auch gebildet.«

Spence horchte auf. »Was meinen Sie mit stammesmäßig?«

»Sie sammelt physische Symbole feindlicher Stärke. Nehmen Sie das Beispiel der afrikanischen Bantis oder die vorkolonialen Filipino-Stämme. Die haben die Schädel ihrer Feinde gesammelt, weil sie glaubten, das würde ihnen Stärke verleihen. Im tiefsten Süden gibt es Voodookulte, die heute noch dasselbe machen. Ähnliche Stämme haben aus demselben Grund Geschlechtsteile gesammelt.« Simmons legte eine gedankenversunkene Pause ein. »Und Ihre Freundin hier sammelt definitiv Penisse.«

Penisse sammeln, dachte Spence. Das war das Absurdeste, was er sich vorstellen konnte.

»Calabrice, Stephen W. Ihre Freundin hat den Penis von Mr. Calabrice an eine Zeitschriftenredakteurin geschickt?«

»Das stimmt. Sie schreibt eine Selbsthilfekolumne.«

»Vergötterung«, sagte Simmons und lächelte schwach über den Bericht. »Objekte des Missbrauchs dienen als Objekte der Stärke, die beneidet werden … daher die fehlenden Penisse. In Calabrices Fall hat sich Ihre Freundin entschlossen, das Objekt der Stärke mit einer anderen Frau zu teilen. Noch mehr Stammesgebaren.«

Das war merkwürdig. Die ganze Unterhaltung war zu merkwürdig. Was würde ein normaler Mensch denken, wenn er hier zuhörte?

»Vermutlich wohnt sie in einem Haus, in einer abgeschiedenen Gegend«, fuhr Simmons fort. »Sie wurde, wahrscheinlich auf sehr abscheuliche Weise, sexuell missbraucht, und zwar von ihrem Vater oder einer anderen dominierenden männlichen Person, seit sie sehr jung war. Sie ist offensichtlich bipolar genug, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen.«

Das alles hatte Spence bereits bedacht. Vorläufige Schlussfolgerungen, die jeder Ermittler ziehen würde. »Und sie hat keine engen Bekanntschaften. Keine Freunde.«

Ein Erinnerungsblitz. Spences Mutter. Warum gehst du nicht mit deinen Freunden weg, Jeffrey? Wie kommt es, dass du nie …

Finster dreinblickend schob Spence den Gedanken beiseite. »Ich überlege, ob sie eine Prostituierte sein könnte. Calabrices Wagen war knapp außerhalb des Rotlichtbezirks abgestellt.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Simmons. Dann legte er den vorläufigen Bericht der CES hin und blickte Spence an. »Wir haben es hier mit ein paar Seltsamkeiten zu tun, an erster Stelle die Tatsache, dass sie anscheinend sehr attraktiv ist.«

»Weil Calabrice attraktiv war?«

»Natürlich. Und wohlhabend und erfolgreich. Man kann keine guten Fische ohne gute Köder fangen.«

»Warum ist das seltsam?«

Simmons streichelte sein silbriges Ziegenbärtchen. »Die meisten akut Psychopathischen sind durchweg unattraktiv. Die sexuellen Traumata aus der Kindheit erzeugen ein abstoßendes Selbstbild. Aber entgegen der weitverbreiteten Meinung bringen die meisten Psychopathen keine Leute um.«

»Ich dachte, wir suchen nach einem Soziopathen«, sagte Spence.

»Nein, nein, nein, nein«, antwortete Simmons. Er sagte es noch ein Dutzend Mal. »Ich dachte, Sie hätten einen Abschluss in Psychologie, nicht im Onanieren. Ihre Freundin hier ist eindeutig psychopathisch und erst vor Kurzem hat sie den ersten schweren Realitätsbruch ihres Lebens gehabt.«

»Wie begründen Sie das?«

»Die vier Opfer. Sind Sie nicht neugierig, warum sie dermaßen aufwendig versucht hat, die Identifizierung der drei zu erschweren, aber nicht bei Calabrice?«

»Genau aus dem Grund bin ich ja zu Ihnen gekommen«, sagte Spence.

»Oh, und ich dachte die ganze Zeit, es wäre mein erfrischender Charakter. Es ist bei Serienkiller-Szenarien ziemlich typisch, dass sie psychopathische Ursachen haben und keine soziopathischen. Die ersten paar Opfer werden meistens nach den späteren Opfern entdeckt. So wie hier. Eins, Zwei und Drei hatten keine Fingerabdrücke, keine Zähne. Aber Calabrice schon. Warum?«

»Sie sind hier der klinische Psychiater.«

Simmons lachte kehlig. »Alle Psychopathien erfüllen im Endeffekt im Denken der Psychopathen einen objektiven Zweck. Die anfänglichen Verbrechen sind immer planlos. Erst nach dem Realitätsbruch dienen die Verbrechen einem bestimmten zentralen Punkt.«

»Nun, was ist dieser zentrale Punkt?«

»Ich dachte, das wäre offensichtlich. Es ist die Autorin. Diese …«, Simmons warf einen Blick in die Calabrice-Unterlagen, »diese Kathleen Shade.«

Sie schlenderten zum Automaten, um sich einen Macke-Kaffee zu holen. »Aber warum?«, fragte Spence. Es plagte ihn. »Warum Kathleen Shade?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Simmons. »Weder kenne ich sie, noch habe ich irgendetwas von ihr gelesen. Aber ich vermute, dass sie der Schlüssel ist – sein muss. Die Wahnvorstellungen eines Psychopathen hängen fast immer mit einem physischen Symbol zusammen. Aus irgendeinem Grund bezieht sich Ihre Freundin auf Kathleen Shade. Und ich wüsste zu gerne, warum.«

Da bist du nicht der Einzige, dachte Spence. »In ihrem ersten Brief hat sie Shade ›eine großartige Frau‹ genannt.«

»Nicht überraschend. Shade ist ein Idol und man kann wohl auf Basis der Vergötterung annehmen, dass es ziemlich subjektiv, wenn nicht sogar erfunden ist. Einerseits kann es etwas Einfaches wie äußerliche Ähnlichkeit sein, oder die Wahnvorstellung ist andererseits so komplex, dass kein gesunder Geist sie begreifen kann … Wie gehen Sie mit Shade um?«

»Ich glaube, dass ich sie ziemlich schnell durchschaut habe«, sagte Spence. »Sie scheint mir eine gebrochene Persönlichkeit zu haben. Klug, unabhängig, aber wegen ihrer Unsicherheit total durcheinander.«

»Und sie versucht, diese Unsicherheit nicht zu zeigen«, sagte Simmons. Es war eher eine Vermutung als eine Frage.

»Yeah, jedenfalls sieht es danach aus. Also spiele ich ihr den bösen Kerl vor und es funktioniert. Sie wissen schon: versteinertes Gesicht, steife Körperhaltung, absichtlich steife Redewendungen und so weiter. Wirkliche Unhöflichkeit, sie glaubt, ich sei ein männliches Chauvinistenschwein. Sie ist tatsächlich stocksauer.«

»Gut, gut. Sie hört sich nach jemandem an, den man verärgert lassen muss, damit er aufnahmefähig bleibt. Sie muss die Notwendigkeit begreifen, sich mit Ihnen zu messen, ansonsten nützt sie Ihnen nicht viel. Und wahrscheinlich hat Shade irgendetwas verfasst, was der Auslöser für das Konzept als Idol war. Ich schlage vor, dass Sie alles lesen, was sie veröffentlicht hat.«

Spence nickte. »Ich habe schon unsere Recherche darauf angesetzt.«

»Und finden Sie heraus, ob Shade sexuell missbraucht wurde.«

»Hab ich schon«, sagte Spence. Der Kaffee war scheußlich. »Ich habe ihre Vergangenheit überprüfen lassen. Vor langer Zeit wurde sie von einem Familienmitglied missbraucht. Der Typ wurde geschnappt und sie hat gegen ihn ausgesagt. Ich bekomme bald mehr Informationen darüber.« Spence lächelte schwach. »Sie denkt, dass ich rate. Ich habe sie kribbelig gemacht mit den ganzen kinetischen und kinästhetischen Gesten, die man mir beigebracht hat. Sie glaubt, dass ich Gedanken lesen kann.«

»Gut, und sorgen Sie dafür, dass sie es weiterhin glaubt. Ist sie lesbisch?«

»Nein. In ihrer Kolumne schreibt sie über heterosexuelle Themen. Und die letzte Nacht hat sie mit einem Typen verbracht, den sie gerade erst kennengelernt hat.«

»Sie sind ein böser Junge, Jeffrey. Sie analysieren unauffällig die Psyche von Mitbürgern, verfolgen sie und dringen in ihre Privatsphäre ein.«

Spence zuckte mit den Achseln. »Hey, ich bin ein Cop. Und genau das tun Cops, oder nicht?«

Simmons rümpfte über dem Kaffee die Nase. »Sie hätten Psychiater werden sollen. Dann könnten Sie noch viel mehr im Privatleben der Leute herumschnüffeln.«

»Anscheinend möchte die Killerin, dass Shade ein Buch über sie schreibt«, sagte Spence, »oder zumindest irgendeine Story. ›Möchten Sie meine Geschichte bringen?‹, hat sie Shade gefragt.«

»Natürlich, Shade ist der Schlüssel. Die Killerin baut eine Beziehung zu ihr auf. Noch ein Beweis, dass die Absicht der Selbsttäuschung sich verfestigt. Deshalb hat sie die drei Leichen in Calabrices Auto gelassen. Sie wollte, dass sie gefunden werden. Sie wollte, dass Sie wissen, was sie gerade tut. Denn sonst ließe sich die Absicht nicht verwirklichen und hätte keinen Zweck. Und wenn Shade ihre Verbrechen veröffentlicht, wird die Absicht noch mehr an Bedeutung gewinnen für das, worauf die Killerin ihre Wahnvorstellungen begründet. Sie denkt, dass Shade sympathisieren und sie als Mitstreiterin ansehen wird. Noch größere Selbsttäuschung. Genau genommen ist es wunderbar, dass Ihre Freundin eine phasenweise Psychopathin ist.«

»Wunderbar?«, fragte Spence und konnte sich kein Wort vorstellen, das unangebrachter gewesen wäre.

»Weil Psychopathen, anders als Soziopathen, immer Fehler begehen«, versicherte Simmons. »Sie werden sie vermutlich bald schnappen, und wahrscheinlich ziemlich unkompliziert.«

»Unkompliziert?« Spence hätte beinahe gelacht. »Sie hat den ersten drei Opfern von Hand die Zähne gezogen, um eine Identifizierung zu verhindern. Sie hat die Hände und Füße verbrannt. Und sie hat nicht die geringste Spur hinterlassen, weder im Auto noch an einer der Leichen. Der Typ beim CES meint, dass sie zwei Paar Latexhandschuhe getragen hat, Herrgott noch mal. Mit anderen Worten: Sie kennt sich so gut mit modernen kriminalistischen Methoden aus, dass sie weiß, dass ein einzelnes Paar Handschuhe Hinweise durch Harzanhaftungen hinterlassen kann. Herrje, sie haut die Typen mit Amobarbital um.«

»Fein, fein. Sie ist kompliziert. Aber Sie unterschätzen, dass sie chronisch bipolar ist. Je mehr Zeit vergeht, umso offensichtlicher wird die Phase der Wahnvorstellungen. Psychopathen sind notorisch vergesslich. Sie haben ein außergewöhnliches Langzeitgedächtnis, aber so gut wie kein Kurzzeitgedächtnis. Es kommt vor, dass sie Leichenteile bis zur Zellauflösung im Schlafzimmer liegen haben, sich dessen aber überhaupt nicht bewusst sind. Wenn nach einem psychotischen Schub genug Zeit vergeht, sind sie von ihren Wahnvorstellungen überzeugt. Sie werden monomanisch vergesslich. Das Denken wird fragmentiert und die visuelle Wahrnehmung zersplittert. Sie halluzinieren. Sie fahren nackt zum Einkaufen und denken sich nichts dabei. Letztes Jahr hatte ich einen Mann, der einen Müllsack vergraben hat, aber die Leiche tatsächlich neben der Mülltonne liegen ließ. Es ist egal, dass sie oft einen höheren IQ als Sie oder ich haben. Wenn die Wahnvorstellungen sie überwältigen, neigen sie zu ungeheuerlichen Blödsinnigkeiten, die oft ins Komödiantische gehen.« Simmons nippte am Kaffee und verzog das Gesicht. »Keine Bange, Ihre rothaarige Freundin wird Fehler machen. Das heißt aber nicht, dass Sie sich in der Zwischenzeit keine Sorgen zu machen bräuchten.«

»Auf was muss ich denn in der Zwischenzeit gefasst sein?«

»Auf mehr Leichen«, sagte Simmons. Er kniff die Lippen zusammen und warf den Kaffee in den Mülleimer. »Sie erinnern sich doch an die grundlegende psychiatrische Terminologie. Erinnern Sie sich, was ein Status Nascendi ist, ein Aufkeimen?«

Spence schüttete seinen Kaffee ebenfalls weg. »Ein Gegenstand oder ein Gedanke, der dazu führen kann, dass eine Selbsttäuschung vom Betroffenen als wahr empfunden wird. Oder so etwas in der Art.«

Simmons hob einen Finger. »Exakt. Und Kathleen Shade ist die Verbindung zu diesem Aufkeimen.« Simmons’ bizarres Lächeln schien zu strahlen. »Finden Sie den Keim, Jeffrey, dann werden Sie Ihre Psychopathin finden.«

Kapitel 8

(I)

Sie sitzt am Küchentisch.

Später Vormittag.

Sie kann die Vögel sehen, die draußen auf dem rissigen Hof herumhüpfen.

Sie muss daran denken, den Rasen zu mähen.

Sie ist nackt unter dem violettfarbenen, seidenen Morgenmantel.

Sie mag die Morgen nicht.

Morgens muss sie sich erinnern.

Erinnerungen, grübelt sie und trinkt Wein.

Aber ihre Erinnerungen sind, was sie besonders macht.Auf Erinnerungen baut ihre Geschichte …

Sie beginnt zu tippen.

KAPITEL EINS

KINDHEITSERINNERUNGEN

Dein Vater ist eine Erinnerung. Deine Mutter ist ein Geist. Das Kreuz gemahnt dich an etwas, aber du weißt nie, an was. Deine Mutter starb, als du fünfzehn warst. Sie war eine Prostituierte und nahm Heroin. Daddy hat sie oft verprügelt, weil er Freunde hatte, die gern Sex mit Frauen hatten, die geschlagen wurden oder bewusstlos waren. Du hast deine Mutter sehr geliebt. Du wünschst dir eine Möglichkeit, alle Männer zu finden, die mit deiner Mutter Sex hatten, damit du sie alle umbringen kannst. Manchmal zwingt Daddy dich zum Zusehen. Er zwingt dich, ihn anzufassen, während er die Männer in Daddys Zimmer durch einen Trickspiegel im Wandschrank beobachtet. Er hat angefangen, dich zu belästigen, als du vier oder fünf warst. Immer wenn er von der Arbeit kam, hat er dich mit in das Arbeitszimmer genommen, das du Daddys Zimmer nennst, und er hat dich gefickt. Er wollte, dass du Sachen mit ihm machst. Er war nie so gemein zu dir wie zu deiner Mutter. Er hat gemeine Sachen gemacht, aber er war nie gemein. Und sehr oft kamen Arbeitskollegen nach Hause, und Daddy ließ sie Sachen mit dir und deiner Mutter anstellen, manchmal auch gleichzeitig. Du erinnerst dich, wie du in all den Nächten während all der Jahre gefickt wurdest, auf der Couch oder auf dem Tisch oder auf dem Fußboden, und du erinnerst dich, dass du durch Das Fenster gesehen und Das Kreuz erblickt hast.

Das Kreuz leuchtet wie ein großes, schönes weißes Feuer.

Es ist Das Kreuz, das dich rettet. Es ist Das Kreuz, das dir Stärke verleiht.

Der Geist deiner Mutter hat es dir gesagt.

Manchmal haben Daddy und seine Freunde deine Mutter gefesselt und Gegenstände in sie reingesteckt. Alle lachten, während sie zitternd auf dem Boden lag.

Du schaust auf Das Kreuz und beschließt, dass eines Tages du sie fesseln und Sachen in sie stecken wirst.

Später mäht sie den Rasen.

Sie hatte früher ein paar Jungs aus der Nachbarschaft dafür bezahlt, aber dann hatte ihre Mutter gesagt, dass sie im Hof etwas finden könnten.

Die Stellen, wo sie Dinge vergraben hat.

Danach fährt sie zur Arbeit, um ihren Gehaltsscheck abzuholen.

Sie fährt mit dem kleinen blauen Auto. Ihre Mutter ist heute nicht bei ihr.

Vielleicht ist sie bei Daddy.

Vielleicht schneidet sie Daddy den Teufel ab.

In Daddys Zimmer.

Wieder und wieder und wieder.

Sie wünschte, sie wäre ein Geist wie ihre Mutter, sodass sie Daddys Teufel auch abschneiden könnte.

Manchmal sieht sie Schädel unter den Gesichtern der Leute.

»Schädel bedeuten Tod«, hatte ihre Mutter ihr einst gesagt.

Es ist Das Kreuz, das sie die Schädel sehen lässt.

Sie fragt sich, ob Kathleen Shade ebenfalls die Schädel sieht.

Sie bekommt ihren Gehaltsscheck in der Krankenhausverwaltung.

Ihr Supervisor sagt »Hallo« und gibt ihr den Scheck.

Niemand spricht viel mit ihr.

Alle halten sie für sonderbar.

Darüber lächelt sie.

Sie geht hoch in den vierten Stock, zur Intensivstation.

Eine junge Freiwillige auf der Schwesternstation sagt »Hallo«, und sie gibt ein »Hallo« zurück.

»Arbeiten Sie von vier bis zwölf heute?«

»Nein, bis morgen Abend arbeite ich nicht mehr«, erzählt sie der Freiwilligen. Sie möchte das junge Mädchen vor den Teufeln warnen und vor all den schrecklichen Dingen, die Männer ihr antun können, aber natürlich kann sie das nicht. »Ich habe gestern Abend vergessen, meinen Schichtbericht fertig zu machen.«

»Oh, okay.«

Während sie den Bericht zu Ende schreibt, kommt ein Arzt um die Ecke und schreit die Freiwillige an. »Carrington, nicht Carrolton!«, brüllt er und knallt das Aluminiumklemmbrett mit den Berichten von der Intensivstation auf den Tisch. Das Geräusch ist so laut, dass sie aufspringt.

»Es tut mir leid, Doktor«, entschuldigt sich die Freiwillige.

»Haben Sie eine Ahnung, überhaupt eine Ahnung, was passieren kann, wenn Sie die falschen Akten anfordern?«

»Es tut mir leid. Ich dachte, Sie hätten Carrolton gesagt.«

»Ich dachte, Sie hätten Carrolton gesagt«, äfft der Doktor sie nach. »Herr im Himmel, Mädchen, wegen deiner Blödheit hätte ein Patient sterben können.«

Die Freiwillige bricht in Tränen aus.

Der Doktor kaspert in der Station herum, um die Akte selber zu holen. »Wenn es nach mir ginge, würdet ihr alle gefeuert«, schimpft er, während er herumkramt. »Inkompetent, der ganze Laden.«

Ihr tut die Freiwillige leid, aber sie lächelt. »Mach dir keine Sorgen«, sagt sie tröstend, als der Doktor davonstapft. »Ich hab gehört, dass letztes Jahr ein Patient ins Koma gefallen ist, weil er ihm einen falschen Betablocker verabreicht hat. Der Patient ist fast gestorben.«

»Er ist so ein Wichser«, schluchzt die Freiwillige. »Er benimmt sich immer so. Ist doch nicht mein Fehler, wenn er einen Patientennamen nicht richtig aussprechen kann.«

»Mach dir keine Sorgen.«

Ein Fantasiebild erblüht wie ein eingeschaltetes Licht.

Halt ihn fest, sagt sie zu der Freiwilligen, dann fessele ich ihn.

Er zuckt und schreit, als sie ihm mit einem Gradle-Miltex-post-mortem-Bauchmesser das Gesicht abschneidet.

Siehst du, was ich für dich tue?, sagt sie zu der Freiwilligen. Du kannst von mir lernen.

Sie schneidet seine Ohren ab wie die Enden eines Brotlaibs.

Sie trennt seine Nase mit einer Knowels-Knorpelschere ab.

Sie legt die Schere in die Hand der Freiwilligen und hält den Penis des Doktors hoch, damit die Freiwillige ihn abschneiden kann.

»So ein Arschloch«, sagt die Freiwillige und tupft die Augen mit einem Kleenex ab. »Ich könnte ihn umbringen.«

Ja, denkt sie.

Währenddessen tippt sie das Kennzeichen in den Computer. Alle Krankenhäuser haben eine Verbindung zu den Kraftfahrtämtern. Wenn ein Opfer eines Autounfalls ohne Ausweis eingeliefert wird, können sie das Kennzeichen abfragen und eine Kopie des Führerscheins ausdrucken, um das Foto darauf mit dem Patienten zu vergleichen.

»Wenn ich nicht noch zur Schule ginge, würde ich meine Kündigung einreichen«, erzählt die Freiwillige. Immerhin beruhigt sie sich ein bisschen. »Ich habe es nicht verdient, dass man mich so behandelt.«

»Das hat niemand.«

Sie druckt die Information nicht aus, weil sie weiß, dass der Computer einen Vermerk machen würde.

Stattdessen merkt sie sich, was auf dem Farbbildschirm erscheint.

GRÖSSE: 167

GEWICHT: 61

GESCHLECHT: W

FÜHRERSCHEINKLASSE: R

KATHLEEN MARGARET SHADE

3660 LEIBER STREET #307

WASHINGTON, D.C. 20005