Über das Buch

Mit Ihrer unglücklichen Mutter, Mrs. Escridge, kommt die sechszehnjährige Elizabeth nach Georgia zu ihrem wohlhabenden Verwandten William Hargrove. Bald wird sie zum umschwärmten Mittelpunkt der feinen Südstaatengesellschaft, und ihretwegen duellieren sich die jungen Männer im Morgengrauen. Man schreibt das Jahr 1850, zehn Jahre vor Ausbruch des Sezessionskriegs. Der reiche und dekadente Süden kann seinen Wohlstand nur durch die Arbeit der schwarzen Sklaven sichern, doch alle spüren, daß diese Welt dem Untergang geweiht ist.

Elizabeth bemerkt bald, daß sich hinter der scheinbar so ruhigen Fassade von Dimwood eine zweite, unsichtbare Wirklichkeit aus Geheimnissen, dunklen Schicksalen, privaten und politischen Tragödien auftut. Und bald hat auch sie ein Geheimnis: sie verliebt sich in den schönen Jonathan Armstrong, den extravaganten und ein wenig unheimlichen Außenseiter.

»Von fern Ländern« ist eine Hommage an den amerikanischen Süden und an das neunzehnte Jahrhundert aus der Sicht eines großen Schriftstellers, der so alt ist wie unser Jahrhundert und all seine Höhen und Tiefen miterlebt hat. Dieser farbige und differenzierte Südstaatenroman, den Julien Green im Alter von 86 Jahren schrieb, ist sein bisher größter Romanerfolg.

Julien Green

Von fernen Ländern

Roman

Aus dem Französischen von Helmut Kossodo

Carl Hanser Verlag

Zur Erinnerung
an meine Mutter,
eine Tochter des Südens.

I

Dimwood

1

Elizabeth war gerade sechzehn, als sie die Plantage in einer vom Gesang der Frösche widerhallenden Nacht zum ersten Mal erblickte, und zunächst hatte sie Angst. Hand in Hand mit ihrer weinenden Mutter stieg sie zögernd und furchtsam die langen Stufen zwischen den beiden riesigen Magnolienbäumen empor. Es schien ihr, als nehme der Aufstieg kein Ende und als würde sie nie bis zu dem schwarzgekleideten Herrn gelangen, der sie in Begleitung seines schwarzen Dieners, welcher eine Fackel trug, erwartete. Groß und aufrecht, die rosigen Wangen von üppigen Koteletten überwachsen, die bis zu seinem Schnurrbart reichten, breitete er mit einem breiten Lächeln die Arme aus.

»Willkommen in Dimwood«, rief er, indem er Mrs. Escridges Hände ergriff, sich zu Elizabeth neigte und sie küßte. »Sie kleines Veilchen aus England werden unseren Süden liebgewinnen«, sagte er, die frischen Wangen des jungen Mädchens streifend, die sich dem Kitzeln all dieser Haare zu entziehen suchten.

Und plötzlich schallte den Neuankommenden vom Eingang her ein fröhlicher Tumult entgegen. Damen in weißen Kleidern eilten auf sie zu, und in einem stürmischen Wortschwall tauschte man Küsse ohne Ende. Eine Art Benommenheit ergriff Elizabeth angesichts dieser neugierig glänzenden Augen, die sie anstarrten und wie mit einer Mauer umgaben.

Sie fühlte sich zugleich glücklich und verloren in einem unerklärlichen Traum. Zuweilen drang die Stimme ihrer Mutter bis zu ihr, in deren Seufzern und Ausrufen sie stückweise ihre Reise und die Mißgeschicke ihrer Familie wiedererkannte.

Wie ein ins volle Licht geschleuderter Nachtvogel fand sich das junge Mädchen gleich darauf in einem hell erleuchteten Saal, wo Lampen auf Konsolen ihr Licht in großen, bis an den Deckenstuck reichenden Spiegeln reflektierten. In einem plötzlichen Verlangen, die Flucht zu ergreifen, ging sie auf eine offene Tür zu, aber schon eilten ihr zwei junge Männer nach.

»Versuchen Sie nicht, davonzulaufen!« rief der eine lachend. »Sie sind unsere Gefangene.«

Obwohl kaum älter als sie, sah er mit seinem struppigen Haar und seiner Stupsnase wie ein Schuljunge aus.

»Ich bin Ihr Vetter Billy Stevens«, sagte er.

Und ohne weitere Umstände drückte er der erschaudernden Elizabeth seine wulstigen, etwas feuchten Lippen auf die Wange. Dann wandte er sich an seinen weniger unternehmungslustigen Gefährten und sagte:

»Komm schon, Fred, worauf wartest du noch?«

Fred war in der Tat einige Schritte vor der jungen Dame stehengeblieben und betrachtete sie mit einem halben Lächeln. Die großen schwarzen Augen in dem schönen, schmalen Gesicht drückten sichtlich Überraschung oder Bewunderung aus, was sie noch größer erscheinen ließ, und er zögerte eine Sekunde, bevor er linkisch seinen Mund der Nase, dem Ohr, den Lidern oder irgendeinem anderen Teil des kleinen, verängstigten Gesichts näherte, nur nicht ihren Lippen, und dann waren es doch die Lippen, die er in seiner Unbeholfenheit berührte. Die beiden erröteten, während hinter ihnen die Damen Mrs. Escridge umgaben, die ohnmächtig zu werden drohte, was sie mit vielen Tränen und Worten unterstrich.

»Es ist die Ergriffenheit«, beteuerte sie. »Ich schäme mich. Nie in meinem Leben habe ich mich so schlecht benommen.«

In einem Chor höflicher Proteste trug man sie zu einem großen roten Sofa, wo sie sich ausstreckte.

Sie hatte ihre Haube fallen gelassen, und üppige graue Haarsträhnen umgaben ihr langes Gesicht, auf dem die gut vierzig Jahre ihres Lebens frühzeitige Runzeln hinterlassen hatten, aber ihre Züge bewahrten einen gewissen Adel. Allein die große, magere und vorstehende Nase ließ die späte Nachkommenschaft einer ausgestorbenen Rasse erkennen, und aus den riesigen grauen Augen schrie die Verzweiflung wie aus den Tiefen einer Felsenhöhle.

»Ich werde euch alles erzählen«, rief sie, während sie mit einer Art Gewaltsamkeit die Falten ihres Rockes über den entblößten Beinen ordnete. »Die Unbequemlichkeit, die schlechten Straßen, die schrecklichen Mietkutschen …«

»Morgen«, ertönte die klare Stimme Mr. Hargroves, der vor sie hintrat. »Wir alle wissen, was Sie durchgemacht haben. Aber jetzt werden wir Sie auf Ihr Zimmer führen und die kleine Elizabeth auf das ihre. Sie beide brauchen Ruhe. Sie müssen sich zuerst einmal ausschlafen.«

»Als mein Mann starb«, fuhr sie in einem aggressiven Ton fort, als ob sie nichts gehört hätte, »wollte ich auch sterben. Ich liebte ihn. All das geht weit über Tränen hinaus. Seine enormen Schulden — habe ich euch die Höhe seiner Schulden genannt?« fragte sie plötzlich.

»Ja, Cousine. Ich bin über alle Einzelheiten informiert. Wir werden morgen darüber reden.«

»Aber unser Landhaus, das ich verkaufen mußte … Also an diesem Tage, dem letzten Tage, ist mir das Herz gebrochen.«

»Hier bei uns werden Sie das alles vergessen.«

»Vergessen? Niemals! Die Wände eines jeden Zimmers habe ich mit meinen Lippen geküßt, bevor ich es verließ. Ich weinte nicht, wohlgemerkt. Ich bin nicht eine von denen, die weinen. Das überlassen wir den Männern.«

Mr. Hargrove winkte Billy mit dem Finger herbei, flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, und der junge Mann verschwand sogleich.

Dann nahm er Mrs. Escridge sanft und gebieterisch bei der Hand.

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen aufhelfe«, sagte er.

Sie stieß ihn zurück.

»Lassen Sie das«, fuhr sie ihn an. »Und um Himmels willen schneiden Sie mir nicht das Wort ab. Wenn ich spreche, habe ich das Gefühl, mich von meinen Qualen zu befreien. Mit dem hundertfach von Hypotheken belasteten Haus blieb mir und Elizabeth kaum noch etwas zum Leben, und da habe ich um Hilfe gerufen.«

Bei diesen Worten warf sie ihm einen flehenden Blick zu, dessen Bedeutung ihm so klar erschien, daß er sich den Personen zuwandte, die ihn umgaben und sehr aufmerksam zuhörten, und mit dem Kopf zur Tür wies. Es gab ein kurzes Zögern, einiges Flüstern und Blickewechseln, aber sie verstanden und zogen sich so würdevoll wie möglich zurück. Nur Elizabeth rührte sich nicht. Während der ganzen Szene hatte sie sich abseits in einer Ecke des großen Saals gehalten, wo sie von niemandem bemerkt wurde.

Mrs. Escridge verbarg ihr Gesicht in den Händen und murmelte wie bei einer Beichte:

»Um Hilfe gerufen …«

»Daran haben Sie gut getan«, sagte er, als die Tür sich schloß.

»Aber dieser Brief … Dieser Brief, den ich Ihnen geschrieben habe, aus diesem ärmlichen Zimmer einer elenden und eiskalten Pension in London, einem trübseligen London, als ich kaum noch wußte, was ich tat, sterbend vor Scham … eine Bettlerin!« schrie sie plötzlich. »Jawohl, ich, eine Bettlerin.«

»Cousine Laura, ich bitte Sie«, sagte Mr. Hargrove. »Betteln … das ist doch Unsinn. Ihr Mann war mein Vetter. Sie gehören zur Familie.«

»Nein«, erwiderte sie sehr heftig. »Ich gehöre nicht zu Ihrer Familie, ich bin eine Almosenempfängerin, Gegenstand Ihrer Barmherzigkeit. Barmherzigkeit, wie entsetzlich!«

»Cousine Laura«, hub er an und nahm ihre Hand.

Sie entzog sie ihm sogleich, als ob er versucht hätte, sie ihr wegzunehmen.

»Cousine Laura«, fuhr er fort, »die Barmherzigkeit kommt weniger von den Menschen als von oben …«

»Ach nein!« rief sie, »reden Sie mir nicht von Religion, oder ich gehe.«

»Und wohin, arme Cousine?«

Auf diesen Ausdruck stürzte sie sich mit wilder Freude.

»Arme Cousine! Sie sagen es selbst, Mr. Hargrove. Ich werde die arme Verwandte sein, die man nicht zeigt oder für deren Anwesenheit man sich entschuldigen muß, der Störenfried.«

»Laura Escridge«, rief er, sich jäh erhebend, »gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich Sie unausstehlich finde.«

Und mit schneidender Stimme fügte er hinzu:

»Ich befehle Ihnen, den Mund zu halten.«

Zu seiner großen Überraschung hob sie den Kopf zu ihm auf und betrachtete ihn mit einer Art Bewunderung.

»Schon gut«, sagte sie plötzlich besänftigt, »aber ich nehme nichts von dem zurück, was ich gesagt habe, und ich wünsche, in Ruhe gelassen zu werden.«

»Man wird Sie in Ruhe lassen«, erwiderte er mit einem forcierten Lächeln, das sich im Gestrüpp seines Schnurrbarts verlor. »Und jetzt werden wir Frieden schließen. Der Süden ist bekannt für seine Gastfreundschaft. Sie werden aufstehen, und ich führe Sie auf Ihr Zimmer. Es wird Ihnen hoffentlich gefallen, es ist eins der behaglichsten des Hauses. Und nun geben Sie mir bitte Ihren Arm.«

Stolz, aber bezwungen, gehorchte sie und hakte ihre Hand wie eine Vogelkralle auf den kräftigen Arm in der Alpakajacke. Nicht ohne Mühe half er ihr auf, und dann schritten sie beide zur Tür wie auf einem Ball.

»Sie werden Ihre bezaubernde Elizabeth als Zimmernachbarin haben. Vermutlich ist sie bei den anderen. Ich werde sie holen lassen.«

Eine feste kleine Stimme ließ sie innehalten.

»Ich bin hier.«

»Elizabeth«, rief Mrs. Escridge aus, »das ist sehr ungehörig. Du hast dich versteckt, um zu lauschen.«

Ruhigen Schritts durchquerte das junge Mädchen den langen Saal, und die großen aufmerksamen Spiegel zählten im Vorübergehen all die Elizabeths im schottischen Rock.

»Ich habe mich nicht versteckt«, sagte sie, »ich saß dort in einer Ecke.«

»Du hättest das Zimmer verlassen sollen, als du die anderen hinausgehen sahst.«

»Ich war lieber allein.«

Diese resolut gesprochenen Worte setzten den Fragen ein Ende.

»Schon gut«, sagte Mr. Hargrove sanft, »und nun folge uns bitte; ich werde dir dann auch dein Zimmer zeigen.«

Noch einige Schritte, und sie befanden sich am Fuße einer breiten Wendeltreppe, deren Verlauf die Rundung einer Palette nachahmte. Wie um die Wirkung der ein wenig strengen Eleganz dieses Vorraums zu lindern, standen rotgepolsterte Sessel am Fuße der Säulen, die wie fügsame und geduldige Personen auf etwas zu warten schienen.

Mr. Hargrove klatschte zweimal in die Hände, und sogleich trat ein Schwarzer aus einer Tür, gefolgt von einem zweiten, beide in blauer Livree und mit weißen Handschuhen. Als Mrs. Escridge sie erblickte, stieß sie einen kleinen Schreckensschrei aus.

»Ich will sie nicht in meiner Nähe haben«, flüsterte sie.

»Sie haben nichts zu fürchten. Sie sind wie Kinder.«

Nachdem er sie in einen Sessel gesetzt hatte, befahl er den Dienern, sie in die erste Etage zu tragen. Sie ließ es geschehen, schloß die Augen, aber bei jeder Stufe stöhnte sie, schwach vor Entsetzen, und stammelte immer wieder mit gebrochener Stimme:

»Die Überfahrt war auch nicht schlimmer, das schwöre ich … Ach, hoffentlich sind wir bald da.«

»Machen Sie die Augen auf, Cousine Laura«, sagte Mr. Hargrove nach einigen Minuten vergnügt. »Da sind wir.«

Sie betraten ein Zimmer, dem das Licht der Dämmerung eine etwas melancholische Anmut verlieh, und wahrscheinlich wirkte sich der Charme dieses ungewissen Halbdunkels auf den Geist Mrs. Escridges aus, denn in dem Augenblick, da Mr. Hargrove befahl, die Lampen anzuzünden, äußerte sie einen Wunsch, der einer plötzlichen und tiefen Eingebung entsprungen sein mußte.

»Warten Sie einen Moment«, sagte sie.

Das breite und hohe Zimmer empfing das Licht aus zwei Fenstern, die auf eine Veranda hinausgingen, deren weiße Säulen sich hinter den Musselinvorhängen abzeichneten. Ein Himmelbett nahm die Mitte des Raumes ein, der im Spiel der Schatten und des schwindenden Lichts wie ein geträumter Ort erschien.

Mrs. Escridge ließ den Blick eine Weile über diese Wände schweifen, durch dieses Zimmer, in das das Schicksal sie verschlagen hätte, und wandte sich dann mit einer Handbewegung an Mr. Hargrove.

»Können wir jetzt Licht machen?« fragte er.

Sie nickte, und bald erstrahlte eine Öllampe auf dem runden, mit einem indischen Teppich bedeckten Tisch. Mahagonimöbel schimmerten diskret hie und da. Die traumhaften Eindrücke von soeben wichen nun einer Atmosphäre von unaufdringlichem, aber solidem Wohlstand.

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Ich hoffe, daß dieses Zimmer Ihnen annehmbar erscheint«, sagte Mr. Hargrove, »aber falls irgend etwas Ihnen nicht genehm sein sollte …«

Als Mrs. Escridge nicht antwortete, neigte er sich mit verschämtem Zartgefühl ein wenig zu ihr und sagte leise:

»Auch ich weiß, was es bedeutet, im Exil zu leben.«

Elizabeths Zimmer, weniger geräumig als das ihrer Mutter, ging ebenfalls auf die Veranda hinaus, die die erste Etage des Hauses, wie auch das Erdgeschoß, umgab, aber das junge Mädchen betrachtete diesen Raum mit erstaunter Bewunderung, denn sie, die bisher nur ein bescheidenes und alltägliches Zimmer gekannt hatte, in dem sich ihre Kindheit abgespielt hatte, sah darin das fast prunkvolle Gemach einer Dame. Auf einmal fühlte sie sich wie eine Erwachsene. In dieser ganz unerwarteten Freude schenkte sie den Schwarzen ein Lächeln, und diese erwiderten es mit einer so offensichtlichen Gutmütigkeit, daß sie das Verlangen verspürte, etwas zu ihnen zu sagen, aber es fiel ihr nichts ein, und sie öffnete errötend den Koffer, den sie soeben auf einen Stuhl gestellt hatten. Nach dem Weinen und Klagen ihrer Mutter während der endlosen Reise hatte die Ankunft in der Neuen Welt, wo ihr fast bei jedem Schritt etwas Unerwartetes begegnete, für sie ganz den Anschein eines Abenteuers.

2

Etwas später wurde in einem kleinen Salon, dessen Wände mit bezaubernden italienischen Landschaftsbildern bemalt waren, eine leichte Abendmahlzeit serviert. Elizabeth blickte entzückt um sich und war fasziniert von den Vulkanen unter dem azurblauen Himmel, den Rebstöcken mit den Traubengirladen, den schweren Heuwagen, die von Ochsen mit übermäßig großen Hörnern durch die Straßen gezogen wurden, wo junge Männer und Mädchen tanzten, während Mrs. Escridge das alles nur eines gleichgültigen Blicks würdigte und dann plötzlich erklärte, sie wolle wieder hinaufgehen und schlafen.

»Soll man Ihnen nicht wenigstens einen kleinen Imbiß auf Ihr Zimmer bringen?« fragte Mr. Hargrove.

Sie lehnte mit einer Handbewegung ab, aber wahrscheinlich schämte sie sich doch ein bißchen, vorhin so unbeherrscht die Nerven verloren zu haben, denn sie gab sich Mühe, liebenswürdig zu erscheinen, und der Schatten eines Lächelns zeigte sich auf ihrem erschöpften Gesicht.

»Die Müdigkeit«, flüsterte sie, »ich bin sterbensmüde, verstehen Sie?«

»Dann werden wir Sie in einem Sessel hinauftragen, Cousine Laura.«

»Nein, danke«, erwiderte sie mit einem Anflug von Stolz, »ich gehe ganz allein.«

»Lassen Sie sich wenigstens von mir nach oben begleiten.«

»Nein«, sagte sie und fügte mit Überwindung hinzu: »Aber ich danke Ihnen für das Anerbieten und … ja … und für alles.«

Als sie fort war, nahm Mr. Hargrove in einem Sessel Platz, nicht weit von dem Tisch, an dem Elizabeth saß. Er hatte das Gefühl, daß sie furchtbar eingeschüchtert war, und das war sie in der Tat, von allem, von ihm zuerst, aber auch von dem Schwarzen in dem weißen Jackett, der hinter ihr stand, von dem funkelnden Silber auf der blendend weißen Tischdecke, den Kerzen in dem kleinen Leuchter an ihrer Seite, sogar von dem Stuhl, auf dem sie saß, mit der hohen Rückenlehne, der ihr den Eindruck gab, eine Königin zu sein.

Mit einem Wink schickte er den Diener hinaus.

»Ich bin nicht unzufrieden, bei dieser Gelegenheit mit Ihnen reden zu können, meine kleine Elizabeth«, begann er in einem feierlichen Ton, der sie vollends in Schrecken versetzte.

»Wenn er bloß nicht diese Koteletten hätte«, dachte sie. Denn von allem, was er sagte, verstand sie nur Bruchstücke: »… Solange es noch warm ist … meine Anwesenheit soll Sie nicht abhalten … heute abend lassen wir Sie in Ruhe … wir alle haben Sie lieb … die Maiskrapfen …«

Hier bedurfte es keiner Erklärungen. Mehrere dieser kleinen goldkrustigen Plätzchen waren bereits vertilgt, und während ihre Ängste allmählich wichen, sah die junge Reisende Mr. Hargrove wie aus einer Wolke treten.

»Wasser«, sagte er gerade. »Wir trinken zum Essen nichts anderes, aber wie wäre es mit diesem kleinen Mandelkuchen …«

Jetzt aß sie ohne Zurückhaltung, und der Kuchen nahm den gleichen Weg wie die Krapfen, aber dann wurde sie plötzlich unruhig, als sie bemerkte, mit welcher Aufmerksamkeit er den Bewegungen ihrer Hände folgte. Die Art, wie sie Gabel und Löffel hielt, wurde diskret begutachtet.

»Vermeiden Sie es, mit den Schwarzen zu sprechen«, fuhr Mr. Hargrove fort, »es sei denn, Sie wollen sie um etwas bitten, das Sie gerade brauchen, und dann müssen Sie immer nett zu ihnen sein. Was ich Ihnen da sage, ist von äußerster Wichtigkeit. Es ist unbedingt notwendig, daß diese Leute Sie mögen. Sie sind Kinder, verstehen Sie? Möchten Sie noch etwas Obst? Eine Orange vielleicht? Nein? Dann werde ich Ihnen jetzt eine gute Nacht wünschen, kleine Elizabeth. Gehen Sie hinauf, ruhen Sie sich aus, und schlafen Sie gut.«

Beide erhoben sich, und wieder beugte er sich über das junge Mädchen, das abermals erschauderte, als es den Kitzel des buschigen Ziergestrüpps seines Barthaars auf seinen Wangen verspürte.

Nur mit einem Laken zugedeckt, da die Nacht warm zu werden versprach, vermochte Elizabeth keinen Schlaf zu finden. Allein der Gesang der Frösche in den Bäumen hätte genügt, sie wach zu halten, aber das Ohr gewöhnte sich daran, und allmählich verschmolz er mit der Stille, deren flüssige Stimme er zu sein schien, wie ein aus Geräuschen gewobener Schleier, der die Nacht umhüllt. Mit offenen Augen lauschte Elizabeth, während sie vor sich hin starrte. Wer weiß, welche Erscheinungen plötzlich auftauchen könnten. Vor allem mußte sie die gespenstische große weiße Fläche der Musselinvorhänge im Auge behalten, die das Fenster verhängte.

Trotz aller Müdigkeit war sie entschlossen, der Schwere der Lider nicht nachzugeben, aber irgendwo in den Tiefen ihres Gehirns verwirrten sich die Dinge. Ein ausgedehnter englischer Rasen grünte plötzlich unter weißen Wolken, und sie hatte den Eindruck, in ein schwarzes Loch zu versinken, kam dann aber wieder zu sich. Jetzt war sie in ihrem Zimmer im fernen Devonshire, die Sonne schien auf ihre Kommode, die Mutter leerte jammernd die Schubladen, und auf einmal verjagten das eintönige Geräusch der Wellen und das Schaukeln des Schiffes diese Bilder. Als sie in die Wirklichkeit zurückkehrte, fürchtete sie vor allem, daß irgend etwas um ihr Bett herumgeistern könnte, sowie sie die Augen geschlossen hätte, und eine Weile leistete sie Widerstand, glitt dann aber, ohne es zu merken, in den Abgrund des Schlafs.

Am Morgen des folgenden Tages wartete sie unentschlossen in diesem Zimmer, aus dem das Licht die Geister gebannt hatte, und traute sich nicht, die Tür zu öffnen. Ein fernes, schrilles und fortwährendes Raunen ertönte von draußen her, aber sie achtete nicht darauf. Sie war früh aufgestanden und wunderte sich, daß sie sich in diesen vier Wänden hatte fürchten können, wo alles ihr zulächelte, wie der märchenhafte, köstliche Schwindelgefühle spendende Schaukelstuhl, die riesigen, in der Nacht so beunruhigend und am Tag so unschuldig wirkenden Musselinvorhänge, und auch der große, goldgerahmte Spiegel, in dem sie sich jetzt sah. Sie fragte sich, was das junge Mädchen im Schottenrock, das ihr entgegenblickte, als nächstes tun solle. Ihre Ungewißheit dauerte nicht lange.

Es klopfte leise an die Tür, und eine junge Frau trat lachend ein.

»Schon fertig? Bin ich zu spät?«

Sie war in weißes Leinen mit blaßrosa Streifen gekleidet und trug ein hellblaues Kleid über dem Arm, das sie sorgfältig auf das Bett legte.

Dann wandte sie sich Elizabeth zu, umarmte sie und sagte:

»Haben Sie keine Angst, ich bin Ihre Cousine Minnie und will Ihnen helfen. Meine arme Elizabeth, Sie werden noch ersticken in dieser dicken Highlandwolle! Hören Sie die Grillen?«

»Die Grillen?«

»Ach, das wissen Sie nicht? Es gibt noch so vieles, das wir Ihnen erklären müssen! Aber, um Himmels willen, ziehen Sie rasch diesen hübschen Rock aus.«

Während sie sprach, lief sie mit einer Lebhaftigkeit hin und her, die Elizabeth ein bißchen verwirrte, aber ihre Bewegungen waren anmutig, und ihre schwarzen, vor Fröhlichkeit strahlenden Augen schienen riesig in dem kleinen, noch kindlichen Gesicht, dessen blasser, bräunlicher Teint auf eine Empfindlichkeit der Leber schließen ließ. Wenn sie lächelte, was sie häufig tat, zeigte sie blendend weiße Zähne, auf die sie offenbar sehr stolz war. Das zurückgekämmte Haar beschwerte den Nacken mit einem dunklen, rötlich schimmernden Dutt.

Sie half Elizabeth beim Ablegen ihres Rocks und beim Anziehen des blaßblauen Kleides, das sich über der Brust als eine Idee zu weit erwies, was jedoch mit ein paar Nadelstichen behoben werden könnte, zumal es unter den zahlreichen Bewohnern des Hauses eine ausgezeichnete Schneiderin gab, Mademoiselle Souligou Trottereau, eine alte französische Mulattin, die ihre Muttersprache nie vergessen hatte.

»Sie werden sehen«, sagte sie, während sie an den Falten des Kleides zog und sie dann wieder, wie um sie zu trösten, glattklopfte, »wir haben hier eine Welt im Kleinen. Zuerst die Familie; ganz oben Mr. Hargrove, oder besser Onkel Hargrove, weil er darauf besteht, von den Jungen so genannt zu werden. Er ist sehr gütig, darüber herrscht Einigkeit. Dann seine beiden Söhne, die Brüder meines Vaters, der nicht mehr da ist, und Tante Laura. Es sind Joshua, genannt Onkel Josh, und Douglas, Onkel Douglas, der Älteste — bitte drehen Sie sich —, beide verheiratet, und das führt — aber so drehen Sie sich doch — zu einem ganzen Regiment von jüngeren Vettern und Cousinen, und der letzte Kleine, Mike, ist der Schrecken der Damen, die ihn wie den Teufel fliehen, weil er immer ganz schwarze Hände hat. Es ist ein ziemliches Durcheinander, und zuerst wird es Sie ein bißchen verwirren, denn immer wieder kommt noch jemand dazu, der nicht vorgesehen ist. Ich jedenfalls bin Ihre Cousine Minnie. Schließlich gibt es noch die Sklaven, aber man nennt sie Diener, vergessen Sie das nicht. Das Kleid gehörte Ihrer Cousine Mildred, die etwas größer ist als Sie. Fühlen Sie sich nicht besser? Natürlich, und jetzt schauen Sie in den Spiegel, aber schnell, denn es ist fast Zeit, und wenn wir Onkel Hargrove warten lassen, gibt es ein Donnerwetter.«

Der Raum, in dem das Frühstück eingenommen wurde, war viel kleiner, als man erwartet hätte, aber das Haus, das aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stammte, war nicht dazu erbaut, so viele Menschen zu beherbergen. Doch es zeichnete sich durch so schöne und angemessene Proportionen aus, daß William Hargrove, ein Mann von sicherem Geschmack, sich weigerte, es durch den Anbau eines Flügels zu verschandeln. Folglich drängten sich fünfzehn Personen, Mr. Hargrove ausgenommen, um einen langen und schmalen Tisch, als Elizabeth mit Cousine Minnie eintrat.

»Entschuldigen Sie bitte die Verspätung«, sagte diese. »Ich habe Elizabeth eins von Mildreds Kleidern gegeben, weil es heute sehr warm werden wird.«

»Ich erlasse Ihnen eine Erklärung, die nicht verlangt worden ist«, erwiderte Mr. Hargrove mit erhabener Miene. »Nein«, fügte er hinzu, »setzen Sie Elizabeth nicht dorthin. Heute wird mein kleines Veilchen aus England zu meiner Rechten frühstücken.«

Dieser Platz war in der Tat noch frei. Rot vor Verwirrung schlich sich das Veilchen aus England dorthin, bemüht, nicht die Wände zu streifen, die mit prunkvollen Szenen und mysteriösen Personen bemalt waren. Aufs neue zog sich ihr Herz vor Schrecken zusammen, als sie sich an einer Ecke des Tisches wiederfand, dessen Schmalseite in ihrer ganzen Breite dem Herrn der Plantage zustand. Als sie so dicht neben ihm saß, kam er ihr vor wie eine riesige Masse aus schwarzer Tussahseide, der Ausdünstungen von Kölnisch Wasser entströmten.

Nachdem er einen langen Blick durch den ganzen Raum hatte schweifen lassen, erhob er sich langsam und feierlich, während alle Anwesenden in einer gleichförmigen Bewegung ihre Nasen über die Teller senkten. Dann begann er mit einer Stimme, die nicht seine gewöhnliche Stimme war, sondern aus einer fernen Kathedrale zu kommen schien, mit einer Fülle dumpfer und tiefer Modulationen, das übliche Tischgebet zu sprechen, dem er eine Reihe persönlicher und besonderer Bitten hinzufügte. Es war lang, inhaltsreich und vollständig. Nichts wurde ausgelassen, weder die Gunst eines Tages, der schön zu werden versprach, noch das Wohlbefinden der Bewohner der Plantage, das gute Betragen der Dienerschaft, der Wohlstand des Landes oder die Weisheit der Regierung, und er vergaß auch nicht — doch hier wurde der Ton vertraulicher —, Gottes Segen für die allergnädigste Majestät jenseits des Ozeans zu erbitten, den König, zu dessen Untertanen sich Mr. Hargrove zählte, sowie die allerliebste Kleine, im Hort der Familie Neuangekommene, und ihre liebe Mutter, die wegen eines leichten Unwohlseins auf ihrem Zimmer geblieben war. Ein allgemein gemurmeltes Amen beschloß diese Rede, durch die er wie durch ein gütliches Einvernehmen mit dem Himmel alles auf der gesamten Erdkugel ins Lot gebracht zu haben schien.

Inzwischen wurden die köstlichen kleinen Roggenkrapfen kalt, und die Butter schmolz in den hübschen Untertassen aus englischem Porzellan. So setzte eine Art von höflichem Massenangriff auf alles schicklicherweise Verzehrbare ein. Die silbernen Kaffeekannen schienen in den weiß behandschuhten Fäusten der Diener durch die Lüfte zu fliegen, welche sich bis dahin reglos wie Standbilder verhalten hatten und jetzt eifrig um den Tisch liefen. Die massive Teekanne beherrschte allein den Mr. Hargrove vorbehaltenen Teil der Tafel, und er ließ sich seine Eier mit Speck schmecken, trank seinen Lipton Tea, zufrieden mit sich selbst und allem Anschein nach auch zufrieden mit Gott, denn nach einer Weile lächelte er breit, während er sich den Schnurrbart wischte.

»Ihre liebe Mama erholt sich von den Mühen einer langen Reise«, sagte er schließlich, den Kopf leicht zu Elizabeth gewandt. »Oh, machen Sie sich keine Sorgen. Morgen früh werden Sie unter den jungen Leuten Ihres Alters sitzen. Das wird amüsanter für Sie sein. Aber heute wollen wir uns besser kennenlernen, nicht wahr?«

»Ja«, hauchte sie.

»Ja, wer?«

»Ja, Mr. Hargrove.«

»Oh, nein, mein hübsches Kind. Ja, Onkel Will. Sagen Sie es laut, damit ich es höre.«

»Ja, Onkel Will.«

»Das ist schon besser, aber wir werden noch Fortschritte machen. Ihr lieber Papa hat Ihnen bestimmt von seinem Onkel Will erzählt, von Onkel Hargrove.«

Sie schwieg.

»Nun, nun, Sie sind noch ein bißchen schüchtern, mein kleines Veilchen aus England. Und dann glaube ich, daß Sie ein wenig Angst vor mir haben, nicht wahr? Schade.«

In diesem Augenblick trat ein Diener zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Gut«, sagte Mr. Hargrove leise zu ihm, »benachrichtigen Sie Miss Llewelyn, die sich um sie kümmern wird, und ich wünsche, daß es ihr an nichts fehlt.«

Keines seiner Worte war Tante Laura, Mr. Hargroves Tochter, entgangen. Sie saß zu seiner Linken, weil Elizabeth, ohne es zu wollen, ihren angestammten Platz eingenommen hatte. In aufrechter und aufmerksamer Haltung knabberte sie an kleinen gerösteten Brotschnitten, die sie, kaum angebissen, auf ihren Teller legte. Ihre vierzig Jahre schienen dem Gesicht von klassischer Schönheit nichts angehabt zu haben, trotz der ein wenig länglichen Wangen, einem Schönheitsfehler, den jedoch der eigenartige Charme ihrer blaßblauen Augen wettmachte, deren Sanftmut etwas Ergreifendes hatte, denn sie schienen irgendwo fern in der Welt der Erinnerung ein Schauspiel von herzbewegender Melancholie zu betrachten.

Ihre Ernsthaftigkeit und ihr Schweigen standen in krassem Gegensatz zu der Fröhlichkeit der beiden Söhne Mr. Hargroves, die sich in ironischen Bemerkungen über eine kleine Wahlkampagne der Gegend ausließen, der keiner der beiden Wichtigkeit beizumessen schien. Man merkte ihnen an, daß sie von Natur aus politischen Dingen gegenüber gleichgültig waren, während die Beredsamkeit ihres Vaters sich ins Grandiose steigerte, sowie die Probleme schwieriger wurden.

Was die Frauen dieser beiden zu spaßhaften Ansichten neigenden Brüder betraf, so tauschten sie, ohne Gefahr zu laufen, daß man sie hörte, inmitten des allgemeines Lärms ihre Eindrücke bezüglich Elizabeth aus, die sie »bezaubernd britisch« und auch sonst ganz reizend fanden. Im Flüsterton, den sie für diskret hielten, rätselten sie dann über Mrs. Escridges Charakter, deren Psychologie ihnen viel verwirrender und dadurch faszinierend erschien. Das Wort Hysterie schwebte ihnen auf den Lippen, um dann in der Annäherung der einander zugewandten geschwätzigen Profile so vertraulich wie möglich hervorgestoßen zu werden. Emma, die erregtere der beiden Damen, war auch die hübschere. In ihren feinen Zügen und dem vollkommenen Oval ihres Gesichts bewahrte sie trotz ihrer fast vierzig Jahre etwas von der Anmut der jungen Frauen des Südens. Unter dem verlängerten Bogen ihrer mit dem Pinsel nachgestrichenen Brauen flammten verhaltene Leidenschaften in den tiefschwarzen Augen, und der kleine Schmollmund zeugte noch von kindlicher Naschhaftigkeit.

Ihre etwas ältere Gesprächspartnerin machte, wenn man so sagen kann, ihren Nachteil durch ihre natürlich majestätische Haltung wett, die ihr auf immer Schutz vor männlichen Begierden sicherte. Bei ihrem Anblick stellte sich das Wort »vornehm« wie von selbst ein, und schon deshalb war sie zu einem ruhigeren Dasein bestimmt als ihre Nachbarin, die wie dazu geschaffen schien, Unruhe in den Herzen zu stiften. In der Tat verlieh die starke Nase Tante Augusta ein Profil, das man übereinstimmend als königlich bezeichnete, und dieser Eindruck fand eine zusätzliche Bestätigung durch den stolzen Blick ihrer herrlich grünen Augen, die wie die eines Adlers nur selten blinzelten.

»Ich will ja nicht leugnen, daß sie aus einer guten Familie stammt«, beteuerte Emma, »aber sie läßt es uns auch keine Minute vergessen.«

»Es ist wahr, daß sie es, ohne ein Wort zu sagen, mit ihrem großartigen Gehabe zu verstehen gibt …«

»… indem sie uns eine aristokratische Nervenkrise vorspielt«, zwitscherte der kleine Kirschenmund.

Der Raubvogel unterdrückte einen Aufschrei.

»Reines Theater. Ich kenne ihr Vorleben, aber reden wir leiser. Mir scheint, wir werden belauscht.«

»Das soll mir nur recht sein«, rief Emma. »Ich habe Cousine Laura sehr gern, aber sie tut mir leid. Sie ist so unglücklich …«

»So erschöpft von dieser beschwerlichen Seereise …«

»So seelenwund und zerrissen durch diesen Abschied vom Heimatland.«

Das Echo dieser Klagen drang bis an die Ohren Billys, der der jüngere von Onkel Douglas’ beiden Söhnen war. Der große, fünfzehnjährige, rotbackige Junge strich sich mit der Hand eine braune Haarsträhne aus der Stirn und tat seine Meinung kund:

»Die beiden werden sich schon eingewöhnen. Schließlich sind sie hier ebensogut aufgehoben wie dort.«

»Junger Mann«, sprach Augusta, »Sie reden ohne zu wissen, was der Reiz der alten Heimat bedeutet.«

»Ach, meine alte Heimat ist es jedenfalls nicht«, erwiderte Billy und schob energisch die widerspenstige Strähne zurück.

»Eines Tages werden Sie Ihre Ansichten ändern und das Land als Tourist besuchen.«

»Ich? Niemals, Tante Augusta! Kein Interesse.«

Und mit einer Handbewegung, die sowohl der lästigen Strähne als England galt, unterstrich er seine Worte.

Emma schenkte ihm ein betörendes Lächeln.

»Hoffentlich werden Sie wenigstens zu Elizabeth etwas freundlicher sein.«

»Die Kleine da drüben? Die könnte mal ganz hübsch werden. Wenn sie größer ist, werde ich sie schon trösten.«

»Pfui, schämen Sie sich!« rief Emma lachend. »Sie verdienen es fast, daß ich einmal mit Ihrem Vater rede.«

Augustas harte Stimme durchschnitt die Luft:

»Die Peitsche verdient er!«

»Ich bitte um Verzeihung, Tante Augusta, aber es gibt keine Peitsche auf der Plantage«, erwiderte Billy in gespielt belehrendem Ton.

Augusta warf einen Märtyrerblick zur Decke und wandte sich ostentativ ab.

»Denen habe ich aber ganz schön das Maul gestopft. Da staunst du, was?« flüsterte Billy seinem Tischnachbarn ins Ohr.

Dieser, ein bißchen weniger rosig, weniger angenehm anzuschauen, jedoch ernsthafter, beschränkte seine Antwort auf ein Lächeln. Zwischen den beiden Brüdern herrschte eine natürliche Komplizität mit ihren eigenen Gesetzen, Gewohnheiten und Verboten. Im Gegensatz zu dem frivolen Billy nahm Fred alles ernst, besonders seine Rolle des Älteren. Eine sich anbahnende Neigung zum Embonpoint rundete die untere Hälfte seines sonst schmalen und mattbleichen Gesichts mit energischen Zügen, einer starken Nase, schmalen Lippen und einem eigensinnigen Kinn. Die Augen ließen Intelligenz erkennen, jedoch keinerlei Zartgefühl.

»An deiner Stelle«, sagte er schließlich mit ruhiger Stimme, »würde ich mich in meiner Ausdrucksweise zurückhalten. Sonst setzt du dich einer kleinen Predigt Onkel Wills über die hochheilige Höflichkeit des Südens aus. Cousine Augusta ist nachtragend und petzt gern.«

»Ach was«, sagte Billy lachend, »hast du nicht auch manchmal genug davon, den Gentleman aus dem Süden mit seinen eingefleischten guten Manieren zu spielen?«

»Nein.«

»Wieso nein?«

»Weil es nun einmal so ist.«

»Na schön. Ich will mich nicht streiten, aber ich habe oft von dem freien Tomo Tschi-Tschi geträumt, der Savannah unter seinen Schutz nahm. Es hätte mir Spaß gemacht, indianisches Blut in meinen Adern zu haben.«

»Oder schwarzes vielleicht.«

»Das ist überhaupt nicht das gleiche. Falls du das für witzig hältst … Reich mir mal den Marmeladentopf rüber.«

Fred gehorchte sogleich.

»Siehst du, hier ist der Georgia-Sirup, und jetzt kann ich mit meinem kleinen Bruder Frieden schließen, wie Tomo Tschi Tschi mit Savannah. Und wenn ich Tomo Tschi Tschi II. wäre, würde ich der Squaw Augusta, die mir auf dem Kriegspfad zu sein scheint, ein nettes Lächeln schenken und ein kleines Kompliment machen.«

»Lieber sterbe ich.«

Als ob sie verstanden hätte, was sich die beiden Jungen zuflüsterten, strafte Augusta sie mit einem vernichtenden Blick und wandte ihnen dann wieder den Rücken zu.

»Ich könnte wetten, daß sie im voraus für eins dieser vom Essen erregten Mädchen zittert«, raunte Billy seinem Bruder zu. »Schau doch nur, wie sie bei ihrem Geflüster auf den Stühlen zappeln … Ich frage mich, durch welches Wunder sie es fertiggebracht hat, die allerliebste kleine Cousine auf die Welt zu bringen, denn die Mama ist wirklich keine Venus.«

»Dafür ist sie majestätisch.«

»Glaubst du, daß Majestät die Männer anzieht?«

»Billy, du denkst zuviel an diese Dinge. Du hast Feuer in den Adern.«

»Das Feuer gebe ich zu, aber nicht das übrige.«

Die erwähnten jungen Mädchen waren drei an der Zahl, und an ihrer Lebensfreude gab es keinen Zweifel. Wie um an dem Fest teilzunehmen, hüpften ihre Locken um die kleinen schwatzhaften und anmutigen Köpfe. Die blonde Mildred, Augustas und Onkel Joshs Tochter, zeichnete sich durch den entschlossenen Ton ihrer schrillen Stimme und die angriffslustige Selbstsicherheit ihrer vergißmeinnichtblauen Augen aus. Billy fand sie am interessantesten, aber die beiden anderen wetteiferten an Frische, und er erklärte, daß sie in einigen Jahren ganz annehmbar sein könnten.

Plötzlich ertönte Mr. Hargroves Baßstimme, und alle verstummten.

»Ihr jungen Damen dort«, begann er, »scheint zu vergessen, daß man Kinder bei Tisch sehen, aber nicht hören soll, auch nicht flüstern. Dieser kleine Verstoß gegen die Regeln wird sich nicht wiederholen, so wahr ich William Hargrove heiße, aber heute ist ein besonderer Tag. Wir begrüßen eure Cousine aus Übersee. Zeigt ihr ein bißchen die Umgebung des Hauses und denkt dabei an die Gesetze der Gastfreundschaft des Südens.«

Mit der Gemächlichkeit, die einen Teil seiner Persönlichkeit ausmachte, erhob er sich dann und sprach ein Dankgebet, dessen Kürze allen wohltat, denn eine an den Herrn da droben gerichtete Rede blieb immer zu befürchten.

Man stand auf, die Stühle scharrten auf dem Marmorfußboden, und dann trennten sich alle in einem leisen und trägen Stimmengewirr, das Elizabeth mit Vergnügen vernahm, weil es ihr beruhigend erschien. An die härtere und nachdrücklichere Aussprache ihres Heimatlands gewöhnt, mußte sie über die hiesige etwas schleppende und singende Sprechweise lächeln. So folgte sie ihren neuen Gefährtinnen in ihren leichten blaßblauen oder weißen Kleidern, und obwohl Elizabeth ein wenig befangen war, bewegte sie sich doch recht anmutig in dem ihren, das noch einiger Änderungen bedurfte, und sie schlenderten dahin, nicht ahnend, daß sie vier spazierenden Blumen glichen, bis sie zur Einfahrt der großen Allee gelangten.

Hier verlor sich der Blick zwischen den zwei Reihen riesiger Eichen, deren höchste Äste sich wie ein Gewölbe zusammenfügten. Da und dort drangen vereinzelte Sonnenstrahlen durch das dunkle Grün und warfen goldene Tupfen auf die graue Erde, wie um die unglaubliche Länge dieses Tunnels auszumessen, dessen Ende die verwunderte kleine Engländerin vergeblich auszumachen suchte. Es war wie der Traum eines Spaziergangs bis ans Ende der Welt. Man konnte tagelang unter dem Schutz des fast reglosen Laubs wandern. Zwischen ihr und dieser Dichte, in der sich unmerklich das Leben regte, zwischen diesen gewaltigen Stämmen und der kleinen Fremden bestand eine geheimnisvolle Affinität, die sie im tiefsten Grunde ihres Herzens fühlte, ohne sie sich erklären zu können.

Eine Viertelstunde lang spazierten sie unter den Bäumen, schwatzten alle zugleich, doch Mildreds Stimme hatte mehr Autorität als die ihrer Cousinen.

»Es ist die schönste Allee der Gegend. Onkel Will hat alles Moos ausreißen lassen, damit es genau wie eine englische Allee aussieht.«

»Aber wir haben auch Moos in England«, entgegnete Elizabeth lebhaft, »und sogar sehr schönes, es ist wie Samt.«

Dieser Einwand wurde mit Gelächter aufgenommen.

»Unser Moos ist ganz anders als bei euch. Du wirst es übrigens sehen.«

Als sie an einen Pfad gelangten, der von der Allee in die Wiesen abzweigte, blieben sie wie zu ihrem Bedauern stehen.

»Hier dürfen wir nicht weitergehen, es ist verboten«, sagte Susanna.

»Weil dieser kleine Weg über die ganze Wiese in den Wald führt.«

»Und niemand geht in den Wald«, flötete Hildas schüchternes Stimmchen, die ganz rot wurde, als ob sie ein Geheimnis verraten hätte.

Mildred erklärte in belehrendem Ton:

»Niemand, außer Onkel Will, allein oder mit Miss Llewelyn. Er zu Pferde und sie in ihrem kleinen Eselwagen. Miss Llewelyn hat Angst vor Pferden. Aber sie gehen nicht oft dorthin.« Einige Sekunden herrschte Schweigen, als wenn sich etwas Mysteriöses ereignet hätte, und dann fuhr Mildred fort:

»Wenn du genau nach rechts schaust, kannst du den Wald sehen; er ist ganz grau und fast ohne Laub.«

»Man nennt ihn den verfluchten Wald«, platzte Hilda plötzlich heraus, die sich nicht länger zurückhalten konnte.

»Du tätest besser daran, den Mund zu halten«, schalt Mildred sie.

»Warum verflucht?« wollte Elizabeth wissen.

Mildred erteilte ihr sogleich die gereizte Antwort:

»Die Schwarzen nennen ihn so, kein Mensch weiß, warum, und Onkel Will hat es nicht gern, daß man darüber spricht. Gehen wir zum Haus zurück, ja, Elizabeth?«

Langsam traten sie den Rückweg an, weniger gesprächig als beim Hinweg, denn die Hitze wurde drückend. Vögel riefen von weit her einander zu, und der Raum zwischen Frage und Antwort verlieh ihren Stimmen eine leichte Melancholie.

Und dann stieg plötzlich der rächende Schrei der Grillen zum blaßblauen Himmel auf.

Hilda seufzte und faßte Elizabeths Hand.

»Sie hätten früher kommen sollen«, sagte sie. »Vor drei Wochen waren die Tage noch so frisch.«

»Seit gestern nacht sind sie da«, sagte Mildred. »Ich habe sie heute früh am Morgen gehört, aber bei Sonnenuntergang werden sie ein bißchen ruhiger sein. So ist es überall im Süden, und Sie werden sich daran gewöhnen.«

»Man wird uns alle Eissorten servieren«, verkündete Hilda.

»Ich mag am liebsten Pistazieneis. Und Sie, Elizabeth?«

Elizabeth antwortete vage, sie wisse es nicht. Je mehr sie sich der Plantage näherte, desto aufmerksamer betrachtete sie das Haus, das sie bisher zu sehr aus der Nähe gesehen hatte, um einen Gesamteindruck zu gewinnen, und jetzt, vom Ende der Allee aus, erschien es ihr von märchenhafter Anmut. Zuerst wirkte es fast winzig zwischen den Platanen links und rechts, die es um das Doppelte überragten und deren gewaltige Äste das Dach streiften, doch wenn man näher kam, wurde es von Minute zu Minute größer und enthüllte dem Blick die ganze Schönheit seiner vollkommenen Ebenmäßigkeit. Es war weiß und bestand aus einem einzigen kubischen Gebäude, das von zwei Veranden umgeben war: eine umschloß das Erdgeschoß, während die andere, auf zierliche Säulen mit griechischen Kapitellen gestützt, um die obere Etage lief.

Noch nie hatte Elizabeth ein solches Haus gesehen, und in ihre Bewunderung mischte sich ein undeutliches Gefühl, das sie sich nicht eingestand. Susanna mit den pechschwarzen Locken, die am wenigsten geschwätzige ihrer Gefährtinnen, näherte sich der jungen Fremden. Schlank und hochgewachsen, beobachtete sie Menschen und Dinge mit einer Ernsthaftigkeit, die ihrem Alter nicht entsprach, und ihre tiefschwarzen Augen schienen fast immer unbewegt.

»Sind Sie zufrieden, Elizabeth?« fragte sie leise.

Die Antwort ließ etwas auf sich warten. »Nun … ja.«

»Zufrieden und gleichzeitig ein wenig beunruhigt, nicht wahr?«

»Ach, alles ist so anders … Aber ich werde mich schon daran gewöhnen.«

»Wir haben Sie alle sehr gern … Falls Sie Schwierigkeiten haben, sagen Sie es mir. Wie ich hörte, soll Mademoiselle Souligou heute nachmittag kommen, um Ihr Kleid zu richten, und wenn es soweit ist, wird man Ihnen Savannah zeigen.«

»Mademoiselle Souligou?«

»Ja, die Schneiderin, eine sehr nette alte Mulattin.«

»Die Souligou ist eine Hexe«, unterbrach sie die selbstbewußte Mildred, die die letzten Worte gehört hatte. »Alle Frauen von den Antillen sind Hexen.«