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NEUESTE GESCHICHTE

1989/1990

Von Prof. Andreas Rödder

Die deutsche Revolution 1989/90

von Andreas Rödder

„Der Weltprozeß gerät plötzlich in eine furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phänomene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein.” So hatte der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert die „geschichtlichen Krisen” beschrieben. Welch treffende Beschreibung für das, was 1989/90 geschah: Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, das Ende des SED-Regimes und der DDR und schließlich die deutsche Wiedervereinigung beendeten innerhalb von wenigen Monaten eine Epoche, die Europa und die Welt nach den verheerenden Kriegen und Krisen der ersten Jahrhunderthälfte im eisernen Griff des Ost-West-Konflikts gehalten hatte.

I. Revolution in Deutschland?

War das, was 1989/90 in Deutschland geschah, eine Revolution? Wie überhaupt soll man es nennen? Revolution oder Wende, Implosion oder Zusammenbruch? Hinter den Begriffen stehen Deutungsansprüche, und sie verbinden sich zugleich mit Machtfragen. Daher ist es nicht nur von akademischem Interesse, bei den Begriffen sehr genau hinzuschauen.

Von einer „Wende” sprach zuerst Egon Krenz, Erich Honeckers Nachfolger im SED-Staat. Nur: der Begriff ist doch allzu schwach für das, was in der DDR geschah – und genau diese grundlegende Umwälzung sollte er gerade verschleiern.

Begriffe wie „Zusammenbuch” der SED-Herrschaft und „Implosion” der DDR bringen zwar zum Ausdruck, dass die DDR von innen heraus morsch geworden war – aber sie unterschätzen doch den Anteil der Bürgerbewegung. Erst die Bürgerbewegung nämlich brachte das Regime zum Einsturz, das nicht von sich aus zusammenbrach.

Aber war es auch eine „Revolution”? Viele zögern bei diesem Begriff, weil der Umsturz nicht mit Gewalt erzwungen wurde, wie es in den meisten anderen Revolutionen der Geschichte der Fall war, der Französischen etwa oder der Russischen. Diese historischen Vorbilder aber sind keine zwingende Voraussetzung für den Begriff. Vielmehr definieren wir eine „Revolution” mit gutem Grund darüber, dass sie zu einer grundlegenden Veränderung der bestehenden politischen und sozialen Ordnung führt. Eine Umwälzung von Verfassung, politischem System und gesellschaftlichen Strukturen aber fand 1989/90 zweifellos statt, sehr viel mehr auch als im Falle der Ereignisse von 1848 und 1918, die wir umstandslos als „Revolution” bezeichnen.

Gewalt hingegen ist nicht zwingend Bestandteil des Revolutionsbegriffs. Eine „friedliche Revolution” ist also kein Widerspruch in sich, sondern eine historische Möglichkeit. Nun schreiben manche die „friedliche Revolution” mit großem F – und mit einer bestimmten Absicht: Die „Friedliche Revolution” mit großem F stellt ganz den Anteil der Bürgerbewegung in den Mittelpunkt. Sie tut damit genau das Gegenteil der Rede vom „Zusammenbruch” – und damit blendet sie ihrerseits wesentliche ursächliche Faktoren aus.

Schauen wir auf die Ereignisse von 1989, so ist das Besondere doch dies: unter bestimmten äußeren Umständen brachte die Bürgerbewegung das SED-Regime in der DDR zum Einsturz. Dieser Umsturz radikalisierte sich dann aber nicht, wie im Falle der Französischen oder Russischen Revolution. Er ging stattdessen in die geregelten Bahnen über, die schließlich in der deutschen Wiedervereinigung mündeten. Die Wiedervereinigung ist also Teil des Prozesses der grundlegenden Umwälzung, sprich der Revolution, die ich daher die „deutsche Revolution” von 1989/90 nennen möchte.

Am Anfang aber waren nicht die Deutschen. Am Anfang war Gorbatschow.

II. Das Ende des SED-Staates

Gorbatschow war Kommunist, er war Idealist, und er war Optimist. Nur so jemand konnte, nachdem er 1985 zum mächtigsten Mann der östlichen Welt aufgestiegen war, einen Reformprozess in Gang setzen, der den Kommunismus retten und verbessern sollte. Bald allerdings verselbständigten sich die Reformen, und Gorbatschow, der Zauberlehrling, wurde die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr los. Statt den sowjetischen Kommunismus zu retten, löste Gorbatschows Reformpolitik seinen Zusammenbruch aus – und sie machte die deutsche Revolution erst möglich, weil Gorbatschow, als das sowjetische Imperium zusammenbrach, den Einsatz des letzten Mittels verzichtete, um die sowjetische Herrschaft doch noch zu retten: auf den Einsatz von Gewalt.