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Table of Contents

Titel und Impressum

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Über die Autorin

 

Angela Zimmermann

 

Als du nicht da warst

 

hielt unsere Liebe mich fest

 

Roman

 

Verlag DeBehr

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright by: Angela Zimmermann

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2014

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by © kevron2001, © Vitaliy Kazlou

ISBN: 9783957531247

 

1

Ich spüre, wie eine Hand leicht über mein Gesicht streichelt. „Nell?“, fragt Toni ganz leise.

„Nein, ich schlafe noch“, flüstere ich zurück und ziehe die Decke bis fast über die Ohren.

„An meinem ersten Urlaubstag mache ich uns ein schönes Frühstück. Ich fahre nur schnell zum Bäcker, bin gleich wieder da“, meint Toni mit gedämpfter Stimme.

Ich spüre noch einen zarten Kuss auf meiner Wange und im nächsten Moment höre ich, wie die Zimmertür sich leise schließt. Ich schaue auf die Uhr, die auf dem kleinen Schränkchen neben meinem Bett steht. Es ist gerade 8 Uhr. Noch ein paar Minuten, denke ich mir, drehe mich zur Seite und kuschle mich noch einmal ins Bett. Als ich das zweite Mal auf die Uhr sehe, ist es schon kurz nach halb 9. Alles ist absolut still im Haus. Ich schiebe meine Beine aus dem Bett und stehe auf. Als ich mir den Morgenmantel überziehe, schaue ich noch einmal auf die Uhr. Toni müsste längst wieder da sein, geht es mir durch den Kopf, aber vielleicht sind zum Sonnabend auch viele Menschen beim Bäcker. Noch halb verschlafen und die Augen fast zu stapfe ich hinunter in die Küche. Als Erstes brauche ich einen guten Kaffee. Der kann durchlaufen, bis Toni kommt – „denke ich“. Ich fülle die Maschine mit allem, was nötig ist, und drücke den Knopf. Nichts! Noch einmal schalte ich ein und aus, aber es passiert nichts. „Na toll“, denke ich mir, jetzt ist die Maschine wohl kaputt. Der Urlaub fängt ja gut an. Ich probiere es noch einmal, wieder vergebens. Ich drehe mich um und gehe auf die Terrasse, um kurz abzuschalten und zu überlegen, wie ich nun zu meinem Kaffee komme. Die Sonne scheint herrlich. Sie blinzelt durch die Blätter unserer großen Kastanie. Es ist ein Prachtstück und steht genau in der Mitte unseres kleinen Gartens. Ich hole meine Stuhlauflagen aus der Box und mache es mir in meinem großen Liegestuhl bequem. Kaum sitze ich, habe die Augen geschlossen, um die Sonnenstrahlen auf der Haut zu genießen, da wird es dunkel und auch die wohlige Wärme ist verschwunden. Ich sehe in den Himmel und bemerke, dass eine ziemlich dunkle Wolke die Sonne verdeckt.

„He, was soll das, geh da weg“, murmle ich für mich. Der Himmel ist überall strahlend blau, nur die eine Wolke wirft ihren Schatten auf unsere Terrasse. Langsam stehe ich auf, mein Blick geht grimmig zum Himmel. Meine Schultern hängen merklich nach unten, wie ein kleines beleidigtes Kind gehe ich zurück in die Küche. Dort hole ich das Tablett vom Küchenschrank, stelle es auf die Arbeitsfläche neben der Spüle und stelle alles darauf, was zu einem guten Frühstück gehört. Honig, Erdbeermarmelade, Butter, Milch und Zucker. Aus dem Oberschrank nehme ich unsere Lieblingstassen heraus. Die haben wir zu unserem ersten Hochzeitstag von Kim geschenkt bekommen und passen genau zu uns. Beide Tassen sind etwas unförmig, aber genau so, dass sie wieder zusammenpassen. Auf der einen steht Ich und Du und auf der anderen Du und Ich. Ich stelle sie mit einem Lächeln auf den Lippen auf das Tablett und versinke in Erinnerungen.

Kim ist meine beste Freundin und sie war auch unsere Trauzeugin. Ihr Mann Ben ist, wie soll es anders sein, der beste Freund von Toni. Wir vier bilden ein gutes Team, sind immer füreinander da und machen fast alles gemeinsam. Wir spielten schon im Sandkasten zusammen und gingen alle in die gleiche Schule. Auch später, während der Berufsausbildung, verloren wir uns nicht aus den Augen. Toni lernte in Leipzig, Ben in Berlin und ich in Chemnitz. Nur Kim blieb der alten Heimat treu. Jetzt wohnen wir wieder zusammen in Dresden. Nun sind wir alle Ende zwanzig, verheiratet und es haben sich zwei kleine Familien gebildet, allerdings noch ohne Kinder.

Toni ist erfolgreich in einem Immobilienbüro als Makler tätig und ich habe eine feste Stellung in einem Architektenbüro als Bauzeichnerin. Wir kauften uns vor zwei Jahren dieses kleine Haus in einem ruhigen Stadtteil, etwas abseits vom Trubel der Großstadt. Das Anwesen gefiel uns damals auf Anhieb. Es ist zwar räumlich nicht gerade groß, aber für uns zwei einfach perfekt. Kim und Ben wohnen zwei Straßen weiter. Sie hatten letztes Jahr das Haus von Kims Großmutter geerbt. Kim jobbt nebenbei in einem Drogeriemarkt und Ben ist Angestellter in unserer kleinen städtischen Bank. Jeder von uns hat nun sein eigenes Reich, aber alle sind auch immer offen für die anderen.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als mir eine der Tassen fast aus der Hand rutscht. Vor Schreck bin ich plötzlich putzmunter und stelle die Tasse auf dem Tablett ab. Vorsichtig nehme ich nun das Tablett und bringe es auf die Terrasse. Ein Blick nach oben genügt und ich bin wieder leicht verärgert. Die Wolke ist immer noch da. Ich schaue an mir herunter und bemerke, dass ich noch immer im Morgenmantel bin. Auf dem Rückweg drücke ich in der Küche nochmals die Ein-Taste der Kaffeemaschine, aber es ist zwecklos, es passiert nichts. Ich schüttele den Kopf und laufe die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer angekommen, fliegen meine Augen nochmals über die Uhr neben meinem Bett. Es ist nun schon 9 Uhr. Wo bleibt denn Toni, es wird doch wohl nichts passiert sein? Ich wische die Gedanken schnell wieder aus meinem Kopf und lasse den Morgenmantel langsam über die Schultern hinabrutschen. Ich nehme die Jeans, die auf dem Schaukelstuhl liegt, und hänge den Mantel über die Lehne. Echt praktisch, der Schaukelstuhl ist wie ein Kleiderständer. Wenn das meine Schwiegermutter wüsste. Sie hatte ihn uns zum Einzug geschenkt, weil sie von Toni wusste, dass ich mir schon immer einen gewünscht habe. In meinem Kinderzimmer hätte ein solches Teil damals nie Platz gehabt und deshalb war es das perfekte Geschenk für mich. Er sollte eigentlich im Wohnzimmer stehen, doch dort nehmen die anderen Möbel sämtlichen Platz ein. Wie gesagt, unser Häuschen ist wirklich nicht das größte. Letztendlich kam er ins Schlafzimmer und da hat er mehrere Funktionen. Nicht nur als Kleiderständer wird er benutzt. Für mich ist er auch ein Ruhepol nach der Arbeit. Ich sitze gern darin, einfach zum Abschalten, oder ich lese ein Buch. Toni platziert sich nachts darin. Er kann in letzter Zeit nicht gut schlafen und dann sitzt er da, hört über Kopfhörer Musik und beobachtet mich beim Schlafen. Ich merke es immer erst früh, wenn mein Nachtlämpchen aus ist. Ich schlafe oft bei Licht ein, schon seit meiner Kindheit. Woher das kommt, weiß ich nicht, auch meine Mutter konnte mir darauf nie eine Antwort geben. Es ist eben so. Toni hat sich damit abgefunden. Ihn stört es nicht, aber wenn er nachts im Schaukelstuhl sitzt, ist morgens das Licht aus. Er löscht es, wenn er wieder ins Bett geht.

Ich ziehe meine Jeans an, hole aus dem Schrank ein T-Shirt, streife es über und verlasse das Schlafzimmer. Unten im Badezimmer stecke ich meine Haare hoch, putze mir die Zähne und wasche mein Gesicht. Gerade, als ich mit dem Handtuch mir das Gesicht abtrockne, knallt es. Es ist ein fast unerträglich klirrendes Geräusch. Augenblicklich schlägt mein Herz bis zum Hals und ich spüre, wie mein Blut zu gefrieren droht. Zitternd lasse ich das Handtuch fallen. Das, was ich sehe, ist fast unmöglich. Der Spiegel sieht aus wie ein Spinnennetz, als hätte jemand mit der Faust darauf eingeschlagen. Ich sehe mich plötzlich fast hundert Mal und bemerke, dass nicht ein Splitter herausgefallen ist. Ich wage mich nicht zu bewegen, denn ich will nicht riskieren, dass sich die Scherben auf dem Boden verteilen und ich mich vielleicht noch verletze. Ich stehe wie angewurzelt da, die Zeit hat momentan keine Bedeutung mehr. Als ich in meinen Beinen wieder einigermaßen Stabilität spüre, schleiche ich langsam, ohne den Spiegel oder das, was davon noch übrig ist, aus den Augen zu lassen, aus dem Bad. Ich schließe die Tür, taste mich zur Couch und setze mich am ganzen Körper zitternd hin. Was ist hier nur los, warum passieren nacheinander solche merkwürdigen Dinge? Ich denke mir noch, dass irgendetwas nicht stimmen kann, als es an der Tür klingelt. Nach dem ersten Schreck frage ich mich, warum Toni klingelt. Hat er die Schlüssel vergessen? Das ist nicht seine Art, das ist doch noch nie vorgekommen. Es läutet ein zweites Mal, ich stehe auf und gehe zur Haustür.

„Moment!“, rufe ich, denn ich muss erst meinen Schlüssel aus der Tasche holen. Mit zitternden Händen schließe ich auf und öffne die Tür.

„Seit wann vergisst du deinen Schlüssel?“, frage ich und im gleichen Moment erschrecke ich und kann nur noch nach Luft schnappen. Vor der Tür steht nicht Toni, stattdessen schaue ich in die Augen einer düster dreinschauenden Polizistin.

„Guten Morgen. Ich bin Oberwachtmeisterin Fischer und das ist mein Kollege Wachtmeister Böhme. Sind Sie Frau Hausmann?“, fragt die Beamtin dann doch sehr freundlich.

„Ja“, kommt es ganz leise über meine die Lippen.

„Frau Hausmann, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann einen Unfall hatte“, sagt der Polizist, der zwei Stufen weiter unten auf der Treppe steht.

„Toni Hausmann ist doch Ihr Mann?“, fragt wieder die Frau und ich sehe ihr an, wie aufmerksam sie mich beobachtet. Ich bin mir sicher, dass sie sofort bei mir wäre, wenn ich jetzt die Fassung verlieren würde.

„Ja. Aber er wollte doch nur zum Bäcker und der ist doch gleich hier um die Ecke“, flüstere ich so leise, dass die Polizistin noch ein Stück näher kommt. Ich bin ja froh, überhaupt noch reden zu können, denn mein Hals ist so zugeschnürt, dass kaum noch Luft durchdringen kann. Sie legt mir die Hand auf die Schulter und sieht mich mit einem beruhigenden Blick an.

„Frau Hausmann, wir würden Sie gern ins Krankenhaus zu Ihrem Mann bringen“, meint der Polizist mit leiser Stimme.

„Aber was ist denn passiert? Wie geht es Toni? Wo ist er? Warum hat er mich denn nicht angerufen?“, ich finde meine Sprache wieder und mir sprudeln alle Fragen, die in meinem Kopf sind, auf einmal heraus.

„Wie mein Kollege schon sagte, Ihr Mann ist im Krankenhaus. Er konnte sie nicht mehr anrufen. Ich glaube, er ist ziemlich schwer verletzt“, sagt die Polizistin.

„Das kann doch jetzt alles nicht möglich sein. Erst passieren mir die merkwürdigsten Dinge und jetzt stehen Sie hier“, ich senke den Kopf und hoffe wahrscheinlich, dass ich noch träume, aber so ist es nicht. So wie die Polizistin mich ansieht, versteht sie meine Worte nicht, sie schaut kurz zu ihrem Kollegen, zuckt mit den Schultern und sagt nur noch: „Wir bringen Sie jetzt zu Ihrem Mann.“

Wie ein Roboter drehe ich mich um, greife nach meiner Tasche, die an der Garderobe hängt, und stehe auch schon mit dem Schlüssel in der Hand vor der Tür.

„Frau Hausmann, ich glaube, Sie sollten sich noch ein paar Schuhe anziehen“, über das Gesicht der Polizistin fliegt ein Lächeln. Ich schaue an mir herunter und merke erst jetzt, dass ich immer noch barfuß herumlaufe. Das ist eine Angewohnheit von klein auf, die ich mir einfach nicht abgewöhnen kann. Ich gehe noch einmal zurück, schlüpfe in meine Sandalen und im nächsten Moment drehe ich schon den Schlüssel in der Tür. Wir gehen unsere kleine Auffahrt hinunter, mein Kopf ist regelrecht vernebelt. Mit jedem Schritt, den ich mich dem Polizeiauto nähere, fällt ein Schleier der Angst um Toni auf mich und hüllt mich ein. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und steige ohne ein Wort hinten in das Polizeiauto ein. Wir fahren los, ich merke nicht einmal, dass wir in entgegengesetzter Richtung des städtischen Krankenhauses unterwegs sind. Auch die Bemerkung der Polizistin, einen kleinen Umweg zu fahren, damit wir nicht am Unfallort vorbeikommen, weil sie nicht weiß, ob das Auto schon abgeholt worden ist, nehme ich nicht wahr. Ich schaue ziemlich abwesend zum Fenster hinaus, während wir durch unsere Siedlung fahren. Die Häuser rauschen vorbei, spielende Kinder in den Vorgärten, Frauen, die Wäsche aufhängen und Männer, die den Rasen mähen. Alles sehe ich, aber registriere es nicht wirklich.

Wir fahren auf einen großen Parkplatz, der Wagen hält und die Frau öffnet die Autotür.

„Frau Hausmann, wir sind da“, spricht sie mich an. Ohne ein Wort zu sprechen steige ich aus und folge der Polizistin. Wir sind vor dem Krankenhaus und mir kommt der Ort so unbekannt und abschreckend vor. Ich war nur einmal hier, das ist Jahre her. Ich hatte mir den Arm gebrochen, vor Schmerzen habe ich damals dieses Gebäude gar nicht richtig wahrgenommen. Kim wollte damals unbedingt ein Trampolin, weil es so in war. Ben kaufte ihr natürlich so ein Gerät. Sie bekam es zum 25. Geburtstag. Als es aufgestellt war, konnte man Kim nicht mehr halten. Sie sprang den ganzen Tag darauf herum wie ein kleines Kind. Es sah so leicht aus und so wollte ich es auch probieren. Wir hatten uns zu einem Grillabend verabredet, und als die Männer sich um die Würstchen kümmerten, sprangen wir wie wild auf dem Trampolin herum. Wenn man zusammen springt und immer gleichzeitig aufkommt, klappt es auch, aber ich kam aus dem Takt. Daraufhin bekam ich so einen Schwung, dass es mich seitlich von dem Ding schleuderte. Ich fiel auf den Rasen und beim Abstützen habe ich mir den Arm gebrochen. Der Abend war gelaufen. Kim und Ben aßen die Würstchen allein und ich saß mit Toni in der Notaufnahme und wartete darauf, dass mir jemand einen Gips verpasste. Kim hat sich tausendmal entschuldigt, aber ich war auch selber schuld. Wir haben uns wie kleine Kinder benommen und manchmal wird das eben bestraft.

Komplett in meinen Gedanken versunken betreten wir das große Eingangsportal der Klinik. Erst der typische Geruch von Desinfektionsmittel bringt mich zurück in die Realität. Die Polizistin steuert auf die Anmeldung zu. Dort angekommen, fragt sie nach meinem Mann, dem Unfallopfer von vor einer Stunde. Ich stehe regungslos daneben, als ginge es mich nichts an. Die Schwester erklärt, wie wir in die Abteilung kommen. Letztendlich zieht mich die Polizistin am Arm in den Fahrstuhl, wir laufen einen langen Gang entlang, dann stehen wir vor einer großen Glastür. Auf dieser ist ganz groß zu lesen: Chirurgische Abteilung. Plötzlich bekomme ich weiche Knie und mein Magen verkrampft sich. Mir ist speiübel, mein Herz fängt an zu rasen und die Knie knicken leicht ein. Die Polizistin sieht mich entsetzt an und öffnet schnell die Tür zur Station. Sie ruft nach einer Schwester, erklärt ihr kurz, wer ich bin und übergibt mich dem Personal. Ich habe die Augen geschlossen, alles dreht sich um mich und ich höre nur noch aus der Ferne: „Ich melde mich heute Abend oder morgen früh noch einmal telefonisch bei Ihnen. Es gibt da noch andere Dinge, die zu regeln sind.“ Plötzlich wird es still um mich, ich spüre, wie ich langsam die Kontrolle über meinen Körper verliere und schließlich geben meine Beine komplett nach.

 

2

„Frau Hausmann, hören Sie mich?“, fragt eine weibliche Stimme, die ich wie aus der Ferne wahrnehme. Langsam und mit Anstrengung versuche ich meine Augen zu öffnen. Ich brauche ziemlich lange, bis es mir gelingt, und nun sehe ich mich erst einmal um. Alles ist weiß, steril und fühlbar kalt. So recht weiß ich nicht, wo ich bin, als sich eine Frau in einem weißen Kittel über mich beugt.

„Hallo, da sind Sie ja wieder“, spricht sie zu mir und nimmt meine Hand, um den Puls zu messen.

„Wo bin ich und warum liege ich hier?“, frage ich und habe Mühe, die Augen offen zu halten.

„Ich bin Schwester Anni und Sie hatten einen kleinen Kreislaufzusammenbruch. Wir haben Ihnen eine Infusion gegeben, damit sie wieder auf die Beine kommen“, sagt sie mit einer sehr freundlichen und beruhigenden Stimme.

„Wie lange liege ich denn schon hier?“

„Fast zwei Stunden, aber haben Sie denn heute schon etwas gegessen?“

„Nein. Ich wollte doch mit meinem Mann frühstücken.“

„Aber wo ist Toni?“, schießt es mir plötzlich durch den Kopf und ich mache mich sofort daran aufzustehen.

„Moment mal“, die Schwester steht unmittelbar neben mir und hält mich fest. „Ganz langsam, Frau Hausmann, sonst sind Sie gleich wieder weg. Setzen Sie sich erst einmal auf die Kante der Liege.“

Ich tue, was die Schwester sagt, denn als ich versuchte aufzustehen, wurde mir gleich wieder schwindlig. Nun sitze ich da, meine Beine baumeln herunter und ich muss mich mit meinen Händen abstützen. Die Schwester steht neben mir und beobachtet mich, um sofort eingreifen zu können, wenn mein Zustand wieder schlechter wird.

„Frau Hausmann, wie geht es Ihnen?“, fragt sie mich nach einer Weile.

„Es wird immer besser“, ich hole tief Luft und springe von der Liege. „Kann ich jetzt zu meinem Mann?“, ist meine nächste Frage. „Kommen Sie erst einmal mit. Wir gehen hinüber in das Schwesternzimmer, da können wir in Ruhe reden und Sie nehmen etwas zu sich“, widerspricht die Krankenschwester ruhig, aber bestimmt. „Nein, ich brauche nichts. Ich will zu meinem Mann“, widerspreche ich nun sehr energisch.

„Frau Hausmann, Sie wollen doch nicht gleich wieder in die Waagerechte gehen. Sie werden auf alle Fälle erst einmal einen Tee trinken“, kommt es im strengen Ton von der Schwester zurück. Sie nimmt mich am Arm und führt mich aus dem Krankenzimmer. Wir gehen den Gang entlang und kommen in einen Raum, der gar nicht gleich auf Anhieb wie Krankenhaus aussieht. In der Mitte steht ein kleiner runder Tisch mit vier Stühlen, links an der Wand eine kleine Küchenzeile und rechts ein Regal mit Unmengen von Büchern. Schwester Anni schiebt mich in Richtung Tisch und macht eine Handbewegung, die sagt, dass ich mich hinsetzen soll. Ich tue es, weil ich mitbekommen habe, dass protestieren keinen Zweck hat. Kurze Zeit später steht eine große Tasse Tee vor mir und die Schwester setzt sich mir gegenüber hin.

„Ich hoffe, die Sorte schmeckt Ihnen. Und essen wollen Sie wirklich nichts?“, fragt die Schwester.

„Nein danke“, antworte ich kurz, nehme die Tasse und nippe etwas von dem Tee. Na ja, mein Geschmack ist es nicht, aber wie gesagt, ich lasse es über mich ergehen.

„Wann kann ich zu Toni?“, frage ich zögernd.

„Da müssen Sie noch eine Weile warten. Ihr Mann wird noch operiert“, meint die Schwester.

„Was hat er denn und wie lange dauert es noch?“, frage ich weiter.

„Die Verletzungen sind sehr schwer und eine Stunde wird es bestimmt noch dauern“, sagt die Schwester, nimmt meine Hände in die ihren und schaut mich mit einem mitfühlenden Lächeln an.

„Wie schwer?“, meine Stimme will bei der Frage fast im Hals stecken bleiben.

„Das wird Ihnen der Arzt erklären, wenn er mit der OP fertig ist.“ Die Schwester holt Luft, rückt zu mir heran, legt ihren Arm um meine Schulter und spricht: „Ihr Mann ist wirklich in den besten Händen und es wird bestimmt auch alles wieder gut.“

Schwester Anni strahlt eine Ruhe und Wärme aus, die mein Herz dazu bringt, wieder auf normalen Betrieb zu gehen. Ich merke, wie ich innerlich etwas ausgeglichener werde. Langsam realisiere ich, wo ich eigentlich bin und was passiert ist. Plötzlich laufen mir Tränen über das Gesicht und mein Körper schüttelt sich in einem Weinkrampf.

„Das ist okay, lassen Sie ruhig alles raus. Ich weiß, wie schwer das ist“, sagt die Schwester und sie drückt mich noch mehr an sich. Sie lässt mich weinen. Ich weiß nicht, wie lange, aber irgendwie kann ich mich wieder fassen, putze ausgiebig meine Nase und verlange nach einer zweiten Tasse Tee. Schwester Anni macht sich sofort daran, mir den Wunsch zu erfüllen und ehe ich überlegen kann, dass der Tee eigentlich gar nicht schmeckt, steht die Tasse schon vor mir. Nun sitze ich einfach so hier, warte darauf, dass irgendjemand kommt und mir etwas über Toni sagen kann. Anni wirbelt währenddessen im Raum hin und her, erledigt schnell Dinge, die wegen mir liegen geblieben sind, aber sie hat immer ein Auge auf mich gerichtet. Plötzlich steht sie vor mir und fragt: „Sollen wir noch jemanden benachrichtigen?“

„Wen meinen Sie denn?“, frage ich etwas abwesend.

„Seine Eltern zum Beispiel. Oder wissen sie es schon?“

Rosi und Wolfgang, an die habe ich überhaupt noch nicht gedacht, aber die sind doch auf einer Schiffsreise.

„Ja, seine Eltern“, kommt es stockend von mir. „Ich glaube, das kann ich Ihnen nicht sagen und außerdem sind sie auf einem Schiff“, rede ich weiter.

„Das kann ich auch für Sie erledigen. Sie können vielleicht die Reise nicht abbrechen, aber wissen sollten sie es trotzdem.“

„Ja natürlich. Ich glaube, die Reise ist sowieso übermorgen zu Ende“, sage ich.

„Haben Sie da eine Telefonnummer für mich?“, fragt die Schwester.

„Die habe ich, aber dazu muss ich erst einmal meine Tasche haben“, meine Augen suchen überall, aber ich kann sie nirgends entdecken. Als ich wieder hoch schaue, sehe ich, wie die Schwester aus der Tür verschwindet und im nächsten Augenblick wieder eintritt. Sie hat meine Tasche in der Hand, die noch im Notfallzimmer lag, und reicht sie mir. Nach kurzem Suchen, was ja in einer Frauenhandtasche selten ist, hole ich mein Notizbuch heraus. Ich schiebe der Schwester das aufgeschlagene Buch über den Tisch. „Unter dem Namen Wolfgang steht die Handynummer. Das ist sein Vater und den sollten sie auch verlangen, wenn sich eine Frauenstimme meldet.“ Ich schaue verlegen nach unten, als ich das sage. Die Schwester bemerkt es und nickt mir nur zu. Sie denkt sich bestimmt ihren Teil, aber diskret, wie sie alle sind, fragt sie nicht nach dem Grund.

„Ich bin gleich wieder da“, sagt sie stattdessen und verschwindet mit Telefon und Notizbuch ins Nachbarzimmer. Von Weitem höre ich sie sprechen, sie erwähnt nichts, was ich nicht auch weiß. Ich hoffe nur, dass sie wirklich Wolfgang erreicht. Denn Rosi würde sich gleich wieder unmöglich aufregen, weil ich nicht selber anrufe und mir wie immer Vorwürfe machen.

„Na, Sie haben ja eine nette Schwiegermutter“, sagt Anni und verdreht die Augen. Sie gibt mir mein kleines Notizbuch zurück, lächelt und setzt sich wieder mir gegenüber hin.

„Haben Sie etwa mit Rosi gesprochen?“, frage ich mit zittriger Stimme.

„Auch, aber die Details habe ich Herrn Hausmann mitgeteilt. Sie hat das Handy weitergereicht.“ Anni überlegt kurz und meint schließlich: „Es gibt Schlimmeres als eine solche Schwiegermutter. Denken Sie jetzt nur an Ihren Mann, das ist viel wichtiger. Herr Hausmann war zwar sehr erschrocken, aber sehr nett. Sie kommen planmäßig übermorgen nach Hause und werden sich dann auch gleich hier melden. Er meinte noch, dass er sie heute Abend in einem guten Moment anrufen will.“ Sie sieht mich an und wartet sichtlich auf eine Reaktion.

„Danke, ich weiß schon, wie er das meint, und er wird bestimmt auch eine Gelegenheit finden, mit mir ungestört zu reden.“ Meine Stimme ist leise, als will ich, dass es keiner weiter hört. Es braucht ja nicht jeder wissen, dass das Verhältnis zwischen mir und Rosi nicht das beste ist.

„Ich schaue einmal nach, wie weit die OP ist. Ich bin gleich wieder da“, sagt Anni und beendet damit die fast unerträgliche Situation, die sich aufgebaut hat. Ich bin richtig erleichtert, als sie das Zimmer verlässt und ich einen Augenblick allein sein kann. Ich trinke meinen Tee aus und merke dabei gar nicht, dass er scheußlich schmeckt. Das Warten kann zur Ewigkeit werden und ich weiß nicht, woran ich denken soll. Die Hoffnung, dass es Toni nicht so schlimm getroffen hat, aber die schlimmsten Befürchtungen kreisen in meinem Kopf herum. Klar denken ist nicht möglich, mir laufen sämtliche Szenarien vor den Augen ab. Ich merke, wie meine Hände zittern, falte sie zusammen und versuche irgendwie, während des Wartens Ruhe zu bewahren. Es fällt mir immer schwerer und am liebsten würde ich jetzt einfach auf den Gang laufen und nach Toni schreien. Meine Beine zucken schon, aber in dem Moment geht die Tür auf und Anni steht vor mir. Ich sehe sofort die Traurigkeit in ihren Augen, stehe ruckartig auf und gehe auf sie zu.

„Was ist mit Toni?“, presse ich heraus.

„Die OP ist zu Ende“, Anni schluckt und sucht verzweifelt nach Worten. Einer Schwester sollte das eigentlich nicht schwerfallen, in jeder Situation die richtigen Worte zu finden, aber diesmal fällt es ihr wirklich nicht leicht.

„Bitte, sagen Sie mir, wo Toni ist. Er hat doch die Operation überstanden?“ Ich halte es nicht mehr aus, will nur noch zu ihm.

„Ihr Mann hat sehr schwere Verletzungen. Die Operation ist zwar gut verlaufen …“ die Schwester stockt.

„Aber?“, frage ich und nun stehe ich vor ihr, meine Hände an ihren Schultern und im Begriff sie durchzuschütteln. Anni nimmt meine Hände, drückt sie und holt tief Luft.

„Er ist während der OP ins Koma gefallen. Die Verletzungen sind zu schwer, sodass der Körper absolute Ruhe braucht, um zu heilen.“

„Kann ich ihn wenigstens sehen oder mit dem Arzt reden?“, meine Stimme ist plötzlich wieder leise und mir laufen Tränen über das Gesicht.

„Dr. Brink musste gleich zur nächsten OP. Er wird erst morgen für Sie Zeit haben und nach der ersten Nacht, die immer am wichtigsten ist, kann er vielleicht auch mehr sagen.“

„Kann ich ihn sehen?“, frage ich nochmals unter Tränen.

„Ihr Mann wird gerade auf die Intensivstation gebracht und an alle Geräte angeschlossen. Ich werde einmal sehen, was die Oberschwester sagt. Setzen Sie sich hier draußen hin und ich schaue noch mal nach ihm.“ Anni schiebt mich zur Tür hinaus und ich setze mich auf den im Gang stehenden Stuhl. Hier zu sitzen ist noch schlimmer als im Schwesternzimmer. Alle laufen in Eile hin und her. Manche haben Papiere, andere medizinische Instrumente in den Händen. Sie schauen auf mich, aber keiner nimmt mich wirklich wahr.

„Ihre Tasche, Frau Hausmann.“ Anni legt sie mir auf den Schoß, streicht mir noch einmal über den Arm und geht den langen Gang hinunter.

Ich schaue auf die große Uhr, die über der Anmeldung am Eingang der Station hängt. Es ist schon halb vier, wo ist die Zeit geblieben? In Gedanken rechne ich nach und mir wird klar, dass die OP fast fünf Stunden gedauert haben muss. Um Gottes willen, was hat Toni für Verletzungen! Ich werde wieder so unruhig, dass ich aufstehe und den Gang nervös auf und ab laufe.

„Frau Hausmann“, höre ich eine Stimme und erschrocken drehe ich mich um. Eine sehr große, kräftige Frau, ebenfalls im weißen Kittel, steht vor mir. Auf dem Schild kann ich Oberschwester lesen.

„Ich bin Schwester Karin“, spricht sie mich mit einer tiefen, aber sehr sicheren Stimme an.

„Kann ich zu meinem Mann?“, frage ich und gehe auf sie zu.

„Ihr Mann braucht sehr viel Ruhe und wir können deshalb nur kurz zu ihm. Schwester Anni hat Ihnen ja schon gesagt, dass er im Koma liegt. Wie lange das anhält, kann ich nicht sagen und Dr. Brink wird morgen mit Ihnen ausführlich darüber sprechen.“ Sie kommt nun auch einen Schritt auf mich zu und greift nach meiner Hand. „Sie müssen sich auch einen Kittel anziehen, wegen der Infektionen, Sie wissen schon.“ Ein kaum merkliches Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie weist mir den Weg den Gang nach hinten.

Ich folge ihr, vor der letzten Tür des Ganges bleiben wir stehen. Die Schwester geht hinein und kommt mit einem Kittel und einer Haarhaube wieder zurück.

„Die Haube ist nur heute notwendig. Der erste Tag und die erste Nacht sind am gefährlichsten, ab morgen ist das bestimmt nicht mehr nötig.“

Schwester Karin hilft mir in den Kittel und ich ziehe mir die Haube über. Danach öffnet sie die gegenüberliegende Tür und schiebt mich vorsichtig hinein. Es schließt sich ein kleinerer Gang an, deren Seitenwände völlig aus milchigem Glas sind. Dahinter sehe ich überall eine Vielzahl von Geräten und Monitoren.

„Vorn im ersten Zimmer sind wir Schwestern und da können Sie Ihre Tasche ablegen.“ Ohne eine weitere Aufforderung folge ich ihr und lege meine Tasche auf den Stuhl in dem kleinen Raum. Meine Blicke wandern gedankenlos in der Gegend umher.

„Können wir?“, fragt die Schwester und redet auch gleich weiter: „Ich werde Ihnen alles erklären, so gut es geht.“ Langsam gehe ich auf die Tür zu, die Karin öffnet und vor mir betritt. Die Oberschwester führt mich hinein und ich stehe vor einem Bett, in dem eine Person mit unzähligen Verbänden, Kanülen und Schläuchen liegt.

„Kommen Sie ruhig näher. Es ist Ihr Mann und vielleicht spürt er, dass Sie da sind.“

Ich gehe seitlich an das Bett und schaue Toni nur an. Ich wage es nicht, etwas anzufassen, geschweige denn Toni zu berühren. Nun erklärt mir die Oberschwester die ganzen Geräte. Er ist am EKG und EEG angeschlossen und auf den Monitoren sieht man noch andere Funktionen, die immer überwacht werden. Die Schwester spricht und ich versuche nicht wieder in einen Weinkrampf zu fallen. Tränen laufen mir über die Wange, aber ich kann die Fassung einigermaßen halten. Ich starre auf die vielen Verbände und Karin reagiert darauf.

„Ihr Mann hat eine Platzwunde am Kopf, deshalb der kleine Verband.“

Klein? Die macht wohl Scherze. Ich erkenne Toni fast nicht.

„Die ist aber nicht so schlimm und die Schnittwunden werden auch schnell verheilen“, fügt die Oberschwester noch hinzu.

„Warum liegt er dann im Koma?“, frage ich zögerlich.

„Er hat sich beide Unterschenkel gebrochen, die jetzt in Gips sind, und die Hüfte ist schwer geprellt. Außerdem sind drei Rippen kaputt. Die inneren Verletzungen kann Ihnen morgen Herr Dr. Brink besser erklären. Nur so viel, der Doktor musste auch die Milz entfernen. Ihr Mann hat sehr viel Blut verloren und ist sehr schwach. Dies alles führte dazu, dass Ihr Mann ins Koma gefallen ist.“

Ich kann das alles nicht fassen, Toni liegt hier vor mir und ich bin wahrscheinlich die Letzte, die ihm jetzt helfen kann. Ich fasse den Mut und greife nach seiner Hand. Sie ist weich und warm wie immer und ich hauche einen zarten Kuss darauf. In diesem Moment höre ich nicht einmal das Piepen der Maschinen, ich fühle nur noch die Nähe zu Toni und auch irgendwie die Schmerzen, die er ertragen muss.

„Frau Hausmann, es tut mir leid, aber für heute ist es genug. Ihr Mann braucht jetzt wirklich absolute Ruhe“, Schwester Karin zeigt mir mit einer Geste, dass ich jetzt gehen muss. Alles in mir schreit, dass ich nicht will, und ich kann mich auch kein Stück bewegen.

„Bitte kommen Sie“, sagt sie nun mit Nachdruck hinter mir. Mein ganzer Körper spannt sich an, mit viel Kraft beuge ich mich über Toni, gebe ihm einen Kuss auf die Stirn und unter innerlichem Zerreißen löse ich mich von ihm.

Auf dem Hauptgang wieder angekommen, ohne Kittel und Haube, meine Tasche an die Brust gedrückt und in den Gedanken die Bilder von Toni, wird mir klar, dass ich jetzt allein nach Hause gehen muss. Langsam laufe ich den Gang entlang zum Stationseingang. Gerade als ich die Tür öffnen will, spricht mich Schwester Anni noch einmal an: „Frau Hausmann, ich würde Ihnen gern noch die Jacke Ihres Mannes mitgeben, die uns die Polizei hier gelassen hat. Er hat sie beim Unfall nicht getragen und sie ist noch in Ordnung. Die anderen Sachen werden wir mit Ihrem Einverständnis entsorgen. Ich glaube nicht, dass die noch zu gebrauchen sind. Die Papiere befinden sich alle in der Jackentasche.“ Sie reicht mir Tonis Lederjacke und ich nehme sie zögernd, mit bebenden Händen entgegen. „Kommen Sie morgen wieder, nur nicht vor 10 Uhr, dann ist bestimmt auch Dr. Brink für Sie da. Sollte sich am Zustand Ihres Mannes etwas ändern, melden wir uns sofort.“

„Danke, ich werde da sein“, ich drehe mich bei den Worten schon um und verlasse die Station. Bis die Tür sich hinter mir schließt, spüre ich ihren traurigen und betrübten Blick im Rücken. Wie oft müssen sie solche Nachrichten überbringen und sich mit den leidenden Angehörigen beschäftigen? Ich bewundere die Schwestern, dass sie stets mit so viel Ruhe und Professionalität ihre Arbeit verrichten.

 

3

Ohne hinzuschauen suchen meine Hände die Taschen von Tonis Lederjacke ab. Ich sitze auf einer Bank vor dem Krankenhaus. Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht mehr, die Station habe ich wie in Trance verlassen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich schon eine halbe Stunde lang hier sitze. Immer noch in Gedanken fühle ich Tonis Brieftasche, Handy und den Hausschlüssel. Mit der anderen Hand ertaste ich eine rechteckige kleine Schachtel. Zigaretten, denke ich erstaunt. Seit wann raucht Toni wieder? Wann hat er denn damit wieder angefangen? Das habe ich gar nicht mitbekommen, aber wahrscheinlich tut er es nur auf Arbeit, sonst hätte ich das schon längst gerochen. Ich glaube, das ist jetzt auch egal. Ich hole die Schachtel aus der Tasche und suche in meiner Tasche nach einem Feuerzeug. Eigentlich habe ich immer eins dabei. Wer weiß, wozu man es mal braucht. Ich denke nicht weiter nach, nehme eine Zigarette aus der Schachtel und zünde sie nach kurzem Zögern an. Ein richtig langer Zug geht durch meine Lungen, mir bleibt fast die Luft weg. Ich huste und in meinem Hals fängt es an zu brennen. Ich schaue die Zigarette dann ziemlich skeptisch an und versuche es noch einmal. Diesmal reizt es nicht mehr so schlimm, man muss sich nur wieder daran gewöhnen. Vor allem darf man nicht gleich so einen langen, intensiven Zug machen. Es sind fast fünf Jahre, die ich nicht mehr geraucht habe. Aufgehört habe ich damals zusammen mit Kim. Eigentlich war es eine Wette, wer am längsten aushält, aber letztendlich schafften wir es beide und dann ging es mir auch körperlich merklich besser. Ich gehe nun seit drei Jahren regelmäßig mit Kim schwimmen und manchmal joggen wir auch durch den Park oder am See entlang. Mit Zigaretten war weder die Lust noch die Kondition dafür da, also eigentlich eine gute Sache. Bis heute habe ich dem Laster entsagt. Aber ich glaube, dass die eine Zigarette entschuldbar ist, denn sie wirkt auf mich beruhigend. Während ich diese Zigarette genüsslich rauche, nehme ich mein Handy aus der Tasche. Ich suche die Nummer von Kim heraus und drücke auf die Taste Verbinden. Nach kurzer Netzsuche beginnt es zu klingeln, aber ich höre sofort die Ansage, ich solle doch bitte auf die Mailbox sprechen. Das kann ich überhaupt nicht leiden und es hilft mir ja auch nicht weiter. Ich will nur noch nach Hause, mit diesen Gedanken suche ich nach Kims Festnetznummer. Es klingelt wieder und ich bitte in Gedanken, sie soll doch rangehen.

„He, Süße, wieso rufst du nicht auf dem Handy an? Du kannst froh sein, dass ich es gehört habe. Ich bin nämlich gerade im Garten gewesen“, Kims Stimme flötet fröhlich in mein Ohr.

„Bei deinem Handy geht die Mailbox ran“, sage ich und überlege schon, wie ich Kim es beibringen soll, was passiert ist.

„Warte mal“, sagt sie und ich höre, wie sie auf ihre Terrasse läuft. „Der Akku ist leer, tut mir leid, da habe ich nicht darauf geachtet. Aber sag mal, wo bist du denn, es ist so ein Lärm?“

„Ich bin auf einem Parkplatz und die Autos scheinen alle gleichzeitig loszufahren.“

„Hast du ein Problem mit deinem Auto?“

„Nein“, ich schlucke, hole noch mal tief Luft und sage mit zitternder Stimme: „Ich bin auf dem Krankenhausparkplatz und zwar ohne Auto und wollte dich fragen, ob du mich abholen könntest.“

„Wieso am Krankenhaus? Bist du krank? Was ist passiert?“, sie klingt nun sichtlich aufgeregt.

„Nein, ich nicht“, meine Stimme fängt noch mehr an zu beben. „Wer dann?“, drängelt Kim.

„Kannst du mich bitte abholen?“, nun laufen mir auch noch die Tränen über das Gesicht und ich beginne zu schluchzen.

„Um Gottes willen, du weinst ja, was ist los? Nell, rede mit mir“, Kims Stimme wird immer lauter.

„Toni hatte einen Unfall. Bitte kannst du kommen, ich will einfach nur noch nach Hause“, stammele ich unter Tränen. Für einen Moment herrscht Ruhe am Telefon, dann höre ich nur noch ein Rascheln und wie etwas herunterfällt, dann plötzlich ist sie wieder da.

„Bleib, wo du bist, ich bin in fünf Minuten da.“

Es knackt noch einmal kurz in der Leitung, dann ist die Verbindung weg. Ich klappe mein Handy zu und lege es zurück in meine Tasche. Da fällt mein Blick wieder auf die Zigaretten, ohne richtig darüber nachzudenken zünde ich mir die nächste an. Ist ja auch egal, wovon mir schlecht wird, Hauptsache, meine Aufregung geht etwas zurück. Ich sitze einfach auf der Bank und bin in Gedanken versunken. Ich nehme den Autolärm um mich herum kaum wahr. Ich höre zwar die Wagen kommen oder wegfahren, aber alles das interessiert mich momentan nicht.

„Seit wann rauchst du wieder?“

Ich fahre dermaßen zusammen, dass mir die Zigarette aus der Hand fällt und sehe plötzlich Kim vor mir stehen. Ihre Reaktion ist, sofort den Stummel auszutreten und mich grimmig anzusehen. „Die habe ich in Tonis Jackentasche gefunden“, versuche ich mich zu rechtfertigen. Immer noch mit Tränen in den Augen schaue ich Kim von unten heraus an und meine Hände fangen schon wieder an zu zittern.

„So war es doch gar nicht gemeint“, schon sitzt Kim neben mir und nimmt mich liebevoll in den Arm. „Nell, beruhige dich und erzähle mir erst einmal, was mit Toni ist.“

Ihre Stimme klingt warm und herzlich, was mir noch mehr Tränen in die Augen schießen lässt. Sie wiegt mich wie ein kleines Kind und nach ein paar Minuten fühle ich mich einigermaßen stark genug, um ihr zu erzählen, was passiert ist.

„Toni liegt im Koma, er ist ziemlich schwer verletzt. Die Polizei hat mich hierher gefahren und heute darf ich nicht länger bei ihm bleiben. Ich will nach Hause und wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte“, erkläre ich Kim und frage sie noch nach einem tiefen Atemzug: „Ach, kannst du dann auch noch eine Weile bei mir bleiben?“ Nun suche ich erst einmal nach einem Taschentuch, um meine Nase zu putzen.

„Was für eine Frage ist das denn? Ich bin immer für dich da, das weißt du.“ Gleichzeitig hält mir Kim ein Päckchen Taschentücher hin. „Wir fahren jetzt zu dir und ich mache uns einen starken Kaffee oder Tee und dann kannst du mir alles noch einmal in Ruhe erzählen.“

„Keinen Tee, davon habe ich genug“, rutscht es mir ziemlich verzweifelt heraus. Kim sieht mich mit großen Augen an. „Das erkläre ich dir, wenn wir zu Hause sind“, sage ich ganz leise zu ihr.

Mit einer Handbewegung, die sagen soll, dass es erst einmal reicht, stehe ich auf, nehme meine Tasche und hänge mir Tonis Jacke über den Arm. Kim springt ebenfalls auf und führt mich zu ihrem Auto. Ohne ein Wort geredet zu haben, kommen wir bei mir zu Hause an. Ich schließe die Haustür auf und wir gehen hinein. Ich lasse meine Tasche an der Garderobe einfach fallen, werfe Tonis Jacke auf das kleine Schuhschränkchen und stapfe in die Küche. Kim ist immer hinter mir. Plötzlich packt sie mich an den Schultern, schiebt mich in Richtung Stuhl und drückt mich runter, sodass ich gar nicht anders kann, als mich hinzusetzen.

„Kaffee oder Tee?“, ihre Frage holt mich aus meinen Gedanken zurück.

„Ja, Kaffee wäre gut, aber die Maschine ist kaputt und Tee hat mir schon eine Schwester zur Genüge zum Trinken gegeben“, erwidere ich und werfe der Maschine einen bösen Blick zu. Kim schaut sich die Kaffeemaschine an und meint: „Da ist ja schon alles drin.“

„Von heute früh, aber die geht nicht an“, bemerke ich genervt. Ich höre es klicken und kurz darauf ein leises Brodeln.

„Geht doch, was erzählst du da?“, lacht Kim.

„Heute Morgen ging sie nicht“, verteidige ich mich, „aber da war sowieso alles komisch.“

„Wie komisch?“, fragt Kim.

„Na ja, wie gesagt, die Kaffeemaschine ging nicht, und als ich auf die Terrasse bin, war da plötzlich nur eine graue Wolke am komplett blauen Himmel, die ihren Schatten genau auf mich geworfen hat“, erzähle ich bemerkenswert ruhig.

„Ich glaube, das hast du dir bloß eingebildet“, stellt Kim fest und schaut durch die Terrassentür in den wunderschönen blauen Himmel. „Na dann zeige ich dir was. Mal sehen, ob ich mir das auch bloß eingebildet habe“, ich ziehe Kim hinter mir her. Vor der Badezimmertür bleiben wir stehen und ich atme noch einmal tief durch. „Nell, was willst du mir zeigen?“, sie befreit sich aus meinem Griff an ihrem Arm und sieht mich ungläubig an. Langsam öffne ich die Tür und schaue erst einmal um die Ecke, um mich zu vergewissern, dass da immer noch alles so ist, wie ich es heute früh erlebt und gesehen habe. Und so ist es auch. Der Spiegel ist in tausend Splitter gesprungen, hängt aber noch an der Wand.

„Sei bitte vorsichtig“, warne ich Kim.

„Sei nicht albern und lass mich in dein Bad sehen“, lacht sie und schiebt sich an mir vorbei. Kim geht gerade einmal einen Schritt in den Raum, als sie entsetzt stehen bleibt. „Um Gottes willen, wie hast du denn das hinbekommen?“, fragt sie ganz leise, als würde schon allein ihre Stimme den Spiegel zum Herunterfallen bringen. Ganz langsam, fast in Zeitlupe und mit rudernden Armen, um die Balance zu halten, kommt sie rückwärts aus dem Bad und schließt übertrieben vorsichtig die Tür.

„Jetzt siehst du aber ziemlich albern aus“, grinse ich sie an.

„Und das ist auch heute früh passiert?“, fragt Kim mit etwas unsicherer Stimme.

„Ja, gerade als ich das Handtuch vor dem Gesicht hatte, knallte es und kurz darauf kam die Polizei.“

„Meinst du, dass das alles etwas mit Toni zu tun hat?“, Kim schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Vielleicht wollte er mir ein Zeichen geben, aber ehrlich, glaubst du an so etwas?“ Mit diesen Worten lasse ich Kim im Flur stehen und gehe zurück in die Küche. Sie folgt mir auf dem Fuß und schon sitzen wir wieder am Tisch und schauen beide gleichzeitig auf die Terrasse.

„Da steht ja auch noch dein Tablett mit euren Tassen“, bemerkt Kim fast so nebenbei.

„Ich hatte keine Zeit mehr zum Hereinholen, ich bin doch gleich mit ins Krankenhaus.“

Kim will gerade Anstalten machen und das Tablett holen, als das Telefon klingelt. „Das ist bestimmt Ben“, springt sie auf und rennt ins Wohnzimmer.

„Hallo Ben“, höre ich sie zärtlich sprechen. „Nein, Moment, hier ist Kim, aber ich hole Nell“, schon steht sie wieder in der Küche und reicht mir den Hörer.

„Hallo, hier ist Nell“, ich hoffe nur, dass es nicht das Krankenhaus ist.

„Hier ist Wolfgang. Hallo, mein Kleines. Ich wollte nur kurz wissen, wie es dir geht und ob du schon mit einem Arzt gesprochen hast.“ Er spricht leise und mir ist sofort klar, dass er ohne das Wissen von Rosi anruft. „Schön, dass du dich noch einmal meldest. Wo ist Rosi?“

„Ach Rosi, die liegt oben auf dem Deck in der Sonne. Ich glaube, sie will das nicht so an sich herankommen lassen.“

„Na ja, wie auch immer. Mir geht es einigermaßen, Kim ist da und dann werde ich bestimmt früh ins Bett gehen, bin total geschafft.“

„Das glaube ich dir und wie geht es Toni?“

„Ich durfte nur kurz zu ihm, er liegt im Koma und braucht sehr viel Ruhe. Morgen werde ich dann mit dem Arzt reden können.“

„Ich hoffe nur, es ist nicht zu schlimm“, Wolfgangs Stimme klingt traurig.

„Wann kommt ihr wieder?“, will ich wissen.

„Montagnachmittag legen wir an und ich melde mich sofort, wenn wir zu Hause sind. Ich muss jetzt, du weißt schon. Ich bin immer in Gedanken bei euch.“

„Das weiß ich. Dann bis Montag.“

„Tschüss, meine Kleine, und halte die Ohren steif.“ Wolfgang wird immer leiser und schließlich ist die Verbindung weg. Bestimmt ist Rosi gekommen und er wollte nicht, dass sie das Telefonat mitbekommt. Ich verstehe einfach nicht, wie man so eiskalt sein kann und dass das Wolfgang so aushält. Ich schalte das Telefon aus und lege es neben mir auf den Tisch. Dann schaue ich hoch und bemerke, wie Kim mit aufgerissenen Augen, die sich nun auch mit Tränen füllen, mir gegenüber sitzt.

„Ist es so schlimm?“, schluchzt sie.

„Der Arzt kann mir morgen erst Genaueres sagen. Wenn Toni diese Nacht gut übersteht, kommt er auf alle Fälle durch, aber wie lange er im Koma liegen wird, weiß niemand. Das entscheidet allein sein Körper.“

„Es tut mir so leid, wie kann ich euch bloß helfen?“ Wir fallen uns in die Arme und lassen den Tränen freien Lauf.

„Ich glaube, wir sollten erst einmal den Kaffee austrinken, der ist ja schon fast kalt“, unterbreche ich die Starre, in der wir gefangen sind. Wir sitzen beide mit den Tassen in den Händen da und jeder geht seinen eigenen Gedanken nach. Meine kreisen darum, wie ich das Alleinsein ertragen soll, aber durch Kims Kopf geht etwas ganz anderes. Ich sehe ihr an, wie verwirrt sie sich umschaut. Zuerst blickt sie auf die Terrasse, dann wieder zur Badezimmertür.

„Sollten wir nicht lieber alles aufräumen?“, fragt sie plötzlich. „Es ist so unheimlich.“

„Wie meinst du das?“

„Den Spiegel, sollten wir nicht versuchen ihn irgendwie abzunehmen? Sonst liegen irgendwann die Splitter im ganzen Bad verteilt herum.“

„Nein, das können wir auch morgen machen. Da kommst du doch wieder?“, frage ich schnell, immer die Angst im Rücken, nicht zu lange allein zu sein.

„Natürlich, das weißt du doch. Dann machen wir das eben morgen, da kann ich mir auch noch überlegen, wie wir das am besten hinbekommen, ohne uns zu verletzen“, sie lächelt mich an und räumt den Küchentisch ab. „Jetzt werde ich aber nach Hause fahren, Ben macht sich bestimmt auch schon Sorgen.“

„OK und ich gehe ins Bett. Ich schlucke nur noch die Tablette, die mir Schwester Anni gegeben hat, damit ich schlafen kann. Morgen muss ich für Toni fit sein.“ Die letzten Worte habe ich fast verschluckt. Ich hole schnell ein Glas aus dem Schrank, fülle Wasser hinein und nehme die Tablette. Kim steht inzwischen schon im Flur und klappert mit ihrem Autoschlüssel.

„Kann ich dich wirklich allein lassen?“, fragt sie beängstigt.

„Ja, ich bin todmüde und gehe gleich schlafen“, antworte ich ihr mit einen Kopfnicken.

„Ich komme morgen früh so gegen 9 Uhr und dann frühstücken wir zusammen. Was wir dann machen, entscheiden wir morgen, einverstanden?“ Kim zieht mich noch einmal in ihre Arme.

„Nimm den Schlüssel mit, damit du herein kannst, falls ich noch nicht munter sein sollte. Ich weiß ja nicht, wie die Tablette wirkt.“ Schnell halte ich ihr Tonis Schlüssel hin, den Kim anstandslos nimmt und das Haus verlässt. Ein kurzes letztes Winken von mir, dann bin ich plötzlich ganz allein. Nach dem Abschließen der Tür gehe ich langsam durchs Wohnzimmer. Es bleibt jetzt alles einfach so, wie es ist, und ich werde versuchen etwas zu schlafen. Im Schlafzimmer angekommen, schaue ich mich um. Alles ist stumm, draußen wird es sogar schon dunkel und ich mache mein kleines Lämpchen auf dem Nachtschrank an. Ohne weiter zu überlegen, lasse ich mich auf mein Bett fallen. Daran, dass ich mich ausziehen sollte, verschwende ich keinen Gedanken. Es ist momentan einfach absolut egal, mich sieht doch sowieso keiner. Als ich mich zur Seite drehe und das leere Bett von Toni wahrnehme, steigt in mir wieder die Unruhe hoch. Mein Blick wandert nach oben und mich schaut Tonis Teddy an. Er sitzt oben auf der Bettumrandung und hat uns immer im Blick. Toni hat ihn, seit er denken kann, und er ist fast überall dabei. Ich greife nach oben, hole ihn herunter, zupfe das Schleifenband zurecht, das er um den Hals trägt, dann drücke ich ihn ganz fest an meine Brust. Leise flüstere ich ihm ins Ohr, was geschehen ist, mit der kleinen Hoffnung, dass er mich trösten kann. Das ist zwar ziemlich albern, aber ich glaube, es funktioniert. Ich werde dadurch immer ruhiger und schließlich fallen mir die Augen zu. Den Teddy fest in den Armen, schlafe ich ein.

 

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