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Prof. Dr. Stefan Weinfurter

Vier Vorlesungen zur Geschichte des Mittelalters

DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH DEUTSCHER NATION IM MITTELALTER

CANOSSA – DIE ENTZAUBERUNG DER WELT

KAISER FRIEDRICH BARBAROSSA UND DAS HEILIGE REICH

DER STAUFER-KAISER FRIEDRICH II. UND SEINE ZEIT

GESCHICHTE /
MITTELALTER

© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH

2011, München/Grünwald

www.komplett-media.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de

Inhaltsverzeichnis

I. Das heilige Römische Reich deutscher Nation im Mittelalter

1. Das Reich

2. Römisches Reich

3. Das Heilige Reich

4. Die deutsche Nation

5. Literaturhinweise

II. Canossa. Die Entzauberung der „Welt“

1. Die Hierarchie des Gehorsams

2. Der Kampf zwischen den Guten und den Bösen

3. Die Definition des Weltlichen

4. Literaturhinweise

III. Kaiser Friedrich Barbarossa und das Heilige Reich

1. Der Mythos Barbarossa

2. Aufbruch und Ehre des Reiches

3. Das neue Programm der Heiligkeit

4. Barbarossas Scheitern in Italien

5. Der Sturz Heinrichs des Löwen

6. Weltkaisertum und Kreuzzugstragik

7. Literaturhinweise

IV. Der Stauferkaiser Friedrich II. und seine Zeit

1. Das „Staunen der Welt“

2. Kreuzzug als „Leitidee“ der Epoche

3. Fürstenherrschaft, Macht und Geld

4. Das Königreich Sizilien und die Strenge des Gesetzes

5. Alternative Lebensentwürfe und die Kraft des Fegefeuers

6. Der „Hammer der Welt“

7. Literaturhinweise

Verzeichnis der Vorlesungen bei UNI AUDITORIUM Geschichte des Mittelalters

DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH DEUTSCHER NATION IM MITTELALTER

In einem Zeitraum von 1000 Jahren bildete sich das Reich heraus, das am Ende des Mittelalters den Titel „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ trug.

Aus dem fränkischen Reich der Merowinger und Karolinger löste sich allmählich ein politisches Gebilde heraus, das die Grundlagen für das spätere Deutschland darstellen sollte.

Was waren die entscheidenden Wendepunkte dieser Entwicklung, welche Rolle spielten Kaiser und Papst dabei, weshalb wurde dieses Reich „römisch“ und dann auch noch „heilig“ genannt, bevor es ganz am Ende auch noch „deutsch“ wurde?

Eine dramatische Epoche voller Dynamik, tief greifenden Veränderungen und dem Ringen um Macht zwischen Fürsten, Königen, Kaisern und Päpsten.

I. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation im Mittelalter

Vor mehr als zwei Jahrhunderten, 1806, ging das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu Ende. Der habsburgische Kaiser Franz II. legte die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches nieder. Ein politisches Gebilde von ganz eigener und besonderer Art ging damit unter, ein Reich, das fast 1000 Jahre Bestand gehabt hatte. Diese Auflösung hatte viele Gründe.

Der Nationalstaat war im Begriff, sich allerorten durchzusetzen. Die Aufklärung trieb die Säkularisation der geistlichen Fürstentümer voran. Vor allem aber war es die Neugestaltung Europas, die durch Napoleon vorgenommen wurde.

Für den Rheinländer Joseph Görres war das Alte Reich schon 1797 mit der Eroberung der Stadt Mainz durch die Franzosen ins Herz getroffen. Am 7. Januar 1798 schrieb er seine „Rede auf den Untergang des Heiligen Römischen Reiches“ und schloss sie mit den Versen:

„Von der Sense des Todes gemäht,

atemlos und bleich,

Liegt hier das heilige römische Reich.

Wandrer, schleiche dich leise vorbey,

du mögest es wecken,

(…).

Ach! Wären die Franzosen nicht gewesen,

Es würde nicht unter diesem Steine verwesen.“

Requiescat in Pace.“

Aber so rasch verschwindet eine über 1000 Jahre gewachsene politische und gesellschaftliche Ordnung nun doch nicht. Vieles, was das Heilige Römische Reich ausgemacht hat, wirkt bis heute nach. Am deutlichsten wird das am föderativen Prinzip unserer modernen Staatsordnung. Aber auch im kulturellen Bereich, in der Gestalt unserer Städte, Dörfer, Klöster, Kirchen, Burgen und Schlösser haben sich wesentliche Inhalte dessen, was das Heilige Römische Reich ausgemacht hat, erhalten.

Die folgenden Ausführungen wollen ein Bild davon vermitteln, wie sich dieses Reich in verschiedenen Etappen herausgebildet hat, und der Frage nachgehen, wie die einzelnen Bestandteile des Reichstitels zustande kamen und was sie bedeuteten: „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“. Ich beginne mit

1. Das Reich

Am Anfang war das Reich – könnte man denken. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Eine von der Ausdehnung her gesehen feste Größe eines Reichs gab es nie. Und außerdem: Von welchem Reich sprechen wir eigentlich?

Am Anfang stand jedenfalls nicht ein deutsches Reich, sondern ein Reich der Franken, ein regnum Francorum. Es waren kleine fränkische Volksgruppen, die sich am Niederrhein und am Mittelrhein niedergelassen hatten und im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus in den Raum zwischen Aachen und Paris, also in das alte Römische Reich, einsickerten. Ich verwende das Wort „einsickern“, weil man gar nicht genau weiß, wie dieser Prozess vor sich ging. Es war die Zeit des Zerfalls des West-Römischen Reichs.

Dennoch war es keineswegs so, als hätten die Franken nun Teile des Römischen Reichs einfach erobert. Vielmehr wurden sie als besonders gute Krieger im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus in die Römischen Legionen eingegliedert. Sie bewährten sich so gut, dass sie Schritt um Schritt das Kommando übernahmen. Es handelte sich also um einen Integrationsprozess auf dem Wege militärischer Leistungen. Am Anfang des Reichs, so könnte man sagen, standen Kriegertum und militärische Bewährung.

Aber die Franken waren nicht sehr zahlreich. Man schätzt, dass es vielleicht 10000 oder 20000 kampffähige Männer waren, doch das ist reine Spekulation. Sie waren jedenfalls so wenige, dass sie in den gallo-römischen Regionen noch nicht einmal in der Lage waren, die Sprache der Bevölkerung zu beeinflussen. Aber sie übernahmen die politische Führung.

Dabei setzte sich die Familie der Merowinger gegen Ende des 5. Jahrhunderts an die Spitze. Einer aus dieser Familie mit dem Namen Chlodwig zeigte sich besonders durchsetzungsstark. Planmäßig brachte er alle anderen männlichen Mitglieder seiner Familie um, bis er als einziger übrig blieb. In einer Chronik aus dieser Zeit heißt es, er habe manchmal bitterlich Tränen vergossen, weil es nun niemanden mehr gab, den er noch hätte umbringen lassen können.

Dieser Chlodwig glaubte bald zu erkennen, dass er sich auf den christlichen Gott als Sieghelfer verlassen könne. Als er die Westgoten, die ganz Südfrankreich ihrer Herrschaft unterworfen hatten, angreifen wollte, befragte er den heiligen Martin an dessen Grab in Tours, ob er denn nun losschlagen könne. Als seine Boten die Kirche betraten, hörten sie, wie der Priester gerade den Psalm 18 anstimmte: „Herr, Du wirst Deine Feinde zu Staub zermalmen und in alle Winde zerstreuen.“ Das klang gut, und diese Worte nahmen die Boten als Orakelspruch mit in das Zelt ihres Kriegsherrn. Daraufhin erteilte dieser den Marschbefehl. Die Westgoten wurden in der Tat vernichtend und für immer geschlagen.

Schon vorher, um 500, hatte sich Chlodwig in Reims taufen lassen und den christlichen Glauben angenommen. Seit seinen großen militärischen Erfolgen verehrte er vor allem den heiligen Martin, und überall, wo die Franken siegreich ihre Lanze in den Boden stießen, übernahm der heilige Martin die Regie in den wichtigsten Kirchen. Die Bischofskirche von Mainz, auf deren Dachfirst der heilige Martin noch heute hoch zu Pferde zu sehen ist, kann als Beispiel dafür genannt werden.

Chlodwig und seine Nachfolger ließen den halben Mantel von Martin ständig am Königshof mitführen. Der Mantel heißt lateinisch cappa, und deshalb nannte man die geistlichen Bewacher dieser cappa die Kapläne.

Diese Vorgänge hatten gewaltige Konsequenzen für die ganze Geschichte Europas. Denn damit war die Grundlage dafür geschaffen, dass sich die neue politische und kriegerische Führung mit der alten römischen und christlichen Bevölkerung mit ihren christlich-antiken Wertekategorien und mit wesentlichen Teilen ihrer Kulturgüter vereinigen konnte. Nun konnte ein Volk der Franken entstehen, ein populus Francorum, das sich aus Galliern, Kelten, Römern, Goten, Burgundern – und auch aus Franken selbst zusammensetzte.

Dieses Reich, das durch militärische Eroberungen in Westeuropa immer größer wurde, zusammenzuhalten, war allerdings ein schwieriges Unterfangen. Die alten römischen Einrichtungen, die Straßen und Militärstützpunkte, die Stadt- und Provinzverwaltungen funktionierten noch eine ganze Weile, aber mit der Zeit machten sich einzelne Provinzfürsten oder Bischöfe immer selbständiger.

Die Zentrale des fränkischen Reichs brauchte eine Erneuerung, und diese ging schließlich von der Familie der Karolinger aus. Diese Familie mit ihrem Besitzzentrum in und um Aachen hatte schon längere Zeit das Amt des fränkischen Hausmeiers inne. Das bedeutete ganz einfach: Sie besaßen den Oberbefehl über den Königshof und über das fränkische Kriegerheer. Mit Pippin dem Jüngeren übernahmen sie 751 die Königsgewalt. Wieder ging die Erneuerung vom Militärwesen aus, so könnte man sagen.

Die wirkmächtigste Gestalt dieser karolingischen Erneuerung war Karl der Große, der von 768 bis 814, also ein halbes Jahrhundert lang, regierte. Was hat ihn groß gemacht, was waren seine Leistungen?

Karl der Große war, das verwundert uns jetzt nicht mehr, in erster Linie ein ausgezeichneter und höchst erfolgreicher Kriegsführer. Seine erste Devise lautete daher: Das Reich kann nur zusammengehalten werden, wenn seine fränkischen Krieger in ihrem Überlegenheitsgefühl durch ständige Kriegserfolge immer wieder bestätigt werden. Dann gab es Beute zu verteilen, alle konnten große Geschichten von ihrer Tapferkeit verbreiten, überall kehrte Zufriedenheit ein und alle wollten Franken sein. Das Motto lautete also: Integration des fränkischen Reichs durch regelmäßige kriegerische Überfälle auf die Nachbarvölker.

Aber ganz so einfach war das auch wieder nicht. Die Überfälle mussten eine moralische Rechtfertigung vorweisen. Sie mussten also einer höheren Idee untergeordnet sein. Diese moralische Rechtfertigung lieferte die christliche Religion.

Hier muss man sogleich hinzufügen, dass die christliche Religion nicht nur eine Sache des Glaubens war. Von ihr wurde vielmehr die gesamte gesellschaftliche, moralische und kulturelle Werteordnung bestimmt.

Wenn also Karl der Große und seine Krieger das Christentum gewaltsam in die Nachbarvölker einpflanzten, dann taten sie das in der Überzeugung, damit die bestmögliche Lebens- und Gesellschaftsordnung ihrer Zeit zu verbreiten und durchzusetzen. Wenn man sich diese Zusammenhänge vor Augen führt, ist leicht zu erkennen, dass sich ganz ähnliche Prozesse in der Geschichte ständig wiederholt haben – bis zum heutigen Tag.

Es ging und geht immer auch um die Frage, wer das Gute und wer das Böse vertritt. Die Franken standen für das Gute, da gab es für sie keinen Zweifel. Sie sahen sich als das von Gott auserwählte Volk, dessen Pflicht es sei, den anderen Völkern die Werte der christlichen Lebensordnung aufzuzwingen.

Damit hängt die zweite Devise in der Herrschaft Karls des Großen zusammen. Sie lautete: Durchsetzung des Christentums als gottgewollte, bestmögliche Gesellschaftsordnung nicht nur im Reich der Franken, sondern auch in der gesamten, erreichbaren Welt.

Diese Grundkonzeption in der Herrschaft Karls des Großen hatte erhebliche Konsequenzen für die künftige kulturelle und politische Gestalt Europas. Das Christentum wurde als eine Art Grundgesetz für die gesamte Lebensordnung im fränkischen Reich systematisch verbreitet und umgesetzt. Um dies zu erreichen, wurde ein Kirchensystem mit Erzbistümern und zugeordneten Suffraganbischöfen geschaffen. Überhaupt übernahmen nun die Bischöfe die wichtigsten Ämter im Reich. Sie wurden die entscheidenden Berater der Könige und erhielten umfangreiche Besitzungen, Rechte, Einkünfte, Ämter und staatliche Aufgaben.

Mainz, Köln, Trier und Salzburg stiegen zu kirchlich-politischen Zentralorten des Reichs auf. Der König selbst, Karl der Große, ließ sich in Aachen, wo er sich regelmäßig im Winter in den warmen Quellen von den Strapazen des Kriegführens erholte, eine prächtige Hofkirche, das Marienstift, errichten.

Noch wichtiger war es, dass Karl der Große erkannte, dass man für ein europäisches, christlich fundiertes Großreich eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Schrift benötigte. Nur dann konnte auch gewährleistet werden, dass die Regeln der Heiligen Schrift und der Kirche überall verstanden und korrekt befolgt würden. So wurde Latein als Amtssprache eingeführt, und mit der karolingischen Minuskel entstand die Schrift, die wir heute noch verwenden und die wir als lateinische Schrift bezeichnen.

Den Äbten der großen Klöster erteilte Karl der Große den Auftrag, im Zuge der neuen Bildungsoffensive die antiken lateinischen Schriftsteller abzuschreiben und in Bibliotheken zugänglich zu machen. Das Kloster Lorsch an der Bergstraße, von dem noch die karolingische Torhalle als Weltkulturerbe erhalten ist, hat sich hierbei besonders hervorgetan. Über 90 Prozent aller klassischen Werke sind uns einzig über die karolingischen Klöster erhalten geblieben, denn die Mönche haben nicht mehr auf brüchigem Papyrus geschrieben wie die antiken Autoren, sondern auf haltbarem Pergament.

Bischöfe und Äbte waren auch gefordert, als es darum ging, die neu eroberten Völker zu christianisieren. Eines der berühmtesten Beispiele dafür bietet das Kloster Fulda an der Werra, wo Bonifatius begraben liegt und wo sich ebenfalls noch eine Kirche aus karolingischer Zeit befindet. Hier, in Fulda, entstand neben dem Bistum Paderborn und dem Kloster Corvey bei Höxter der wichtigste Vorposten für die Zwangschristianisierung der Sachsen.

Der damit verbundene Unterwerfungskrieg dauerte mehr als 30 Jahre, denn die Sachsen wehrten sich tapfer gegen die neue Ordnung des fränkischen Christentums. Die Folge war, dass die Mönche von Fulda, die den christlichen Glauben einpflanzen sollten, auch immer in die blutigen Kriege verwickelt wurden. Bei den Untersuchungen der Gräber von Fulda konnte man nachweisen, dass man damals in das Kloster Fulda junge Mönche schickte, zwischen 16 und 20 Jahre alt, und dass diese Mönche kaum älter wurden als 30 Jahre. Spätestens dann waren sie von den Sachsen erschlagen worden.

Aber es half den Sachsen nichts. Am Ende, kurz nach 800, waren sie besiegt. Sie ergaben sich in ihr fränkisch-christliches Schicksal und wurden zur „Magd der Franken“, wie es 100 Jahre später ein sächsischer Geschichtsschreiber, Widukind von Corvey, formulierte. Auch die Schwaben und ebenso die Bayern wurden in das Reich Karls des Großen zwangsintegriert.

In Bayern hatte sich Herzog Tassilo III. eine königsgleiche Stellung geschaffen, bevor er 788 von Karl dem Großen zur Unterwerfung gezwungen wurde. Der Bayernherzog wurde, wie auch seine Frau und seine Kinder, in Klosterhaft genommen und verschwand für immer hinter Klostermauern – möglicherweise im schon genannten Kloster Lorsch an der Bergstraße. Mächtige Klöster dienten damals bisweilen als eine Art von Staatsgefängnissen.

Einige Jahre zuvor, 773/774, hatte sich Karl der Große schon das Reich der Langobarden in Oberitalien einverleibt, und im Südosten dehnte er sein Reich in Richtung des Balkans weiter aus.

Damit umfasste dieses Reich schon erhebliche Teile des westlichen und mittleren Europa. Nun wurde es immer dringlicher, Einrichtungen zu schaffen, mit denen das Völkergemisch zusammenzuhalten war. Der militärische Aufwand wurde immer größer. Kontrollbehörden wurden geschaffen, vor allem in Form der Königsboten (missi dominici), die regelmäßig in den Provinzen nach dem Rechten schauen sollten. Die Impulse der Vereinheitlichung gingen weiter und bezogen sich auch auf ganz praktische Dinge. So sollten im karolingischen Großreich die Gewichte und die Maße vereinheitlicht werden und ebenso die Währung. Der erste Euro, so könnte man sagen, wurde in der Zeit Karls des Großen eingeführt.

Aber dieses Reich Karls des Großen hatte einen entscheidenden Fehler: Es gab keine staatstheoretische Grundlage. Das mag für uns heute ganz unverständlich klingen, aber es war so. Man hatte kein Modell für ein transpersonales Staatsgebilde. Das Reich Karls des Großen wurde wie ein Familienunternehmen geführt. Es gehörte gewissermaßen der Familie der Karolinger. Der König war der Hausvater, der Patriarch, und das Reich war so etwas wie sein vergrößertes Haus, für das er zu sorgen hatte.

Seine Söhne waren im Hinblick auf das Königtum folglich seine Erben. In diesem Sinne verlangte jeder der Söhne seinen Anteil, auch wenn er darum bis zum Familienuntergang kämpfen musste. Davon war die Geschichte des fränkischen Reichs im 9. Jahrhundert geprägt. Es wurde als Erbe immer wieder unter den Söhnen aufgeteilt. Wenn diese mit ihrem Anteil nicht zufrieden waren, kam es zu schrecklichen Vernichtungskriegen.

Im 9. Jahrhundert kämpfte man nicht mehr gegen äußere Feinde, sondern richtete die ganze kriegerische Energie nach innen. Auf diese Weise bildeten sich bis etwa 900 nach vielen Wirren mehrere Teilreiche heraus, ein Westreich (Neustrien), ein Ostreich (Austrien), ein Reich in Italien und ein burgundisches Reich. Aber diese Teilreiche waren noch keineswegs feste Gebilde und befanden sich in einem labilen Zustand. Zudem machten sich von allen Seiten feindliche Krieger, vor allem die Wikinger und die Ungarn, daran, die schwachen Reiche zu plündern und zu zerschlagen.

Da kam die Rettung aus dem Osten. Das Volk der Sachsen war erwacht, so könnte man sagen. Es war ein Jahrhundert nach seiner Unterwerfung so weit gediehen, sich das neue christliche Selbstwertgefühl voll anzueignen. Ja mehr noch: Man sah sich geradezu als Vorkämpfer des Christentums. Der Gedanke, das christliche Volk jetzt im Überlebenskampf anzuführen, hat die sächsischen Fürsten gewaltig motiviert und geleitet. Unter ihnen ragte die Familie der Liudolfinger heraus. Sie hatte ihre Zentren in Gandersheim, um Hildesheim herum und vor allem in Quedlinburg. Später kam noch Magdeburg hinzu.

Heinrich I., derjenige, der nach der Volkslegende am Vogelherd saß, war der erste aus dieser sächsischen Familie, der sich 919 zum König machen ließ und daraufhin für seinen Herrschaftsbereich geeignete Überlebensstrategien entwickelte. Er schloss die Völker im ostfränkischen Reich, also die Sachsen, die Franken, die Schwaben und die Bayern, zu einer Schicksalsgemeinschaft auf Freundschaftsbasis zusammen und errichtete eine schlagkräftige Elitekriegertruppe.

Sein Sohn und Nachfolger, Otto der Große, konnte darauf aufbauen und die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld 955 vernichtend schlagen. Damit waren das Fortleben und auch die Eigenständigkeit des ostfränkischen Teilreichs fürs erste gesichert. Diese dritte Etappe in der Entwicklung des Reichs, die in das 10. Jahrhundert zu setzen ist, beruhte also auf der Idee des Überlebenskampfes eines christlichen Volkes unter der Führung eines sächsischen Königs.

Diese Phase im 10. Jahrhundert brachte wieder eine Reihe von Weichenstellungen für das Reich. Zum einen war damit eine Verlagerung der Schwerkraft in den Norden und Osten des Reichs verbunden. Die Sachsen empfanden sich als das neue Herrenvolk. Dieses Volk, so fasste der Geschichtsschreiber Widukind von Corvey jenes Selbstgefühl zusammen, sei jetzt aus einer Magd zu einer Herrin geworden.

Per me reges regnant