9

Eine Viertelstunde später stieß er auf die riesige Betonpiste – diese wunderschöne gewundene Schlange aus Asphalt, die man die Interstate oder auch einfach nur das große I nennt. Er bog mit quietschenden Reifen ein und schluckte die Höcker und Beulen in der Straßendecke in aufrechter Haltung mit den Stiefeln auf der Fußraste. Er fühlte sich wie im Rausch und hatte große Lust, mit der alten Kiste ein kleines Kunststückchen hinzulegen, zum Beispiel freihändig im Schneidersitz dazuhocken oder mit den Füßen zu steuern ... nichts da, solcher verrückter Scheiß gehörte in die verrückte alte Scheißzeit, die nicht länger existierte.

Außerdem musste er seinen Arsch so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.

Die Maschine dröhnte unter ihm, während er Meile um Meile auf dem großen I hinter sich brachte. Der Wind wehte ihm die Haare nach hinten und zerteilte seinen struppigen Bart. Das Gesicht brannte und die Augen tränten. Scheiße, ja! Ein paar Fliegen klatschten gegen Wangen und Stirn. Auch das gehörte dazu.

So frei hatte er sich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt.

Er dachte für einen Moment an Rice. Für einen Bürger echt ein netter Kerl. Aus ihm hätte bestimmt ein guter Biker werden können. Zu dumm. Immerhin war er verbrannt und musste nicht mit einem Wurm im Gehirn durch die Gegend torkeln und seine kannibalischen Gelüste ausleben. Nicht viel, aber immerhin etwas, dass dem alten Mann das erspart geblieben war.

Slaughter beschloss, nicht zu lange darüber nachzudenken.

Er fühlte sich gut, energiegeladen und wie berauscht von der ganzen Action. Ein angenehmer seelischer Push, pure Euphorie, wie sie einen nur nach einem guten Kampf überschwemmte. Eine Art Hirn-Trip, bei dem einen alles Positive, was man erlebt hatte, in den Turbomodus wechseln ließ. Es erinnerte ihn an diesen Wettkampf damals in Harrisburg. Die Disciples hatten daran teilgenommen, außerdem Mitglieder der Outlaws und Pagans, der Warlocks und die Dirty Dozen – außerdem zahllose andere Clubs, große wie kleine. Slaughter und Jumbo, Neb und Apache Dan fuhren jeweils zu zweit auf ihren Bikes, zeigten den anderen bei einer wilden Fahrt, wo’s langging, und ließen sich mit ein wenig Red Dragon das Hirn freipusten.

Genau so fühlte es sich jetzt auch an: frei und sorglos. Wie man sich als Outlaw-Biker fühlen sollte, der nirgends richtig hingehörte: erhaben und stolz und mit dicken Eiern auf dem Sattel. So lebten Leute von ihrem Schlag. Wer lenkte sein Bike am souveränsten, wer fickte mehr Weiber, wer verpasste anderen die heftigsten Arschtritte. Absolut primitiv, fast schon barbarisch.

Das Einzige, was ihn momentan runterzog, war der Umstand, dass er dieses Erlebnis mit keinem seiner Disciples-Brüder teilen konnte.

Aber es gab auch etwas Positives: Die Interstate war sauber. Kaum Wracks und keine Bürger weit und breit. Das gehörte zu den guten Seiten des Outbreak. Er hielt die Normalos in ihren Blechkäfigen von der Straße fern, verschonte ihn von Amateuren am Steuer und vor allem Wochenendfahrern.

Die Sonne brannte zunehmend heißer, löste den Morgennebel auf und wärmte seine Arme mit den vielen verschachtelten Tattoos – Schlangen und Totenköpfe, Drachen und Grabsteine, die hellroten Hakenkreuze auf dem Bizeps, die gewundene Leiber und Wasserspeier überlappten, und schließlich noch der schwarze SS-Schädel auf dem linken Handrücken.

Er verspürte ein totales Hochgefühl und glaubte fast, dass ...

Sekunde mal.

Wart mal ’ne verfickte Sekunde.

Am Horizont sah er etwas. Nicht nur eine Sache, sondern viele. Fahrzeuge. Keine Wracks, denn sie rauschten mit Vollgas auf ihn zu. Er ließ die Kupplung kommen und bremste, fuhr immer langsamer, bis er stehen blieb. Er kramte in seiner Satteltasche und holte den Minox-Feldstecher heraus, hielt ihn vor die Augen und drehte am Schärferädchen ... Scheiße und noch mal Scheiße. Das waren Hummer. Humvees vom Militär.

Auf einmal bekam er ein total mieses Gefühl, das sich verschlimmerte, als das Klonk-klonk-klonk des Hubschraubers dazukam, der plötzlich über der Baumreihe in einiger Entfernung auftauchte und über den Himmel vor ihm schwebte.

Er musste sofort runter vom großen I.

Er gab kräftig Gas, rauschte durch Felder mit welkem Gras und verkrüppeltem Zuckermais, über kleine Höcker hinweg und in kleine Mulden hinein, kitzelte den Motor, ohne so stark zu beschleunigen, dass er auf dem unebenen Gelände gestürzt wäre. Zuerst hatte er das Ganze für einen Zufall gehalten, aber daran glaubte er nicht länger, als der Heli auf einmal direkt über ihm schwebte und die Hummer gezielt auf den Acker abbogen. Sie arbeiteten sich in gerader Linie voran und mähten die Pflanzen wie Erntemaschinen nieder.

Fuck.

Sie hatten es auf ihn abgesehen.

Er schoss einen Hügel rauf, landete auf einer Schotterpiste und gab Gas. Natürlich bestand das Risiko, dass er ins Rutschen kam, aber er musste dringend Land gewinnen und Abstand zwischen sich und die Humvees bringen. Der Hubschrauber kreiste penetrant über ihm und ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Solange er keine Deckung fand, ein paar Bäume, war es jeden Moment vorbei. Er bretterte weiter und wirbelte einen Kondensstreifen aus Staub hinter sich auf.

Die Schotterpiste wand sich durch eine freie Ebene, was ihm gar nicht passte. Irgendwo weiter hinten verschwand sie in einem Kieferndickicht. Falls er es bis dorthin schaffte, hatte er vielleicht eine Chance. Er beschleunigte noch ein bisschen mehr und gewann an Schwung. Im Rückspiegel kamen die Geländewagen schnell näher.

Er wechselte spontan auf eine Seitenstrecke, die ihn durch dichteres Buschwerk auf einen Trampelpfad führte. Einen Hügel rauf, einen anderen runter, über eine Fußgängerbrücke. Er kurvte ins Gras hinein und stieß auf etwas, das an eine trockengelegte Abflussrinne erinnerte, in Sandstein eingebettet. Er folgte ihrem Verlauf und näherte sich dem Kiefernwäldchen, ahnte aber, dass es knapp werden würde. Über ihm nahm ihn der Chopper aus der Luft unter Beschuss. Er hörte das Tak! Tak! eines leistungsstarken Gewehrs. Kugeln prallten gegen die Steine um ihn herum und spalteten manche davon. Kleine Staubwolken stiegen in die Luft. Das Gewehr feuerte unablässig weiter und erste Geschosse schlugen vor ihm ein, weitere umzingelten ihn von der Seite und von hinten.

Die zielen absichtlich daneben!, vermutete Slaughter. Er bog von der Rinne zurück auf die Schotterpiste ab. Sie treiben dich vor sich her. Sie wollen dich lebend erwischen.

Er beschloss, es seinen Gegnern nicht so leicht zu machen, wer auch immer zur Hölle es da auf ihn abgesehen hatte. Auf seinem eisernen Thron kam er an Orte, die sie nicht erreichen konnten, und sobald er sich im Schutz der Bäume befand, nützte ihnen der Helikopter nichts mehr. Aber erst musste er sie erreichen. Und wenn er das geschafft hatte, beschloss er, er würde es drauf ankommen lassen ... und bis zum bitteren Ende kämpfen.

Okay. Nicht mehr weit.

Höchstens zwei Minuten.

Die Humvees kamen näher und die Reserven seiner Maschine waren erschöpft. Die Straße war uneben und mit Schlaglöchern übersät, der Belag an vielen Stellen gelockert. Die Kerle in den Humvees störte das natürlich nicht. Im Gegenteil, sie schienen eher noch einen draufzusetzen. Und da tauchte schon wieder dieser elende Heli auf. Der Mann an den Geschützen ließ es knallen und verstreute Schwarzpulver wie andere Reis bei einer Hochzeit: Tak! Tak! Ka-tak!

Immerhin wartete vor ihm das Dickicht ... kühle, schattige Tiefen, in die er abtauchen konnte.

Das klappte schon.

Er war fast da.

Doch in diesem Moment ging endgültig alles vor die Hunde, denn aus dem Dickicht tauchte ein weiterer Truck auf und schoss direkt auf ihn zu. Auf dem Dach hatte sich ein Schütze mit einem fest montierten, rückstoßfreien Gewehr postiert und wartete auf Anweisungen. Slaughter kannte diese Waffe gut. Vor dem Outbreak hatte er sich bei den Disciples ein Abzeichen verdient, indem er erfolgreich Zielübungen damit absolvierte. 106 Millimeter. Die verwandelten sein Bike zwangsläufig in Schrott und Slaughter selbst in einen blutigen Haufen Schlacke.

Sie hatten ihn eingekesselt.

Er sah keine Chance, rechtzeitig zu bremsen. Deshalb ließ er die Maschine nach links ausbrechen. Der Abwasserkanal, den er aufgrund des dichten Bewuchses vorher nicht bemerkt hatte, tauchte vor ihm auf. Slaughter knallte voll dagegen, schoss wie eine Rakete hoch in die Luft und schlug einige Meter weiter im niedrigen Gras auf.

Als er seine Benommenheit langsam abschüttelte, standen bereits Soldaten mit M16A2s vor ihm. Er kämpfte sich langsam mit erhobenen Händen in die Höhe.

»RUNTER! RUNTER! RUNTER!«, herrschte ihn einer der Männer an. »FRISS DRECK, DU ELENDER MOTHERFUCKER!«

»Ganz ruhig, Mann! Ihr habt mich ja erwischt«, gab Slaughter cool und entspannt zurück.

Andere standen plötzlich hinter ihm, stießen ihn mit dem Lauf ihrer Gewehre zu Boden und traten auf ihn ein. Irgendwann rollte er hilflos auf den Bauch wie eine Ölsardine in der Dose. Gedanken vom großen bösen Westen mit den Deadlands, den Rockys und dem Pazifik auf der anderen Seite zogen vor seinem benommenen geistigen Auge vorbei.

Er driftete in einen Traum ab, in dem er mitten in der Nacht durch ein endloses Meer schwamm.

10

Wer sie waren oder was sie von ihm wollten, erfuhr er zunächst nicht. Als Slaughter aufwachte, fand er sich in einem Loch wieder. Es dauerte etwas, bis er sich so weit berappelt hatte, dass er seine Umgebung einordnen konnte. Er driftete immer wieder kurz in die Bewusstlosigkeit ab. Sie hatten ihn ordentlich verprügelt. Alles tat weh und verursachte höllische Schmerzen. Aber als seine Benommenheit endlich von ihm abfiel, erkannte er, dass er wirklich in einem Loch feststeckte. Ein vollkommen runder Schacht, eine Art Brunnen mit lehmigen Wänden. Darin gab es nichts als eine raue Wolldecke, auf der er lag. Sie stank nach Pisse und Blut, weil er sich selbst bepinkelt und vollgeblutet hatte, wahrscheinlich sogar Blut gepinkelt hatte.

Ungefähr zweieinhalb Meter über seinem Kopf lag ein Rost auf der Öffnung. Das Ganze erinnerte ihn an eine Grube, in der man in einem dieser Chuck-Norris-Streifen Kriegsgefangene festhielt, wenn sie aus Vietnam oder so befreit wurden. Total durchgeknallte Scheiße, aber hier passierte es wirklich.

Er saß in einer Grube.

Nackt.

Blutig und voller Schrammen.

Durstig.

Hungrig.

An diesem ersten Tag und weit bis in den zweiten hinein rief er immer wieder nach den Soldaten, die ab und zu von oben ins Loch hineinspähten, ihn jedoch ignorierten. Erst als er anfing, ihre Mütter wüst zu beschimpfen, erntete er ein kurzes ›Fick dich!‹. Nichts weiter. Nachts wurde es kalt und er zitterte unter der Decke. Tagsüber knallte die Sonne herab und brachte ihn zum Schwitzen. Und es gab Insekten. Schwarze Käfer, die bissen. Man hielt ihn eine ganze Woche lang in dem Loch fest. Er lebte dort unten. Pisste dort unten. Schiss dort unten. Hauste in seinen eigenen Exkrementen wie ein Tier. Zweimal am Tag ließen sie ein Tablett mit einer Blechtasse voll Wasser, etwas Brot und ein paar Fetzen Fleisch runter. Am dritten Tag schnappte er sich das Seil und hätte den Soldaten am anderen Ende fast zu sich in die Tiefe gezogen. Das wäre ein Spaß geworden, denn er hätte diesen verfickten G. I. Joe umgebracht, ihm das Genick gebrochen und die Augen ausgestochen, sich die Waffe geschnappt und jedem die Fresse weggeblasen, der sich zu dicht an die Grube rantraute. Bestimmt hatte er es mit Soldaten oder Bullen oder beidem zu tun. Vermutlich wären sie mit Tränengas gegen ihn vorgegangen – oder sogar mit einer Granate.

Problem erledigt.

Nach diesem kleinen Zwischenfall bekam er zwei Tage lang kein Essen oder Wasser. In dieser Phase verhielt er sich nicht länger wie ein gerissenes Tier, sondern wie ein denkender Mensch. Hätte sich jemand seinen Tod gewünscht, wäre er bereits tot. Nein, diese Kerle wollten etwas anderes. Sie setzten irgendeine psychologische Kacke gegen ihn ein, das durchschaute er inzwischen. Sie trieben ihn an die Grenzen der menschlichen Belastbarkeit, so wie es sadistische Wachmänner mit gefangenen Soldaten taten. Sie wollten ihn brechen. Warteten darauf, dass er um Gnade winselte.

Das zeigte, wie dumm diese Typen waren. Sie kannten ihn eben nicht.

Aber es handelte sich um ein Spiel, also spielte er mit. Er wusste wirklich nicht, ob es um die Morde in New Castle ging, aber früher oder später legten sie schon ihre Karten auf den Tisch. Allerdings musste er sie gezielt dazu verleiten. Und damit das klappte, musste er ruhig in diesem Loch hocken und hinnehmen, wie sie mit ihm umsprangen. Auf keinen Fall Schwäche zeigen oder um Gnade winseln.

Sollten sie doch den Anfang machen.

Sollten sie doch erklären, worum es ihnen ging.

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr durchschaute er ihre Absichten. Sie hatten ihn aus einem konkreten Grund hergebracht. Nicht versehentlich oder weil er ihnen zufällig bei einem Raubzug in die Quere gekommen war. Sie hatten sich gezielt auf ihn gestürzt, ihn in die Enge getrieben und jede Menge Zeit und Ressourcen aufgewendet, um ihn festzusetzen. Wenn sie ihn nur für einen x-beliebigen Streuner hielten, wozu all die Mühe? Dann hätten sie ihn einfach getötet und seinen Körper zum Ausbluten in der Hitze liegen lassen.

Nein, sie wollten etwas von ihm.

Aber vorher wollten sie ihn abstumpfen.

Am fünften Tag erhielt er Gewissheit, als eine Stimme zu ihm runterbrüllte: »Hey, Slaughter? Brauchst du was?«

»Nein, alles bestens.«

»Okay, du Klugscheißer. Du hattest deine Chance.«

Mit anderen Worten: Du hattest deine Chance, mich anzubetteln. Na gut. Wenn sie all diese Zeit und Manpower einsetzten, um einen einzigen Mann zu erwischen – ihn –, hieß das, dass sie nicht nur etwas wollten, sondern auch, dass der Faktor Zeit eine gewisse Rolle spielte. Er behielt diesen Umstand im Hinterkopf.

Am Abend des sechsten Tages meldete sich die Stimme erneut: »Slaughter? Wenn du dich kooperativ zeigst, kann ich dich da rausholen.«

»Nicht nötig. Mir gefällt’s hier unten.«

Wem auch immer diese Stimme gehörte, derjenige trollte sich leise fluchend. Und während Slaughter in seinem eigenen Dreck vor sich hin gammelte, mit blasser Haut, Insektenbissen am ganzen Körper und Rippen, die gegen diese Tortur protestierten, stellte er langsam fest, dass er sich zwar beschissen fühlte – Herrgott, ja, so beschissen wie noch nie in seinem Leben –, er aber die Trümpfe in der Hand hielt. Er hatte ihre Psychotricks durchschaut und setzte sie gegen sie ein ... wer immer sie auch sein mochten.

Sitz es aus, Mann.

Sitz es einfach aus.

Die haben sich eine Menge Mühe gegeben. Je länger du’s hinauszögerst, desto mehr geht ihnen das auf den Sack. Lass sie ruhig verzweifeln. Ernsthaft verzweifeln. Denn das werden sie.

Wart’s nur ab.

Dann, am Nachmittag des siebten Tages, wieder der Mann: »Willst du raus aus dem Loch, Slaughter? Willst du zu uns kommen, damit wir Tacheles miteinander reden? Duschen? Saubere Kleidung anziehen? Was Vernünftiges essen?«

In Slaughters Innerem schrie eine Stimme in absoluter Verzweiflung laut auf: Ja! Mein Gott, unbedingt! Bitte, bitte, bitte lasst mich hier raus! Aber er gab dieser Stimme keinen Raum und schwieg. Sagte kein Wort. Rührte sich nicht mal.

»Slaughter?«

Keine Antwort.

»Slaughter?«

Stille.

»Gottverdammt, Slaughter!«, röhrte die Stimme und der Tonfall verriet ihm, dass der Kerl daran gewöhnt war, Kommandos zu bellen, und dass man ihm in der Regel brav antwortete. »Slaughter? Du beschissener Hurensohn.« Der Besitzer der Stimme trampelte davon und nervte einen der Soldaten. »Ist er schon den ganzen Tag so?«

»Nicht nur heute, schon immer, Sir.«

»Er spricht nicht?«

»Er spricht nie, Sir.«

»Scheiße. Also gut. Schaffen Sie ihn da raus.«

»Jetzt, Sir?«

»Nein, eine Woche nach Dienstag, du Hohlbratze. Natürlich jetzt!«

Und genau das taten sie. Sie ließen einen Tragriemen herunter und Slaughter blieb liegen, als sei er zu krank, um sich zu bewegen, weil er das für seinen ultimativen Trumpf hielt. Einige Soldaten von niederem Rang kletterten in das nach Scheiße stinkende Drecksloch hinunter und hievten ihn auf den Riemen. Dabei schimpften und beschwerten sie sich die ganze Zeit. Oben warteten bereits Sanitäter mit einer Trage auf ihn. Er hätte am liebsten vor Freude aufgeschrien, endlich ins Leben zurückgekehrt zu sein. Offenbar befand er sich in einer Art Militärlager. Wellblechbaracken und eintönige graue Gebäude, zwischen denen eine Menge Ledernacken umherwuselten.

»Slaughter?«

Die Stimme gehörte zu einem rundlichen Zwerg in Chinos, der überhaupt nicht wie ein Diensthabender der Army wirkte. Eher wie der Vorstandsboss eines großen Konzerns. Graue, adrett frisierte Haare und glänzende Schweinsbäckchen – überfüttert und überbezahlt.

»Ich könnte eine Dusche vertragen«, erklärte Slaughter.

Tatsächlich gönnte er sich gleich zwei hintereinander. Dann drückten die Sanitäter ihm eine Creme gegen die Insektenbisse in die Hand und steckten ihn in einen Raum mit Bett. Sie gaben ihm einen Tarnanzug zum Anziehen und Brathähnchen mit Kartoffeln zum Essen, mit Apfel-Streusel-Kuchen zum Nachtisch und eiskaltem Wasser dazu. Nachdem er alles verputzt hatte, verlangte er nach zwei Cheeseburgern mit Schoko-Shake. Am liebsten hätte er sich den Magen weiter vollgestopft, aber er befürchtete, früher oder später zu platzen, also entschied er sich stattdessen für ein Nickerchen.

Als er aufwachte, warteten seine gereinigten Klamotten auf ihn: sauber und ordentlich zusammengelegt. Die schwarze Jeans, die abgewetzten Motorradstiefel und sogar seine Kutte mit den Abzeichen. Er zog alles an und staunte darüber, dass die Clubweste zwei Wäschen in genauso vielen Wochen ausgehalten hatte, ohne auseinanderzufallen.

Slaughter fand seine Zigaretten auf dem Nachttisch und genehmigte sich eine.

Dann wartete er.

Knapp eine Stunde später kamen zwei Militärpolizisten herein.

»Also schön«, sagte einer von ihnen. »Komm mit. Es wird Zeit.«

»Zeit wofür, mein Freund?«

»Wirst du schon sehen, Schwachkopf.«

Sie brachten ihn zu dem kleinen Dicken, der sich als Colonel Brightman vorstellte. Brightman behauptete mit keiner Silbe, der Army, den Marines oder einer ähnlichen Organisation anzugehören. Slaughter fühlte sich augenblicklich eingeschüchtert. Der Typ sah aus, als ob er seiner eigenen Mutter das Blut aussaugte. Er wurde in einen Klappstuhl aus Metall gegenüber von Brightman verfrachtet und lauschte dem Mann, wie dieser von einer Bedrohung für die Vereinigten Staaten und der schrecklichen Möglichkeit quasselte, dass es nicht gelang, den Würmerregen einzudämmen, sodass die Deadlands früher oder später die Grenzen des Atlantik hinter sich ließen.

»Es muss etwas unternommen werden«, verkündete Brightman schließlich. »Etwas ... Entscheidendes.«

»Wie haben Sie mich gefunden?«, brachte Slaughter heraus.

»Wir haben einige Red-Hand-Jungs aufgegriffen. Sie erzählten uns, ein Biker auf einer Farm in St. Croix County habe ihnen ein zweites Arschloch verpasst. Das passte zu unseren Meldungen über einen Radaubruder, der die Farben der Devil’s Disciples trägt und sich einen Pfad nach Westen bahnt. Danach ging es ganz einfach. Wir wussten, dass du dich mit Rice auf diesem Bauernhof aufhältst. Ihr wurdet beobachtet.«

»Also haben Sie Ihr Fangnetz über mir aufgespannt?«

»Genau.« Brightman schien die Einzelheiten für nebensächlich zu halten und beendete die Diskussion mit einer entschlossenen Handbewegung. »Wie schon gesagt, wir müssen entscheidende Maßnahmen hinsichtlich des Würmerregens einleiten. Anders können wir unsere Nation nicht retten.«

Slaughter verfiel erneut in Schweigen. Wenn Brightman wollte, dass er aufsprang, salutierte und eine bescheuerte Flagge schwenkte, war er an den falschen Mann geraten.

»Es ist kein Zufall, dass wir gerade dich geholt haben, Slaughter.«

»Das dachte ich mir fast.«

»Und es ist auch kein Zufall, dass wir dich hier draußen in dieses Loch geschmissen haben.«

»Auch das dachte ich mir.«

Brightman starrte ihn an und wischte sich den Schweiß mit einem Handtuch vom Gesicht. »Ach, wirklich?«

Slaughter gönnte sich ein sarkastisches Grinsen. »Glauben Sie, ich bin von gestern, Bürger? Ich weiß, wie dieser Mist läuft. Sie wollten mich brechen, bis ich darum bettle, freigelassen zu werden. Und das haben Sie getan, weil Sie mich in eine verzweifelte Lage bringen wollten, damit ich mich auf Ihre Bedingungen einlasse und auf jeden Vorschlag anspringe wie ein braver kleiner Soldat.«

»Anspringen?«

Slaughter holte eine Zigarette aus der Packung. »Ganz genau.« Er schüttelte den Kopf. »Also schön, Bürger. Spielen wir Katz und Maus, bis Sie endlich mit der Sprache rausrücken, was Sie von mir erwarten. Wenn Sie unbedingt wollen, lass ich mich drauf ein.«

»Sie haben zwei Polizisten in New Castle, Pennsylvania, getötet«, meinte Brightman. »Und eine unschuldige Frau ermordet.«

»Wenn Sie meinen.«

»Sei nicht albern, Slaughter. Du hast deine elenden Fingerabdrücke überall verstreut und es absichtlich getan, damit jeder kapiert, was Feinden der Devil’s Disciples blüht. Hab ich recht?«

»Verdammt recht«, antwortete Slaughter. »Diese Cops haben meinen Bruder Neb kaltblütig umgelegt. Ich hab’s selbst mitbekommen. Er hat keine Gegenwehr geleistet und war unbewaffnet. Trotzdem zogen sie ihre Waffen und haben ihn wie einen tollwütigen Hund erschossen. Ich hab den Gefallen nur erwidert. Zwei korrupte Bullen weniger auf der Welt, na und? Und diese Frau? Alles andere als unschuldig, Bürger. Sie hat die Seiten gewechselt und Neb verpfiffen. Sie hat die Cops auf seine Spur gebracht und damit sein Leben auf dem Gewissen. Sie hat bekommen, was sie verdient hat.«

»Sie hatte es verdient ... ausgeweidet zu werden?«

»Da liegen Sie völlig richtig, Bürger. Sie war eine der ärmlichsten Kreaturen überhaupt: eine Ratte.«

Brightman seufzte nur und schüttelte den Kopf.

»Ich gebe mir wirklich Mühe, Slaughter, dich als anständigen Kerl zu betrachten, der lediglich ein paar extrem verdrehte Unterwelt-Ansichten vertritt, was Ehre betrifft ... nicht als blutrünstiges Tier.«

Slaughter lachte nur. »Sie haben doch keine Ahnung.«

»Nein?«

»Nein, haben Sie nicht. So, wie Sie sich an Ihre Gesetze halten, Bürger, halten wir uns an unsere. Wenn Sie nett zu uns sind, sind wir noch netter zu Ihnen. Aber wenn Sie uns anschmieren, begraben wir Sie bei lebendigem Leib. So einfach ist das.«

»Ach?«

»Ach! Ich bin entweder Ihr bester Freund oder Ihr schlimmster Feind. Dazwischen gibt es nichts.«

Brightman setzte sich endlich hin. Er wirkte nicht besonders amüsiert von dem, was er gerade erfahren hatte. »Ich habe mich mit ein paar Bandenexperten im Osten unterhalten. Die haben mir einige Sachen erzählt. Unter anderem, wer du bist und was du bist. Ich kenne dich, Slaughter. Ich kenne dich, weil ich deine Tätowierungen und Abzeichen entschlüsseln kann. Sie verraten mir, wer du bist und woher du kommst, was und wen du in deinem Leben schon erledigt hast. Zum Beispiel weiß ich, dass der schwarze Diamant an deiner Weste bedeutet, dass du für deinen Club getötet hast. Und der schwarze SS-Totenschädel auf deinem linken Handrücken identifiziert dich als Mitglied der 158er-Crew.«

Slaughter grinste. Brightman hatte seine Hausaufgaben tatsächlich gemacht. Die 158er-Crew bildete eine Eliteeinheit von Auftragskillern innerhalb der Devil’s Disciples. 158 spielte auf Paragraph 1958 des US Codes an, die Bundesgesetze, in dem die rechtliche Verfolgung von bezahlten Mördern über Staatsgrenzen hinweg geregelt wurde.

»Okay, Bürger, Sie haben mich durchschaut. Her mit dem Käsebrocken. Mal schauen, ob ich anbeiße.«

Brightman verhielt sich, als verstehe er nicht, wovon der Biker da redete. Vor ihm lag eine dicke Akte über Slaughter, die aussah, als blättere er in jeder freien Minute darin.

»Du bist ein böser Junge, Slaughter. Dein Vorstrafenregister ist länger als mein linker Arm. Zwölf Festnahmen wegen kleinerer Vergehen von nächtlicher Ruhestörung über Prügeleien auf offener Straße bis zu unerlaubtem Waffenbesitz. Zwei Jahre im Bunker in Frackville für schwere Körperverletzung. Du hast einem Kerl den Schädel zertrümmert mit ... lass mich nachsehen ...« – er blätterte die Seiten durch – »einem Schraubenschlüssel? Wie reizend.

Drei weitere Jahre in Yardville für den tätlichen Angriff auf einen Vollzugsbeamten. Fast noch besser. Hier ist sogar eine kleine Anmerkung: Offensichtlich handelte es sich bei dem Cop um einen Rauschgiftfahnder, der dich dabei erwischt hat, wie du mehrere Pakete Meth die Toilette runterspülen wolltest. Als er dich davon abhalten wollte, hast du ihn so schwer verprügelt, dass er sechs Wochen im Krankenhaus verbringen musste. Nett, wirklich nett. Der einzige Grund, warum du dafür nicht 20 Jahre gesessen hast, besteht darin, dass der Idiot ohne Durchsuchungsbefehl bei dir reingeschneit ist und du – als ehrlicher, aufrechter Bürger, der du natürlich bist – einfach nur von deinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht hast.

Mal schauen ... zehn Jahre im Staatsgefängnis von Leavenworth wegen bewaffnetem Raubüberfall ... Strafe nach zwei Jahren ausgesetzt. Da hast du aber mächtig Schwein gehabt. Die Zeugen konnten dich nicht eindeutig identifizieren, weshalb dein Anwalt erfolgreich Berufung einlegte. Hübsch. Ich tippe drauf, dass deine Freunde aus dem Club was damit zu tun hatten, dass die Erinnerungen dieser Augenzeugen plötzlich verblassten. Was haben sie angestellt? Gedroht, ihre Kinder umzubringen? Ihre Ehefrauen zu vergewaltigen?« Brightman lachte.

»In Yardville hat man dich zweimal zum Direktor zitiert, weil du mit selbst gebastelten Messern auf andere Häftlinge eingestochen hast ... in beiden Fällen wurden die Anschuldigungen aus Mangel an belastbaren Zeugenaussagen fallen gelassen. Interessant. Ich schätze, du hast die anderen Knackis so sehr eingeschüchtert, dass sie den Mund nicht mehr aufbekommen haben. Und sieh mal da, weitere sechs Gerichtsurteile, die gekippt oder gar nicht erst zur Entscheidung angenommen wurden – Waffenschmuggel, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Beteiligung an einem Mordkomplott, Angriff mit einer tödlichen Waffe, Besitz von Sprengkörpern, schwerer Diebstahl.« Brightman gackerte. »Slaughter, du bist nichts weiter als Krätze am Arsch der Gesellschaft.«

»Gut erkannt, Bürger.«

»Ein Parasit.«

»Sicher.«

»Ein widerliches Raubtier.«

»Hundertprozentig. Also werfen Sie mich schon in eine Zelle und bringen Sie es zu Ende, damit ich mir diesen hochmütigen Quatsch nicht länger anhören muss.«

Brightman schleuderte die Akte auf den Tisch. »Wir sind bereit, so zu tun, als gebe es diese Akte nicht. Wir sind bereit, die drei Leichen zu vergessen, die du in New Castle zurückgelassen hast. Wir bieten dir ein blütenreines Vorstrafenregister an, wenn du bereit bist, nach den Regeln zu spielen.«

»Wessen Regeln?«

»Meine. Und die der Leute, deren Interessen ich vertrete.«

»Oha. Reden Sie weiter.«

Brightman kam endlich auf den Punkt. Eigentlich alles ganz einfach. Da sie sowieso wussten, dass Slaughter vorhatte, nach Westen in die Deadlands zu fahren, boten sie ihm an, seine kriminelle Vergangenheit auszulöschen, wenn er dort nicht nur die Kacke zum Dampfen brachte, sondern auch einen konkreten Auftrag erledigte: eine hochrangige Biologin zu befreien, die von der Red Hand of Freedom in einer Festung in der Nähe von Devil’s Lake in North Dakota festgehalten wurde – passenderweise als Devil’s Hole bezeichnet. Er sollte sie auf sein Bike laden und herbringen. Laut Brightman handelte es sich bei der Frau um eine frühere Angestellte der Seuchenschutzbehörde CDC, die von der Red Hand aus Denver entführt worden war. Sie hieß Katherine Isley, hatte mehrere Doktortitel in Virologie und Biogenetik und galt als einzige Überlebende, die mit dem mathematischen Modell für einen synthetischen Kampfstoff vertraut war, mit dem sich die Würmer von der Bildfläche pusten ließen.

»Was für ein Kampfstoff ist das genau?«

Brightman führte aus, dass Isley Teil eines Forschungsteams gewesen war, das einen künstlichen Virus erschaffen hatte, versehen mit einer spezifischen DNA-Sequenz, die an die für Vervielfältigung zuständigen Zellen der Würmer andocken konnte und sie damit quasi sterilisierte. Damit ließ sich ihre Vermehrung stoppen. Die Würmer – laut Brightman wusste man nichts über ihren Ursprung – hielten sich penibel an einen ganz bestimmten Ablauf: Jeder 50. Reanimierte – er mochte den Begriff ›Zombies‹ nicht – bildete eine Art Brutkasten für die Würmer. Welche genetischen oder biochemischen Faktoren das regelten, hatte man bisher nicht entschlüsselt, nur dass es sich dabei immer um Frauen handelte.

Im Rahmen eines äußerst merkwürdigen biologischen Rituals, das man ebenfalls nicht erklären konnte, wählten die wandelnden Toten eine einzige Frau aus und spuckten ihre Würmer in sie hinein. Anschließend starben sie ... aufgrund des enormen körperlichen Verfalls blieben die meisten Zombies nur für gewisse Zeit am Leben. Mehrere Hundert Würmer befielen normalerweise als Parasiten einen dieser sogenannten Brüter. (Das erklärte die Videoaufnahmen von dem Mädchen, auf die er in der militärischen Anlage gestoßen war, erkannte Slaughter. Sie musste ebenfalls eine Brüterin gewesen sein.)

Der Befall setzte sich fort, bis die Würmer ihren Fortpflanzungszyklus beendet hatten. Wie gewöhnliche Würmer vermehrten sie sich asexuell mittels Parthenogenese – aus unbefruchteten Eizellen. Diese schwangeren Würmer verließen anschließend den Wirtskörper, angefüllt mit Eiern, und zerplatzten. Dabei setzte jeder Wurm Tausende von Eiern frei, leichter als Luft, weil in den Zellmembranen Wasserstoff eingelagert war. Die Eier stiegen auf, üblicherweise zu Hunderttausenden in riesigen Clustern, manchmal sogar zu Millionen. Schließlich sammelten sie sich in der unteren Troposphäre, ungefähr 15 Kilometer über der Erde, und reiften dabei allmählich. Regen entstand – und sobald ein anständiger Wolkenbruch niederging, prasselten die Wurmlarven auf die Erde, die meisten kaum zwei Zentimeter lang. Die Larven suchten sich neue Wirte und erweckten sie als kannibalische Körper zu neuem Leben.

Und damit begann der Kreislauf von Neuem.

Slaughter hörte sich das alles an und gewann den Eindruck, dass Brightman glaubte, ihm sei das alles viel zu hoch – als könne ein schlichter Outlaw-Biker die Zusammenhänge nicht nachvollziehen –, dabei traf das genaue Gegenteil zu. Slaughter hatte beim Gefängnispsychologen in Leavenworth an einem IQ-Test teilgenommen und mit einem Wert von 150 abgeschnitten. Damit war er zwar kein Genie, übertraf aber die Durchschnittsintelligenz deutlich. In all den Jahren im Bau hatte er ein Buch nach dem anderen verschlungen, weshalb er genau verstand, was der Colonel ihm erläuterte. Sein Verstand funktionierte mehr als anständig.

»Ich überfalle also diese Festung, schnapp mir die Frau und bring sie zu Ihnen?«

»Im Wesentlichen schon.«

»Und es gibt keinen weiteren Haken?«

»Richtig. Zumindest nicht, wenn du die Angriffe der lebenden Toten überstehst, zahlreiche Mutanten und die Wolken mit dem nuklearen Fallout. Ansonsten ist das der reinste Sonntagsspaziergang, Slaughter.«

»Sie sind ein humorvoller Mann.«

Brightman fuhr fort, dass es sich bei der Festung um eine frühere NORAD-Einrichtung aus der Zeit des Kalten Krieges handelte: drei Ebenen aus Stahlbeton mit zwei weiteren Geschossen unter der Erde. Die Red Hand hatte sich mehr oder weniger eine Art Bunker unter den Nagel gerissen.

Slaughter kicherte und zündete sich eine weitere Kippe an. »Und Sie möchten, dass ich, ein Drecksack von Biker, für Sie Delta Force spiele und wie James Bond einen Angriff auf diesen Komplex durchführe? Sie sind ja noch durchgeknallter als ich, Mann.« Er pustete den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Warum schicken Sie kein Special-Forces-Team rein oder so was in der Art?«

»Weil wir es uns nicht erlauben können, solche Leute zu opfern«, gab Brightman mit entwaffnender Ehrlichkeit zurück. »Die Erfolgsaussichten sind äußerst gering. Es wäre Quatsch, hervorragend ausgebildete Soldaten in den Tod zu schicken, solange wir Leute wie dich haben.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann verbringst du entweder dein restliches Leben in einem Hochsicherheitsgefängnis oder wir sorgen dafür, dass du auf dem elektrischen Stuhl endest.« Ein Lächeln umspielte Brightmans Lippen, während er das sagte. Er schien noch etwas in der Hinterhand zu haben. »Außerdem gibt es noch einen zusätzlichen Anreiz für dich ... John. Ich darf dich doch John nennen, oder?«

»Dürfen Sie nicht. So nennen mich nur meine Freunde. Sie sagen schön Slaughter zu mir.«

Brightman ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. »Wie gesagt, ein zusätzlicher Anreiz. Vergessen wir deinen Bruder nicht.«

Scheiße.

Auf diese Weise zogen sie die ganze Geschichte ins Persönliche rüber. Slaughter hatte einen Bruder, Perry, den alle nur Red Eye nannten, weil er von morgens bis abends mit Dope zugedröhnt war und deshalb immer rote Augen hatte. Als Hang-Around – so hießen die Anwärter auf Mitgliedschaft in einem Biker-Club – trieb er sich bei mehreren kleineren 1%er-Ablegern im Osten rum, ließ sich dann nach Westen treiben und wurde in Illinois wegen ein paar kleinerer Vergehen eingebuchtet. Zuletzt hatte Slaughter gehört, dass ihn irgendein ominöser religiöser Kult unter seine Fittiche genommen hatte. Typisch Red Eye. Er griff ständig voll in die Scheiße.

Slaughter klopfte die Asche von seiner Zigarette ab. »Also schön, schießen Sie los.«

Und das tat Brightman. Sie hatten Red Eye am Haken. Die Feds machten ihm wegen Landesverrat, Volksverhetzung, Waffenschmuggel und sechs Terroranschlägen den Prozess, weil er gemeinsam mit dem Puritaner, einem US-weit bekannten religiösen Fanatiker, den militärischen Umsturz von Chicago geplant hatte. Der Puritaner war Anführer eines ultrarechten Flügels christlicher Fundamentalisten. Seine Miliz bezeichnete sich selbst vollmundig als Legion des Terrors. So etwas wie die radikalen Adventisten vom Siebenten Tag. Nur eben schwer bewaffnet.

»Shit.« Slaughter seufzte.

»Das kannst du laut sagen. Er sitzt derzeit in einer staatlichen Haftanstalt.«

»Und wenn ich nicht erledige, was Sie von mir verlangen, bleibt er auch dort?«

»Nein, dann wird er zur Todesstrafe verurteilt.«

Da wusste Slaughter, dass sie ihn in der Hand hatten und den ganzen Aufwand, um ihn festzunehmen, nicht umsonst betrieben hatten. Sie hatten ihn nicht nur in der Hand, sondern ließen ihm letztlich keine andere Wahl. Gar keine.

»Und wenn ich diese Tussi rausboxe, lasst ihr ihn frei?«

»Er wird fünf Jahre bekommen. Nicht länger.«

»Okay, damit lässt sich leben.«

Brightman lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Das ist eine nette Untertreibung, Slaughter. Wir bieten dir alles. Dein Leben. Und das deines Bruders. Du besorgst uns Isley und hast keine Sorgen mehr. Falls du scheiterst ... tja, dann vergiss deinen Bruder.«

»Was ist, wenn diese Frau gar nicht mehr lebt?«

»Dann bring uns ihre Leiche.«

»Shit.« Okay, keine Alternativen. »Und ich muss allein rein? Als elende One-Man-Show?«

»Selbst von einem mordenden Vergewaltiger wie dir würde ich das nicht verlangen, Slaughter. Ich habe ein Team für dich zusammengestellt. Wir haben sie aus Gefängnissen im ganzen Land zusammengesammelt, damit du ein bisschen Gesellschaft kriegst.«

»Ein Team?« Was sollte er davon halten?

Brightman betätigte eine Taste an der Gegensprechanlage. Innerhalb weniger Sekunden betraten zwei Soldaten mit Automatikwaffen den Raum. Im Schlepptau, aneinandergekettet, führten sie einige der bösartigsten, degeneriertesten Verbrecher herein, die Slaughter je zu Gesicht bekommen hatte. Und er kannte jeden Einzelnen von ihnen. Brightman hatte sich um die Freilassung der sechs verbleibenden Mitglieder der Devil’s Disciples bemüht. Sie standen vor ihm, trugen stolz ihre Farben zur Schau, strahlten ihn an und freuten sich auf einen anständigen Kampf.

Slaughter ging davon aus, sie nicht enttäuschen zu müssen.

»Zeit, auf den Putz zu hauen, Brüder.«

Die ganze Bande war versammelt: Irish, Moondog, Shanks, Apache Dan, Fish und Jumbo. Man hatte sie aus Staatsgefängnissen in Atlanta und Lewisburg geholt, aus Höllenlöchern wie Rahway in New Jersey und dem SCI Green in Pennsylvania. Sobald Brightman sich verzogen hatte, stand Slaughter eine Weile einfach nur da und gaffte seine Brüder an. Er war völlig überwältigt und ihm fehlten ausnahmsweise die Worte. Sie so vor sich zu sehen, erinnerte ihn an all die Disciples, die im Rahmen des Outbreak oder bei blutigen Bandenkriegen gestorben waren.

Brightman überließ ihnen den Konferenzraum und so viel Bier, wie sie wollten, unter der Bedingung, dass nicht nur sie, sondern auch der Alkohol dort blieben und sie nicht woanders im Camp für Ärger sorgten. In der ersten Stunde ließen sie es richtig krachen, tauschten Kriegsgeschichten und Anekdoten aus dem Knast aus und brachten sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Ganz ähnlich wie im ›Tempel‹ bei ihren früheren monatlichen Clubtreffen.

Sie plauderten über Brüder wie Cherry aus dem Pittsburgh-Chapter, den es zwei Monate vor dem Outbreak auf dem großen I vor Altoona hingelegt hatte. Seine Beerdigung war damals in ein Saufgelage ausgeartet. Slaughter erfuhr, dass Charley Sweet von den Baltimore Devils seit einer Schießerei mit der Staatspolizei unter der Erde lag und zwei andere – Creep und Toot – bei einem Autounfall gestorben waren, verfolgt von Beamten des Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives. Pelleg, der Slaughter vor rund 20 Jahren in den Club eingeschleust hatte, war in Rahway nach dem Einwerfen von China White ums Leben gekommen, weil es mehr Strychnin als Heroin enthielt. Und die Liste ging noch weiter.

Es hatte so viele von ihnen erwischt, dass es ihn wahnsinnig deprimierte.

Und hätten sie nicht ihre Zeit hinter Gittern abgesessen, das wusste Slaughter, wären die meisten der sechs Disciples vor ihm vermutlich auch nicht mehr da.

Tja, ein dreifaches Hurra auf ein ereignisreiches Leben!, dachte er.

In diesem Raum versammelten sich somit die kläglichen Überreste der Devil’s Disciples Nation: sieben wilde Tiere, die auf und neben der Maschine keine Kompromisse kannten. Seine Crew. Allein in Pittsburgh hatte es einst 30 von ihnen gegeben, ganz zu schweigen von den Ortsgruppen in Baltimore, Harrisburg, Youngstown und Bayonne und jüngeren Neugründungen in Großbritannien und Dänemark.

Lächerliche sieben Leute, mich eingeschlossen.

Das ist alles. Mehr haben wir nicht. Und werden wohl nie wieder mehr sein, schoss es ihm durch den Kopf. Und ich muss sie in den Tod führen, damit ich mir diese Isley, die Biologin, schnappen kann und sie meinen abgefuckten, total verpeilten Bruder nicht auf dem Stuhl hinrichten.

Slaughter war froh, dass er dabei auf Apache Dan zählen konnte, denn der gehörte neben Neb zu den besten Freunden, die er überhaupt hatte. Die Feds hatten ihn vor sechs Jahren mit diesem elenden RICO-Act drangekriegt, mit dem die Bundesbehörden ursprünglich gegen die Cosa Nostra vorgingen und später allgemein gegen kriminelle Vereinigungen, und zu 30 Jahren Haft verknackt. Moondog, ihr Waffenmeister und der Warlord des Pittsburgh-Chapter, rannte bei Clubtreffen immer mit einem Baseball-Schläger durch die Gegend und donnerte ihn allen gegen den Schädel, die sich nicht benahmen oder ungefragt zu Wort meldeten. Ein brutaler, skrupelloser Typ – Leute wie ihn brauchte man, wenn man einen Überfall auf eine Einrichtung der Red Hand plante. Er war für zehn Jahre ins Bundesgefängnis in Atlanta eingefahren, ebenfalls wegen Waffenschmuggels.

Shanks und Irish gehörten der Disciples-Ortsgruppe in Youngstown an und waren eigentlich ganz anständige Jungs. Sie legten Leute im Auftrag der Italo-Mafia um und hatten eine lebenslange Haftstrafe in Lewisburg abgesessen, weil man sie der Beteiligung an einem Mordkomplott für schuldig befand. Fish kam aus Baltimore und Jumbo – seine kompletten 160 Kilo Lebendgewicht – aus Pittsburgh. Fish hatte zuletzt 25 Jahre wegen Drogenhandel abgesessen und Jumbo 15 Jahre aufgrund von Erpressung, Entführung und organisiertem Verbrechen.

Sobald sie sich alle anständig einen hinter die Binde gegossen hatten, stand Slaughter auf und erklärte ihnen die Lage. Was auf dem Spiel stand, was von ihnen erwartet wurde und wie mies es um ihre Überlebenschancen stand.

»Niemand wird zu diesem Scheiß gezwungen, Leute«, sagte er zu ihnen. »Eigentlich ist das allein mein Problem: mein Bruder, mein Leben. Wenn einer von euch nicht mitmachen will, sagt es ruhig. Keiner nimmt euch das übel.«

»Ihr habt den Mann gehört«, meinte Moondog.

»Scheiße«, fluchte Shanks.

»Ist doch wurscht«, meldete sich Fish zu Wort. »Lieber sterb ich da draußen, als im Bau zu verrotten.«

»Das kannst du laut sagen.« Irish nickte. »Wenn ich noch ein einziges Mal diese Buletten mit Rahmsoße auf Toast in Lewisburg essen muss, bring ich mich sowieso um.«

Das bescherte ihm einige Lacher.

»Mann«, erwiderte Fish. »Dann hast du den Bohnenauflauf in Rahway noch nicht probiert. Ich schwör’s dir, Alter, der lässt deine Eier schrumpeln.«

»Blödsinn«, widersprach Shanks.

Jumbo meinte: »John, wir betrachten das hier alle als Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte. Und du hast jedem von uns schon mal aus der Patsche geholfen oder für ihn eine Sache bis zum Ende durchgekämpft. Lieber sterben wir für dich, während wir frei und stolz auf dem Bike sitzen, als weiter Erbsen im Hotel Graugitter zu pulen.«

»Genau so verhält sich’s mit dieser Scheiße nämlich, jupp«, brachte es Dan auf den Punkt. »Wir sind Disciples, also lass uns endlich aus den Hufen kommen, Baby.«

Damit war die Sache fürs Erste geklärt.

Slaughter hatte es nur fair gefunden, seinen Kumpeln dieses Schlupfloch zum Aussteigen anzubieten. Selbst als amtierender Chapter-Präsident von Pittsburgh – ein Titel, den ihm niemand mehr streitig machte – ließ er über alle Entscheidungen streng demokratisch abstimmen. Jeder Träger eines Abzeichens durfte seine Stimme abgeben. Slaughter wusste, dass er sich auf seine Jungs verlassen konnte. Männer wie sie ließen einander nicht im Stich. Sobald man einem Club wie den Disciples angehörte, kamen die Mitglieder an erster Stelle. Noch vor Ehefrauen, Freundinnen, Familie, Jobs und der eigenen Gesundheit. Selbst vor Gott. So stark war die Verbindung, die sie miteinander eingingen.

Es war gar nicht so leicht, sich das dreiteilige Abzeichen der Devil’s Disciples zu verdienen. Um es zu bekommen, lernte man drei Spielarten der Hölle kennen, aber sobald man endgültig dazugehörte und den Aufnäher auf der Kutte trug, zählte man zu etwas Größerem: zu einer Gemeinschaft, um deren Mitglieder man sich ebenso kümmerte, wie sie sich umgekehrt um einen kümmerten.

»Nun gut«, fasste Slaughter zusammen. »Wir sind uns einig. Also beruf ich einen Kriegsrat ein, damit wir planen können, wie’s weitergeht.«

Sobald der Rat einberufen war, wurde Moondog als Warlord das Wort erteilt. Es galt sogar mehr als das des Präsidenten, weil Moondog die Sicherheit des Clubs und seiner Mitglieder gewährleistete und alle Raub- und Rachefeldzüge gegen Feinde der Disciples plante. Moondog hieß mit bürgerlichem Namen Mike Spector und hatte eine ähnliche Vergangenheit wie Slaughter: Beide waren Ex-Marines. Aber während Slaughter mit dem 15. Marine-Interventionsteam erst einigen kranken Scheiß im Irak durchmachte und anschließend in die Staaten zurückgeschickt wurde, um den Großteil der Dienstzeit in einer Zelle zu verbringen, hatte Moondog als Sprengstoffexperte einer Elite-Kolonne von Kundschaftern und Scharfschützen angehört. Es gab so gut wie nichts, was man ihm über Waffen, Sprengkörper, Kämpfe im Dunkeln und Auskundschaftung noch beibringen konnte.

Wenn Moondog also die Stimme erhob, lauschten selbst die übelsten Burschen im Club andächtig und passten auf, dass sie kein Wort verpassten.

»Während ihr Mädels hier rumgegackert habt, hab ich mal eine Liste der Ausrüstung zusammengestellt, die wir brauchen. Vor allem natürlich anständige Bikes. Dann Waffen und ein bisschen C4. Und natürlich Zündschnüre. Nur für den Fall der Fälle. Granaten wären auch nicht verkehrt. Dann weißer Phosphor ...«

Moondogs Liste fiel lang und detailliert aus.

Seine Strategie, die auf Brightmans Karte der NORAD-Festung aufbaute, wies noch einige Lücken auf. Die Festung war von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben. Den mussten sie durchbrechen. Es gab sechs Zugänge zum eigentlichen Gebäude. Es galt, mindestens einen davon – besser gleich mehrere – aufzusprengen. Abgesehen von einigen Ablenkungsmanövern, um die Ratten aus ihren Löchern zu locken, hatte er noch keine konkreten Pläne geschmiedet und wollte das auch erst tun, wie er selbst betonte, wenn er alles persönlich ausgekundschaftet hatte und wusste, wie viele Red Hands sich dort aufhielten, über welche Waffen sie verfügten und auf welche Abwehrmaßnahmen sie zurückgreifen konnten. Bei den meisten Leuten, die sich in der Festung aufhielten, handelte es sich um frühere Militärs, die von Colonel Krigg persönlich kommandiert wurden, dem Anführer der Red Hand. Sie mussten also mit dem Schlimmsten rechnen.

»Ich kann derzeit eigentlich nur sagen, dass das eine verflucht haarige Angelegenheit wird«, warnte Moondog. »Und dass wir auf jeden Fall was zum Hochjagen brauchen. Eine Menge C4.«

Dieser Ritt mitten ins frühere Indianerland versprach in die Geschichtsbücher einzugehen, in die Annalen der Disciple Nation. Hieran würde man sich noch lange erinnern.

Natürlich nur, falls einer von ihnen die Sache überlebte, klar.