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Für Sebastian

Ein Fall für Anna di Santosa

ISBN 978-3-492-97603-9

April 2017

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2010

Covergestaltung und -motiv:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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1

»Hast du mich eigentlich geliebt?«, hatte Nikolai mich vor zwei Tagen gefragt.

Und nun sah ich seinen leblosen Körper im Licht der Autoscheinwerfer vor mir liegen und fragte mich verzweifelt, warum ich ihm keine Antwort gegeben hatte. Kaum nahm ich die Gestalt wahr, die sich über ihn beugte, so laut klopfte mein Herz.

Nein, dachte ich. Bitte nicht.

Ich hielt auf dem Parkplatz vor der Klinik an, sprang aus dem Wagen. Die Gestalt hob den Kopf. Eine junge Frau mit bleichem Gesicht. Sie starrte mich an, sah jedoch durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist. Dann beugte sie sich wieder nach unten, ihr dicker, dunkler Zopf fiel nach vorn. Sie legte den Kopf auf Nikolais Brustkorb, horchte, tastete mit routinierten Bewegungen seinen Brustkorb ab, lauschte wieder.

»Die Kollegen sind gleich da.« Sie sprach langsam und betonte jedes einzelne Wort, als fiele es ihr schwer, es richtig auszusprechen. Ihre Stimme klang ungewöhnlich rauchig.

»Was ist passiert? Ist er tot?« Ich war wie erstarrt. »Eben haben wir doch noch telefoniert …«

Neben Nikolai lag ein Handy, in sämtliche Einzelteile zersprungen.

»Lange kann es nicht mehr dauern, bis jemand kommt.« Die Frau klang, als wollte sie nicht mich, sondern sich selbst beruhigen. Der Aussprache und ihrem Aussehen nach zu urteilen, war sie Ausländerin, vermutlich aus Asien. »Ich habe ihn gefunden. Gerade eben, als ich zum Wagen gehen wollte.«

»Wer sind Sie?« Kaum erkannte ich meine eigene Stimme wieder. »Sagen Sie doch – was ist geschehen?«

»Er hat eine schwere Kopfverletzung.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass der Asphalt unter Nikolais Hinterkopf nass glänzte. Im Dämmerlicht der wenigen Straßenlaternen, die ein trügerisch warmes Licht verbreiteten, wurde die kleine dunkle Lache stetig größer.

»Er atmet«, fügte die Frau auf ihre bedächtige Weise hinzu. »Herzschlag und Puls sind schwach, aber spürbar. Vielleicht ist er ausgerutscht. Wo es doch so glatt ist.«

Er atmet, hatte sie gesagt.

»Ich brauche etwas Warmes, etwas zum Zudecken.«

Mit einem Mal löste sich meine Erstarrung. Ich rannte zum Wagen, dessen Tür noch offen stand, zerrte am Kofferraumdeckel. Er ging nicht auf. Wo war der Schlüssel? Kein klarer Gedanke. Er atmet. Nur das war wichtig. Ich war einfach ausgestiegen, der Schlüssel musste noch stecken. Also zurück zum Fahrersitz. Auf dem Weg dorthin geriet ich ins Rutschen, der Boden war tatsächlich glatt. Ja, da war der Schlüssel.

Warum war ich nur zu spät gekommen? Warum hatte ich Nikolai nicht gesagt, was mir auf der Seele lastete, als ich die Gelegenheit dazu hatte? Und warum hatte ich seine verfluchte Frage nicht beantwortet? Was, wenn er jetzt starb, in dieser Winternacht, auf diesem schwarzen, eiskalten Asphalt?

Mit einer muffeligen Wolldecke in den Händen, die ich das ganze Jahr spazieren fuhr, lief ich zurück. Die Frau mit dem langen Zopf, die Krankenschwester oder Ärztin zu sein schien, deckte Nikolai so sanft zu, als wäre er ein frierendes Baby.

»Dieser Wagen!«, erinnerte ich mich plötzlich. »Vorhin, auf dem Weg zur Klinik, da hat mich jemand fast gerammt. Der Kerl ist gefahren wie ein Wahnsinniger. Der muss doch von hier gekommen sein. Haben Sie ihn gesehen?«

Die Frau sah mich mit leeren Augen an, blieb stumm. Dann widmete sie sich wieder ihrem Patienten.

Ein feiner, eisiger Wind strich an mir vorbei, winzige Flocken streiften meine Wangen. Auf einmal spürte ich, wie
kalt meine Zehen und Finger waren. Die Handschuhe lagen irgendwo im Auto. Ob es an Weihnachten endlich richtig schneite?

Er atmet, hatte sie gesagt.

Dann endlich Fußgetrappel, Stimmen, knappe Anweisungen, etwas Schweres rollte durch die Nacht. Gestalten in weißen Anzügen unter dick wattierten Parkas drängten an mir vorbei, eine Krankentrage auf Rädern kam zum Stillstand, die Frau mit dem Zopf trat zur Seite, wechselte leise Worte mit einem hageren Mann. Jemand untersuchte die Wunde an Nikolais Kopf, man schnitt seine Jacke auf, Infusionen wurden angelegt, alles wirkte so professionell und routiniert. Ein anderer Mann, dessen Atem nach Pfefferminzbonbon roch, bat mich, Platz zu machen. Nebenbei orderte er telefonisch den Rettungshubschrauber, der Nikolai in die Uniklinik bringen sollte.

Er atmet, hatte sie gesagt.

Vor einer Woche hatte Nikolai mich angerufen, wie aus dem Nichts nach jahrelanger Funkstille, und um ein Treffen gebeten. Meine Nummer hatte er im Internet erfahren. Also hatten wir uns verabredet. Und vor zwei Tagen stand ich ihm dann gegenüber, in einem Bistro in Regensburg. Die erste Begegnung nach drei Jahren. Es war der zweite Adventssonntag, an einem unsagbar kalten Nachmittag.

Zuerst redeten wir über dies und das, doch jeder von uns scheute sich, die Vergangenheit zum Thema zu machen. Warum ich der Verabredung zugestimmt hatte, wusste ich von Anfang an: Ich wollte ihn um Verzeihung bitten, endlich dieses Schuldgefühl loswerden, das mich seit drei Jahren verfolgte. Was Nikolai sich von unserem Wiedersehen erhoffte, verstand ich jedoch nicht sofort. Aber ganz egal, ob er von seiner neuen Stellung als Oberarzt in einer Privatklinik in der Nähe von Regensburg oder der kürzlich bezogenen Wohnung erzählte, ob er sich nach meinem Sohn erkundigte, meiner Boutique – immer wieder schien sich diese eine Frage zwischen uns zu drängen, die auch ich mir seit unserer letzten Begegnung so oft gestellt hatte. Ich sah sie in Nikolais moosgrünen Augen brennen, entdeckte sie in den jungenhaften Grübchen neben seinen Lippen, die mit einem Mal ganz schmal wurden, und auf seiner nicht mehr ganz so glatten Stirn.

Wie gerne hatte ich sie früher berührt, liebkost, geküsst.

Und tatsächlich fragte er mich irgendwann mitten im Gespräch: »Hast du mich eigentlich geliebt?«

Erst seit einer knappen halben Stunde saßen wir an diesem kargen, rauchgrauen Tisch, umgeben von dem Gemurmel der anderen Gäste und den Marilyn-Monroe-Filmplakaten an den Wänden, die Nikolai immer wieder angespannt betrachtete. Ich brauchte noch ein wenig Zeit, um über meine Gefühle von damals reden zu können. Also drückte ich nur sanft seinen Arm und deutete auf den Verband an seinem linken Handgelenk.

»Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragte ich, strich mir eine meiner langen roten Haarsträhnen aus dem Gesicht und trank einen Schluck Espresso. Er schmeckte bitter.

Nikolai warf mir diesen prüfenden Blick zu, an den ich mich noch gut erinnerte. Als ob er rätselte, warum ich nicht Gedanken lesen konnte. Wie damals, als ich ihn nach der ersten Nacht gefragt hatte, ob er zum Frühstück Kaffee oder Tee bevorzuge.

»Vermutlich hat sich ein Patient mit einem Messer auf dich gestürzt«, neckte ich ihn. Dann lud ich einen großen Löffel Zucker in die Tasse und rührte um. »Wolltest du ihn etwa ohne Narkose operieren?«

Er lachte, und mit einem Mal wirkte er so unbeschwert wie früher. Plötzlich war nichts mehr zu spüren von dieser fiebrigen Unruhe, die ich schon beim Betreten des Bistros an ihm bemerkt hatte. Sie klebte an ihm wie die feine, zu enge Hautschicht einer Schlange, die sich bald häuten wird. Ob er aus dem gleichen Grund nervös war, aus dem ich den Zucker zuerst vergessen hatte?

»Ein kleines Missgeschick.« Er winkte ab. »Vorgestern, auf der Adventsfeier mit den Kollegen. Mein Sektglas ist zerbrochen.«

»Schlimm?«

»Nur eine Fleischwunde. Drei Stiche, kein Problem.«

»Wie hast du das denn angestellt?«

»Betty war stocksauer, weil ich ihr den Abend verdorben hab.« Er verzog das Gesicht und starrte aus dem Fenster.

Das Bistro befand sich auf der Wöhrdinsel. Man hatte direkten Blick auf die Donau, die mittelalterliche Steinerne Brücke und den Salzstadel, ein historisches Lagerhaus. Am anderen Ufer drängten sich die Häuser der Altstadt, mit ihren schiefen Gauben, verzierten Erkern, Türmen und neckischen kleinen Säulen zwischen den in der Nachmittagssonne glänzenden Rundbogenfenstern. Über den Dächern tauchte da und dort eine der vielen Kirchturmspitzen Regensburgs auf, in der Ferne sah man die Zwillingstürme des Doms. Ich liebte dieses Panorama. Aber Nikolai schien es kaum wahrzunehmen.

»Dabei wollte sie sowieso nicht mit«, fuhr er missmutig fort. »Und dann musste sie auch noch heimfahren, nach, ich weiß nicht, wie viel Glühwein, Sekt und …«

»Wer ist Betty?«

Eine üppige Blondine mit roter Zipfelmütze knallte das zweite Pils für Nikolai so übermütig auf den Tisch, dass es überschwappte.

»Meine Frau«, sagte Nikolai, als sie wieder weg war. Er sah mir nicht in die Augen, sondern fixierte das Poster neben unserem Tisch, das Marilyn Monroe in ihrer Rolle als Sängerin Sugar in Manche mögens heiß zeigte.

Als wäre es ihm unangenehm, in meiner Gegenwart von seiner Frau zu reden, fing er unvermittelt an, von seiner Reise nach Indien zu erzählen. Als rechte Hand des Chefs einer neurologischen Privatklinik, in der er erst seit sieben Wochen arbeitete, musste er seinem Vorgesetzten schon jetzt die eine oder andere Dienstreise abnehmen. So war Nikolai vor zwei Wochen nach Mumbai geflogen, zu einem internationalen Ärztekongress. Mit Fünfsternehotel, Frühstücksbuffet am Morgen, Sechsgängemenü am Abend, dazwischen Vorträge über die neuesten Erkenntnisse der Medizin. Im Hotelgarten ein Palmenmeer, auf den Straßen die lauten Farben
der Saris, Gelächter, Geschrei, das Rattern uralter Motorräder und Autos, überall fremde exotische Gerüche, die Klänge unbekannter Sprachen. Bei Nikolais Erzählung sah ich die Bilder, roch die Düfte, spürte aber auch diese brütende, feuchte Hitze, die einem den Atem raubte. Wie der Anblick der bettelnden, dürren Kinderhände, kaum dass man die Welt außerhalb des Hotels betrat.

»Ein schreckliches Land«, schloss Nikolai seine weitschweifige Erzählung mit düsterem Blick. »Aber es ist ja überall das Gleiche. Wo man hinguckt, nur Elend, Ungerechtigkeit. Und dann diese verdammte Korruption!« Er betrachtete das Bierglas, das er noch nicht angerührt hatte, nahm einen tiefen Zug und trommelte mit den Fingerspitzen einen hektischen Rhythmus auf die Tischplatte. Auf einmal klang er wütend. »Es macht mich wahnsinnig, dass man nichts dagegen machen kann. Was sagst du dazu – als Expolizistin?«

»Willst du auswandern und in Indien für Recht und Ordnung sorgen?«, fragte ich halb amüsiert, halb erstaunt. »Du bist doch gerade erst hierhergezogen.« Sofort verbesserte ich mich: »Ich meine natürlich, ihr seid hierhergezogen. Du bist ja inzwischen verheiratet.«

Ein durchdringendes Piepsen ertönte. Mit geübtem Griff fischte Nikolai sein Handy aus der Tasche seiner Steppjacke. Nach einem kurzen Wortwechsel, der von seiner Seite nur aus einigen kaum hörbaren Jas und Okays bestand, sprang er auf und winkte der Bedienung.

»Sorry, Anna«, sagte er mit dem gleichen Bedauern wie vor drei Jahren.

Damals war er mitten im aufregendsten Liebesspiel aus dem Bett gesprungen und zur Klinik gefahren.

»Wieder mal ein Notfall?«, fragte ich spöttisch.

Er nickte und schlüpfte in seine Jacke. Auch ich stand auf und wartete, bis er den Reißverschluss zugezogen hatte. Nikolai war nicht übermäßig groß, überragte mich aber dennoch um fast eine Kopflänge.

»Dann reden wir das nächste Mal darüber«, schlug ich
vor und wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Vielleicht hätte ich die Gelegenheit vor wenigen Minuten doch nutzen sollen?

»Worüber?«

»Warum alles so gekommen ist.«

»Mit uns?« Er lächelte, beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Ich weiß nicht, wie oft ich bei dir angerufen hab, wie viele SMS und Mails ich dir geschickt hab. Versprich mir bitte, dass du dich in Zukunft meldest, wenn ich dich brauche.«

Wir einigten uns auf Dienstagabend am selben Ort. Es gab weiß Gott stimmungsvollere Bars für eine seit drei Jahren überfällige Aussprache, ein Rendezvous, was auch immer. Doch aus irgendeinem Grund bevorzugte er dieses Bistro.

Als Nikolai mir zum Abschied sanft die Wange küsste, kam sein Gesicht dem meinen näher als nötig. Und wieder leuchtete diese eine Frage in seinen Augen auf, und wieder sagte ich nichts.

Und nun war also Dienstagabend und ich in der Uniklinik. An der Pforte sagte man mir, Nikolai Baum liege auf der neurochirurgischen Intensivstation. Ich hastete durch die riesige Klinik. Immer wieder eilten Ärzte, Pfleger, Schwestern an mir vorbei. Schließlich fragte ich einen älteren Arzt mit Rübezahlbart und tiefen Augenrändern nach dem Weg. Er schickte mich ins Untergeschoss.

Während ich durch die langen, nach stickiger Luft und Krankheit riechenden Korridore schritt, wie in Zeitlupe einen Fuß vor den anderen setzte, versuchte ich zu verstehen, was in der letzten Stunde geschehen war. Um Viertel vor sieben, eine halbe Stunde vor unserer geplanten Verabredung, hatte Nikolai mich angerufen und gebeten, ihn vor der Klinik in Bach abzuholen. Aufgrund der Kälte war sein Wagen nicht angesprungen. Die Privatklinik, in der er arbeitete, lag etwa zwanzig Kilometer östlich der Stadt bei Wörth an der Donau. Als ich auf der Autobahn war, hatte er sich wieder gemeldet und gefragt, warum es so lange dauerte, voller Aufregung und Ungeduld. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Mir blieb kaum Zeit, ihm zu erklären, dass ich in dieser eisigen Winternacht nicht so schnell fahren konnte wie sonst. Plötzlich hörte ich eine Stimme etwas rufen, Nikolai legte auf. Kurz bevor ich den Parkplatz erreichte, rammte mich dann fast dieser Verrückte. Und wenige Minuten später entdeckte ich Nikolai, reglos am Boden liegend, neben ihm das Handy.

Endlich bog ich in den Flur, an dessen Ende sich die Intensivstation befand. Ich läutete, bekam dann aber zu hören, man dürfe nur die engsten Angehörigen über den Zustand der Patienten informieren. Enttäuscht ging ich vor der Station auf und ab, in der Hoffnung, vielleicht doch noch einen vorüberlaufenden Arzt in ein Gespräch verwickeln zu können. Irgendwann, als ich immer noch nichts erfahren hatte, setzte ich mich in den Wartebereich. Gegen Mitternacht beschloss ich dann allerdings doch, nach Hause zu fahren und am Morgen wiederzukommen. Allmählich spürte ich, wie hart die Bank war, auf der ich nun schon so lange saß.

Gerade als ich aufstehen wollte, hastete eine atemlose Frau mit dunkelblonden Locken an mir vorbei. Der Plüschmantel, den sie trug, war dem meinen ähnlich, wobei meinen ein Leopardenmuster zierte, ihren hingegen das eines Tigers. Ihre Stiefel hatten flache Absätze und waren aus einem feinen, braunen Leder gearbeitet. Was mir in ihrem Gesicht zuerst auffiel, war die breit gerahmte Brille in Kobaltblau, die nur um wenige Nuancen heller leuchtete als die knallig blauen Augen hinter den Gläsern. Die Frau, die wie ich Mitte dreißig sein musste, stellte sich dem Arzt an der Tür zur Intensivstation als Betty Baum vor. Er murmelte etwas von der vorläufigen Diagnose eines schweren Schädel-Hirn-Traumas. Auch das Wort »Koma« glaubte ich zu hören.

Ich setzte mich wieder und brauchte einen Moment, um mich von diesem erneuten Schrecken zu erholen. Dann musterte ich unauffällig Nikolais Frau.

Das war sie also.

Sie war nicht wirklich schön, aber auf eine herbe Weise ansprechend. Vermutlich entstand dieser Eindruck durch ihre ungleich geformten Lippen. Die Oberlippe war schmal, die Unterlippe hingegen voll und sinnlich. Ich fragte mich, wann der melancholische Zug um ihre Mundwinkel entstanden sein mochte. Es wirkte, als entstammte er einer anderen Zeit, einem anderen Schmerz.

Sie setzte sich ausgerechnet auf die Bank mir gegenüber. Zuerst schien sie mich gar nicht wahrzunehmen. Aber als
ich schließlich doch irgendwann in den Mantel schlüpfte, bemerkte ich, dass ihr Blick gleichgültig auf mir ruhte. Mit einem Mal flackerte er auf, als hätte sie mich erkannt, obwohl ich sicher war, ihr noch nie begegnet zu sein. In ihren Augen entdeckte ich plötzlich Unsicherheit, Angst, Verzweiflung. Und tiefste Abneigung.

Es war Viertel vor eins, als ich das Portal meiner Jugendstilvilla aufschloss. Ein eiskalter Wind schnitt mir ins Gesicht. Ich war müde, halb erfroren, und alles, was ich wollte, war so schnell wie möglich ins Bett.

In der Diele erwartete mich eine angenehme Überraschung: Das Haus war warm. Wie es schien, hatte Mona nicht nur alle Heizkörper aufgedreht, sondern auch den Kamin
im Salon angeschürt. Oder vermutlich hatte mein Sohn Vincenzo meiner Untermieterin, die das zweite Stockwerk meines dringend renovierungsbedürftigen Anwesens bewohnte, bei Letzterem geholfen. Die Zentralheizung in dem riesigen, alten Haus funktionierte nicht zuverlässig, sodass ich oft mit den offenen Feuerstellen zuheizen musste. Wenn ich irgendwann einmal nicht knapp bei Kasse sein sollte, würde ich den Heizungsbauer anrufen, beschloss ich zum hundertsten Mal in diesem Winter.

Es war ruhig im Haus. Auf dem Vertiko lag eine Notiz von Mona. Nach Wer wird Millionär war mein elfjähriger Sohn zwar nicht klaglos, aber doch einigermaßen bald ins Bett verschwunden, las ich. Meine Untermieterin sprang oft als Babysitter ein, wenn Paolo, mein Exmann, wieder einmal keine Zeit hatte.

Semiramis, Monas kohlrabenschwarze Katze, näherte sich auf lautlosen Pfoten und begrüßte mich schnurrend. Ich streichelte ihr dichtes Winterfell, hob sie hoch, nahm sie mit in die Küche und füllte ihren Futternapf, was Mona offenbar wieder einmal vergessen hatte. Dann machte ich mir eine Tasse heiße Schokolade mit großzügig bemessenem Sahnehäubchen. Auch heute hatte ich es wieder nicht geschafft, die nötigen Einkäufe zu erledigen. Aber die Sahnesprühdose war glücklicherweise noch vom Wochenende übrig. Zum Schluss bestreute ich die ganze Pracht mit Zimtpulver. Nach diesem Abend brauchte ich ein wenig Trost.

Behutsam trug ich meine bis zum Rand gefüllte Lieblingstasse mit abgesprungener Goldkante in den Salon und setzte mich vor den Kamin. Die Asche glühte noch. Semiramis sprang mir auf den Schoß und machte es sich auf meinen Knien gemütlich. Ich umfasste die Blümchentasse aus dem Porzellanbestand von Nonna Emilia mit beiden Händen, suchte Halt im Ohrenbackensessel aus besticktem Brokat und versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken. Doch es gelang mir nicht.

Warum war ich nur zu spät gekommen? Okay, ich nahm es mit der Pünktlichkeit selten genau. Wie dieses alte Haus, die Möbel und das Porzellan war vermutlich auch das ein Erbe von Nonna Emilia, meiner italienischen Großmutter. Aber an diesem Abend konnte ich nicht einmal etwas für meine Unpünktlichkeit. Das Wetter war schuld, der Winter, die Straßenverhältnisse.

Die Gedanken kreisten unablässig in meinem Kopf. Ob Nikolai vielleicht nicht ausgerutscht wäre, wenn ich ihn früher abgeholt hätte? Oder gab es etwa einen anderen Grund für seine Verletzung? Ich musste an seine Aufregung am Telefon denken, diese Unrast, die ich noch nie an ihm erlebt hatte, seine letzten Worte am Handy: »Ich hab die Nase voll, nach diesem ganzen Mist, ich will hier weg, verdammt!« Und an den fremden Wagen …

Ob man Nikolai inzwischen operiert hatte? Was, wenn er die Nacht nicht überlebte? Sollte ich in die Klinik zurückfahren? Oder anrufen?

Ich trank einen Schluck, schmeckte aber weder die Schokolade noch den Zimt. Ich dachte an die vielen Toten, die ich während meiner Zeit im Polizeidienst zu Gesicht bekommen hatte. Das war jetzt zwölf Jahre her. Dieses Elend war mir schon damals immer eine Spur zu nahe gegangen. Und dennoch war jenes Gefühl von Ohnmacht – beim Anblick eines toten Körpers oder angesichts des Schmerzes der Hinterbliebenen – meilenweit von dem entfernt, was ich jetzt empfand. Persönliche Betroffenheit macht alles tausendmal schwerer. Und Schuldgefühle tun ihr Übriges.

Semiramis sprang von meinen Knien, streckte sich auf dem Teppich und fing an, sich zu putzen. Ich hatte die Tasse geleert, ohne es zu merken. Langsam erhob ich mich, ging in die Bibliothek nebenan, die zugleich mein Arbeitszimmer war, schaltete den Computer ein. Ich war nicht weniger erschöpft als vor einer halben Stunde. Aber ich wusste, ich würde keinen Schlaf finden.

In der Mailbox warteten sechsunddreißig neue Nachrichten. Doch die interessierten mich nicht. Bald hatte ich die entdeckt, die ich suchte.

Meine liebe Anna, eben bin ich aufgewacht und habe als Allererstes Dich vor mir gesehen. Wie Du nackt am Fenster stehst, mit Deinem Haar über den Schultern, den Vollmond und die Sterne betrachtest,
in dieser wundervollen Nacht, an die ich immer wieder denke. Du bist ganz in Dich versunken. Als bräuchtest Du nichts und niemanden außer Dir
selbst und die Weite dort oben. Manchmal habe
ich Angst, es könnte Dir zu eng werden, in einer neuen Beziehung, mit mir. Gleichzeitig liebe ich genau das an Dir. Ist das nicht seltsam? Eine Frau, die mir so viele Rätsel aufgibt, und ich kann es kaum erwarten, sie zu lösen. Du bist genau die, nach der ich immer gesucht habe, vielleicht ohne
es zu wissen.

Bis später, ich melde mich aus der Klinik.

Zwei Küsse für Dich, such Dir aus, wohin.

Nikolai.

Das war der Anfang gewesen.

Das Ende klang dann so:

Anna, warum antwortest Du nicht, zum Teufel noch mal? Hab ich Dich so verletzt? War es, weil ich mitten im herrlichsten Sex gehen musste? Oder weil ich Dir von dieser Frau erzählt hab, die ich neulich kennengelernt habe? Sie findet mich umwerfend, na und? Es tut mir leid. Hörst Du? ES TUT MIR LEID. Bitte, schick mir ein paar Zeilen, eine Erklärung, irgendwas. Warum bist Du einfach verschwunden, Du wolltest doch bei mir übernachten? Ich kann die nächsten zwei, drei Wochen hier nicht weg, zu viele OPs und Termine. Aber ich muss wissen, was los ist, bitte melde Dich.

Nikolai.

PS: Wenn Du dieses Mal wieder nicht reagierst, dann kann ich nicht mehr. Verstehst Du? Sag mir doch bitte, warum?

Ja, dachte ich und schaltete den Computer aus, warum?

2

»Der Typ ist verheiratet?«

Am nächsten Mittwochmorgen starrte Mona mich so entsetzt an, als wäre ich eine haarige schwarze Spinne, die an ihrem nackten Bein hochkroch. Sie stand im rechten Schaufenster und widmete sich ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Auslagendekoration.

»Wir wollten uns doch nur auf ein Bier treffen«, wiederholte ich zum vermutlich zwanzigsten Mal, während ich die mit Lammfell gefütterten und unzähligen Fransen verzierten Wildlederstiefel unter den Ladentisch meiner Boutique BellaDonna stellte und in die High Heels mit Krokolederoptik schlüpfte. Bis auf die verregnete Nacht von Montag auf Dienstag herrschte seit Mitte November eine fast arktische Kälte, und an diesem Morgen war es besonders kalt.

»Seit wann trinkst du überhaupt Bier?«, fragte Mona und nieste so heftig, dass die Lichterkette mit den goldenen Engelchen in ihren Händen wild herumschlenkerte und sich fast
in den gespreizten Fingern der Schaufensterpuppe verfangen hätte. Gerade noch rechtzeitig machte Mona eine elegante halbe Drehung und drapierte das Kabel mit den Engeln
und blinkenden Lämpchen dekorativ um das Abendkleid
aus brombeerfarbener Seide, das meine Lieblingspuppe trug. Nellie, so nannte ich sie, hatte das gleiche lange, tizianrote Haar wie ich und unverschämt freche Sommersprossen.

»Nikolai hat Bier getrunken, ich zwei Espresso«, versetzte ich.

Hauptberuflich war meine Untermieterin und umsatzstärkste Ladenhilfe eigentlich diplomierte Literaturwissenschaftlerin. Trotz unzähliger Bewerbungen hatte sie aber noch immer keine Anstellung gefunden und hielt sich nur durch den Job in meiner Boutique und als Bedienung in einer Kneipe über Wasser. Heute hatten wir vereinbart, uns schon lange vor den Öffnungszeiten im BellaDonna zu treffen. Während der Adventszeit war meine Secondhandboutique für preiswerte Designermode von halb zwölf bis acht Uhr abends geöffnet.

Wie üblich übernahm Mona an diesem Vormittag die Dekoration, während ich die Post und einige Bestellungen zu erledigen hatte. Später musste sie zu einem Vorstellungsgespräch, hatte sie mir aufgeregt erzählt. Ich war froh, durch die Arbeit im BellaDonna auf andere Gedanken zu kommen, und auch Mona lenkte mich durch ihre muntere Art ab, eine Eigenschaft, die ich sehr an ihr schätzte. Sonst hätte ich vermutlich unentwegt an Nikolai gedacht. In aller Herrgottsfrühe hatte ich in der Uniklinik angerufen. Aber wieder hatte man mir keine Auskunft erteilt.

»Hattest du denn gar keine Gewissensbisse wegen seiner Frau?«, fing Mona wieder an. Dieses Thema schien sie weit mehr zu beschäftigen als der Umstand, dass mein ehemaliger Liebhaber jetzt vermutlich im Koma lag.

»Zum hundertsten Mal, Mona«, stöhnte ich, »mein Treffen mit Nikolai sollte kein Vorspiel zu einer heißen Liebesnacht sein, sondern eine Aussprache.«

Sie bedachte mich mit einem skeptischen Blick und zog ihr übliches Schmollmündchen. Ich war endlich in meinen High Heels, ging in die winzige Küche und setzte Teewasser auf.

Mir war es wie Nikolai ergangen. Auch ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie oft ich in den vergangenen drei Jahren nach dem Hörer gegriffen oder eine SMS zu tippen begonnen hatte. Aber jedes Mal hatte ich wieder aufgelegt, die Nachricht gelöscht. Und noch gestern Abend, auf dem Weg zur Klinik in Bach, hatte ich nicht gewusst, wie ich ihm erklären sollte, warum ich damals Schluss gemacht hatte. Im ersten Moment war ich natürlich sauer gewesen, als sein Operationstermin wichtiger war als ich. Aber der letztendliche Grund war ein anderer.

»Ja ja, so fängt das immer an«, seufzte Mona, als ich wieder im Verkaufsraum stand.

Ich ging zum knallroten Samtsofa, dem unumstrittenen Prunkstück meines Ladens, auf dem ein Stapel ungeöffneter Briefkuverts lag. Mona streifte sich die Überziehschuhe von den schmalen Fesseln und kletterte flink vom erhöhten Schaufenster herab. Ihr blondes Lockenhaar hatte große Ähnlichkeit mit dem der Engelchen, die jetzt meine Auslage zierten. Allerdings war alles an ihr zart, filigran, der Teint fast durchsichtig, und so erinnerte sie weniger an einen pausbäckigen Barockengel als an eine allzeit zwei Zentimeter über dem Boden schwebende Elfe.

»Und wenn er wieder aufwacht, dann liegt er irgendwann in deinem Bett, und du fragst dich, wie er da hingekommen ist«, philosophierte sie düster. »Und dass es für die Katz ist, weißt du von vornherein.«

Natürlich hatte sie recht. Und sie wiederholte ja nur, was ich selbst ihr in ähnlichen Situationen oft genug gepredigt hatte. Ich hielt schon lange nichts mehr von Affären mit verheirateten Männern. Ich hatte es nicht nötig, einer anderen den Gatten auszuspannen. Adel verpflichtet. Und außerdem habe ich meine Prinzipien. Auch wenn ich mich nicht immer an sie halte.

Bei Nikolai ging es mir aber ohnehin um etwas anderes. Doch inzwischen hatte ich keine Lust mehr, Mona wieder alles von vorn zu erklären. Meine Liebe zu ihm war Vergangenheit … Oder täuschte ich mich? Liebte ich ihn etwa immer noch und war deshalb so betroffen von seinem Unglück?

Kaum hatte ich das erste Briefkuvert geöffnet, ertönte die Handymusik mit Pavarottis kräftigem Tenor: La donna è mobile qual piuma al vento oh wie so trügerisch sind Frauenherzen 

Ich drückte auf die grüne Taste.

»Das war kein Unfall«, hörte ich nach einer knappen Begrüßung Paolo sagen, meinen geschiedenen Mann und Kriminalhauptkommissar bei der Kripo Regensburg. »Jemand hat versucht, Nikolai Baum umzubringen.«

Nebenan summte der Teekessel. Ich sank aufs Sofa.

»Mir ist zwar nicht klar, warum ausgerechnet eine Anna di Santosa in dieser Telefonnotiz mit der Uniklinik auftaucht«, fuhr mein Ex fort, »aber ich brauche dich als Zeugin. Am besten sofort.«

»Was war das für ein Wagen?«, fragte mich Paolo eine halbe Stunde später zum zehnten Mal. »Was für ein Kennzeichen? In welche Richtung ist er gefahren?«

Ich saß in seinem Büro in einem der ehemaligen Kasernengebäude in der Bajuwarenstraße und versuchte, mich bei seinen vielen Fragen halbwegs zu konzentrieren. Paolo, der eigentlich Paul hieß, war seit heute Morgen leitender Ermittler im Fall des versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil von Nikolai Baum, wie er mir noch am Telefon hochoffiziell erklärt hatte. Die Hoffnung, Nikolai wäre nur ausgerutscht, war durch die ärztlichen Untersuchungen widerlegt worden. Die Verletzung musste durch massive Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf entstanden sein. Es war ein Wunder, dass Nikolai den Angriff überlebt hatte. Ob und wann er wieder
zu Bewusstsein kommen würde, konnten die Ärzte nicht sagen. Er lag noch immer im Koma.

Ich zwang mich, nicht daran zu denken, dass er jede Sekunde sterben konnte.

»Irgendwas Kleines, Dunkles«, sagte ich. Die halbe Nacht hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen. »Vielleicht ein VW Polo oder Opel Astra, womöglich auch was Größeres. Aber die Scheinwerfer haben mich geblendet, ich konnte nichts erkennen.«

»Waren die rund oder viereckig?«

»Die Scheinwerfer?« Ich ärgerte mich, dass ich auf dieses Detail nicht geachtet hatte, ließ es mir aber nicht anmerken. »Ich hab nicht aufgepasst – ich musste ja bremsen.«

»Du bist eine hundsmiserable Zeugin.«

»Die Straße war glatt, ich kannte die Gegend nicht«, brachte ich zu meiner Verteidigung vor. »Und dann kommt dieser Idiot um die Ecke geschossen, der hat mich ja fast gerammt. Und außerdem – woher sollte ich wissen, dass das irgendwann mal wichtig werden könnte?«

»Und diese Stimme im Handy, im Hintergrund? War das ein Mann oder eine Frau?«

Wieder überlegte ich. »Das ist alles so verdammt schnell gegangen. Ich kann es einfach nicht mit Sicherheit sagen.«

»Vielleicht doch ganz gut, dass du damals nach deinem Erziehungsurlaub die Branche gewechselt hast.« Mein Ex verzog das Gesicht.

»Non lo credo!« Das ging nun entschieden zu weit. »Che cazzo sei! Non mi rompere le … «

»Vorsicht!« Endlich verlor Paolos Stimme diesen amtlichen Tonfall, den ich nicht ausstehen konnte. »Ich weiß, du kannst wunderbar fluchen. Aber das kann teuer werden, hier in meinem Büro.« Er schaffte sogar ein halbes Lächeln. »Aber ich will mal so tun, als verstünde ich kein Italienisch. Und jetzt denk bitte nach, Prinzessin.«

Ich überhörte den Kosenamen, der mich wohl mein Leben lang verfolgen würde, und lehnte mich zurück. »Sie klang auf jeden Fall sehr dunkel, diese Stimme.«

»Also ein Mann?« Paolo trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, die Nägel wie immer perfekt manikürt, die Haut mit einem Stich ins Dunkelbraune. Im Gegensatz zu mir sah er mit seinen schwarzen Haaren und fast ebensolchen Augen wie ein waschechter Italiener aus. »Was hat er gerufen?«

»Hab ich nicht verstanden.«

»Herrgott, du musst doch irgendetwas …«

»Es kann auch eine Frau mit tiefer Stimme gewesen sein.« Ich strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn.

Stöhnend schob Paolo den blauen Drehstuhl nach hinten und stand auf. Mit lauten Schritten durchquerte er den Raum und griff nach einer Gießkanne aus gelbem Plastik. Als er an mir vorbeipolterte, stieg mir sein Eau de Toilette in die Nase. Ein neuer Duft, ungewohnt blumig. Ob er eine neue Freundin hatte?

Während er seinen Urwald aus Grünlilien, Farnen und Efeuranken mit Wasser versorgte, beschwerte er sich ausgiebig darüber, dass er wieder mal viel zu wenige Leute für diese Soko hatte. Insgesamt sechs, ihn selbst eingeschlossen. Auch in München, wo ich die Polizeischule besucht und Paolo später bei einem Einsatz als Schutzpolizistin kennengelernt hatte, war es schon so gewesen. Ständig zu wenig Personal, ständig zu viele Überstunden.

»Wo ist bloß die Tatwaffe abgeblieben?«, murmelte er vor sich hin, nachdem er genug geschimpft und sich wieder gesetzt hatte. »Ich hab alles absuchen lassen. Zweimal. Aber da war nichts. Ob dieser Kerl, der dir fast reingefahren ist, sie mitgenommen hat? Und irgendwo unterwegs beseitigt?«

Seit wir einander kannten, hatten wir immer wieder den jeweils aktuellen Fall miteinander diskutiert, gleichgütig, ob im Dienst, wie zu Beginn unserer Bekanntschaft, oder nach Feierabend, wie in späteren Zeiten. Das war auch so geblieben, als ich mich nach den Erziehungsjahren neu orientiert und die ersten Schritte in die Modewelt gewagt hatte. Wer einmal eine Spürnase hat, der hat sie für immer. Vermutlich hatte ich auch aus diesem Grund in den letzten Monaten hin und wieder darüber nachgedacht, ob ich nicht in meinen alten Beruf zurückkehren sollte. Doch sicherlich würde man mir wieder nur einen faden Bürojob anbieten, wie nach dem Erziehungsurlaub. Mit der Boutique kam ich zwar gut über die Runden – das BellaDonna hatte sich als Geheimtipp für edle und zudem bezahlbare Mode herumgesprochen –, aber neben Vincenzo, mit den für sein Alter typischen, unentwegt wachsenden Ansprüchen, verschlang besonders auch die Villa immer mehr von meinem Geld.

Ich schloss kurz die Augen, dachte wieder an die nächtliche Szenerie auf dem Parkplatz. Draußen auf dem Flur trippelte jemand vorbei, irgendwo läutete ein Telefon, eine Tür fiel ins Schloss.

»Da lag nur das Handy«, sagte ich.

»Deine Nummer ist übrigens die letzte, die Nikolai Baum gewählt hat.« Paolos Blick wurde misstrauisch. »Seit wann kennst du den Kerl eigentlich?«

»Das geht dich nichts an.«

»In diesem Fall geht mich alles was an, Prinzessin.«

»Wann wirst du endlich lernen, dass ich nur eine Contessa bin?«, entgegnete ich theatralisch.

Natürlich fiel Paolo nicht auf mein Ablenkungsmanöver herein. »Wo und wann hast du ihn kennengelernt?«, fragte er eisig.

Ich schwieg.

»Was für eine Beziehung hattest du zu ihm?«

Langsam schlug ich das linke Bein über das rechte und sah ihn herausfordernd an.

»Es ging also um Sex.« Er zog die Stirn in Falten. »Du weißt ja sicher, dass dein Lover verheiratet ist.«

»Ist das jetzt der Moment, wo ich meinen Anwalt anrufen sollte?«

»Ich kann dir gern den Kollegen Pfeiffer schicken.« Über Paolos linker Augenbraue fing ein Muskel an zu zucken. »Der liebt schlüpfrige Details.«

»Zuerst will ich eine Tasse Kaffee.«

»Hier gibt’s nur Filterkaffee, der schmeckt dir sowieso nicht.«

Als ich schließlich antwortete, war mein Lächeln süßer als Zucker. »Ich hab dich mit Nikolai betrogen, amore mio

Endlich hielt er den Mund.

Es war kurz nach zehn, als ich das Kripogebäude verließ. Auf der Bajuwarenstraße war wie immer viel Verkehr, schwere Laster rumpelten vorbei. Es roch nach Abgasen und kaum merklich nach kommendem Schnee. Nach dem verregneten Wochenanfang war es zwar wieder etwas heller, dafür aber umso kälter, und die Sonne war nur als blasse Scheibe hinter einer dichten Wolkendecke zu erahnen.

Ich überlegte, ob ich in die Uniklinik zu Nikolai fahren oder noch einmal in der Boutique nach dem Rechten sehen sollte. Nach Paolos Anruf hatte ich keine Zeit mehr für die Post und die Bestellungen gehabt. Um Vincenzo brauchte ich mir zum Glück keine Gedanken zu machen. Wie immer am Dienstag und Mittwoch würde er nach der Schule mit dem Bus zu seiner Tagesmutter fahren und um sechs Uhr wieder nach Hause. Wenn Mona nicht in der Boutique Dienst hatte, war sie um diese Zeit normalerweise in der Villa. In der Kneipe fing sie selten vor neun Uhr abends an. An den anderen Nachmittagen kam Vincenzo nach der Schule ins BellaDonna und erledigte dort seine Hausaufgaben. Von Freitagabend bis Sonntagmittag blieb er bei meinem Ex. Heute Abend hatten die beiden ihren wöchentlichen Squashabend. Wegen Paolos unvorhergesehener Dienste musste ich jedoch oft meinen Terminplan ändern oder bei Mona und manchmal auch bei Vincenzos Tagesmutter anklopfen, wenn ich selbst nicht einspringen konnte.

Mein vierzig Jahre alter Maserati Quattroporte mit acht Zylindern stand auf dem Parkplatz. Die riesige Limousine war eine Augenweide in Bordeauxrot, mit cognacbraunen Lederbezügen und ausladenden, edel geschwungenen Kotflügeln. Eigentlich war hier auf dem ehemaligen Kasernenhof nur für Anwohner reserviert. Aber wie so oft hatte ich mich auf mein Glück verlassen und den Wagen nicht im Parkhaus abgestellt. Und tatsächlich erwartete mich kein hinter den Scheibenwischer geklemmtes Knöllchen.

Was ich bereits in der Nacht befürchtet hatte, war nun
zur Gewissheit geworden: Jemand hatte versucht, Nikolai zu töten. War er mit jemandem in Streit geraten? Oder hatte er sich in kriminelle Machenschaften verstrickt? Weder das eine noch das andere konnte ich mir vorstellen. Ich kannte Nikolai als umgänglich und humorvoll. Er liebte seinen Beruf, war belesen, interessierte sich für Kunst und Kultur genauso wie für die Schicksale der Menschen, die ihm begegneten. War er vielleicht nur im falschen Moment am falschen Ort gewesen? Einem Junkie über den Weg gelaufen, der Geld für den nächsten Schuss brauchte? Zwar lag die Klinik abseits, aber wer wusste schon, wer sich in diese Gegend verirrte, wenn es dunkel wurde. Allerdings war Nikolai dem ersten Anschein nach nicht beraubt worden, in seiner Brieftasche hatte man zwei Kreditkarten und an die hundertfünfzig Euro gefunden.

Was auch immer geschehen war – so versuchte ich mir einzureden, als ich über die Landshuter Straße stadteinwärts fuhr –, Nikolai würde den Angreifer identifizieren, sobald er wieder bei Bewusstsein war.

Ich bog in die Gabelsbergerstraße, passierte die großen, perfekt renovierten Villen, in denen sich vorwiegend Büros und Kanzleien befanden. Weiter ging es vorbei an der Königlichen Villa, mit ihrem verwunschenen Park direkt an der Donau gelegen, und schließlich durchs Ostentor, eines der mittelalterlichen Stadttore mit darüber errichtetem Turm
und flankierenden Achtecktürmchen. Wie all die anderen geschichtsträchtigen Bauwerke in Regensburg liebte ich dieses Tor, nein, vielmehr wie die Stadt selbst. Dieses Kleinod an der Donau, das manche als nördlichste Stadt Italiens bezeichnen, ist in meinen Augen die einzige deutsche Stadt, in der man leben kann.

In der Ostengasse holte ich mein Lieblingsjackett aus der Reinigung, ein Patchwork-Unikat aus unzähligen verschiedenfarbenen Samtflecken. Als ich wieder im Wagen saß, musste ich plötzlich an Nikolais Unruhe am Sonntagnachmittag im Marilyn-Monroe-Bistro denken, seine bedrückte Stimmung. Hatte er sich etwa doch in irgendeine zwielichtige Geschichte hineinziehen lassen? Zum hundertsten Mal rief ich mir den Ablauf des gestrigen Abends ins Gedächtnis, versuchte, mich an Nikolais Anrufe zu erinnern, Wort für Wort, den wie aus dem Nichts auftauchenden Wagen, alle sonstigen Details, die irgendwie wichtig sein könnten. Aber mir fiel nicht mehr ein, als ich schon zu Protokoll gegeben hatte. Sollte Paolo recht haben – war ich wirklich eine so schlechte Ermittlerin?

Sofort erwachte mein Widerspruchsgeist. Ich entstammte einem alten toskanischen Adelsgeschlecht, hatte bis zu meinem elften Lebensjahr in Italien gelebt und war dazu erzogen worden, das zu tun, was ich für richtig hielt. Deshalb hatte ich mich auch vor sieben Jahren gegen den Polizeidienst entschieden. Nach der langen Erziehungspause wollte ich mich damals wieder mit Eifer in die Arbeit stürzen, irgendwann bei der Kripo arbeiten, mein Traum, seit ich bei der Schutzpolizei angefangen hatte. Doch alles, was man mir als Teilzeitkraft anbot, war ein zum Sterben langweiliger Schreibtischjob. So war meine Kündigung nur eine Frage der Zeit gewesen. Vielleicht war ja jetzt die Gelegenheit, meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen? Ich konnte und wollte zwar nicht mehr zur Kripo, aber schließlich gab es noch eine andere Möglichkeit: mein allererster Auftrag als Privatdetektivin …

Zugegeben, mein Honorar würde ich mir vermutlich selbst bezahlen müssen. Aber ich würde vor Paolo herausfinden, wer Nikolai um ein Haar getötet hätte.

An der Einfahrt ins Parkhaus am Schwanenplatz, wo ich einen Stellplatz für meinen Wagen gemietet hatte, beschloss ich, doch noch kurz zur Uniklinik zu fahren. Heute würde ich mich nicht mehr abwimmeln lassen. Und so konnte ich vielleicht auch endlich mit dem zuständigen Arzt sprechen.

So sieht also ein Mensch aus, der nicht sterben kann. Und doch ist er tot, denn er lebt nur, weil Maschinen für ihn arbeiten.

Ich weiß nicht, wie oft ich das dachte, während ich stumm auf Nikolais bleiches Gesicht starrte, dessen einziger Farbtupfer die kleine, blassrote Narbe über seiner linken Augenbraue war. Aus der Nase kam ein dünner Schlauch, durch den zähe Flüssigkeit tropfte. Die Magensonde, hatte Schwester Luisa mir erklärt. Auch an Nikolais Handgelenken, in seinem Mund und am Kopf befanden sich Schläuche, die zu Infusionsgestellen und Monitoren führten. Unter dem dünnen, schürzenähnlichen Hemd war er völlig verkabelt. Ein Gewirr von bunten Drähten führte zu grauen Geräten, die Herzrhythmus, Pulsfrequenz, intrakraniellen Druck und vermutlich noch etliche andere Körperfunktionen überwachten. Es sah zum Fürchten aus.

»Immerhin, er muss nicht mehr künstlich beatmet werden«, meinte Schwester Luisa, als sie mein Gesicht sah. »Der Sauerstoffschlauch kommt vielleicht heute noch raus.«

Dieses Mal war es überraschend einfach gewesen, in die Intensivstation vorzudringen. Die Krankenschwester hatte weniger Interesse an meiner Person als angeblicher Cousine und ehemaliger Verlobter gezeigt als an Nikolais Zustand und der jüngsten Entwicklung ihrer eigenen Karriere. Sie war Mitte zwanzig, rotbackig und überglücklich, endlich auf einer so abwechslungsreichen Station gelandet zu sein, hier auf Intensiv in der Neurochirurgie. Immer sei hier irgendwas los, hatte sie mir erklärt, eigentlich wollte sie nämlich Medizin studieren.

»Kann er hören, was wir sagen?«, fragte ich.

Automatisch sprach ich leise. Bis auf die Schläuche und Kabel, den riesigen Kopfverband und die blasse Gesichtsfarbe sah Nikolai aus wie immer. Als könnte er jeden Moment die Augen aufschlagen und mich mit seinem unverschämten Jungengrinsen davon überzeugen, dass die vergangene Nacht nur ein böser Traum gewesen war.

»Wer weiß das schon?«, entgegnete die Schwester leichthin. Flink prüfte sie die Apparaturen, drückte irgendwo einen Knopf, kontrollierte, ob die Infusionskanülen noch richtig saßen. »Kommen Sie nur her, er beißt nicht.« Sie strich die Bettdecke glatt. »Er braucht jetzt körperliche Nähe. Das ist wichtig bei Komapatienten.«

Noch immer stand ich drei Schritte vom Bett entfernt, wie ich erst jetzt bemerkte. Ich erwachte aus meiner Starre und schob den einzigen Hocker ans Bett. Er machte ein kratzendes Geräusch. Draußen auf dem Flur ratterte etwas vorbei. Ein Pfleger rollte ein Bett durch den Korridor, jemand lachte.

»Sie können ihm auch eine Geschichte erzählen.« Mit einem Mal veränderte sich Schwester Luisas jugendliches Gesicht, es wurde weise und sanft, und in die vor Energie sprühenden Augen schlich sich Stille und Güte. »Durch Nähe und Vertrauen können Sie ihn vielleicht aus seiner anderen Welt herauslocken.«

Zögernd setzte ich mich, während sie mit raschen Schritten hinaustrippelte. Die Schiebetür zum Flur, der in den zentralen Monitorraum der Intensivstation mündete, ließ sie offen.


Ein letztes Mal strich ich mit den Fingerspitzen über seine Hand, stand auf, ging in Richtung Ausgang. In diesem Moment fing etwas an zu trillern. Vor Schreck blieb ich stehen, fuhr herum. Ich hatte doch keines der komplizierten Geräte berührt?

Plötzlich standen eine dürre Schwester mit toupierter, gelblich weißer Haarpracht und ein hochgewachsener Arzt mit Brille im Zimmer.

»Das EKG.« Der Arzt drückte verschiedene Tasten, der durchdringende Ton verstummte. Auf seinem Schildchen stand Dr. Maximilian Engel. »Ein Anstieg des Herzschlags.«

»Ist es ein gutes oder schlechtes Zeichen, dass dieses Ding losgegangen ist?«, fragte ich.

Der Arzt öffnete den Mund zu einer Antwort. Doch bevor er etwas sagen konnte, schaltete sich die Schwester ein.

»Sie sind doch nicht Frau Baum?«, fragte sie mich streng.

»No, sono sua cugina, Herrn Baums Cousine. Ich bin erst heute Morgen aus Florenz angereist«, erklärte ich mit meinem italienischen Akzent, den ich mir für Momente wie diesen aufsparte. Schließlich wollte ich Nikolai noch öfter besuchen, und außerdem war jetzt vielleicht die Gelegenheit, das eine oder andere zu erfahren, was für meine Ermittlungen interessant wäre.

Wahrheitsgemäß fügte ich hinzu: »Mein Name ist Anna di Santosa.«

»So geht das aber nicht«, verkündete die Schwester mit schwindelerregend weit nach oben gezogenen Augenbrauen. »Cousine hin oder her, in diesem frühen Stadium dürfen nur die engsten Angehörigen den Patienten besuchen. Wer hat Sie überhaupt reingelassen?«

»Die Luisa, wetten?« Doktor Engel grinste mich an, mit einer Mischung aus Unschuld, verstecktem Schalk und Wärme, die etwas in mir zum Klingen brachte. Er hatte schöne, regelmäßige Zähne, ein markantes Gesicht mit einer glatten hohen Stirn und mochte Mitte vierzig sein.

Ich schluchzte auf, schielte auf das Namensschildchen der Schwester und sagte mit meinem Kleinmädchenblick: »Aber, Schwester Irmgard, wir wollten heiraten, Herr Baum und ich, damals vor drei Jahren. Wir waren ver-looobt. So sagt man doch, vero

Ich nestelte ein Taschentuch aus der Handtasche. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Schwester mich immer noch finster anblickte.

»Bei uns in Italia geht das«, fügte ich mit tränenerstickter Stimme hinzu. »Dass Cousin und Cousine heiraten.«

»Hier geht das auch.« Der Arzt zwinkerte mir zu. Er hatte warme braune Augen mit lustigen, gelben Pünktchen und
war mir schon nach diesen wenigen Minuten unsagbar sympathisch. »Sobald wir das EKG ausgewertet haben, kann ich Ihnen mehr sagen, Frau di Santosa. Wenn Sie bitte kurz draußen warten wollen?«