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MARKUS VÄTH

Cooldown

Die Zukunft der Arbeit
und wie wir sie meistern

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Redaktion und Register: Christina Knüllig, Hamburg

© 2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-514-5

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

www.gabal-verlag.de

Inhalt

Vorwort

TEIL I: DIE DRITTE TRANSFORMATION

Warum »Transformation«?

Die Drei Transformationen

Veränderungen durch die Dritte Transformation

Die vernetzte Gesellschaft: Informationsflut und kommunikative Überlastung

Die neue Unsicherheit: Vielfältige Arbeitsformen und -biografien

Die neuen Kranken: Stress, Burnout und Co.

Das neue Ich: Arbeit und die Suche nach dem Sinn

Die neuen Chefs: Führung im Wandel

TEIL II: REIF FÜR DIE INSEL® – WIE SIE DIE DRITTE TRANSFORMATION MEISTERN

Was bedeutet »INSEL«?

Information

Die Banane und die Doppelbindung

Wenn die Deiche brechen

Das Filterproblem

Der menschliche Faktor

Netzwerk

Von Influencern und Silodenkern

Reden, aber richtig

Netzwerk-Management

Kein Netz ohne Zentrum

Selbstmanagement

Von Trümmerfrauen und Wissensarbeitern

Der innere Schweinehund

Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt …

Fünf goldene Regeln

Ethik

Von Aristoteles zum Konstruktivismus

Der seelische Fingerabdruck

Leitbild oder Leidbild?

Leadership

Was bedeutet Leadership?

Sich selbst führen

Andere führen

Der Cooldown – keine Utopie

Anmerkungen

Über den Autor

»I heat up, I can’t cool down
You got me spinnin’ ’round and ’round
’Round and ’round and ’round it goes
Where it stops – nobody knows«

Steve Miller Band, »Abracadabra«

»Die größte Schwierigkeit der Welt besteht nicht darin,
Leute zu bewegen, neue Ideen anzunehmen,
sondern alte zu vergessen.«

John Maynard Keynes

Vorwort

Es gibt Veränderungen, die spürt man sofort. Plötzlicher Regen, Schmerz, eine Trennung – all das hat auf uns eine unmittelbare Wirkung. Und all das erleben wir jeden Tag, immer wieder. Deswegen ist jeder Tag für uns neu, eine Herausforderung, ein Geschenk. Doch es gibt Veränderungen, die wir nicht so schnell bemerken: politische Strömungen, die auf- und abtauchen, gesellschaftliche Bewusstseinslagen, der langsame Niedergang einer Firma. Diese Art der Veränderung vollzieht sich über einen längeren Zeitraum, weniger mit Donner und Blitz, sondern eher mit leisen und dennoch markanten Tönen.

Schleichende Veränderungen bemerken wir nicht sofort

Eine solche langsame, jedoch überall spürbare Veränderung findet gerade in unserer Arbeitswelt statt. Ich nenne sie die »Dritte Transformation«. Die Dynamik der Dritten Transformation hat viele Gesichter: die Aufsplitterung der Beschäftigungsverhältnisse, die Zunahme von Burnout, Depression und anderen seelischen Leiden, die Suche nach Sinn in der eigenen Arbeit, der Anspruch einer neuen, modernen Führung oder die überbordende Kommunikation unserer Tage. In der einen oder anderen Form begegnen wir den Auswirkungen der Dritten Transformation jeden Tag. Wir erleben sie am Arbeitsplatz, lesen entsprechende Nachrichten, führen Diskussionen mit Kollegen und Freunden. Wir halten alle einige Stücke des großen Puzzles in der Hand. Um jedoch zu verstehen, wie weit diese Veränderungen in der Arbeitswelt gehen und wie wir ihnen begegnen sollten, müssen wir das Puzzle zusammensetzen, uns einen Überblick verschaffen.

Genau das versuche ich mit diesem Buch. Im ersten Teil erläutere ich die Dynamik der Dritten Transformation, lege die Puzzleteile zusammen und erkläre, wie sie unser aller (Arbeits-)Leben bestimmt. Im zweiten Teil widme ich mich möglichen Lösungen. Unter dem Begriff INSEL beschreibe ich fünf Faktoren, die auf das Gelingen der Dritten Transformation erheblichen Einfluss haben: Information, Netzwerk, Selbstmanagement, Ethik und Leadership. In all diesen Themen können wir gestaltend wirken, damit uns die Dritte Transformation nicht überwältigt, sondern wir sie bewältigen. Damit sie nicht zur Belastung wird, sondern zur Herausforderung, zur Inspiration. Damit wir nicht nur die Risiken und Gefahren sehen, sondern auch die Chancen des nächsten Schritts – die Lust an der Weiterentwicklung.

Dieses Buch möchte vor allem Antworten bieten. Antworten auf die vielen Reaktionen, die mich auf mein letztes Buch Feierabend hab’ ich, wenn ich tot bin erreicht haben oder auf die vielen Fragen und Hoffnungen meiner Klienten, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte.

Nachdem Mitte 2011 mein Buch zum Thema »Burnout« auf den Markt kam, war das Echo durchweg positiv. Das hat mich sehr gefreut und mich in der Annahme bestärkt, dass die Menschen mehr von uns Fachleuten erwarten als die Verortung von Burnout als rein individuelles Problem. Denn auch die Gesellschaft und die Wirtschaft haben ihren Anteil daran. Viele Leserinnen und Leser waren froh, dass sie nun »Verantwortung abgeben« konnten, denn bislang wurde ihnen eingetrichtert, dass sie selbst schuld seien an ihrem Burnout. Für viele bedeutete es eine enorme Entlastung, den Blick einmal nach außen zu richten und festzustellen, dass auch Organisationen Werte, Prozesse und Strukturen entwickeln, die zu einem individuellen Burnout führen können.

Manche Leser bemängelten, dass ich kein spezielles »Lösungsbuch« geschrieben hatte. Ihr Lob für die sorgfältige Analyse verband sich mit dem Bedauern, nun mit den Fragezeichen alleingelassen zu werden. Dazu muss ich sagen, dass das »Feierabend«-Buch ausdrücklich nicht als klassischer Ratgeber geplant war. Denn für Burnout gab es bereits mehrere Bücher. Ich wollte das Thema Burnout in einen größeren Kontext rücken, wollte die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhang stellen und auch die Unternehmen in den Blick und in die Pflicht nehmen. Das ist mir gelungen, und die mediale Diskussion der letzten Zeit verdeutlicht, dass der systemische Aspekt von Burnout in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Ich schrieb das »Feierabend«-Buch aus einem bestimmten Bedürfnis heraus, genauso wie auch das aktuelle Buch. War es damals Unzufriedenheit über den festgefahrenen Stand der Diskussion, geht es mir jetzt um konkrete Lösungen und um die Beantwortung der Fragen: Wie können wir die Dritte Transformation meistern? Wie können wir den menschlichen Geist mit den neuen Technologien versöhnen? Wie können wir eine neue Art von Führung aufbauen? Wie können wir Sinn in unserer Arbeit entdecken und leben? Wie können wir produktiv und gleichzeitig geistig und körperlich gesund bleiben?

Arbeit nach menschlichem Maß gestalten: Dieses Ziel gilt immer noch

Denn jenseits unserer individuellen Persönlichkeit agieren und reagieren wir alle nach bestimmten evolutionär und genetisch geprägten Schemata, Denkmustern und Instinkten. Daher geht es bei einem »Cooldown der Arbeitswelt« nicht nur um die Integration der eigenen Persönlichkeit in ein bestimmtes Umfeld oder um die Verbesserung von Strukturen in der Arbeitswelt.

Es geht auch um die Frage, wie wir unser evolutionäres Menschsein mit der modernen Arbeitswelt versöhnen. Was wir tun können, wenn die Neuropsychologie des Menschen auf Hyperkommunikation und die ausufernde Komplexität moderner Arbeitsplätze trifft. Wie sollen wir uns in modernen Gruppen und Netzwerken zurechtfinden, wenn wir als Herdenwesen von bestimmten Instinkten und Eigenschaften gelenkt werden? Ignorieren wir unsere biologische Grundausstattung, wenn wir unsere Aufgaben strukturieren, wenn wir kommunizieren, sogar wenn wir unser Büro gestalten, dann werden wir irgendwann Schiffbruch erleiden bzw. die nächste Notaufnahme auch einmal von innen sehen.

Damit es dazu nicht kommt, habe ich in diesem Buch einige entsprechende Ideen zusammengefasst und daraus ein Modell geformt, das INSEL-Modell*. Es ist natürlich nicht alles neu. Manches ist schon gedacht und gesagt worden. Das vermindert jedoch nicht dessen grundsätzliche Richtigkeit. Manchmal muss man Dinge einfach mehrmals sagen, bevor sie verstanden und umgesetzt werden. Fragen Sie mal Ihre Kinder (oder Ihre Eltern). Mir geht es darum, Probleme von Organisationen mit einem praktischen Ansatz zu lösen. Hierbei schließe ich sehenden Auges einen Kompromiss: Weder theoretische Erschöpfung noch eine völlig theoriefreie Perspektive halte ich für zielführend. Daher spiegelt das vorliegende Buch meine professionelle Meinung als Psychologe, meine ganz persönliche Erfahrung als (Ex-)Angestellter, Coach und Berater wider sowie einen individuell kreativen Ansatz. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ich hoffe, Sie haben beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Und natürlich wünsche ich mir, dass Sie einiges für sich umsetzen können, bei sich selbst oder in Ihrer Firma. Schreiben Sie mir, welche Erfahrungen Sie mit der Umsetzung gemacht haben, was Sie gut fanden oder auch nicht so gelungen. Ich freue mich immer, wenn mir Leser Feedback geben, denn man lernt auch als Psychologe und Autor nie aus.

Dieses Buch bietet Lösungen an. Aber kein »one size fits all«

Ich glaube, der moderne Mensch (der ja auch ein arbeitender Mensch ist) hat kein Interesse daran, nur zu jammern und Zustände zu beklagen. Er will Lösungen, die er umsetzen kann – nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Umwelt, in der Wirtschaft oder der Politik. Daher geht das vorliegende Buch über die Analyse von Organisationen hinaus und bietet eine Lösung an. Damit macht man sich angreifbar, weil Lösungen im betrieblichen Umfeld selten eine »one size fits all«-Lösung sein können. Dennoch glaube ich, die INSEL kann einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung in Organisationen leisten. Bertolt Brecht hat gesagt: »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Dieses Bonmot, leicht umformuliert, trifft es ganz gut: »Wer kreativ entwickelt, riskiert. Wer nur kritisiert, bleibt stehen.«

* Das INSEL-Modell ist eine eingetragene Wortmarke.

Teil I

Die Dritte Transformation

Warum »Transformation«?

Alles Lebendige verändert sich fortwährend

Leben bedeutet Veränderung. Wir werden geboren, werden älter und sterben schließlich – der normale Zyklus des Lebens. So gut wie alle regulativen Vorgänge in der Natur unterliegen diesen Zyklen. »Panta rhei»– alles fließt, wussten schon die alten Griechen. Das Einzige, was in der Welt sicher ist, ist die Unsicherheit, die Veränderung. Alles verändert sich fortwährend, wandelt seine Gestalt, passt sich an, tritt ein in die ewigen Wechselläufe der Evolution. Von den philosophischen Schulen über den Naturforscher Charles Darwin bis zu den Astrophysikern unserer Tage, die Sternen bei Geburt und Tod zusehen, ist die Erkenntnis der steten Veränderung eine Grundlage unseres Weltverständnisses.

Das Erkennen dieser transformationalen Muster ist laut Darwin unerlässlich für das Überleben einer Art: »Intelligence is based on how efficient a species became at doing the things they need to survive.«1 Nach Darwin zeigt sich in der Anpassungsfähigkeit von Tier und Mensch seine Intelligenz, die Fähigkeit zu überleben. In einer komplexen Gesellschaft wie der unseren gehört zu solch einem »Erkennen« nicht nur die Dynamik des eigenen Lebens. Wir sind spätestens seit der beginnenden Industrialisierung vor 200 Jahren als Gesellschaften politisch, wirtschaftlich und technologisch so eng miteinander verflochten, dass wir komplexe Systeme des Zusammenlebens – sichtbar in Staatensystemen, Handelsbeziehungen und Kommunikationstechnologien etc. – benötigen und schaffen. Die oftmals zitierte »Globalisierung« unserer Tage ist dabei nur eine Facette, eine neue, größere Spielart der Vernetzung.

Erkennen wir die stetige Veränderung (Transformation) auf allen individuellen, sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen als Tatsache an, so können wir innerhalb dieser Transformationen bedeutende und weniger bedeutende Bewegungen ausmachen. Quasi Haupt- und Nebentransformationen, die mal größere, mal kleinere Wirkungen hervorrufen. So mag eine Urlaubsreise für das weitere Leben von geringerer Bedeutung sein. Die guten und schlechten Erlebnisse am Urlaubsort beeinflussen das eigene Wohlbefinden und dienen im besten Fall als positive emotionale Stärkung. Um einiges mehr wird das Leben durch den Tod einer geliebten Person, vielleicht des Partners, erschüttert. Diese emotionale Transformation geht viel tiefer, sie durchdringt die inneren Schichten unserer Persönlichkeit und stößt intensive Verarbeitungsprozesse an. Am konsequentesten geschieht diese persönliche Transformation in der Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit: der Diagnose einer Krebserkrankung zum Beispiel oder eine Nahtod-Erfahrung. In dieser letzten Variante geschieht Veränderung nicht nur im Beobachten des Außen, sondern radikaler in der Veränderung der eigenen Person und der individuellen Weltsicht.

Es geht hier nicht um das Ausschmücken von Horror-Szenarien. Ich will lediglich feststellen, dass es Zeitpunkte und Ereignisse in unserem Leben gibt, die so intensiv sind, dass sie uns als Person – unsere Werte und unsere Einstellung zur Welt – verändern, »transformieren« können. Dies gleicht einer Erschütterung – selbstverständlich auch in der Möglichkeit zum Positiven.

Was nun für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für größere Gruppen, ja ganze Gesellschaften. Beispielsweise ist die größte psychologische Transformation, die Deutschland je erlebt hat, die Herrschaft und der Niedergang des Nationalsozialismus. Diese Transformation war in ihren Ursachen, Dimensionen und Folgen so verheerend und gewaltig, dass ihre Nachwehen noch heute spürbar sind. Immer noch sind wir als Kollektiv mit dem Bewältigen der Vergangenheit beschäftigt, in Form von Büchern, Fernsehsendungen, Denkmälern, Demonstrationen etc. In kleinen gesellschaftlichen und sozialen Nachbeben bearbeiten wir immer noch das Trauma des Nazi-Regimes. Ebenso könnte man den amerikanischen Bürgerkrieg für die USA oder die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki als Traumata ansehen, deren transformatorische Wellen immer noch deutlich sichtbar sind.

Bevor ich zu den wirtschaftlichen und psychologischen Transformationen komme, die ich für wesentlich halte, möchte ich dem Leser ein Transformationsmodell vorstellen, dass eine größtmögliche historische und globale Perspektive aufzieht: die Theorie der »Dritten Welle« des Futurologen Alvin Toffler. Diese Theorie halte ich für so bedeutend, dass ich sie hier aus einem der Hauptwerke Tofflers etwas ausführlicher zitieren will. Toffler schrieb sein Buch »Die Zukunftschance« (Originaltitel: »The Third Wave«) 1980 (!), skizzierte darin jedoch bereits soziale und technologische Revolutionen, die erst um die Jahrtausendwende hin zum 21. Jahrhundert einsetzten. Toffler schreibt:

»Die Menschheit steht vor einem Quantensprung. Sie sieht sich konfrontiert mit sozialen Umwälzungen und einem kreativen Umstrukturierungsprozess bisher ungeahnten Ausmaßes. Ohne bisher genau zu erkennen, wohin der Weg führt, sind wir bereits dabei, eine von Grund auf neue Stufe der gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklung zu errichten. Hierin liegt die Bedeutung der Dritten Welle.

1980: Alvin Toffler entwirft seine Theorie der »Drei Wellen«

Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat es bislang zwei große Innovationswellen gegeben, die jeweils die zivilisatorischen Charaktermerkmale der vorangehenden Epoche weitgehend vergessen machten. An ihre Stelle rückten neue Lebensformen, die den Menschen aus der Zeit vorher fremd, ja unvorstellbar erschienen wären.

Die Erste Welle, die Agrarrevolution, bestimmte das Leben der Menschen einige Jahrtausende lang. Die Zweite Welle, das Werden der Industriellen Revolution, beanspruchte nur mehr drei Jahrhunderte. Heutzutage geht die Entwicklung noch weitaus schneller vonstatten, und so wird wahrscheinlich die Dritte Welle innerhalb weniger Jahrzehnte über uns hinwegfegen. Wir, die wir den Planeten Erde gerade in diesem explosiven Moment der Erklärung bevölkern, werden daher noch innerhalb unserer eigenen Lebensspanne die volle Wucht des Ansturms jener Dritten Welle zu spüren bekommen.

Familien driften auseinander, die Grundlagen unserer Wirtschaft werden erschüttert, unsere Wertvorstellungen geraten ins Wanken, unser politisches System ist paralysiert: die Dritte Welle trifft jeden von uns. […] Vieles in dieser sich abzeichnenden neuen Gesellschaftsform steht im Widerspruch zur alten, traditionellen Industriegesellschaft. Einerseits hochgradig technologiebestimmt, ist sie auf der anderen Seite antiindustriell.

Diversifizierte, erneuerbare Energiequellen; Produktionsweisen, die das Fließband weitgehend überflüssig machen; neue, die herkömmliche Kleinfamilie ablösende Formen menschlichen Zusammenlebens; die Institutionalisierung dessen, was man als elektronisches Heim bezeichnen könnte; von Grund auf andere Schul- und Verbandsformen: dies alles kommt im Gefolge der Dritten Welle auf uns zu und wird zu einem gänzlich neuen Lebensziel beitragen.«2

Toffler ist kein Hysteriker, im Gegenteil. Sein Werk ist durchdrungen von positivem gestalterischem Willen, einem Appell, die neuen Zeiten kraftvoll anzugehen. In diesem Sinne unterschied er sich auch von manchen Katastrophendenkern seiner Zeit. Was ist nun der Unterschied zwischen Tofflers Modell und meiner Theorie der »Drei Transformationen«?

image Toffler argumentiert aus einer globalen Perspektive heraus, historisch wie geografisch. Ihm geht es um die großen Zusammenhänge in der Entwicklung der Menschheit, betrachtet über Jahrhunderte. Dies gelingt ihm lebendig und elegant.

image Er analysiert die Dinge auf drei Hauptebenen, der sozialen, der technologischen und der politischen Ebene. Für ihn knüpfen diese drei ein Netz an Dynamiken, das für die großen Transformationswellen in der Geschichte sorgt.

image Toffler geht davon aus, dass sich Wellen »überlagern« können, ja müssen. So speise sich eine Menge an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konflikten genau aus diesem Aufeinanderprallen zweier Wellen (Toffler spricht von »Wellenkämmen, die aufeinanderbranden«).

»Meine« Transformationen nehmen dagegen einen schmaleren Ausschnitt der Wirklichkeit ins Visier. Sie sind daher »näher dran« an der Lebensperspektive des Einzelnen und haben dafür einen kleineren Wirkbereich als das Toffler’sche Modell:

image Mein zeitlicher Fokus beginnt mit der Industriellen Revolution, nicht wie bei Toffler mit der Agrarrevolution vor ca. 10 000 Jahren. Seine »Erste Welle« (die Agrarrevolution) spielt für meine Überlegungen daher keine Rolle. Die Drei Transformationen, um die es mir geht, spielen sich in einem Zeitraum der letzten 170 Jahre ab, von ca. 1850 bis heute.

image Weiterhin konzentriere ich mich auf den Schnittpunkt von wirtschaftlich-technologischer Veränderung und Psychologie. Mit anderen Worten: Was machen tiefgreifende wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit dem Einzelnen? Wie reagiert die menschliche Seele oder – schlicht biologisch – das Gehirn darauf?

image Ein gegenseitiges Überlagern von Wellen spielt in den Transformationen, wie ich sie verstehe, keine Rolle. Vielmehr finden diese Transformationen in einem klar umgrenzten Zeitraum statt, der von anderen Wellen nicht berührt wird.

Insgesamt liefert Toffler ein äußerst interessantes Modell historischer und geografischer Zusammenhänge. Seine »Drei Wellen« sind jedoch nicht mit meinen »Drei Transformationen« identisch. Auch das Bild der Welle findet in meinem Modell keine Anwendung. Ich bleibe bei dem eher sperrigen Begriff »Transformation«, auch um zu verdeutlichen, dass es sich hierbei um einen technologisch-psychologischen Mechanismus handelt, der eher im Hintergrund abläuft, und nicht um eine sichtbare Welle, die man anbranden sieht bzw. die einen überrollt.

Interessanterweise sieht der Psychologe Tony Buzan, der Erfinder der »Mind-Map«-Methode, über die Jahrzehnte eine ähnliche Wellenbewegung, die im Moment durch die Informationsflut einen neuen Höhepunkt erreicht. Sein Fazit: »Die Menschen denken in Informationen, denken digital, technologisch, über die Computertastatur. Deshalb erlebt die Welt derzeit den größten Stress ihrer Geschichte: die sogenannte Informationsflut. […] Tatsächlich bereitet uns die Informationsflut nur Stress, weil wir versuchen, Informationen und Wissen konventionell zu managen. Wir setzen auf Informationsmanager und Direktoren für Wissensmanagement. Doch wir müssen nicht das Wissen managen, sondern den Manager des Wissens, und das ist das menschliche Gehirn. Wir müssen lernen, unser

Gehirn intelligent zu nutzen. Dies ist die Herausforderung des Intelligenzzeitalters. Denn in Wahrheit haben wir das Agrar-, das Industrie- und das Informationszeitalter hinter uns gelassen und sind im Intelligenzzeitalter.«3

Gerade in der Phase der Informationsflut gilt: »Wir müssen lernen, unser Gehirn intelligent zu nutzen« (Tony Buzan)

Buzan erfasst haargenau, um was es geht: um ein neues Zusammenspiel zwischen Technologie und menschlichem Verstand. Ein Austarieren, eine neue Balance. Diese Balance herzustellen, war mehr oder weniger offensichtlich immer Teil der menschlichen Zivilisation. Und immer war diese Balance von technologischen Umbrüchen gekennzeichnet, denen sich der Mensch in Körper und Geist anpassen musste. Was Buzan als »Intelligenzzeitalter« beschreibt, ist nichts anderes als die Dritte Transformation des digitalen Zeitalters, die gerade stattfindet (und die noch vielleicht zwanzig, dreißig Jahre anhalten wird). Erst nach dieser Transformation wird eine Phase der »mentalen Ruhe« einkehren, wird sich der Mensch mit den neuen Techniken der Kommunikation und der digital vernetzten Arbeit in einer Weise arrangiert haben, die ihn produktiv und gesund bleiben lässt.

Hier schließt sich übrigens der Kreis zu Darwin. Denn was müssen wir im Moment tun, um unser Überleben zu sichern? Jedenfalls nicht mehr an der Keule schnitzen, um das Mammut zu erlegen. In unserer Zeit müssen wir unseren Geist, unseren Verstand hegen, pflegen und schützen. Unser Geist ist die wichtigste Ressource des 21. Jahrhunderts. Oder wie es der Schauspieler Mel Gibson im Film »Braveheart« formulierte: »Es ist der Verstand, der Männer aus uns macht.«

Darum erleben wir gerade den Massenausbruch psychischer Krankheiten, von Depression, Burnout und Angststörungen bis hin zu sogenannten somatoformen Störungen, epidemischer Schlaflosigkeit und existenzieller Verzweiflung. Es sind diese Krankheiten des Geistes, des Gehirns, die den Menschen befallen und ihm zu schaffen machen. Das war innerhalb jeder der bisherigen zwei Transformationen so, doch innerhalb der Dritten Transformation ist es am schlimmsten. Wir erleben eine immense Verdichtung von Information und Kommunikation, gepaart mit maximalem Anspruchs- und Effizienzdenken, eingepfercht in eine vereinsamende Gesellschaft. Das ist für das Wohlbefinden oder das viel zitierte »Stresserleben« Sprengstoff vom Feinsten.

Egal, um welche Problemstellung es geht: ob E-Mail-Flut, Burnout, Stressbewältigung, Cloud Computing, Krankheiten durch ungesunde Büroarbeit, sogar Lohn- und Arbeitszeitmodelle – im Grunde geht es um die gigantische technologische Umwälzung der Dritten Transformation.

Die Drei Transformationen

Alvin Toffler zog in seinem Werk einen großen Bogen, zeitlich wie geografisch. Meine Einteilung der Transformation ist etwas kleiner dimensioniert.

Die Erste Transformation ergab sich aus der Industrialisierung. Man kann gar nicht sagen, auf welchen Lebensbereich die Industrialisierung keinen Einfluss hatte. Sie stellte praktisch alles auf den Kopf: die Familie, die Produktionsweisen, die Infrastruktur (Eisenbahnen), die Erziehung, das Staatswesen, alles. Es wäre naiv zu glauben, dass eine solche im weitesten Sinne »traumatisierende« Erfahrung, die ganzen Völkern widerfuhr, als für den menschlichen Geist unwichtig abzuhaken wäre. Als 1835 die erste Eisenbahn, der »Adler«, von Nürnberg nach Fürth fuhr, warnten damalige Ärzte davor, die Jungfernfahrt mitzumachen. Bei der hohen Geschwindigkeit der Lokomotive würde man den Verstand verlieren. Der menschliche Geist könne dieser Sinnesverwirrung nicht standhalten.

Natürlich hat er standgehalten. Diese kleine Anekdote zeigt jedoch, wie umwälzend manche Erfahrungen und technologischen Neuerungen wahrgenommen werden können. Im besten Falle nutzen wir das störende Element des Neuen, das Disruptive, um uns kreativ daran zu reiben und daran zu wachsen. Im schlechtesten Fall entsteht daraus eine kollektiv-soziale Klage, ein andauernder Kulturpessimismus, der in erster Linie vor neuen Technologien warnt, bevor er sich den damit verbundenen Chancen widmet.

Auch wenn der »gefühlte« Eindruck ein anderer ist: Die Welt ist sicherer geworden und die Armut weniger

Dabei wird leicht vergessen, dass es mit der Welt im Großen und Ganzen doch sichtbar aufwärtsgeht. Man denke nur an die Bekämpfung ehemals tödlicher Krankheiten, an den Siegeszug der Demokratie in der Welt – auch wenn es manchmal anders scheint: »Es ist fast egal, welchen Indikator man nimmt – Bildung, Gesundheit, Ernährung – in den allermeisten Ländern zeigt der Trend stabil in eine positive Richtung. Heute sterben dank Impfungen, sauberem Wasser und besserer medizinischer Versorgung sechzig Prozent weniger Kinder als 1970. […] Auch die landwirtschaftliche Produktivität nimmt zu: Seit den siebziger Jahren hat sich die Nahrungsmittelproduktion in den Entwicklungsländern verdreifacht. Mittlerweile verlieren mehr Menschen gesunde Lebensjahre durch Übergewicht als durch Unterernährung.«4 Und dennoch glauben beispielsweise 75 Prozent der Deutschen, dass es den Menschen in der Dritten Welt »immer schlechter gehe«.5 Übrigens hat die Organisation Freedom House ermittelt, dass innerhalb der letzten 40 Jahre die Staaten, die man als »funktionierende Demokratien« bezeichnen kann, von 44 auf 90 zugenommen haben.6

Wie man unschwer erkennen kann, ist die damalige Bahnfahrt gegen unsere heutige Informationsflut geradezu lächerlich. Genau wie auf dem politischen oder dem medizinischen Sektor schreitet die Menschheit im technologischen Bereich weiterhin mit Riesenschritten voran. Der Zeitforscher Stefan Klein hat berechnet, dass wir in einem Jahr genauso vielen Reizen ausgesetzt sind wie weiland Goethe in einem ganzen Leben. Und trotzdem schaffen wir es, unsere fünf Sinne leidlich zusammenzuhalten.

Während die Industrialisierung nun ihre Anfänge bereits im 18. Jahrhundert hatte und bis ins 20. Jahrhundert andauerte (also über einen Zeitraum von knapp 200 Jahren!), datiere ich die tatsächlich »psychische Transformation«, die akute Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit den neuen Verhältnissen, in einen relevanten Zeitraum von ca. 1850 bis 1900. Diesen Zeitraum kann man als »Hochzeit der Industrialisierung« beschreiben. Die »Kinderkrankheiten« der Produktion waren überwunden, die europäischen Staaten ordneten sich (während Amerika gerade in den entscheidenden Krieg taumelte), die medizinische Forschung machte enorme Fortschritte. Gleichzeitig waren die beiden Weltkriege, die das Gesicht der Welt verändern sollten, noch nicht ausgefochten. Man hatte gesellschaftlich Zeit, nach innen zu schauen, buchstäblich wieder »zur Besinnung zu kommen«. Nicht umsonst fällt Sigmund Freuds Entwurf der »Psychoanalyse« in diese Zeit; 1896 verwandte er den Begriff zum ersten Mal. 1899 erschien dann sein erstes wichtiges Werk: »Die Traumdeutung«.7

Freuds Verdienst war es – und ist es noch – den Blick der Menschen zurückgelenkt zu haben auf ihr Inneres, nachdem sie über 150 Jahre der industriellen Maschine gehuldigt hatten. Denn rein wirtschaftlich gesehen geschah in der Industrialisierung genau das: eine Verlagerung der Produktion weg von der Muskelkraft (muscle) hin zur maschinellen Produktion in Serie (machine). Handwerkliche, im großen Maßstab wenig zuverlässige, im Kosten-Nutzen-Verhältnis eher teure Produktionsweisen wurden von Fabriken abgelöst, die durch Massenproduktion Dinge von vorhersagbarer Qualität zu einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis hervorbrachten.

Betrachten wir den Zeitraum ab ca. 1860, so erkennen wir, dass unter Ärzten und Psychologen schon damals ein »Burnout«-artiger Begriff kursierte. »Neurasthenie« nannte der amerikanische Psychiater George Beard das Phänomen, das er vor allem in Ballungsgebieten wie New York City ausmachte: Schlaflosigkeit, Besorgnis, nervöses Zittern, psychosomatische Beschwerden etc.

Neurasthenie: Seelenleid der Jahrhundertwende

Im Grunde etwas Ähnliches wie das, was wir heute unter Burnout verstehen. Beard verfasste über Neurasthenie sogar ein Buch und überschrieb es etwas reißerisch: »American Nervousness«, die »Amerikanische Nervosität«.8 Beard brachte die Neurasthenie in Verbindung mit den schnellen Veränderungen der Moderne: der rasanten technologischen Entwicklung, dem neuen, noch unsicheren Selbstverständnis der amerikanischen Nation, ja sogar mit der aufkeimenden Frauenbewegung. Im Rückblick kann man sagen, dass Beard hier die Erste Transformation sehr treffend beschreibt: das Aufeinanderprallen des menschlichen Geistes mit tiefgreifenden technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen. Die daraus entstehende Unsicherheit griff tief in den menschlichen Organismus ein und sorgte für eine mentale, emotionale und physische Erschütterung. Und sie tut es noch heute in der Dritten Transformation. Die Erste jedoch klang nach der Jahrhundertwende ab und fand im Ersten Weltkrieg ihr abruptes Ende.

Die Zweite Transformation ließ dann auch etwas auf sich warten – fast 50 Jahre. Zunächst schafften der Erste und Zweite Weltkrieg eine Zäsur von historischem Ausmaß. Besonders der Zweite Weltkrieg sorgte global für eine komplette Neuordnung der Verhältnisse – politisch, kulturell, technologisch:

image Nachdem der Pulverdampf verraucht war, formierten sich im Kalten Krieg der kapitalistische und der kommunistische Block – eine Zweiteilung der Macht, die ein halbes Jahrhundert Bestand haben sollte. Westeuropa wurde als geografischer Puffer gegen die Sowjetunion benutzt und in die NATO integriert. Die UdSSR antwortete mit dem Warschauer Pakt.

image Amerika als wirtschaftlich größte Macht des Planeten exportierte seine kulturellen Vorstellungen in alle Welt, von Coca-Cola bis Hollywood. Im zerstörten Europa (vor allem in Deutschland, das fast seine gesamte Intelligenz ins Exil oder in die Vernichtungslager getrieben hatte), stillte man damit ein Bedürfnis, füllte eine wirtschaftliche und kulturelle Leerstelle.

image Auch auf dem technologischen Sektor dominierten die USA: »The postwar American technological lead had two conceptually distinct components. There was, first of all, the long standing strength in mass production industries that grew out of unique conditions of resource abundance and large market size. There was, second, a lead in ›high technology‹ industries that was new and stemmed from investment in higher education and in research and development, far surpassing the levels of other countries at that time.«9

Da sich die USA selbst als Supermacht mit kultureller und technologischer Überlegenheit betrachteten, traf sie 1957 der »Sputnik-Schock« hart: Der Sowjetunion war es gelungen, einen Satelliten ins All zu schießen, und sie hatte damit den Wettlauf um die erste erfolgreiche Weltraum-Mission gewonnen. Der Sputnik-Schock markiert gleichzeitig den Eintritt in die Zweite Transformation der westlichen Gesellschaften. Während der nächsten 30 Jahre, bis zum Fall der Berliner Mauer 1989, erlebte die ökonomische Welt ihren zweiten wichtigen Wandel: von einer reinen Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, von der Maschine (machine) zum Geist (mind). Natürlich waren kluge Köpfe auch vor der Zweiten Transformation wichtig. Neu war das massenhafte Auftauchen neuer Berufszweige, die den direkten Kontakt Mensch zu Mensch erforderten. Es wurden immer mehr Arbeitsplätze für Büro-Angestellte, Service-Kräfte oder im Gesundheitsbereich geschaffen.

Das war auch nötig, da in der reinen Produktion, dem Stammbereich der Industrialisierung, die Produktivität immer mehr zunahm und Arbeitskraft dort dramatisch verbilligte.

Der Tertiäre Sektor entstand, weil sich Arbeitskraft verbilligte

Die Arbeitsverlagerung und die Schaffung massenhafter Dienstleistungen nannte man den »Tertiären Sektor«. Betrug der Anteil der Beschäftigten in diesem Dritten Sektor 1960 (also kurz nach dem Sputnik-Schock) europaweit knapp über 40 Prozent, schnellte dieser Wert bis 1990 (kurz nach dem Mauerfall) auf über 60 Prozent hoch.10 Der Anteil von Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt in Deutschland heute bei rund 70 Prozent – immerhin Platz 18 der weltweiten Rangliste. Spitzenreiter ist Hongkong mit einer Quote von 91 Prozent.11

1974 schließlich, mitten in dieser Phase der wirtschaftlichen Umwälzung, formulierte der amerikanische Psychologe Herbert Freudenberger erstmals den Begriff »Burnout«. Bereits 2011 schrieb ich hierzu: »In der ersten wissenschaftlichen Publikation zum Thema, der Schrift ›Staff Burn-out‹ von Herbert Freudenberger, war Burnout als psychologisches Phänomen in seinen Grundzügen so gut wie vollendet. Freudenberger verwendet nur drei Fußnoten, in denen er ausschließlich eigene, frühere Werke zitiert. Fast könnte man meinen, Freudenberger habe das Thema ›Burnout‹ bewusst in einen eher gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang stellen wollen statt in einen psychopathologischen. […] Vielleicht hätte man bereits Mitte der 1970er-Jahre eine Debatte über die gesellschaftlichen Implikationen von Burnout führen sollen. Burnout als Oberbegriff für eine Störung der modernen und postmodernen Gesellschaft, eher ein Sammelbecken an Symptomen und Befindlichkeiten als ein psychopathologisches Syndrom.«12

Der neue Dienstleistungssektor erfordert vor allem soziale Kompetenz

Neu an dieser wirtschaftlichen Umwälzung war, dass ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung – nämlich vor allem im Dritten Sektor – weitere Kompetenzen jenseits ihrer fachlichen Qualifikation benötigte: Sozialkompetenz, Empathie, Konfliktfähigkeit. Dinge, die man braucht, wenn man zivilisiert und vor allem zielgerichtet mit anderen Menschen umgehen soll. Damals, zu Zeiten Freudenbergers, wurde die Sicht auf das Phänomen Burnout allerdings durch zwei wichtige Dinge getrübt:

image Viele Veteranen des Zweiten Weltkriegs litten an »Kriegsdepressionen« – verständlicherweise. Es gab Scharen dieser traumatisierten Soldaten, überall auf der Welt. Leider ähneln sich die Symptome von Kriegsdepression und Burnout, zumindest auf den ersten Blick. Das erschwerte eine genaue Diagnose ungemein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Burnout erst ab den 1970ern in den Fokus der Forschung trat – als die Kriegsdepression in der Masse der Patienten an Bedeutung verlor.

image Außerdem wurde eine individuelle Erschöpfung durch den rasanten Aufschwung kollektiv konterkariert. Nach dem Motto »Wie soll jemand an etwas leiden, was der Gesellschaft kollektiv so guttut?« (nämlich an dem schnellen technologischen Fortschritt und der immensen Verbesserung der Lebensverhältnisse) konnte man sich ein Syndrom wie Burnout schlicht nicht vorstellen. Besonders in Deutschland und seinem »Wirtschaftswunder« erschien die Vorstellung, Einzelne könnten an diesem Aufschwung individuell scheitern, abseitig.

Insgesamt begleitete Burnout als »Beeinträchtigung des Geistes« die Zweite Transformation eher im Stillen. Nachdem in der Ersten Transformation im ausgehenden 19. Jahrhundert das Konzept von Burnout (bzw. Neurasthenie) erstmals formuliert wurde, jedoch noch keine gesellschaftliche Rolle spielte, trat es ab den 1970ern deutlicher hervor. Leider nahm Burnout gleich die »diagnostische Abkürzung« und wurde als individuelles Leiden abgetan. Dass dies nicht mehr funktioniert, zeigt die momentane Explosion des Phänomens. Womit wir bei der Dritten Transformation wären.

Die Dritte Transformation findet gerade statt. Nach Ende der Zweiten Transformation hat es – dank eines ungeheuren Schubs in der Informations- und Telekommunikationstechnik – nur zehn Jahre gedauert, bis Burnout in der Mitte der Gesellschaft ankam. Ich würde den Anfang auf den Zusammenbruch der Internetblase im Jahr 2000 datieren. Das war ein starkes wirtschaftliches Signal der Veränderung. Noch mehr erschüttert, allerdings politisch, wurde die Welt durch die Anschläge des 11. September 2001. Deren seismografische Wellen sind bis heute spürbar und haben die wirtschaftlichgeistige Unsicherheit leider nicht geschwächt, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Da jede Transformation bislang mehrere Jahrzehnte gedauert hat, gehe ich auch für die aktuelle Dritte von einer Dauer bis mindestens ins Jahr 2025 aus. Erst dann werden wir in der Masse individuelle und kollektive Methoden entwickelt haben und Arbeit, Technik sowie soziales Zusammenleben entsprechend organisieren und gehirngerecht nutzen.

Der Kern der Dritten Transformation besteht in der Konfrontation des menschlichen Geistes mit der dichtesten, schnellsten und gleichzeitig abstraktesten Vernetzung, derer er sich je gegenübersah. Alle drei Transformationen veränderten die menschliche Psyche enorm. Stellt man sich die Transformationen als Himmelskörper vor, die auf die Erde prallen, so wäre die Erste Transformation (= Industrialisierung) ein eher kleiner Asteroid, der einen folgenlosen Krater hinterlässt. Die Zweite Transformation (= Dienstleistungsgesellschaft) wäre schon ein größerer Brocken, der ein Land in Mitleidenschaft ziehen könnte. Die Dritte Transformation (= globale Vernetzung) hätte das, was die Astronomie einen deep impact nennt: Er würde das Leben auf dem gesamten Planeten beeinflussen.

Diese Analogie soll nicht vermitteln, dass die Dritte Transformation katastrophal enden wird oder dass sie per se etwas Schlechtes ist. Im Gegenteil. Die Dritte Transformation gibt uns die Chance, uns ganz neu mit unserem Lebensstil, unserer Art zu wirtschaften und zu kommunizieren auseinanderzusetzen. Sie hat nur viel mehr Wucht als ihre beiden Vorgänger. Denn noch nie waren die Zeiten so günstig für den mentalen »perfekten Sturm«: Auflösung bisheriger Familienstrukturen, dauerhafte wirtschaftliche Unsicherheit, ein Trommelfeuer aus Information und Kommunikation, massive technologische Veränderungen in kurzer Zeit sowie massiver Vertrauensverlust in politische und religiöse Autoritäten. Dennoch stecken darin auch Chancen – wenn wir uns geistig »über Wasser« halten können. Die hauptsächliche Herausforderung der Dritten Transformation besteht im Übergang von der Dienstleistungs- und Wissensarbeit hin zu den »vernetzten Köpfen« und einer vollständigen Globalisierung von Kommunikation, Märkten und politischen Entscheidungen – vom einzelnen Menschen und seinem Verstand (mind) hin zum vernetzten Denken (networked mind).

Das »vernetzte Denken« als Zukunftsmodell des 21. Jahrhunderts

Das »vernetzte Denken« beschreibt unter anderem eine Forschungsgemeinschaft der Universität Oxford als wegweisend für das 21. Jahrhundert: »The networked mind is the new mindset we all require in the 21st century. Given the proliferation of Web-based technologies such as blogs, wikis and social networking tools in our daily lives, these technologies have become a cause for all praise, scorn and worry. What would it become and what would be the cultural ramifications of its pervasive use? […] In this century, chance favors the networked mind; so let’s take the opportunity to continually remain students ourselves, testing and sharing best practices for new forms of engagement.«13

Die Autoren fordern ihre Leser auf, sich selbst immer wieder als Lernende, nicht nur als Lehrende zu betrachten. Die Halbwertszeit des menschlichen Wissens wird immer kürzer, wir müssen neue Erkenntnisse immer schneller akzeptieren und in unsere Praxis integrieren. Auch dieser Befund verdeutlicht das Große, das Drängende, die umspannende Veränderung innerhalb der Dritten Transformation.

Die Brisanz des Themas zeigt sich unter anderem auch in der epidemischen Zunahme von »psychischen Störungen« von Burnout über Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Leiden bis hin zu Suizidversuchen. Auch wenn man eine genauere Diagnostik und eine bessere Selbstbeobachtung des Einzelnen in Rechnung stellt, fällt die massive Zunahme im Bereich der psychischen Störungen doch auf. Das Gehirn wird zum zentralen Leidensorgan des 21. Jahrhunderts (nachdem die körperlichen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit uns nun ein halbes Jahrhundert begleitet haben). Ich behaupte: Geistige Leiden wie Depression oder Burnout werden noch mehr zunehmen, als dies ohnehin bereits der Fall ist. Sprach George Beard während der Ersten Transformation von »Neurasthenie« und Herbert Freudenberger 1974 von »Burnout«, würde ich das heutige Phänomen aufgrund seiner massenhaften Verbreitung »Struktureller Burnout« nennen. Diesen massenhaften Burnout zurückzudrängen und den Menschen ihr Wohlbefinden und ihre Handlungsfreiheit wiederzugeben, ist das zentrale Anliegen, das maximale Bestreben, dem wir uns innerhalb der Dritten Transformation widmen müssen. Erst wenn wir das verstanden haben, können wir die entscheidenden Fragen stellen. Zum Beispiel: Welche Veränderungen bringt die Dritte Transformation für Unternehmen?

Veränderungen durch die Dritte Transformation

Ein kleines Gedankenspiel soll das Modell der Transformation verdeutlichen. Nehmen wir an, Ihr Auto muss in die Werkstatt. Nichts Großes, aber es muss gerichtet werden. Sie fahren hin, geben Ihr Auto ab und warten. Vielleicht sehen Sie Leute in der Werkstatt arbeiten und trinken einen Kaffee. Schließlich nehmen Sie wieder Ihr Auto in Empfang und fahren los. Ohne es zu bemerken, waren Sie Zeuge aller drei bedeutenden Transformationen der jüngeren Industriegeschichte:

image Ein Werkstattmitarbeiter wuchtete mit Muskelkraft Ihre Reifen herunter und anschließend wieder herauf. Die Muskelkraft war das Kennzeichen der Arbeit vor der Industrialisierung: Landwirtschaft, Handwerk, Kriege trugen alle die Handschrift der Muskelkraft; Maschinen spielten so gut wie keine Rolle.

image Dies änderte sich mit der Ära der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts (begonnen hatte die Industrialisierung allerdings schon im 18. Jahrhundert, unter anderem mit der Erfindung der Dampfmaschine). Nun rückten Fabriken und Maschinen in den Mittelpunkt. Wo vorher mehrere Menschen nötig waren, um etwas zu produzieren, erledigten das nun Maschinen zu einem Bruchteil der Zeit und der Kosten. In unserem Beispiel bringt der Werkstattmitarbeiter die Schrauben an Ihren Reifen nicht mehr mühsam mit einem Schraubenschlüssel an, sondern mit einem leistungsstarken Akkuschrauber. Was früher anstrengend war und mehrere Minuten dauerte, ist nun innerhalb von Sekunden mit einer geeigneten Maschine erledigt.

image Während Sie auf Ihr Auto warten, sitzen Sie vielleicht in einem bequemen Sessel, eine Assistentin bringt Ihnen Kaffee und Sie lesen ein wenig in der Zeitung. Dies symbolisiert die Phase der Dienstleistungen und der Wissensarbeit, die Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts immer wichtiger wurden. Nachdem die Maschinen einen enormen Produktivitätsschub gebracht hatten, entwickelten sich für Menschen neue Tätigkeitsfelder, unter anderem alle möglichen Servicetätigkeiten und Beratungsdienstleistungen.

image Die letzte Phase, in die wir erst einzutreten begonnen haben, wird als Vernetzung der Menschen und Maschinen untereinander in den nächsten Jahrzehnten einen Höhepunkt erreichen (»networked mind«). Die Zukunft Ihres Werkstattbesuches könnte daher so aussehen, dass Sie nicht mehr von einem echten Menschen empfangen werden, sondern von einem Hologramm (das natürlich ebenso freundlich ist und dazu immer gut gelaunt). Sie bezahlen auch nicht mehr mit Geld oder Karte, sondern mit einem Chip, der in Ihr Handy eingebaut ist. Sie wischen mit dem Handy kurz über einen kleinen Kasten an der Rezeption und das war’s. Auf Wunsch wird von nun an auch Ihr Wagen per GPS geortet, um Sie auf die nächstgelegenen Vertragswerkstätten aufmerksam zu machen. Das Ergebnis wird Ihnen in Ihre Multicodex-Frontscheibe gespiegelt, die seit 2020 zum Standard aller großen Autohersteller gehört.

Wie man sieht, gehen wir aufregenden Zeiten entgegen. Das kleine Beispiel der Autowerkstatt soll zeigen, wie weit wir uns von Pflugscharen und Katapulten wegbewegt haben und wie viel wir bei Modernisierung und Produktivität bereits erreicht haben. Doch natürlich geht diese Entwicklung nicht reibungslos vonstatten. Besonders während der Übergänge von einer Phase zur anderen, den Transformationen, rüttelt es die Gesellschaft ganz schön durch. Worin bestehen nun die gewaltigen Veränderungen, die innerhalb der Dritten Transformation stattfinden?

image Vernetzung: Da wäre zunächst einmal die massive Zunahme von Information und Kommunikation zu nennen. Menschen, Unternehmen und Gesellschaften vernetzen sich untereinander in einem Ausmaß, das noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Facebook, das größte virtuelle Netzwerk auf diesem Planeten, hatte im Oktober 2012 nach eigenen Angaben rund eine Milliarde monatlicher, aktiver Nutzer. Ein durchschnittliches Smartphone hat heutzutage mehr Rechenleistung als ein PC vor zehn Jahren. Diese rasante Technisierung und Informatisierung durchdringt mittlerweile all unsere Lebensbereiche.

image Unsicherheit: Während Kommunikation und Information alle Sphären des menschlichen Zusammenlebens durchdringen, wirkt sich die Dritte Transformation natürlich speziell auf den Arbeitssektor aus. Hier sind an erster Stelle die Veränderungen in den Arbeitsformen zu nennen. Bereits heute nimmt die Zahl der Niedriglöhner, 1-Euro-Jobber und der Selbstständigen zu. Es gibt weniger Vollzeitstellen und traditionelle Karriereverläufe. In der Arbeitswelt von morgen muss der Einzelne eine größere Unsicherheit ertragen. Das Berufsleben, die Karriere und damit das Leben an sich wird weniger planbar und unterliegt einer größeren Eigenverantwortung und Flexibilität.

image Psychische Belastungen: Mit dieser Unsicherheit und der informationellen Überforderung brechen sich neue Krankheiten Bahn. Die Stressbelastung steigt an, Depressionen und Burnout nehmen zu. Psychische Erkrankungen allgemein steigen an. Offensichtlich halten die Bewältigungsmechanismen der Menschen mit den neuen technischen und organisatorischen Anforderungen im Job nicht Schritt. Viele Menschen fühlen sich zudem – trotz der großen Vernetzung – in ihrer Berufswelt isoliert und alleingelassen. Auch diese »virtuelle Einsamkeit« verstärkt das Risiko psychischer Belastungen und Krankheiten.

image Sinnsuche: Nicht zuletzt rückt, mit dem Megatrend Gesundheit im Schlepptau, die Frage nach dem Sinn in der Arbeit verstärkt in den Mittelpunkt der individuellen Lebensgestaltung. Immer mehr Menschen verlangen eine Antwort auf die Frage: Wozu tue ich das? Ergibt diese Tätigkeit für mich Sinn? Das bislang vorrangig gelebte Modell »viel Arbeit, viel Geld, wenig Zeit, wenig Familie« verliert für immer mehr Menschen deutlich an Attraktivität. Arbeit und Beruf sollen nicht mehr die einzig tragende Identitätssäule des Lebens sein, sondern sich einreihen in ein Gesamtkonzept von sozialem Leben, intellektueller Befriedigung, Gesundheit und spiritueller Reifung.

image Führung: